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Der Alptraum ist die Kehrseite des Traumes, sein schmerzhafter Preis. Dies haben auch jene erfahren müssen, die in den dreißiger und vierziger Jahren auf der Flucht vor dem Holocaust nach Palästina gelangt sind; gestrandet in einer unwirtlichen Landschaft unter britischer Mandatsverwaltung, in der sich die Träume vom jüdischen Staat nur zögernd verwirklichten. 1974/75 hat Amos Oz drei Erzählungen über die Erfahrungen dieser jüdischen Einwanderer verfaßt.
Die erste Erzählung, »Der Berg des bösen Rates«, spielt im Mai 1946 und schildert, wie Palästina für Dr. Kipnis und seine Frau aus unterschiedlichen Gründen zur geliebten oder erzwungenen Endstation einer Flucht wird. In »Herr Levi« ist es Spätsommer 1947, und Amos Oz erzählt vom jüdischen Widerstand gegen die englische Verwaltung. Unmittelbar daran schließt sich »Sehnsucht« an, doch die Rahmenbedingungen haben sich verändert. Nunmehr ist der Abzug der Engländer gewiß, und die Zionisten rüsten sich für Konflikte mit den arabischen Nachbarn.
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Seitenzahl: 328
Der Berg des bösen Rates
Herr Levi
Sehnsucht
1.
Es war dunkel. Im Dunkeln sagte eine Frau: Ich fürchte mich nicht. Ein Mann erwiderte: Du fürchtest dich sogar sehr. Und ein anderer sagte: Ruhe!
Dann gingen schwache Lichter zu beiden Seiten der Bühne an, der Vorhang hob sich, und es war plötzlich still.
Im Mai 1946, ein Jahr nach dem Sieg der Alliierten, veranstaltete der Nationalrat eine große Feier im Edison-Kino. Die Wände waren mit den Flaggen Großbritanniens und der zionistischen Bewegung geschmückt. Vorn auf der Bühne standen Vasen mit Gladiolen. Und hoch darüber prangte ein biblisches Motto: »Friede wohne in deinen Mauern, in deinen Häusern Geborgenheit.«
Der Gouverneur von Jerusalem bestieg militärisch stramm die Bühne und hielt eine kurze Ansprache, in die er einen subtilen Witz und ein paar Zeilen von Byron einflocht. Danach erhob sich Mosche Schertok, um auf englisch und hebräisch den Empfindungen des jüdischen Jischuw Ausdruck zu verleihen. In den Ecken des Saales wie an den Türen und zu beiden Seiten der Bühne waren englische Soldaten mit roten Baretts und Maschinenpistolen postiert als Schutz vor Anschlägen des Untergrunds. Aufrecht stehend inmitten einer kleinen Schar von Damen und Offizieren, blickte der britische Hochkommissar, Sir Alan Cunningham, von der Loge herab. Die Damen hielten Operngläser. Ein Chor der Pioniere in blauen Hemden sang Arbeiterlieder, deren russische Melodien – ebenso wie das Publikum – keine heitere, sondern eine sehnsüchtige Stimmung ausstrahlten.
Auf den Chor folgte ein Film über Montgomerys Panzervorsturm durch die westliche Wüste. Die Panzer wirbelten Staubsäulen auf, walzten mit ihren Ketten Schützengräben und Stacheldrahtzäune nieder, bohrten ihre Antennenspitzen in den grauen Wüstenhimmel. Der Saal füllte sich mit Geschützdonner und schmetternder Marschmusik.
Mitten im Film entstand ein kleiner Tumult in der Ehrenloge.
Abrupt wurde die Vorführung unterbrochen. Im Saal gingen sämtliche Lichter an. Jemand hob die Stimme zu einem knappen Tadel oder Befehl: Es werde dringend ein Arzt gebraucht.
In der 29. Reihe kam Vater augenblicklich auf die Beine. Er schloß den obersten Knopf seines weißen Hemdes, flüsterte Hillel zu, auf Mutter aufzupassen und sie zu beruhigen, bis die Lage geklärt sei, wandte sich dann – als stürme er todesmutig in ein brennendes Haus – ruckartig ab, um sich einen Weg zum Logenaufgang zu bahnen.
Wie sich herausstellte, hatte Lady Bromley, die Schwägerin des Hochkommissars, einen Schwächeanfall erlitten. Sie trug ein langes weißes Kleid und war auch ganz weiß im Gesicht. Vater stellte sich kurz und knapp den Spitzen der Verwaltung vor, schlang sich danach den schlaffen Arm der Dame um die Schulter. Wie ein galanter Kavalier, der ein schlummerndes Dornröschen davonführt, geleitete Vater Lady Bromley nun zur Damengarderobe. Dort setzte er sie auf einen Polsterhocker und brachte ihr ein Glas kaltes Wasser. Drei hohe englische Beamte in Abendanzügen eilten ihm nach, nahmen rechts, links und hinter der Patientin Aufstellung und stützten ihr den Kopf, als sie mühsam einen Schluck Wasser trank. Ein ältlicher Colonel in Luftwaffenuniform entnahm ihrer weißen Handtasche einen Fächer, entfaltete ihn behutsam und fächelte ihr Luft zu.
Die Lady schlug müde die Augen auf und musterte einen Moment leicht ironisch all die Männer, die sich um sie bemühten. Sie war sehr alt und wirkte mit ihrer hageren, knochigen Figur, der schmalen Spitznase und dem boshaften, höhnischen Ausdruck um den verkniffenen Mund wie ein durstiger Vogel.
»Also, Doktor«, wandte sich der Colonel in scharfem Ton an Vater, »was jetzt?«
Vater zögerte ein wenig, bat zweimal um Entschuldigung und faßte dann einen jähen Entschluß. Er beugte sich nieder und löste mit seinen hübschen schmalen Fingern die Schnüre ihres engen Korsetts. Da wurde es der Lady Bromley besser. Mit runzliger Hand, die an eine Hühnerkralle erinnerte, strich sie ihren Kleidersaum wieder glatt. Zwischen den verkniffenen Lippen tat sich ein Spalt auf, der ein schiefes Lächeln andeutete. Dann schlug sie die alten Beine übereinander und bemerkte mit ihrer blechernen Stimme in spitzem feindseligen Ton: »Es ist nur das Klima.«
Einer der hohen Beamten begann höflich: »Madam –«
Aber Lady Bromley ignorierte ihn. Sie wandte sich ungeduldig an Vater: »Würden Sie bitte so gut sein, junger Mann, sämtliche Fenster zu öffnen. Auch das dort. Ich möchte ein wenig Luft haben. Well, that’s a good boy.«
Sie sprach Vater auf diese Weise an, weil sie ihn in seinen Khakihosen, dem schlipslosen weißen Hemd und den Ledersandalen eher für einen Dienstboy denn für einen Arzt hielt. Immerhin hatte sie ihre Jugend zwischen den Affen, Parks und Springbrunnen von Bombay verbracht.
Vater gehorchte schweigend und öffnete ein Fenster nach dem anderen.
Die Jerusalemer Abendluft drang herein und mit ihr ein Hauch von Kohl, Pinien und Unrat.
Vater zog eine der von den Krankenkassen ausgegebenen Pillenschachteln aus der Tasche, öffnete behutsam den fein gestrichelten Deckel und reichte der Lady eine Aspirin-Tablette. Das englische Wort für »Migräne« wußte er nicht, und so sagte er es in deutsch. Dabei glänzten seine blauen Augen gewiß herzlich und optimistisch hinter den runden Brillengläsern.
Zehn Minuten später wünschte die Lady an ihren Platz in der Ehrenloge zurückgebracht zu werden. Einer der hohen Beamten notierte sich Vaters Namen und Anschrift und dankte ihm reserviert. Man lächelte. Momentanes Zögern auf beiden Seiten. Plötzlich streckte der Beamte die Rechte aus. Sie tauschten einen Händedruck.
Vater kehrte an seinen Platz in der 29. Reihe zwischen Frau und Sohn zurück. »Nichts passiert«, sagte er, »es ist nur das Klima.«
Die Lichter im Saal verloschen. Wieder sah man General Montgomery General Rommel erbarmungslos durch die ganze Wüste hetzen. Feuer und Staubsäulen füllten die Leinwand, Rommel – in Großaufnahme – biß sich mächtig die Lippen, und im Hintergrund pfiffen fast schon ekstatisch die Dudelsäcke.
Zum Schluß wurden die britische und die zionistische Hymne gespielt. Die Feier war vorüber. Die Leute verließen das Edison und strebten nach Hause. Über Jerusalem brach plötzlich die Abenddämmerung herein. In der Ferne ragten kahle Berge auf, hier und da mit einem einsamen Turm besetzt. Auf den fernen Hängen standen verstreute Hütten. Raschelnde Schatten regten sich in den Gassen. Die ganze Stadt wurde von schwermütigem Sehnen erfaßt. Hinter den Fenstern gingen erste elektrische Lichter an. Es herrschte angespannte Stille, als werde jeden Augenblick ein neuer Laut aufklingen. Aber nur die alten Töne waren ringsum zu hören – eine tadelnde Frauenstimme, das Knarren eines Fensterladens, das Kreischen einer rolligen Katze zwischen den Mülltonnen auf einem Hof. Und eine sehr ferne Glocke.
Vor dem Fenster seines leeren Ladens stand ein gutaussehender bucharischer Friseur im weißen Kittel ganz allein und rasierte sich singend das Kinn. Im selben Moment überquerte ein englischer Jeep auf Patrouille die Straßenkreuzung, bestückt mit einem Maschinengewehr, dessen Munitionsgürtel kupfern glänzte.
Eine alte Frau saß allein auf einem Holzschemel vor ihrem winzigen Schreibwarenladen. Ihre Hände, zerfurcht wie die eines Gipsers, ruhten schwerfällig auf den Knien. Letztes Abendlicht umgab ihren Kopf, und ihre Lippen bewegten sich lautlos. Aus der Ladennische heraus sagte eine andere Frau: »S’is a pschutte (einfache) Sach, s’is a schlechte Sach.«
Die Alte gab keine Antwort. Rührte sich überhaupt nicht.
Vor der Bügelei Ehrenpreis trat ein frommer Bettler auf Vater zu, erbat und bekam ein Zweimilstück, dankte Gott wütend, verfluchte zweimal die Jewish Agency und verjagte mit seiner Stockspitze eine Straßenkatze.
Von Osten her schwoll das Glockengeläut an – hohe und tiefe, russisch-orthodoxe, anglikanische, griechische, abessinische, römische und armenische Glocken, als werde die Stadt von einer Pestilenz oder Feuersbrunst heimgesucht. Aber all diese Glocken sollten nur die Nacht Nacht nennen. Auch eine leichte Brise wehte aus Nordwest, vielleicht vom Meer her, bewegte leicht die Kronen der bleichen Zierbäume, die die Jerusalemer Stadtverwaltung oben an der Maleachi-Straße gepflanzt hatte, und spielte sanft mit den Locken des Jungen. Abend war’s. Ein unsichtbarer Vogel zeterte stur und eigenartig. In den Mauerritzen sprossen Gräser. Rost breitete sich auf den alten Eisenläden und Balkongittern aus. Jerusalem stand sehr still im letzten Licht.
In der Nacht wachte der Junge wieder von einem Asthmaanfall auf. Vater kam barfuß herein, um ihm ein Trostlied zu singen:
Lamm und Zicklein schlafen wieder,
Schließ auch du jetzt fest die Lider.
Legt der Wind sich dann zu Bette,
Schläft ganz Jerusalem um die Wette.
Gegen Morgen heulten die Schakale im Wadi unterhalb von Tel Arsa. Der Untermieter Mitja begann jenseits der Wand im Schlaf zu jammern: »Laßt ihn! Er lebt noch! Jaaa njeee snaaaju!« Und verstummte wieder. Dann krähten von fern die Hähne im Viertel Sanhedria und in dem arabischen Dorf Schuafat. Beim ersten Tageslicht zog Vater lange Khakihosen, Sandalen und ein gebügeltes blaues Hemd mit großen Taschen an und ging zur Arbeit. Mutter schlief weiter, bis die Nachbarinnen mit aller Macht Bettzeug und Matratzen auszuklopfen begannen. Dann stand sie auf, schlüpfte in ihren seidenen Morgenrock, machte dem Kind ein weiches Ei, Haferbrei und Kakao ohne Haut und kämmte ihm die Locken.
Hillel sagte: »Kann ich allein. Fertig aus.«
Ein alter Glaser ging die Straße entlang und rief: »Professional Glaser! Amerika! Repariert alles!«
Und die Kinder riefen ihm nach: »Meschuggener!«
Drei Tage später erhielt Vater zu seiner Überraschung eine goldgedruckte Einladung für zwei Personen zum Maiball im Palast des Hochkommissars auf dem Berg des bösen Rates. Auf der Rückseite hatte der Sekretär auf englisch vermerkt, Lady Bromley wünsche Dr. Kipnis hiermit ihren tiefempfundenen Dank, verbunden mit der Bitte um Entschuldigung, auszudrücken, und Sir Alan persönlich habe sich anerkennend geäußert.
Vater war gar kein richtiger Arzt, sondern Veterinärmediziner.
2.
Geboren und aufgewachsen war er in Schlesien. Hans Walter Landauer, der berühmte Geograph, war der Onkel seiner Mutter. In seiner Jugend hatte Vater am Tiermedizinischen Institut in Leipzig studiert und sich vorrangig auf tropische und subtropische Rinderkrankheiten spezialisiert.
Im Jahre 1932 war er nach Erez Israel eingewandert, um eine Rinderzucht im Gebirge aufzubauen. Ein höflicher, schweigsamer junger Mann war er, von Hoffnungen und Prinzipien durchdrungen. In seinen Träumen sah er sich mit Rucksack und Wanderstab die galiläischen Berge erkunden, aus eigenen Kräften ein Stück Wald aussuchen und roden und eigenhändig eine Blockhütte mit Giebeldach, Dachboden und Keller an einem Bach errichten. Er wollte ein paar Hirten und eine Rinderherde zusammenbringen, jeden Tag zu neuen Weidegründen aufbrechen und jede Nacht, von Büchern umgeben, in einem Zimmer voller Hirschgeweihe und ausgestopfter Tiere sitzen und eine wissenschaftliche Arbeit oder ein großes Epos verfassen.
Drei Monate lang wohnte er in einer Pension im Städtchen Jessud-Hama’ala und durchstreifte tagelang von morgens bis abends mutterseelenallein das östliche Galiläa auf der Suche nach Wasserbüffeln in den Chule-Sümpfen. Er wurde immer schlanker und sonnengebräunter, und seine blauen Augen hinter den runden Brillengläsern glichen zwei Seen in verschneitem Nordland. Bald schon liebte er die Ödnis der fernen Berge und die Gerüche des Sommers: von versengtem Dorngestrüpp, Ziegendung, Reisigasche, staubigem Ostwind.
In dem arabischen Dorf Halsa lernte er einen Vogelkundler aus Bayern kennen, einen einsamen Wandersmann und glühenden Evangelisten, der die Rückkehr der Juden in ihr Land als Vorzeichen für die Erlösung der Welt ansah und Material für ein großes wissenschaftliches Werk über die Vögel des Heiligen Landes sammelte. Zu zweit wanderten sie bis ins Tal von Marj-’ Ayun, in die Berge von Naftali und durch die Chule- Sümpfe. Einige Male gelangten sie sogar an die entlegenen Jordanquellen. Dort saßen sie dann den ganzen Tag im Schatten der üppigen Vegetation, deklamierten gemeinsam aus dem Stegreif ihre liebsten Schiller-Gedichte und nannten jedes Tier und jeden Vogel bei seinem richtigen Namen.
Als Vater sich langsam Sorgen machte, was werden solle, wenn das Geld vom Onkel seiner Mutter, des berühmten Geographen, zur Neige ging, beschloß er, nach Jerusalem zu fahren, um ein paar praktische Möglichkeiten zu prüfen. Er sagte also dem einsamen bayrischen Vogelkundler Lebewohl, packte seine Habseligkeiten und erschien eines schönen Herbstmorgens in Dr. Arthur Ruppins Büro im Gebäude des Nationalrats in Jerusalem.
Dr. Ruppin mochte den schweigsamen, braungebrannten jungen Mann, der aus Galiläa zu ihm gekommen war, auf den ersten Blick und erinnerte sich auch, daß er als Junge in dem großen Atlas des Geographen Landauer die tropischen Länder studiert hatte. Als Vater ihm seinen Plan für eine Rinderzucht in den galiläischen Bergen darzulegen begann, machte Dr. Ruppin einige flüchtige Notizen auf verstreute Zettelchen. Vater schloß seinen Vortrag mit den Worten: »Es ist ein sehr schwer zu verwirklichender Gedanke, aber er scheint mir nicht unmöglich.«
Dr. Ruppin lächelte traurig: »Nicht unmöglich, aber schwer zu verwirklichen, sehr schwer.«
Worauf er zwei, drei bittere Tatsachen anführte.
Er legte Vater nahe, die Verwirklichung des Planes vorerst aufzuschieben, sein Geld zwischenzeitlich in den Erwerb einer jungen Zitruspflanzung bei der Moschawa Nes Ziona zu investieren und sich außerdem unverzüglich ein Häuschen in dem Neubauviertel Tel Arsa zu kaufen, das gerade im Norden Jerusalems entstand.
Vater erhob keine Einwände.
Einige Tage später hatte Dr. Ruppin ihm eine Stelle als reisender Amtstierarzt besorgt und ihn sogar zum Kaffee in sein Haus im Stadtteil Rechavia eingeladen.
Jahrelang stand Vater in aller Frühe, noch vor Sonnenaufgang auf und fuhr in rußqualmenden Bussen in den Bezirk Bethlehem, nach Ramallah, in die Gegend von Jericho oder nach Lud, um die dörflichen Rinderbestände amtstierärztlich zu überwachen.
Die Zirruspflanzung bei Nes Ziona brachte ihm bald ein bescheidenes Einkommen, das er gemeinsam mit einem Teil seines Beamtengehalts auf der Anglo-Palestine Bank anlegte. Sein kleines Haus in Tel Arsa möblierte er mit Bett, Tisch, Schrank und Bücherregalen. Über den Schreibtisch hängte er ein großes Bild des Onkels seiner Mutter, des berühmten Geographen. Hans Walter Landauer blickte fortan skeptisch und irgendwie leicht verwundert auf Vater herab. Vor allem in den Abendstunden.
Bei seinen Streifzügen durch die Dörfer sammelte Vater seltene Disteln und Dornen. Trug auch ein paar Versteinerungen und antike Tonscherben zusammen. Stellte alles sehr sorgfältig auf. Und wartete.
Unterdessen senkte sich Stille über seine Mutter und die Schwestern in Schlesien.
Im Lauf der Jahre lernte Vater ein wenig Arabisch. Lernte die Einsamkeit kennen. Das große Epos verschob er auf spätere Zeiten. Jeden Tag erfuhr er etwas Neues über Land und Leute und manchmal auch über sich selber. Von der Rinderzucht in Galiläa träumte er immer noch, aber Keller und Dachboden erschienen ihm jetzt überflüssig, ja fast kindisch. Eines Nachts sagte er laut zu dem Konterfei seines Onkels: »Warten wir’s ab. Ich bin nicht weniger stur als du. Du lachst, aber das schert mich nicht. Lach, soviel du möchtest. Bitte sehr.«
Nachts führte Vater ein Tagebuch beim Licht der Tischlampe, dem er seine Sorge um Mutter und Schwestern, die Beschwernisse des trocken-heißen Wüstenwinds, kleine Eigentümlichkeiten einiger seiner Bekannten und die Atmosphäre bei seinen Rundreisen durch gottverlassene Dörfer anvertraute. Er skizzierte in vorsichtigen Worten einige Berufserfahrungen im Lauf seiner Arbeit. Brachte optimistische Gedanken über verschiedene Fortschritte des jüdischen Jischuw im Lande zu Papier. Formulierte unter häufigen Streichungen auch zwei, drei Argumente für und wider die Einsamkeit sowie die scheue Hoffnung auf Liebe, die eines Tages vielleicht auch ihm widerfahren werde, trennte aber dann vorsichtig das betreffende Blatt heraus und zerriß es in kleine Schnipsel. Für die Arbeiterzeitung Hapo’ef Haza’ir verfaßte er einen Aufsatz über die Vorzüge der Ziegenmilch.
Manchmal suchte er gegen Abend Dr. Ruppin zu Hause in Rechavia auf, wo man ihn mit Kaffee und Kremtorte bewirtete. Oder er besuchte den greisen Professor Julius Wertheimer, der aus derselben Stadt wie er stammte und ebenfalls in Rechavia, nicht weit von Dr. Ruppin, wohnte. Von fern hörte man zuweilen gedämpftes, beharrliches Klavierspiel – wie das Flehen verzweifelten Stolzes. Jeden Sommer glühten die Felsbrocken am Hang, und jeden Winter hüllte Jerusalem sich in Nebel. Weitere Flüchtlinge und Pioniere trafen von vielerorts ein und füllten die Stadt mit Wehmut und Staunen. Vater kaufte einigen dieser Flüchtlinge Bücher ab, darunter duftende Lederbände mit Goldlettern, und manchmal tauschte er Bücher mit Dr. Ruppin oder dem alten Professor Julius Wertheimer, der ihn mit einer raschen, verschämten Umarmung zu begrüßen pflegte.
Zuweilen gaben die Araber in den Dörfern ihm kühlen Granatapfelsaft zu trinken. Manchmal küßten sie ihm die Hand. Er lernte Wasser aus einem schräg gehaltenen Tonkrug zu trinken, ohne den Krugrand mit den Lippen zu berühren. Einmal warf ihm eine Frau von weitem einen finsteren, kohleglühenden Blick zu, worauf er am ganzen Leib erschauerte und schnellstens die Augen abwandte.
In sein Tagebuch schrieb er folgendes: »Ich wohne seit drei Jahren in Jerusalem, sehne mich aber weiterhin nach dieser Stadt, als sei ich noch Student in Leipzig. Das ist doch eine Art Paradox. Und überhaupt«, vermerkte Vater versonnen und ein wenig unklar weiter, »gibt es sehr viele Widersprüche. Gestern morgen mußte ich im Dorf Lifta ein schönes, gesundes Pferd einschläfern, weil ein paar junge Kerle ihm nachts mit einem Nagel die Augen ausgestochen hatten. Grausamkeit um ihrer selbst willen ist meines Erachtens eine niedrige, völlig unnütze Angelegenheit. Am selben Abend spielten Pioniere im Kibbuz Kiriat Anavim auf dem Grammophon eine Bach- Suite, die großes Mitleid mit diesen Pionieren, mit dem Pferd, mit Bach, mit mir selber weckte. Beinah wären mir Tränen gekommen. Morgen ist Geburtstag des Königs, und alle Mitarbeiter der Abteilung erhalten eine einheitliche Regierungszulage. Widersprüche gibt es viele. Und auch das Klima ist nicht leicht.«
3.
Mutter sagte: »Ich werde das blaue Kleid mit dem dreieckigen Ausschnitt anziehen und die Schönste auf dem ganzen Ball sein. Wir bestellen auch ein Taxi.«
Vater sagte: »Und vergiß nicht, dort ein gläsernes Schühlein zu verlieren. «
Hillel sagte: »Ich auch.«
Aber Kinder nimmt man nicht mit auf einen Maiball in den Palast des Hochkommissars. Auch keine braven Kinder. Auch keine über ihr Alter hinaus verständigen Kinder. Und der Ball war sicher nicht vor Mitternacht zu Ende. Deshalb würde er den Abend bei der benachbarten Pianistin, Madame Jabrowa, und deren Nichte Ljubow, die sich jetzt Binjamina Even-Chen nannte, verbringen. Dort würde man ihm Grammophonplatten vorspielen, Abendessen geben, ihn mit der Trachtenpuppensammlung spielen lassen und dann schlafen legen.
Hillel versuchte zu widersprechen: »Ich muß dem Hochkommissar doch noch Antwort geben, damit er weiß, wer recht hat.«
Vater entgegnete geduldig: »Wir haben recht, und der Hochkommissar weiß das sicher im stillen, aber er muß den Willen des Königs erfüllen.«
»Diesen König beneide ich nicht denn der kriegt noch eine schwere Strafe von Gott und auch Onkel Mitja nennt ihn den König Chedorlaomer von Albion und sagt vom Untergrund würden sie ihn noch schnappen und hinrichten wegen all dem was er dem Überrest Israels angetan hat«, sprudelte der Junge erregt in einem Atemzug heraus.
Vater entgegnete in präzisen, gesetzten Worten: »Onkel Mitja übertreibt manchmal ein bißchen. König von England ist nicht Chedorlaomer, sondern George VI. Nach ihm wird vermutlich eine seiner Töchter den Thron besteigen, da er keinen Sohn hat. Einen Menschen anders als in Notwehr zu töten ist glatter Mord. Und Ihr, Eure Majestät Hillel 1., geht jetzt Euren Kakao austrinken. Und dann Zähneputzen.«
Mutter – eine Haarnadel zwischen den Zähnen und in jeder Hand einen Bernsteinohrring – bemerkte: »König George ist ein schlanker, sehr blasser Mann. Und er macht immer ein trauriges Gesicht.«
Hillel tippte auf Vaters Schreibmaschine am Ende der dritten Klasse einen Brief in drei Exemplaren, von denen er eines an den König nach London und eines an den Hochkommissar schickte: »Unser Land gehört uns sowohl nach der Tora als auch nach der Gerechtigkeit. Bitte geht aus Erez Israel weg und nach England zurück, bevor es zu spät ist.«
Das dritte Exemplar ging unter den erregten Nachbarinnen von Hand zu Hand. Die Pianistin, Madame Jabrowa, sagte: »Ein Dichterknabe!« Ihre Nichte Ljubow Binjamina fügte hinzu: »Und welche Locken! Man müßte Dr. Weizmann eine Abschrift schicken, damit er ein bißchen Freude hat.« Ingenieur Brzezinski meinte, man solle besser nicht übertreiben; mit schönen Worten ließen sich keine Mauern bauen. Und von Gerald Lindley, Sekretär, ging eine kurze Antwort auf Amtspapier ein: »Ihr Schreiben hat gebührende Beachtung gefunden. Wir haben stets ein waches Ohr für die Meinung der Bürger. Hochachtungsvoll.«
Und wie die Gartengeranien im blauen Sommerlicht loderten. Wie dieses Licht sich in den Laubfingern des Feigenbaums im Garten fing und dort in nervöse Funken zerstob. Wie die Sonne Morgen für Morgen hinter dem Skopusberg hervorbrach, um die ganze Stadt wahnsinnig zu machen, und die goldenen und silbernen Kuppeln dann plötzlich in blendendem Feuer erglühten. Wie bei Sonnenaufgang Unmengen von Vögeln ihre Wonne oder Verzweiflung zwitscherten.
Das blecherne Regenrohr speicherte Wärme und fühlte sich morgens wohlig unter den Fingern an. Weiß und angenehm für die bloßen Füße war der saubere Kies, den Vater auf den Schlängelpfad unterhalb der Verandastufen bis zum Zaun, bis zum Feigenbaum, bis zum Ende des Gartens streute.
Der Garten war nicht besonders groß, aber logisch angelegt und kompromißlos gepflegt: Vaters Träume in quadratische oder rechteckige Beete zwischen den Felsbrocken verwandelt, eine einsame Insel leuchtender, nüchterner Vernunft inmitten weiter Gesteinswildnis, bizarrer Schluchten und heißer Wüstenwinde.
Und ringsum lag die Neubausiedlung Tel Arsa, eine Handvoll Steinhäuschen, wahllos über einen beliebigen Hügel verstreut. Eines Nachts würden die großen Berge herankommen und stillschweigend alles an sich raffen – die Häuser, die zaghaften Schößlinge, die Hoffnungen, die Schotterstraße. Eine arabische Ziegenherde würde heraufkommen und alles abgrasen und zertrampeln: Chrysanthemen, Narzissen, Löwenmäulchen, spärliche Anfänge von Rasen hier und dort. Und der Hirte würde reglos schweigend die emsig rupfenden Ziegen beobachten und dabei vielleicht wie eine versengte Zypresse aussehen.
Hillel sah den ganzen Tag die kahlen Berge ringsum. Spürte zuweilen, wie sich in der Flut des heiteren Himmelblaus schon irgendwo fern in unsichtbaren Schluchten der Herbst zusammenballte.
Mit dem Herbst würde das Licht zu Grau-in-Grau-Tönen verblassen. Niedrige Wolken würden die Berge erfassen. Er würde in die Krone des Feigenbaums hinaufklettern und von dort im Herbstlicht vielleicht das Meer und die Wüste und die Inseln in den Wolkenfetzen sehen, und die geheimnisvollen Kontinente, von denen ihm sein Vater der Reihe nach und Mutter mit Tränen der Sehnsucht erzählt hatten.
Vater sagte, die schönen Länder hätten uns in blindem Haß ausgespien, deshalb würden wir uns hier ein noch viel schöneres aufbauen. Aber Mutter nannte das Land einen Hinterhof und meinte, es werde hier niemals einen Fluß, eine Kathedrale und dichten Wald geben. Onkel Mitja, der Untermieter, lachte abfällig und murmelte zwischen seinen kaputten Zähnen irgendwas von Geburtswehen, Todeskämpfen, Jerusalem, das seine Propheten tötet, und dem Fluch Gottes gegen Tochter Babel, die Zerstörerin. Außerdem war er Vegetarier.
Hillel vermochte diesen Worten nicht zu entnehmen, ob Mitja nun Vater oder Mutter beipflichtete. Was Mutter sagte, erschien ihm überflüssig. Und so ging er in den hinteren winkel des Gartens, um sich zwischen den Zweigen des Feigenbaums zu verbergen und den Herbstgeruch herauszuschnuppern. Der Herbst würde kommen. Herbstliche Wehmut würde ihn zur Schule, zu den Klavierstunden bei Madame Jabrowa, zur Leihbücherei Zions Befreite, nachts ins Bett, ja bis in seine Träume begleiten. Sintflutartiger Regen würde draußen wüten, und er würde einen Aufsatz für die Schülerzeitung verfassen. Die Worte »dichter Wald«, die Mutter benutzte, wenn sie das Land verunglimpfen wollte, übten einen eigenartigen, klammen Zauber auf ihn aus.
4.
Hillel war ein pummeliger, schwächlicher Junge. Am Ende des Gartens hinter dem Feigenbaum oder oben in dessen Geäst hatte er ein Versteck, das er seinen »Bau« nannte. Dort verbarg er sich, naschte insgeheim klebrige Süßigkeiten, die ihm eine der Frauen zugesteckt hatte, und hing phantastischen Gedanken über Afrika, Urwaldlöwen und die Nilquellen nach.
Nachts wachte er von Asthmaanfallen auf. Vor allem im Frühsommer. Röchelnd und würgend sah er dieses grausige weiße Ding ihn schaurig durch die Jalousienritzen angrinsen, und schon weinte er. Bis Vater mit einer kleinen Taschenlampe kam, sich auf die Bettkante setzte und ihm ein Trostlied sang. Tanten, Nachbarinnen und Kindergärtnerinnen vergötterten ihn mit russischen Küssen und polnischer Lebhaftigkeit und nannten ihn Cherie. Manchmal ließen sie auf seinen Wangen oder Lippen dicke Kußmünder zurück. Diese Frauen waren füllig und sentimental, und ihr Gesichtsausdruck führte bittere Klage: Das Leben hat mich nicht mit dem gebührenden Feingefühl behandelt.
Die Pianistin Madame Jabrowa und ihre Nichte Ljubow, die sich Binjamina Even-Chen nannte, hinterließen bei ihrem energischen Musizieren den Eindruck, als seien sie nur zu vornehm, um dem Leben mit gleicher Münze zurückzuzahlen. Frau Wischniak von der Apotheke jammerte Hillel die Ohren voll und sagte, kleine Kinder seien die einzige Hoffnung des jüdischen Volks im allgemeinen und ihrer selbst im besonderen. Zuweilen hüllte Hillel sich in Gedanken oder Traurigkeit und erquickte ihre Herzen dann mit einem hübschen Satz: »Das Leben ist ein Kreis. Alle kreiseln.«
Und gleich wallte Rührung auf.
Aber die Kinder von Tel Arsa nannten ihn häßlicherweise Jelly. Magere, boshafte Mädchen, giftige orientalische Gören, machten sich gern einen Spaß daraus, Hillel auf einen Kieshaufen zu werfen und ihn an den blonden Haaren zu ziehen. Um den Hals baumelten ihnen Schlüssel und Amulette. Und sie rochen penetrant nach Erdnüssen, Schweiß, Seife und Halva.
Hillel wartete stets stumm, bis sie ihn und seine Locken satt hatten. Dann stand er auf, schüttelte den Kiesstaub aus Turnhose und Trägerhemd, biß sich – kurzatmig und mit Tränen in den Augen – auf die Lippen und begann zu verzeihen. Wie nobel ihm die Vergebung vorkam: Diese Mädchen wußten nicht, was sie taten. Sicher hatten sie vom Schicksal geplagte Väter. Und große Brüder in der Unterwelt oder bei den Fußballern. Ihre Mütter und Schwestern gingen womöglich mit englischen Soldaten. Es war einfach furchtbar, als orientalisches Mädchen geboren zu sein. Und einer wuchsen schon Brüste unter dem verschwitzten Turnhemd. Hillel verstand und vergab – erfüllt von Eigenliebe ob seiner Fähigkeit, zu verstehen und zu vergeben.
Danach flüchtete er zu Frau Wischniaks Apotheke und weinte leise. Nicht wegen der Schrammen, sondern wegen des bitteren Loses dieser Mädchen und seiner eigenen Seelengröße. Frau Wischniak küßte ihn. Tröstete ihn mit klebrigen Süßigkeiten. Erzählte ihm von der Mühle am blauen Bach, die einmal war und nicht mehr ist. Er erzählte ihr in gewählten Worten von einem Traum, den er nachts geträumt hatte, deutete ihn auch gleich selber und hinterließ einen lyrisch zarten Hauch, wenn er sich dann zum Klavierspielen in Madame Jabrowas und Binjaminas dämmriges, ungelüftetes Haus begab. Die Streicheleinheiten von Frau Wischniak gab er an den stolzen Bronze-Beethoven auf der Kommode weiter. Auch den jungen Herzl hatte man ja auf der Straße als Meschuggenen gehänselt. Und Bialik war von allen verprügelt worden.
Abends vor dem Schlafengehen rief man Hillel im Pyjama ins väterliche Zimmer. Dieser Raum hieß »das Kabinett«. Es enthielt Bücherregale, einen Schreibtisch und einen gläsernen Schaukasten mit Versteinerungen und antiken Tonsachen. Und auf all das blickte skeptisch aus einer sepiabraunen Photographie der berühmte Geograph Hans Walter Landauer herab.
Hillel mußte den Gästen ein, zwei verständige Sätze sagen. Dann wurde er geküßt und zum Schlafen auf sein Zimmer geschickt. Jenseits des Flurs hörte man die Erwachsenen angeregt plaudern, und er in seinem Bett wurde ebenso angeregt und begann durch den Pyjamahosenschlitz mit den Fingern sein kleines Glied zu verwöhnen.
Später, im Dunkeln, wenn Ljubow Binjaminas einsame Celloklänge an sein Ohr drangen, hatte er sich plötzlich redlich satt. Nannte sich selber Jelly. Empfand auf einmal Trauer für alle Männer und Frauen. Und schlief mitleidsvoll ein.
»Mammasch (wirklich) a Mensch«, pflegte Frau Wischniak zu sagen, »a echter Mensch. Gescheit. Gewieft. Ein Teufelskerl. Asoi wi di ganze Mischpoche.«
Hinter dem niedrigen Zaun, den Vater aus Eisenstangen und altem Gitterdraht errichtet und in freundlichen Farben gestrichen hatte, begann das Niemandsland. Schrottübersäte Flächen, Staub, Distelgeruch, Schaf- und Ziegenmist, und weiter unten das Wadi mit den Höhlen der Schakale und Füchse, und noch weiter abwärts das leere Gehölz, in dem die Kinder einmal die angenagten Gebeine eines türkischen Soldaten in dem stinkenden Fetzenhaufen einer Janitscharenuniform gefunden hatten. Und weiter öde Hänge voll flinker Eidechsen und Schlangen und vielleicht auch Hyänen bei Nacht und hinter diesem Wadi kahle Felsenhügel und andere Wadis, in denen den lieben langen Tag Araber in wallenden Burnussen mit ihren Herden umherstrichen. Und dahinter in der Ferne weitere fremde Berge und fremde Dörfer bis ans Ende der Welt, Minarette, Schuafat, Nebi Samwil, Ausläufer des Städtchens Ramallah, das Klagen eines Muezzins in der Abendbrise, dunkle Frauen, rauhe, mordlustig verschlagene Burschen. Und ein feiner Hauch böser Absicht – fern, unendlich geduldig, einen immer ungesehen sehend.
Mutter sagte: »wenn du, Hans, erst wie ein Bär mit deiner alten Lady herumhopst, werde ich in meinem blauen Kleid allein auf einem Korbstuhl in der Verandaecke sitzen, an einem Glas Martini nippen und mir eins lachen. Aber später werde ich auch aufstehen und auf einmal mit dem Gouverneur von Jerusalem oder mit Sir Alan persönlich tanzen. Dann hockst du allein daneben und hast nichts zu lachen.«
Vater sagte: »Der Junge hört dich doch und versteht sehr genau.«
Hillel sagte: »Na und?«
Zur Feier des Tages lieh Vater sich von dem benachbarten Ingenieur Brzezinski einen englischen Abendanzug aus der Konfektion Szczupak in Lodz. Mutter saß den ganzen Morgen auf der schattigen Veranda und nähte ihm das gute Stück passend.
Mittags probierte Vater den Anzug vor dem Spiegel an und bemerkte achselzuckend: »Absurd.«
Mutter erwiderte lachend: »Der Junge hört dich doch und versteht alles.«
Hillel sagte: »Na und? ›Absurd‹ ist doch kein grobes Wort.«
»Kein Wort ist an sich grob«, meinte Vater. »Die Grobheit steckt im allgemeinen hinter den Worten oder zwischen ihnen.«
Und Mutter: »Grobheit steckt hier in allem. Sogar in den tiefschürfenden Gedanken, die du Hillel eintrichterst. Sogar in deinen Bemerkungen. Und auch das ist absurd.«
Vater schwieg.
Die Gewerkschaftszeitung Davar schrieb an jenem Morgen in einem Kommentar, die Politik des Weißbuchs stehe vor einem Scherbenhaufen. Hillel übernahm diesen Ausdruck und konnte sich ihn konkret vorstellen.
Mitja, der vegetarische Untermieter, kam barfuß aus seinem Zimmer in die Küche, um sich ein Glas Tee aufzubrühen. Er war ein großer, ausgemergelter Bursche mit schütterem Haar, der immer die Schultern hängen ließ und mit kleinen, nervösen Schritten vorwärts schlurfte. Außerdem hatte er die sonderbare Angewohnheit, plötzlich mit den Zähnen in seine Kragenecke zu beißen und jeden Gegenstand, der ihm unterwegs in die Quere kam, wütend zu streicheln - egal ob Tisch, Geländer, Bord oder Mutters Schürze am Haken in der Küche. Und er murmelte vor sich hin. Ingenieur Brzezinski mutmaßte hitzig, eines Tages werde sich dieser Mitja noch als gefährlicher verkappter Kommunist entpuppen. Aber Mutter wusch und bügelte ihm aus freien Stücken seine wenigen Sachen, zusammen mit denen der Familie.
Beim Betreten der Küche winkte Mitja grüßend in alle Richtungen, als habe er eine Menschenmenge vor sich. Plötzlich fiel sein Blick auf das Wort »Scherbenhaufen« in der Überschrift auf der Innenseite des Davar, der auf der Wachstuchdecke des Küchentischs lag. Er grinste mit seinen kaputten Zähnen und zischte wütend: »So ein Schund.«
Danach umklammerte er das glühendheiße Glas mit seinen großen blassen Händen, kehrte ärgerlichen Schritts in sein Zimmer zurück und schloß die Tür hinter sich ab.
Mutter sagte sanft: »Wie ein verlassener Hund.«
Und nach kurzem Schweigen fügte sie hinzu: »Fünfmal am Tag wäscht er sich, und nach jeder Wäsche benutzt er Kölnisch Wasser, und doch hat er immer einen unangenehmen Geruch an sich. Man müßte eine Freundin für ihn finden. Vielleicht eine Neueinwandererin von der Arbeiterinnenkooperative, arm, aber nett. Du, Hans, geh dich jetzt rasieren. Und Hillel – an die Schulaufgaben. Was mach ich bloß in diesem Irrenhaus.«
5.
Sie war in ihrer Jugend aus Warschau gekommen, um auf dem Skopusberg alte Geschichte zu studieren, nach knapp einem Jahr aber an Land und Sprache verzweifelt. Ihre ältere Schwester Nyuta in New York hatte ihr daraufhin eine Schiffskarte für die Aurora von Haifa nach Amerika geschickt. Wenige Tage vor dem Reisetermin machte Dr. Ruppin sie mit Vater bekannt, zeigte ihm die hübschen Aquarelle, die sie gemalt hatte, und drückte auf deutsch seine Trauer darüber aus, daß auch diese Dame uns verlassen wolle, daß auch sie das Land unerträglich finde und nun vor lauter Enttäuschung nach Amerika fahre.
Hans Kipnis betrachtete einige Minuten die Aquarelle, sah dabei plötzlich wieder den einsamen deutschen Vogelkundler vor sich, mit dem er bis an die Jordanquellen gewandert war, berührte mit zarten Fingern den Rand eins der Bilder, zog sie aber rasch wieder zurück und sagte etwas von Einsamkeit und Träumen im allgemeinen und in Jerusalem im besonderen.
Mutter lächelte ihn an, als habe er unabsichtlich eine teure Vase zerbrochen.
Vater entschuldigte sich verlegen und verstummte.
Dr. Ruppin hatte zwei Karten für ein Kammerkonzert, das ein neues Flüchtlingsorchester an jenem Abend gab. Mit Vergnügen verzichtete er jedoch zugunsten des jungen Paares: Er könne sowieso nicht hingehen, denn Menachem Ussischkin sei vor ein, zwei Tagen überraschend wieder im Lande eingetroffen und habe in altgewohnter Hektik gleich eine dringende Beratung für diesen Abend angesetzt.
Nach dem Konzert schlenderten sie noch ein wenig durch die Princess-Mary-Straße. Die Schaufenster waren dekoriert und erleuchtet, und in einem verbeugte sich ein automatisches Püppchen. Einen Augenblick glich Jerusalem einer echten Stadt. Herren und Damen gingen eingehakt spazieren, einige der Herren rauchten Zigaretten durch kurze Spitzen.
Ein Bus hielt neben ihnen, und der kurzbehoste Fahrer sagte lächelnd: »Bitte sehr.« Aber sie wollten nicht mitfahren. Ein Militärjeep mit aufmontiertem Maschinengewehr jagte die Straße hinunter. In der Ferne läutete eine Glocke. Die beiden meinten einstimmig, daß über der Stadt Jerusalem irgendein schwerer Bann liege. Später vereinbarten sie, sich am nächsten Abend wieder zu treffen und gemeinsam Erdheereis im Café Sichel zu essen.
Am Nachbartisch saßen der Philosoph Buber und der Schriftsteller Agnon, und da sie unterschiedlicher Meinung waren, schlug Agnon scherzhaft vor, die Jugend zu befragen. Vater äußerte also etwas. Es muß eine scharfsinnige, feinfühlige Bemerkung gewesen sein, denn Buber und Agnon lachten beide und machten auch seiner Begleiterin charmant Komplimente. In diesem Augenblick leuchteten Vaters blaue Augen vielleicht hinter den runden Brillengläsern, und Wehmut umspielte seine Lippen.
Neunzehn Tage später verkündeten die Nazis öffentlich ihre Absicht, die Wehrmacht auszubauen. In Europa herrschte Spannung. Die Aurora lief niemals in Haifa ein, sondern nahm Kurs auf die Antillen.
Vater verabredete sich mit seinem Landsmann, Professor Julius Wertheimer, der ihn in Erez Israel von Anfang an unter seine Fittiche genommen hatte. Wünschte den alten Gelehrten in einer Privatangelegenheit zu sprechen. Verlegen, schuldbewußt und stur, wie er war, tat er sich schwer mit dem Reden. Professor Wertheimer lauschte Vaters Worten mit stiller Besorgnis. Dann scheuchte er seine Katzen aus dem Zimmer und machte die Tür hinter ihnen zu. Als die beiden allein waren, warnte der Professor ihn behutsam, sich in seinem Privatleben nicht etwa in Widersprüche zu verstricken. Und gerade diese Worte vermittelten Vater die Gewißheit, daß ihm endlich Liebe widerfahren war.
Ruth und Hans heirateten in Jerusalem an dem Tag, an dem Hitler in Nürnberg verkündete, er strebe Frieden und Verständigung an und verabscheue den Krieg. Zur Hochzeit geladen waren Beamte des Veterinäramts, darunter zwei christliche Araber aus Bethlehem, Familie Ruppin, Flüchtlinge und Pioniere, ein paar Nachbarn aus Tel Arsa und ein magerer, revolutionär eingestellter Student vom Skopusberg, der seine glühenden Augen nicht von der schönen Braut abwenden konnte. Er verkündete in aller Namen die Glückwunschadresse, wobei er verhieß, daß die Gerechtigkeit am Ende siegen werde und wir das noch mit eigenen Augen sehen würden. Doch alsbald ruinierte er den Eindruck, den seine Worte hinterlassen hatten, da er sich an einer einzigen Flasche Nescher-Bier fast vollständig betrank und Bräutigam und Braut mit Burseboi beziehungsweise Artistka titulierte. Nachdem die Gäste gegangen waren, bestellte Vater ein Taxi, um Mutters Habseligkeiten von ihrem Zimmer in Newe Scha’anan in das Haus zu bringen, das er nun schon seit Jahren in Tel Arsa pflegte und herrichtete.
Dort in Tel Arsa, in einem kleinen Steinhaus mit Blick auf Wadis und Felsgestein, wurde ihnen ein Jahr später ein blonder Junge geboren.
Als Mutter und Kind aus der Klinik heimkamen, machte Vater eine ausladende Handbewegung, überschaute begeistert seinen kleinen Besitz und sagte: »Noch ist dies ein abgelegener Vorort. In unserem Garten sprießen nur kleine Schößlinge. Den ganzen Tag prallt die Sonne auf die Fensterläden. Aber im Lauf der Zeit werden die Bäume wachsen und uns viel Schatten spenden. Die Zweige werden sich über das Haus breiten. Kletterpflanzen werden bis zum Dach hinauf ranken und auch den Zaun überwuchern. Passionsblumen werden blühen. Ein lauschiges Eckchen werden wir hier haben, wenn Hillel mal groß ist und wir gemeinsam altern. Wir bauen eine Weinlaube, in der du im Sommer den ganzen Tag sitzen und hübsche Aquarelle malen kannst. Vielleicht haben wir dann auch ein Klavier. Man wird ein Kulturhaus bauen, die Straße pflastern, den Ort mit der Stadt verbinden, und in Jerusalem wird eine hebräische Regierung mit einer hebräischen Armee sitzen. Dr. Ruppin wird Minister werden und Professor Buher Präsident oder gar König. Vielleicht leite ich eines Tages die oberste Veterinärbehörde. Und aus allen Ländern werden Einwanderer kommen.«
Plötzlich schämte er sich jedoch dieser Rede, bedauerte besonders einige Worte, die er benutzt hatte. Jähe Trauer zitterte ihm um die Lippen, als er hastig in sachlichem Ton anfügte: »Poesie. Philosophie. Lauschiges Eckchen mit Weinlaube auf einmal. Jetzt werde ich einen Block Eis holen, und du legst dich hin und ruhst dich aus, damit du am Abend nicht wieder Migräne hast. So eine Hitze.«
Mutter ging auf die Haustür zu. An den Verandastufen hielt sie inne, blickte zutiefst mitleidsvoll auf die rostigen Kanister mit Geranieostengeln und sagte: »Es werden keine Passionsblumen blühen. Es gibt eine Überschwemmung. Oder einen Krieg. Alle werden sterben.«
Vater erwiderte nichts, da er spürte, daß diese Worte nicht ihm galten und keinesfalls hätten gesagt werden dürfen.
Seine kurzen Khakihosen reichten ihm fast bis an die Knie. Zwischen Knien und Sandalen zeigten sich magere, glatte, braungebrannte Beine. Durch die runden Brillengläser war ein Blick voll ständiger Dankbarkeit oder milder freudiger Überraschung zu erkennen. Und in Augenblicken der Verlegenheit sagte er meist: »Ich weiß nicht. Man muß nicht alles wissen. Es gibt alle möglichen Dinge auf der Welt, die man einfach besser auf sich beruhen läßt.«
6.
In dem Photoalbum aus ihrer Jugendzeit sieht Mutter folgendermaßen aus: eine blonde Gymnasiastin von herbstlich introvertierter Schönheit. In den Fingern einen breitkrempigen weißen Hut. Auf dem Zaun hinter ihr drei weiße Tauben, und auch ein schnurrbärtiger polnischer Student sitzt dort und lacht übers ganze Gesicht.
Sie galt in ihrer Jugend als die beste Vorleserin des staatlichen Gymnasiums. Schon mit zwölf Jahren erregte sie die begeisterte Aufmerksamkeit des langjährigen Lehrers für polnische Literatur. Der ältliche Humanist, erzählte Mutter, war zutiefst gerührt ob ihrer empfindsamen Wiedergabe polnischer Dichtung. »Ruths Stimme«, verkündete der Pädagoge ein ums andere Mal mit heiserer Erregung, »ist das Echo des Dichtergeistes, der auf ewig zwischen Bächlein auf der Aue sprudelt.« Und da er sich ebenfalls für einen verkannten Dichter hielt, fügte er manchmal, vom Sturm seiner Gefühle überwältigt, hinzu: »Könnten Gazellen singen, sängen sie gewiß wie die kleine Ruth.«
Wenn Mutter diesen Satz wiederholte, mußte sie lachen, weil ihr der Vergleich komisch erschien. Nicht wegen des »Gazellenlieds«, sondern hinsichtlich ihrer damaligen Neigungen: Singen konnte sie nämlich kein bißchen, und ihre Liebe galt seinerzeit kleinen, sauberen Haustieren, berühmten Denkern, Malern und anderen Geistesgrößen, dem Tanzen sowie Spitzenkleidern und feinen Tüllschals, aber auch ihren armen Freundinnen, die keine Spitzenkleider und Tüllschals besaßen. Außerdem empfand sie Sympathie für die vom Schicksal Geschlagenen, denen sie als Kind begegnete: für den Milchmann, den Bettler, Großmutter Gittel, für die Dienstmädchen und die Kinderfrau, ja sogar für den Deppen des Viertels. Vorausgesetzt erstens, die Leiden hatten das Äußere dieser Menschen nicht entstellt, und zweitens, es waren melancholische Elende, die sich rührend verschämt benahmen, als geständen sie ihre Schuld ein und bemühten sich um reuige Umkehr.
Einmal übersetzte sie einen Aufsatz, den sie an ihrem fünfzehnten Geburtstag verfaßt hatte, aus dem Polnischen, schrieb ihn mit Schönschrift ins reine und forderte Hillel auf, ihn ihr laut vorzulesen: »Das blaue Meer erlaubt den Sonnenstrahlen, etwas von seinem Wasser aufzusaugen und Wolken wie schmutzige Wattebäusche daraus zu formen, die Regenschauer über Berge, Ebenen und Weiden ergießen – aber nicht über die häßliche Wüste. Doch zum Schluß sammeln sich die Wasser und müssen ins Meer zurückfließen, sich liebkosend wieder mit ihm vereinen.«
Plötzlich wurde sie wütend, riß dem Jungen das Blatt aus der Hand und zerfetzte es: »Vorbei!« rief sie mit verzweifeltem Pathos. »Alles vorbei! Tot und aus! Verloren!«