Sickster - Thomas Melle - E-Book

Sickster E-Book

Thomas Melle

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Beschreibung

Zwei junge Männer stehen an vorderster Front einer überhitzten Konsum- und Leistungswelt – und halten stand, bis die Beschleunigung ihr Leben erfasst, überwuchert: Der idealistische Magnus Taue schreibt für das Kundenblatt eines Ölkonzerns, fühlt sich als Loser und hasst seine Arbeit mit der Wut eines Schläfers. Thorsten Kühnemund, Manager und Macho, leidet insgeheim am erfolgreichen Hochglanzleben voller Druck und Alphatierneu­ro­sen, er betäubt sich mit Alkohol, schnellem Sex und Abstürzen im molochartigen Clubbing der Stadt. Aus Schulzeiten bekannt, freunden die beiden sich zögerlich an. Doch dann brechen die Fassaden ein. Magnus fühlt sich zu Thorstens Freundin Laura hingezogen, und alle drei strudeln ins Haltlose. So beginnt eine Suche nach irgendeiner Wahrheit des Empfindens, Denkens und Tuns, eine Suche im Rausch, Schmerz und Wahn – und in der eigenen Seele … Einfühlsam und radikal erforscht Thomas Melle ein sich immer schneller um ein leeres Zentrum drehendes Leben – bis an die Grenzen des Ichs und darüber hinaus. «Sickster» ist ein großes diag­nostisches Zeitbild – und das Romandebüt eines Autors, dessen Sprache, so Iris Radisch, «bis ins letzte Komma aufgeladen» ist.

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Seitenzahl: 379

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Thomas Melle

Sickster

Roman

No, no, no, no

I didn’t think so

Nine Inch Nails

PROLOG IM DUNKELN

Einer lacht immer zu früh, etwa bei koreanischen Filmen, obwohl er gar kein Koreanisch versteht. (Ich sage er, denn das sind wirklich Ers und meist nicht Sies; die Sies lachen woanders.) Es gibt also immer einen, der loslacht, obwohl es gar keine Pointe gibt. Etwa im Dunkelschwarzen, im Kino: Leute, die vorgeben, alles zu verstehen, und dabei eben nie etwas verstanden haben.

Sie sitzen im Kino. Um Sie herum eine Dunkelheit, die fließt und gleitet. Gleich geht der Film los. Gleich gibt es ein Spektakel. Sie freuen sich. Sie halten das Ticket in der Hand. Popcorngeruch. Weiche, tiefe Sitze. Neben Ihnen Leute. Werbung.

Und los.

ERSTER TEIL ABITUR

stay in school cuz it’s the best

Peaches

Der Startschuss ist wörtlich zu nehmen: ein ohrenbetäubender Knall. Ihm folgt, feiner als haarfein, ein Riss.

Es war der Sommer 1994, und der Abikorso der Canisius-Schule zog durch die stille, der Bedeutungslosigkeit entgegendämmernde Stadt Bonn. Aufgekratzt und zugleich etwas dumpf vom Feiern, das sich über Tage hingezogen hatte, dumpf auch von der langen Prüfungsphase und der plötzlichen Erleichterung, der kein rechter Sinn zugeordnet werden konnte, wollten die Abiturienten nur noch jubeln. Sie schwenkten die Bierflaschen, krächzten Triumphschreie in den Fahrtwind, hielten ihre Gesichter in die Sonne und holten aus den fingerbemalten Wagen so viel Lärm heraus, wie nur möglich war, durch Motorjaulen, Reifenquietschen, Dauerhupen: eine Schneise des Lärms, die sich gleich hinter ihnen wieder schloss.

Der Jubel der Abiturienten hatte dabei etwas Ausgestelltes, Gespieltes. Er war mehr Wollen als Jubeln. Diesen Tag hatten sie sich schon so oft vorgestellt und herbeigesehnt, dass er das Versprechen, das von ihm ausgegangen war, kaum einlösen konnte. Mit unbeholfenen, groben Gesten und vollmundigen Rufen versuchten die Abgänger, sich als die Könige des Tages zu fühlen, und fielen dabei seltsamerweise in Stereotype ihrer jetzt begrabenen Achtziger-Jahre-Kindheit zurück. Lara imitierte ohne Grund den ostfriesischen Komiker Otto Waalkes und presste immer wieder ein tiefes «Jaa! Jaaa!» aus ihren Stimmbändern hervor. Eva warf mit ihren Korkenzieherlocken um sich und genoss den Wind, ganz so, als sei sie in einem Werbeclip für Haarspray gelandet. Jakob trug Basecap und Sonnenbrille und schrie unverständliche Parolen durch eine Flüstertüte, welche noch aus Golfkriegszeiten stammte. Achim und Anja tanzten eine seltsame Mischung aus Lambada und Breakdance und spitzten ihre Lippen immer wieder zu Kussmündern, wenn sie sich in die Augen blickten. Alle johlten, klatschten, stampften.

Doch die Nachträglichkeit ihrer Bemühungen war nicht zu übersehen. Die Feier stand in Konkurrenz zu der aufgestauten Vorfreude, die sie selbst verursacht hatte. Dies war ihr Tag, aber es war ein Tag wie eine vergangene Erinnerung an eine Zukunft, die sich jetzt in ihrer ganzen banalen Sensationslosigkeit zeigte. Es schien, als wären die scheidenden Schüler das letzte Mal zum Diktat gerufen worden, zum Diktat des Spaßes. Und sie gehorchten. Das echolose Schweigen der Stadt passte gut dazu.

Ein Knall, außen, und innen sofort ein Riss. Hendrik hatte früher Amseln und Spatzen im Garten seiner Eltern abgeschossen, mit einer Gaspistole, die er während der Internatszeit in seinem obersten Schrankfach versteckt hatte, aus Angst vor Razzien. Jetzt, beim Korso, sollte sie endlich wieder zum Einsatz kommen. Aber die Pistole hatte Ladehemmung. Nervös fuchtelte Hendrik an ihr herum, zeigte sie ungeduldig den teilnahmslosen Passanten, reckte sie in die Höhe, zielte auf die Sonne, drückte und zerrte am Abzug – nichts tat sich. Er fluchte. Magnus saß neben ihm, im Cabrio von Lutz, und war schon scharf betrunken vom Sekt. Er beobachtete, wie die Röte in Hendriks Gesicht mit jedem misslungenen Versuch eine Nuance dunkler wurde, während der Schweißfilm darüber immer heller glänzte. Hendrik fluchte und fingerte an der Waffe herum. Er wollte unbedingt derjenige sein, welcher diesen Startschuss ins Erwachsenenleben abgeben würde, stellvertretend für den ganzen Jahrgang. Die Häuserreihen zogen an ihnen vorbei, das Schwimmbad, die Rigal’sche Wiese, die Redoute, der Kurpark: altbekannte Plätze der Kindheit, jetzt entzaubert und profan. Alles dies wird bald verlassen sein, dachte Magnus und nahm einen weiteren Schluck vom abgestandenen Sekt.

Plötzlich schnitt ein Schmerz durch sein Ohr, riss in einen Ort hinein, den er nie zuvor gespürt hatte. Er schreckte zusammen und jaulte auf. Der Schmerz war grell, nein, scharf und schnell. Ein Pfeifen setzte ein, laut, aufdringlich. Hendrik war auch erschrocken, feuerte aber sofort eine ganze Salve in die Luft, um das Missgeschick zu vertuschen, um den Fehlschuss wieder seinem Willen unterzuordnen, in die Reihe des Vorhergesehenen. Er fragte schnell, ob alles in Ordnung sei, und Magnus nickte, die Hand aufs Ohr gepresst. «Ist gleich wieder vorbei», sagte er, «pass aber auf, verdammt, das war zu nah.»

Namhafte und bestimmt amerikanische Wissenschaftler haben sich über die Hirnhälften Gedanken gemacht. Die linke Hirnhälfte gilt ihnen, überspitzt gesagt, als naive Buchhalterin; die rechte als fiebrige Verschwörungstheoretikerin. Links: werden einfache Regeln und Strukturen prozessiert, Unregelmäßigkeiten als Zufall verbucht. Rechts: leckt die Zwillingsschwester Blut. Geht ab in Assoziationen und Träumen, arbeitet sprunghaft, spürt Pfade auf, die nicht offen zutage treten, findet Zusammenhänge von Einzeldingen, die beliebig nebeneinander liegen. Koinzidenz? Schicksal! Anders gesagt: Während das Ursache-Wirkung-Schema in der linken Buchhaltung des Hirnes heimisch ist und dort dafür Sorge trägt, die Welt aufs Anschaulichste zu simplifizieren, entspringen genialischere Theorien wie etwa das dritte Gesetz der Thermodynamik, der Da-Vinci-Code oder die Chaostheorie der tendenziell paranoiden rechten Hirnhälfte.

Nun sind die beiden Hirnhälften – seltsames Spiegelspiel des Lebens – bekanntlich für die jeweils entgegengesetzte Körperseite zuständig. Verschwörungstheoretiker drehen sich deshalb vorzugsweise um die linke Schulter, wenn sie von hinten angesprochen werden. Was nun aber, wenn ein hartnäckiger Tinnitus im linken Ohr die rechte, assoziationssüchtige Hirnhälfte jahrelang unter einen subliminalen Strom setzte? Würden namhafte und amerikanische Wissenschaftler in so einem Fall auftretende psychopathologische Störungen ursächlich auf diesen psychosomatischen Druck zurückführen? Wäre das der stete Tropfen, der den Verstand aushöhlt? Käme dann der eine zu laute Bass in jener verrauschten Clubnacht, poetisch gesprochen, einem pathologischen Urknall gleich? Als Schöpfungsmythos der zentrifugalen Psychose, die, als innere Strahlung schon Jahre unterwegs, irgendwann die äußeren Ränder des Nervensystems erreichte?

Mit der Folge: gravitative Instabilität, Kollaps der Materie, ergo des Bewusstseins. Nennen wir es Neuralgie.

Später am Tag wachte Magnus auf. Er lag im Gras. Er wusste nicht, wie spät es war, ob er wirklich geschlafen hatte, wo er überhaupt war. Dann dämmerte es ihm: die Party, seine Freundin! Die Party war heute Abend in Godesberg, in einer Proletendisco namens Waveline, und alle würden hingehen. Aber seine Freundin und er waren nach Bad Breisig gefahren. Nur warum? Und wo war sie jetzt? Wieso lag er allein am Rande eines Radwegs auf einer Wiese, in Sinzig anscheinend, wenn seine Freundin doch in Bad Breisig wohnte? Und doch war da irgendwo ein Sinn. Es hatte eine Verabredung gegeben. Er konnte sich momentan nur nicht erinnern. Er blickte umher. Fertighäuser standen in der prallen Sonne und strahlten radioaktiv. Alle Gärten und Häuser waren genau abgezirkelt und sauber und sahen aus wie zum schnellen Abriss bereit. Kein Vogel am Himmel. Kein Mensch in der Nähe, nur Flächen und Quadrate. Das Brummen im Kopf war vom Pfeifen im Ohr kaum zu unterscheiden. Wird schon wieder verfliegen, das Pfeifen, dachte er, wie nach den Clubbesuchen, wie nach Rockkonzerten, wie das Brummen auch, wie jeder Kater bisher. Er stand auf, strich sich die Grashalme von der Kleidung, suchte einen Kiosk, um Bier und Wasser zu kaufen.

Ein Knall, ein Riss, ein Riss mit Folgen womöglich, wenn man die Fakten und Theoreme auf bestimmte Weise übereinander schiebt. Tatsächlich hat Magnus den Tinnitus bis heute. Auf Stehpartys nannte er ihn oft meine private Sphärenmusik, «wie bei den Griechen», fügte er als Erklärung hinzu, «die alten Griechen dachten nämlich, die Sonne würde wunderbare Musik produzieren, und wir hören sie seit der Geburt, sind uns ihrer aber nicht bewusst, weil wir die Stille nicht kennen, weil die Musik schon immer da war». Mädchen mit «Caipis» genannten Caipirinha-Drinks schauten ihn dann großäugig an und fragten: «Und jetzt piept es auch? Und jetzt, und jetzt?» «Ja», sagte Magnus dann, «jetzt piept, fiept und pfeift es auch, und jetzt, und jetzt, und immer.»

Ende der Neunziger, kurz vor dem Ausbruch der sogenannten Schizophrenie, war Magnus dann einmal zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt gegangen. Der hatte ihm gesagt, nein, das hätte sofort nach dem Vorfall behandelt werden müssen, auf die Schnelle sei das nicht mehr reparabel. Jetzt hülfen nur Langzeittherapien, die aber selten von der Krankenkasse bezahlt würden. Da war Magnus ohnmächtig geworden, aber nicht wegen der Nachricht, die ihn kalt ließ, sondern wegen des gleißenden weißen Lichts überall in der Praxis, das jede Ecke fand.

Die Jesuitenschule, von der Magnus nun Abschied nahm, brachte alljährlich eine neue Generation von Gesellschaftsklonen hervor: arrogante, zumeist neureiche oder altadlige Schnösel, die die winzige Innenstadt Bad Godesbergs im immerselben Look der Button-up-Blauhemden, Levi’s-Jeans und Barbourjacken (in den Neunzigern waren die Basecaps dazugekommen) gegen eine wachsende Horde von zumeist ausländischen Proleten verteidigten, durch Präsenz und Parfüm und durch Perspektiven. Es war ein Markieren, ein erstes Ringen um symbolische Felder der Männlichkeit und Macht – um sich nach dem Abitur über die gesamte Welt zu verteilen, die internationalen Universitäten und Konzerne aufzusuchen, Karriere zu machen: Schlussendlich würden sie den Kapitalismus der Eltern und die Schläue der Jesuiten in ideologischer Eintracht möglichst gewinnbringend in die Welt tragen, welche dann gemolken werden könnte nach Belieben und zum Vorteil aller Beteiligten. Die Zöglinge des Internats durchliefen während ihrer neun Schuljahre eine geistige Karriere, die schon weit vor dem Abitur in Zynismus und Saturiertheit endete: been there, done that, Gähnen in St.Moritz, Kotzen in Florida, mehr nicht. Kein Wünschen, kein Sehnen, nur instantanes Ausfüllen funktionaler Stellen, welche schon seit der Geburt für sie vorgesehen und frei gehalten wurden. Ich war schon so oft in New York, ich war schon so oft auf Hawaii, schallte es voller Überdruss zum Karneval über die Flure und durch die Kneipen. Die Patres, weltoffen und angeblich papsttreu, konnten sich noch so sehr um ein ethisches Grundgerüst bemühen, es half nichts. Alle moralischen Fragen wurden als theoretische Logeleien im Religionsunterricht lediglich wahr-, doch selten ernstgenommen. Dieser entleerte Geisteszustand (man mag ihn Ennui, Hedonismus oder horror vacui nennen: Zustände, die selbst meist wenig von sich wissen) musste ständig mit manisch wiederholten running gags und saloppen Sprecharten ausgefüllt werden. Diese Sprache spielte höchst unromantisch mit sich selbst und kannte keine Dringlichkeit außerhalb der von ihr hergestellten und behaupteten Gemeinschaft. Eine Grimasse in der Krypta morgens und dann ein Bier zu viel in der abendlichen Bar, das war das höchste der Gefühle. Ansonsten entlud sich alle Kreativität und Intelligenz, die dort auch vorhanden gewesen sein mochte, in einem selbstreferentiellen System, das jede Neuheit in Zynismus und Zukunftsgewissheit auflöste und sich so von allen anderen damals kursierenden Jugendentwürfen erfolgreich abgrenzte.

Magnus Taue stand als der nervöse Supertasker, der er war, entschieden außen vor. Zerbrechlich von Statur, feingliedrig und übersensibel, war er schon vor der Pubertät eine Art Wissender, halb Autist und halb Tourette, und zwar mit voller Absicht. Was blieb ihm auch übrig? Arrogant ging er durch die Stadt. Die Stadt war Bonn. Genauer: Godesberg.

Godesberg war zu dieser Zeit eher ein verschlafenes Dorf. Die Godesburg, ein abgebrochener Zahn auf einem kleinen Hügel, stand da und faulte. Dagegen der Patresturm: eine Art in den Himmel gestülpter Schacht, phallisch hochgereckt und hochkant abgebunkert nach außen, grellweiß in der Sonne und mit schwarzen Fenstern wie Schießscharten ausgestattet. Er stand unverrückbar auf dem sogenannten «Heiligen Hügel» und stand und stand. Darin wohnten die Patres und die Geheimnisse. Dort bunkerte Magnus sich nicht ein. Er hegte Skepsis gegen diesen Turm. Überhaupt kann man sagen, dass Magnus Taue einer war, den eine große Skepsis beseelte. Anfangs liebte er seine Lehrer, aber schnell schon, in der siebten Klasse etwa, keimten erste renitente Tendenzen in ihm auf.

Doch er liebte die alten Sprachen. Herr von Trivaux, ein schwunglippiger Santiago-Wallfahrer von über sechzig Jahren, war sein erster Lateinlehrer. Dann kam Herr Frack, eine Art Franzose, der sich unheimlich aufregen konnte, im Sprachlabor, wenn er, später in Französisch, sich dazuschaltete, aber plötzlich mit sehr sanfter Stimme sprach. Schließlich der Kriegsveteran Dohr, ein Junggeselle aus Plittersdorf. Sie alle wussten Magnussens Leidenschaft fürs Lateinische aufrecht zu erhalten, bis zum Abitur. In der Neunten gab Dohr Magnus und einem mauszähnigen Kameraden noch freie Nachmittagsstunden in Altgriechisch. Spucke und Vokabeln flogen da im Sonnenlicht. Bald aber wurde solcherlei lieber abgebrochen für Bier, Weib und Berentzen.

Man machte Klassenreisen, Skifreizeiten, das übliche Programm mit Saufen, Hochbetten und Gulasch, das nach Hund roch. Magnussens durchgedrehte Achtundsechziger-Eltern waren immer vorne dabei: Lily Taue, rote Haare, aus Graz stammend, durchdringende, stechend blaue Augen, immer rauchend wie ein Dixporträt. Im Gegensatz dazu Anwalt Jochen Taue, schmaler, fast eingefallener Mund, pflichtbewusst, früherer Kiffer und Revolutionär; geschieden waren sie seit 1979. Scheidungskinder, dachte Magnus, haben sicherlich einen ganz besonderen Schaden.

Und natürlich, dann ab der achten, neunten Klasse: die Liebe, die Liebe und die Karnevalspartys. Für eine dieser Partys in der Turnhalle hatte Magnus einen Piraten gemalt. Keiner wollte sich diesem Bild so richtig nähern, es war ein wildes, buntes, von Farbe fingerdickes Schlachtengemälde, das ein Gesicht zeigte. Nur eine stellte sich auffällig interessiert davor und sah es sich an. Als Magnus dazukam, sah sie ihm kurz in die Augen und ging dann weg. Diese Frau sollte Magnus erst später, Jahre später, kennenlernen. Aber wir wollen nicht vorgreifen.

Als das Abitur näher rückte, hatte Magnus genug von seiner alleinstehenden Mutter, die er «Lily» nennen sollte. Es kam zu folgendem Wortwechsel:

«Ich kann und will das hier nicht mehr.»

«Was soll das denn heißen, Magnus?»

«Eure Sachen hier. Eure alten Hippiesachen. Und deine Hysterie. Ich gehe aufs Internat.»

«Wie, aufs Internat? Wie meinst du das?». (Leiser:) «Wir haben kein Geld.»

«Ich habe mit Regler geredet. Er verschafft mir ein Stipendium.»

«Aber Magnus–»

«Ich find’s eh scheiße, dass du die so ausnutzt und mich da fast umsonst essen lässt. Ich find’s scheiße. Dabei kriegst du doch Geld. Ich bin eh immer dort. Wegen des Theaters auch.»

Pause.

«Okay. Okay, Magnus. Okay, okay.»

Ein Lehrer sprach, es war etwa in der Neunten, folgende Worte:

«Sophokles, der unter den klassischen Tragikern der Erste war, nämlich der Vortrefflichkeit und Vollendung nach, fällt mit seinem Geburtsjahre zwischen dem des Aischylos und dem des Euripides ungefähr in die Mitte, sodass er etwa ein halbes Menschenalter von jedem absteht; die Angaben stimmen nicht ganz überein. Den größten Teil seines Lebens hindurch war er ihrer beider Zeitgenosse. Mit Aischylos hat er häufig um den tragischen Efeukranz gerungen und den Euripides, der doch gleichfalls ein hohes Alter erreichte, noch überlebt.» Die jungen Türken der Stadt stellte sich Magnus dabei so vor: Watt? Hä?

«Man könnte den Aischylos einen tragischen Phidias nennen, der zur Erreichung der von ihm gewünschten Eindrücke nicht der riesenhaften Größe, der Pracht, des Goldes und des Elfenbeins entbehren konnte; wohingegen Sophokles, wie Polykletus, aus schmuckloserem Erz goss, aber mithin Bildungen schuf, welche durch die Vollkommenheiten ihrer Proportionen in den ewigen Kanon eingingen. Sehr bedeutend ist auch der Ausspruch des Philosophen Polemon, welcher den Sophokles einen tragischen Homer nannte, während wir den Homer einen epischen Sophokles nennen, äh, können.»

Als einmal die Türken eine der stadtbekannten Karnevalspartys stürmen wollten, stand Regler als lächerlicher Piratenzwerg vor dem Tor der Schule, einen Baseballschläger in der Hand. Magnus sah sich das an und hatte die Faxen dicke und stellte sich vor Regler und sah sich dann demonstrativ um. Oder auch: sah sich das Ganze an. Da trollten die Türken sich aber, den Berg wieder hinunter.

Erschütterer –: Anemone,

die Erde ist kalt, ist nichts,

da murmelt deine Krone

ein Wort des Glaubens, des Lichts.

Gottfried Benn. Benn und Latein. Velle, malle, nolle: wollen, lieber wollen, nicht wollen. Ja, was denn nun? Gar nicht wollen? Magnus war verwirrt. Das Wort Erschütterer auch. Magnus dachte: Anemone? Erschütterer? Ist das eine Aufforderung? Was soll das sein? Er überlegte. Nur noch enge Engel lecken, dachte er. Keine Anemonensohle weit und breit!

Aber solche Sprachspielereien halfen ihm auch nicht weiter in seiner gefühlten Einsamkeit. Die Eltern saßen manchmal vor der Tür der Sozialwohnung seiner Mutter und rauchten eine. Herr und Frau Taue ergingen sich dann in Erinnerungen an früher. Der Röhl, die Meinhof, Schwabing, der Rainer, der Werner. Magnus ging dann wieder los, in die Stadt, was trinken, eine rauchen, alleine sein. Weg von alldem, weit weg.

ZWEITER TEIL PLANOGRAMME

’cause we are living in a material world And I am a material girl

Madonna

I.WARUM SICH DIE HÄNDE NICHT SCHMUTZIG MACHEN

Vor der Deutschlandzentrale eines internationalen Mineralölkonzerns standen zwei Menschen in Anzügen und betrachteten die hochaufschießende Glasfassade des Gebäudes. Es ähnelte in seiner kantigen Fremdheit einem Raumschiff, neongrell und stahlweiß strahlend, jüngst gelandet wohl und nahtlos eingepasst in das Dreieck zwischen Bauzaun, Parkplatz und Plattenbau.

«Imposant», sagte der Mann und fletschte, geblendet vom Sonnenlicht, die Zähne. «Dieses Gebäude erinnert mich an ein Gebäude in Budapest», sagte die Frau und wischte mit den Fingern in der Luft herum, um seinen Blick auf eine Reihe funkelnder Quergiebel zu lenken, «da.» Der Mann verstand aber nicht, was die Frau sagte; das Rauschen des Verkehrs schluckte ihre dünnen Worte sofort.

Statt ihrer Geste zu folgen, betrachtete der Mann heimlich die Silhouette, die ihr Körper von der Seite darbot: ein wohlgeformtes S, von Brust und Po ausladend beschrieben, weich und rund, in Mädchenhandschrift. Er lächelte; er kannte das. Sie war wohl eine von denen, wo alles ein wenig zu viel war und ins Plumpe, Matronenhafte lappte. Ihre Beine waren dick und erdverbunden, ihre Korkenzieherlocken ergossen sich als mächtige Mähne über den starken Rücken, die Wangen, rosige, nervös durchblutete Backen, strahlten die Erregung einer Nachhilfeschülerin aus. Altersreife und Teenagerplumpheit verschränkten sich in ihren Formen, Sexyness paarte sich mit Schwerkraft, mit Trägheit. Vor kurzem noch, es war keine sechs Monate her, hatte es eindeutige Spannungen gegeben zwischen ihnen:

Liebe in Geschäftszeiten der Bürohengste.

«Herr Küppersbusch, könnten Sie mir die letzten Nielsen-Daten zum Pizzen-Verkauf im Bistro gleich einmal rüberschicken?»

«Aber sicher, Frau Knüppelprecht, sicher. Ich glaube, die Pizza Salami ist besonders gut gegangen im Frühsommer.»

«Die Pizza Salami.»

«Ja, die Pizza Salami. Mit Pfefferschote.»

«Aha, na ja, Salami schmeckt ja auch gut. Mir auch.»

«Und mir auch. Vor allem mit – Pfefferschote.»

Pause. Dann Kollision:

Sie: «Welche Sorte ist denn Ihre–»

Er: «Die Farbe Ihres Stabilos passt hervorragend zu Ihrer–»

Sie: «Bluse! Danke, Herr Küppersbusch. Ihnen würde (Achtung, Teaser) was Blaues hin und wieder auch stehen.»

Er: «Was Sie nicht sagen, Frau Knüppelprecht. Ich habe mir gerade gestern ein blaues Jackett zugelegt.»

Sie: «Na, also.»

Er: «Na, bitte. Da ergänzen wir uns ja. Bis später, Frau Krüppelsrecht.»

Sie: «Das tun wir. Bis später, Herr Knoppersmusch.»

Das Büro war aufgeheizt gewesen vom Lustsurren der Ventilatoren. Die Blicke hatten geglüht, in verstohlener Erwartung, zwischen Zahlenkolonnen, Zettelrauschen und Schnellgetippse, im Funkenflug der Büroklammern, und nichts hätte der Mann lieber gewollt, als dieser Dame Blöße in einem günstigen Augenblick ganz unkollegial zu entdecken, sagen wir: sie schnell mal auf dem Kopierer zu nehmen, o ja. Diese Spannung hatte sich aber nie entladen dürfen oder können; schade, eigentlich. Und so war sie nur weniger geworden mit der Zeit, hatte sich bald wieder verloren im Alltag, im Berufsleben, im stündlichen Klein-Klein der Tabellenanalysen.

Nur in der Expressivität mancher seiner Gesten schien die alte Leidenschaft, die schon verfaulte Lust, bisweilen noch auf: Wie manieriert er ihr in den Mantel half, sie so dezent wie bestimmt am Ellenbogen fasste, durchdringend ansah, eine ironische und zugleich bitterernste Verbeugung andeutete oder ihr auf besondere Weise sein Ohr lieh; und auch auf ihrer Seite gab es solche Echos, etwa in der gespielten Zweideutigkeit ihres Lächelns, das alles und zugleich nichts bedeuten wollte, oder in dem plötzlichen Funkeln ihrer haselnussfarbenen Augen unter den gehobenen Brauen, das eine leere Gemeinschaft widerspiegelte, ein Vakuum der Vertrautheit.

So auch jetzt. Sie schwieg und lächelte ihn an. Und wartete auf seinen Einsatz. Prompt begann er, über einen berühmten Architekten zu reden, dessen Namen ihm jedoch partout nicht einfallen wollte, er palaverte über den Potsdamer Platz, der nur einige Autominuten entfernt lag, streifte dabei das Wort «Postmoderne», welches durch einen säuerlichen Gesichtsausdruck sogleich negativ markiert wurde – als etwas Abgehobenes, Praxisfernes, als etwas Sogenanntes. Beide waren sich völlig bewusst darüber, dass sie nur redeten, um Zeit herauszuschinden. Sie waren einen Tick zu früh hier und mussten noch ein, zwei Minuten überbrücken. Wer zu früh kommt, wirkt bedürftig. Während seine Finger ein imaginäres Fenster andeuteten, fast zärtlich, fast wehmütig, und seine Worte keinen rechten Sinn ergaben, lächelte sie und zählte die Sekunden mit. Noch vierzig. Noch dreißig. Noch zehn. Jetzt.

Erst eine Dose Red Bull, dann einen Tunnel Drink, dann ein Flying Horse. Er trank einen Guaraná, einen XTC und einen Virgin Energy. Es stieß ihm süß-säuerlich auf. Die Dosen waren alle schlank und elegant. Sie schepperten nicht so laut wie Coladosen, wenn man sie fallen ließ. Sie lagen weich und griffig in der Hand. Thorsten Kühnemund mochte Energy Drinks, ihren Geschmack nach Gummibärchen, ihre Gaumenmilde, ihren Ersatznahrungscharakter, das Taurin. Er spürte sein Herz hüpfen, während er den neuen Logoentwurf studierte.

Das Logo war von einer Agentur in Mailand dynamisiert und polydimensioniert worden – es konnte jetzt mehrfach verstanden werden. Die Farben der fusionierten Firmen waren berücksichtigt und mit eingearbeitet worden: fünf ineinanderfahrende Streifen, die einen Kegel formten. Der Kegel stand für Kraft, Energie, Monopol. Und er ähnelte entfernt einem Ölturm. Thorsten fand, dass das zu einem Mineralölkonzern passte. Er zurrte den Krawattenknoten zurecht und ging zum Aufzug. Auf dem Weg dahin fummelte er sich eine Zigarette an. Vor dem Fahrstuhl warteten bereits die beiden Praktikantinnen aus der Unternehmenskommunikation, Mädchen in grauen Anzügen. Er grüßte sachlich und lächelte charmant. Sie lächelten zurück, und er konnte nicht anders, als sich ihre gertenschlanken Körper für einen kurzen Moment in obszöner Verknotung vorzustellen, nackt und hitzig, im Schweißbad, ihre Münder gierig offen in Erwartung.

Unten wurde jetzt der verglaste Aufzug bewundert, die transparente Flaschenzug-Konstruktion mit den freischwebenden Gewichten. Die Gäste saßen im Atrium, in Ledersitzen, die Beine übereinander geschlagen. Der Mann ließ ein paar physikalische Begriffe fallen und skizzierte Funktionsweise und Geschichte («die Ägypter, die Pyramiden!») des Flaschenzugs. Die Frau blickte ihn an, hob kokett eine Augenbraue. Eine Korkenzieherlocke, die ihr frech über die Stirn gefallen war, wurde nicht zurückgesteckt. Sie betrachtete seinen Lippenschwung, der sich im Reden ständig verschob. Er hatte Comiclippen mit einem Bartschatten darum, als hätte ein Zeichner sich soeben entschlossen, diesem Kerl etwas Verwegenes, Raubeiniges zu verleihen, indem er ihm Wangen, Kinn und Oberlippe fein schraffierte. Sie wusste, dass sie ihn halb schmachtend, halb sachlich anblickte, und sie wusste, dass er es wusste. Die sexuelle Spannung von einst diente ihnen inzwischen als einheitsstiftendes Tool, als jederzeit einsetzbares und vertrautes Instrument, das sie spielen, dessen Klang sie modulieren konnten, wie es ihnen passte. Es konnte beliebig herbeizitiert und künstlich reanimiert werden, um temporären Teamgeist zu schaffen, um aus zwei Monaden eine Diode zu zaubern, elektrisch aufgeladen und abgesichert gegen die böse Konkurrenz.

Lautlos glitt einer der beiden Aufzüge herab. Heraus trat ein Mann, oder eher: ein Bild von einem Mann, mit blondem, leicht gelocktem, schwer gelgehärtetem Seitenscheitel und stattlichem Kreuz, insgesamt eher von mittlerer, fast kleiner Statur, aber mit einem Blick begabt, der einen – und erst eine – spöttisch durchdrang, sekundiert von einem wissenden Lächeln, Wangengrübchen, Brad-Pitt-Augen, Prinz-Eisenherz-Kinn. Ein Macher, ein Tunichtgut, ein Duellant.

Die Frau vergaß sich kurz, vergaß Auftrag und Teamgeist. Er kam auf sie zu, fixierte sie, dann ihn, dann wieder sie. Sie schüttelten einander die Hände, offiziell, steifnackig wie Kommunalpolitiker, auch wenn ihre Blicke seltsam flackerten.

«Kühnemund», sagte das Bild von einem Mann, mit seinem Mund, dem geschwungenen, «Thorsten Kühnemund, guten Tag, ich freue mich.»

Jaja, dachte die Frau und starrte auf sein gespaltenes Kinn, mit mir nicht, du Arsch, mit mir nicht.

II. ALS SPACEMEN SICH DEN RAUM ERTROTZTEN

Ein Unternehmen, das wie ein Raumschiff strahlt, ist auch ein uraltes Insekt. Sein Panzer ist fest und trotzig, sein Blut kein Blut, sondern Öl: Öl aus den Adern der Erde, Quallenblut, Steinsaft, Fett der Saurier, menschenfern. Ein gepanzertes Tier hat teil am großen Puls der Welt, der durch die Pipelines strömt, in den Kabeln sirrt, über die Tabellen wabert, aus den Medien tickert – so wie alle ticken und weben und spannen und leben.

Das Tier sendet, frisst, empfängt, scheidet aus, ein Insekt aus lauter kleinen Insekten, ein Ameisenstaat, der tagaus, tagein seinen Hort befällt, emsig nagt und rechnet, die optimalen Strategien generiert für Schmierstoffverkauf, Shopumbau, Imagewertsteigerung, Kundenbindungsplan.

Ein Unternehmen, das ein Insekt ist, ist auch eine Staatsqualle: Bilanzen summen in den Gehörgängen ehrgeiziger Manager, geben den Takt auf den Fluren vor, das Schritttempo der Beine in Nadelstreifen (so leichtfüßig, der Teppich dämpft alles), ein Ticker in jedem Kopf.

Wenn man sich einem solchen Gebäude von außen nähert, suggeriert es Transparenz. Viel Glas und Licht lädt den Blick in die Tiefe ein. Ohne opak zu sein, bleibt das Gebäude aber dennoch undurchsichtig. Es versperrt die Sicht nicht, es zerstreut sie, und zwar mit Methode. Lichtreflexe auf Lichtreflexen ziehen den Blick in eine schwindelnde Tiefe, die gar nicht da, sondern Illusion ist, der Blick zersprengt sich an der Oberfläche, ohne es zu merken, und bevor das invertierte Bild, das auf die Retina trifft, vom Hirn überhaupt umgerechnet werden könnte, hat es sich tausendfach verflüchtigt in gefrorene Quecksilbersprengsel, umgemorpht zu Glitzereffekten, transzendiert in reine Oberfläche, an der alles und jeder abgleitet. Dahinter summt ein weggespiegelter Abgrund.

So wie die Welt der Wirtschaft die Idee von Vergangenheit leugnet, indem sie sie in Ergebnisse und Erfahrungswerte auflöst, Gedächtnis nur als Notat auf Monitoren und Papieren kennt und Erinnerungsreste in Zukunftskonzepte ummünzt, so lebte Thorsten Kühnemund im Hier und Jetzt, im Modus eines ständig sich erneuernden Präsens, das die Zukunft nur als Fluchtpunkt kannte. Diese Illusionslosigkeit, die der wahren Existenz des Menschen näher kommt, als diesem gemeinhin lieb ist, erfuhr er als zynisches Glück, als immerweißen Blankoscheck und Freischein, tun und machen und lassen zu können, was er wollte. Selbst dass die Zukunft im Unternehmen eine große, wenn nicht die größte Rolle spielte (denn alles Profitdenken richtet sich naturgemäß auf die Zukunft) – selbst diese doch seine Lebenswelt bestimmende, zutiefst kapitalistische Protension beeinflusste sein Denken nur sozusagen professionell. Im Büro wertete er Marktstatistiken, Verbraucheranalysen und AC-Nielsen-Daten aus, um neuen, kommenden Verkaufskonzepten den bestmöglichen Unterbau zu verschaffen, auf dass die Zukunft margenträchtig gedeihe. Im Privaten dagegen hangelte er sich von Augenblick zu Augenblick, wucherte im Jetzt, zwar liiert, zwar in einer typisch westberlinerischen Altbauwohnung voller Design und Raumgefühl angekommen und mit den nötigen Sicherheiten und Luxusgütern ausgestattet, aber dennoch immer auf dem Sprung, on the run, zutiefst unzuverlässig, ohne dass dies sich bisher je manifestiert hätte, innerlich unstet, unter der verkühlten Fassade heißnervös und grundsätzlich imstande, sein ganzes Leben von einem Moment auf den anderen zu verlassen, ein neues anzufangen oder gar alles, alle ihm möglichen Leben mit einem Strich zu beenden, einfach so, im Feuer. Insofern war er ein negativer Möglichkeitsmensch. Jedenfalls war dies sein Eindruck von sich selbst. Er hielt sich für einen Hedonisten, einen Augenblicksjongleur unter der Maske des erfolgreichen, verantwortlichen Managers, der nur angesichts der jederzeit möglichen Katastrophe so weiterleben konnte, wie er lebte.

Er trank einen Red Bull, spielte mit seinem Schlüsselanhänger und lauschte den Erörterungen der beiden Großhandelsvertreter. Es ging um neue mögliche Erweiterungen des Tiefkühlsortiments in den Shops, die Erfüllung sehr spezieller Kundenwünsche betreffend, gerade am Wochenende oder feiertags, tiefgefrorene Preiselbeeren etwa und handgesalzene Lachse. Thorsten fand sowohl die Sortimentserweiterungen als auch die Dame, die diese kühl und sachlich anpries, höchst interessant. Unten im Atrium hatte er sofort ein Zucken wahrgenommen, das seltsam unlokalisierbar geblieben war. Es war nicht recht in ihrem Gesicht gewesen, aber auch nicht in seinem: Es war eher zwischen ihnen gewesen, ein kurzer Energieschub, ein Lichtwechsel, wie wenn Wolken die Sonne umschatten und die Szene willkürlich abdimmen, und er hatte gesehen, dass auch sie es wahrnahm, er sah es an der Art, wie sie sich gespielt geschmeidig aus der schwarzen Ledercouch schraubte und in katzenhafter Gänze präsentierte. Und wieder, wie immer, hatte er nicht anders gekonnt, als diese Frau halbnackt und willig zu sehen; es war ein innerer Reflex, mit dem er leben musste, ein zwanghaftes Bild, das in Variationen angesichts jeder attraktiven Frau in ihm aufblitzte, ein Hurenbild mit aufgeknöpfter Bluse und hervorwippenden, weißen Brüsten, die ihm entgegenwuchsen, und mehreren lasziven Mündern, aus denen schnelle Zungen schossen, die volle Lippen leckten.

Denn Thorsten war im Laufe seines nun schon siebenunddreißigjährigen Lebens zu einer Art Sexmaniac geworden – manisch in der Tat und noch mehr im Geiste. Gemeinhin wird unserer Medienwelt nachgesagt, einer allumfassenden und tiefgehenden Sexualisierung anheimgefallen zu sein und diese zu progagieren: kein Werbebild, das nicht den perfekten Körper und seine allgegenwärtige Verfügbarkeit feierte; kein Slogan, der sich nicht einer obszönen Zweideutigkeit verdankte; keine Show, die nicht irgendwelche Geilheiten bediente, um die omnipotente Quote zu befriedigen. Entfesselter Sexus auf allen Kanälen, vielfach kodiert, aber immer offensichtlich. Ähnliches war Thorstens Bewusstsein passiert: Es war durchsexualisiert worden, und zwar komplett.

Mit der wachsenden Erfahrung korrespondierte eine verkümmernde Phantasie. Früher war ihm «das Reich der Sinne» ein barockes, grelles Märchenreich gewesen, bewohnt von Engeln, Pfauen und ein paar blendend weißen Dämonen, ein Vielstromland voller Geheimnisse und sinnlicher Utopien. Inzwischen war jedes Geheimnis mit dem Schweiße der zig Geschlechtsakte verdunstet und abgewaschen. Alles lag offen und banal vor ihm, Fleisch auf Fleisch, Biologie, Trieb, Reiz und Reaktion. Das Rätsel Weib war ihm zum Porno-Filmstill verkommen. Ob er von der gescholtenen Medienwelt derart versaut worden war oder ob er die Konditionierung selbst verschuldet hatte, blieb gleichgültig. Er wusste nicht, wie normal oder gut oder schlecht es war, es war einfach. Er sah eine Frau, sie wurde zum mentalen Pin-up, und weiter ging das Leben.

Diese Frau aber sprang auf sein Gehabe an. Das merkte er. Ungeduldig rieb sie ihren Schoß am Sitzpolster. Aber ein Meeting ist ein Meeting, und auf Meetings sind Interessen durchzusetzen. Über die französische Nonchalance, in deren Namen den Geschäftspartnerinnen süßliche Komplimente gemacht werden können (er hatte während des Studiums als Praktikant bei einem großen Kosmetikunternehmen in Paris gearbeitet und dort die kunstvolle Leichtigkeit des geschäftlichen Umgangs erlernt), durfte dieser Flirt nicht hinausgehen. Er zerdrückte die Red-Bull-Dose, pfiff durch die Zähne, setzte ein unbedarftes Gesicht auf und sagte zu dem Mann:

«Das sind tatsächlich interessante Perspektiven. Ich werde das mit meiner Abteilung besprechen und Ihnen innerhalb der nächsten Woche Nachricht zukommen lassen.»

Alles entspannte sich. Eine Einigung zeichnete sich ab. Eine Einigung ist immer ein Genuss. Er begleitete die beiden zum Aufzug, verabschiedete den Mann mit einem kräftigen Händedruck, die Frau überdies mit der Bemerkung, dass ihre Brosche hervorragend zu ihrem Rock passe. Das war gegen die Norm. Mit solcherart Komplimenten konnten Kontakte wünschenswerterweise eröffnet, aber keinesfalls verabschiedet werden. Sie dankte es ihm mit einem besonders festen Händedruck und hob kokett eine Augenbraue. Dann schloss sich die Fahrstuhltür, und er sah die beiden durch das Glas hinabfahren. Er zündete sich eine Zigarette an.

Und ob, du Schlampe. Und ob.

Nach dem Mittagessen war ein Briefing für die neue «Welcome»-Ausgabe angesetzt. «Welcome», so hieß das unternehmensinterne Partnermagazin. Es erschien alle zwei Monate und wurde an die Tankstellenpächter zu Instruktionszwecken und wegen der Trendberichte, an die Industriekooperatoren aus Gründen der Imagepflege versandt. Ein neuer journalistischer Mitarbeiter war angekündigt. Der bisherige Redaktionsstab von «Welcome» bestand aus drei desillusionierten Schreibern um die vierzig, die irgendwann ihr Stadtmagazin- oder Filmkritikerdasein an den Nagel gehängt hatten und sich nun wegen des doppelt so hohen Zeilengeldes als Industriejournalisten verdingten. Der Neue sei anders, jünger, unverbrauchter, hatte die Chefredakteurin auf dem Flur gesagt. Ein Artikel über die neuen Space-Management-Konzepte war vorzubereiten.

«Space Management», dozierte Thorsten eine halbe Stunde später, «ist die umsatzsteigernde Neustrukturierung und Optimierung von Shopbereichen.» Er blickte in ein seltsam verwaschenes Gesicht. Der neue Journalist, Magnus Taue beim Namen, saß ihm ausdruckslos, womöglich feindselig gegenüber und hielt sich an seiner abgenutzten Plattentasche fest. Er war tatsächlich jünger als die anderen, hatte aber einen altklugen Zug um die verkniffenen Lippen, war leicht aufgedunsen und sehr bleich. Seine Augen blickten stechend, bohrten sich in Thorstens Gesicht fest, schienen jedoch leicht zu tränen. Die Gesichtszüge, eigentlich die eines Charakterkopfes, wirkten verschwommen, teigig.

«Wollen Sie nicht mitschreiben?», fragte Françoise Starck, die Chefredakteurin von «Welcome».

«Doch, natürlich», antwortete Taue, kramte in seiner Plattentasche und lächelte still in sich hinein. Er war Thorsten unsympathisch.

Auf die Wand war das Spaceman-Planogramm projiziert. Ein idealtypisches Kühlregal, in das alle relevanten Warengruppen in Form von feinen, übersichtlichen Blöcken einsortiert waren: Energy Drinks, Sportgetränke, Säfte regional, Säfte national, Wasser, Premixe, Softdrinks, Sekt. Thorsten liebte diese effiziente, saubere Ästhetik des Kapitalismus. Alles lag offen, die Fehler konnten begriffen, die Schönheit gesteigert werden. Nichts war ihm angenehmer als eine Reihe Logos oder eine Serie gleichförmiger, werkfrischer Kühlprodukte. Diese hier waren von der Agentur digital gezeichnet und per Copy & Paste einheitlich und makellos nebeneinander gestellt worden. Das verstärkte den Effekt der Gleichförmigkeit, der perfekt polierten, umsatzsteigernden Oberfläche. Multifacing sorgt für Warendruck, Masse verkauft Masse.

Thorsten dozierte weiter. «Welche Daten fließen also ein bei der Erstellung eines Planogramms? Zunächst werden die Warengruppen analysiert und strukturiert. Eine Warengruppenstruktur wird definiert und nach den Umsätzen bewertet. Wie groß ist beispielsweise der Umsatzanteil von Wasser ohne Kohlenstoffdioxid am gesamten Wassersegment? Wie groß an dem der alkoholfreien Getränke? Danach werden Warengruppen-Taktiken festgelegt. Trends, Regionalitätsfaktoren und netzinterne Besonderheiten der jeweiligen Gruppen werden im sogenannten Warengruppenbarometer zusammengefasst.

Nehmen wir die Warengruppe Wein als Beispiel: Wie Sie sehen, wächst hier der Trend, wir haben eine große Sortimentsbreite und -tiefe, Regionalität spielt eine Rolle, der Flächenanteil ist mittelwertig, und der Schwerpunkt liegt nicht beim Impuls-, sondern beim Zielkauf. Das ergibt spezifische Platzierungs- und Optimierungsalternativen. Nach Eruierung dieser Faktoren werden die Maße der Shopmöbel und der Produkte bei den Herstellern eingeholt oder, wenn nötig, eigenhändig ausgemessen, um die Regalierungstypen zu definieren und die sinnvollsten unter ihnen zu bestimmen. Die Artikel werden vor Ort an der Station genau vermessen und dann gemäß ihrer Umsätze ausgewählt, um schließlich im Planogramm platziert zu werden. Es fließen also Regaldaten, Artikelmaße, markt- und netzinterne Daten in ein Planogramm ein, um die optimale Gestaltung des Shops zu gewährleisten.»

Während er dem metallenen Klang seiner eigenen Stimme lauschte und genoss, wie der steril ausgeleuchtete Raum sich mit seinen Worten füllte, spürte Thorsten doch eine ständige Irritation, die sich in sein Diktat mischte und so an seiner Autorität kratzte. Wie eine Fliege, die nicht verscheucht werden kann und sich einen Dreck schert, wessen Ohr sie da nervt, hing ein Geräusch in der Luft, ein Knistern oder Rascheln, das ihn anging, das sich unter sein Reden legte und seine rhetorischen Kreise störte. Wie immer bei einer gefühlten Störung, deren Herkunft noch nicht klar war, juckte es in Thorstens Nase. Gereizt verzog er die Miene, rieb sich die Nasenflügel, massierte den Nasensteg. Er ging zum Fenster und schnäuzte sich dort, Steuerung der Einzelsegmente, höchstmögliche Margen, starrte auf die Baukräne, die wie große, futuristische Heuschrecken aussahen. Was war das bloß für ein Geräusch? TOP-Produkte, Kingsize-Lösung, hörte er sich reden, kaum mehr bei der Sache, seine Stimme schepperte, Roll-out, Zoning, Kaufanreiz, Convenience, etwas schabte in Thorstens Hals, ein totes Insekt klebte zwischen seinen Stimmbändern, ein staubiger Nachtfalter; er ließ eine Flying-Horse-Dose aufknacken und stürzte sie, Entschuldigung, in kleinen Schlücken hinunter. Unten standen die Bauarbeiter und bewegten sich nicht, behelmt und starr wie Playmobilfiguren im Sandkastensand.

Er hatte den Faden verloren.

Schweigen breitete sich aus.

Die Kräne sagten nichts.

Aber das Störgeräusch war noch da, in seinem Rücken, ein Rascheln oder Kratzen, das nicht aufhören wollte. Er drehte sich um, völlig entgeistert, suchte. Sein Blick schweifte über Monitor, Tischkalender, Schokoproben, an der Wand entlang, den Warholprint streifend, über Alkopops-Kästen und Logoplakate hinweg. Dann entdeckte er endlich die Quelle, es war ein kleines Objekt, das sich bewegte, mit der Hartnäckigkeit eines Seismographen. Doktor Mabuse, schoss es Thorsten durch den Kopf.

Denn der Journalist, von dem das Geräusch zweifellos ausging, saß derart verwachsen und zusammengekrümmt über seinem Notizblock, dass ihm hinten eine Art zweihöckriger Buckel hervortrat, den das hellblaue Oberhemd nur unzureichend verbergen konnte. Seine Haare schienen zerzauster als zuvor, wilde Filzflammen, die ihm über die Ohren wuchsen, und er schrieb mit, aber wie, wie schrieb der mit, mit einer Intensität, die allein beim Zusehen wehtat, seine Finger umklammerten den Stabilo-Stift so verkrampft, dass die Knöchel weiß hervortraten, feingliedrig und nikotingelb, sie zitterten, und mit ihnen die Schrift, unleserliche Zeichen oder Zeichnungen, die in das Papier gesenkt, geätzt wurden, wie Privatsteno in eine Lithographieplatte geritzt, und die Stiftspitze kratzte nicht auf dem, sondern wirklich in das Papier, eine rastlose, kaum sichtbare Bewegung sonderte pausenlos dieses perfide Geräusch ab, das Thorsten kalte Wellen den Rücken hinunter schickte, wie das Knirschen der Kreide auf der Tafel, wie das Streifen des Fingernagels über Schiefer, ein Knistern, Knacken, das zu den Filzflammen auf dem Kopf des selbstvergessenen Schreibers passte.

Wie ein Irrer, dachte Thorsten und hatte dabei doch schon längst sich selbst vergessen, denn jetzt fiel ihm auf, dass seine beiden Zuhörer ihn anblickten, in Erwartung weiterer Details, und dass nicht Mabuse, sondern er es war, der den Betrieb aufhielt.

Das Geräusch aber setzte sich fort.

Der Journalist schrieb weiter, während er Thorsten anstierte, mit diesen nassen Augen, diesem heißen Blick darin, und unten bewegte der Stift sich wie von selbst.

Dieser Mensch war Thorsten unsympathisch, aber auf die lästige, zu nahe Art und Weise, wie Verwandte einem unsympathisch sind, Verwandte, die man nicht loswird außer durch den Tod. Thorsten musste plötzlich niesen, er drehte sich zum Fenster, hob die Hand, und es preschte los, das Niesen durchfuhr seinen Körper mit einer Gewalt, die ihn fast umwarf. Die Kräne nickten. Er schüttelte sich wohlig. Niesen hat denselben Effekt auf den Körper wie ein halber Orgasmus, hatte er in irgendeiner Männerzeitschrift gelesen. Jetzt konnte er sich wieder fangen. Zufrieden drehte er sich um. Das Geräusch hatte aufgehört.

«Gesundheit», sagte Taue, der Journalist, und lächelte verschlagen.

«Danke», sagte Thorsten und stand wie angewurzelt, denn so verdeckte er das kleine Malheur, das er auf der Fensterscheibe hinterlassen hatte.

«Wo war ich stehen geblieben?»

«Tiefkühlkost», sagte Taue. Es klang wie aus dem Telefonhörer.

«Richtig», sagte Thorsten, schnäuzte sich und dachte: Den kenne ich doch.

«Richtig», sagte er nochmals. «Das Beispiel Tiefkühlkost. In diesem Bereich ist die Pizza mit neunundsiebzig Prozent Umsatzanteil absoluter Spitzenreiter, gefolgt von Baguettes und Ciabattas mit zusammen elf Prozent. Danach folgt das Sonstige: Pommes frites, Fisch, Süßes, Grünes. In der Tiefkühlkost-Herstellersparte führt Wagner knapp vor Dr.Oetker, gefolgt von Langnese Iglu, danach Freiberger und andere. Was sagt uns das? Das neue Catman-Spaceman-Konzept gibt sofort Antwort: Um das Sortiment zu optimieren, müssen wir das Angebot erstens in den Warengruppen auf Pizzen und Baguettes und zweitens bei den Herstellern auf die Top-Marken Wagner, Dr.Oetker und Iglu reduzieren. Nur die Spitzenreiter dürfen bleiben. Das bringt Struktur ins Kühlregal und erhöht den Ertrag. Gefrorene Heidelbeeren für Großmutters Sonntagstorte oder Rotkohl für die Weihnachtsgans haben in der Kühlung nichts verloren: Sie nehmen nur Platz weg, stören die Übersichtlichkeit und bringen absurd wenig Umsatz! Haben Sie das?»

Ritz-ritz-ritz ging der Stift über das Papier. Taue nickte und schob sein gelbes Teigkinn vor. Der Tränenfilm auf seinen Augen wurde dichter. Oder war es nun Thorstens Blick, der langsam verschwamm? Ihm dämmerte: Irgendwoher kannte er dieses Gesicht. Von früher, aus Bonn womöglich, oder aus Amerika? Nur war das Gesicht damals deutlicher es selbst gewesen, mit richtigen Konturen, fast schon karikaturhaft stark. Dies hier war nur ein verblichener Rest, eine Reminiszenz, ein Durchschimmern, ein Abdruck wie auf einem hellen T-Shirt, das versehentlich mit den Jeans in die Waschmaschine geraten ist: der Abschein einer Erinnerung.

Thorsten wurde langsam aggressiv. Was suchte dieser Typ hier? Woher kam der, und warum beschäftigte sich irgendeine Dunkelkammer in Thorstens Hirn mit ihm? Was wurde dort entwickelt? Seine Nase begann wieder zu jucken. Nur ein Negativ, schoss es ihm durch den Kopf, nur ein Negativ. Dann noch einige Details, einige Anweisungen zum Aufbau des Artikels: «kleinteilige Splitterung in Kästen», Focus-Style, häppchenweise präsentiert. Taue hörte sich das alles an, lächelte (spöttisch? spöttisch!) und verabschiedete sich schließlich, verstellten Ganges, mit Knien, die nicht durchgedrückt wurden, mit federnden, schleichenden Schritten. Auch das kam Thorsten bekannt vor. Dieser Mensch war nicht nur unsympathisch, er war ihm in seiner Verschlagenheit geradezu unheimlich. Er überlegte. Ja, irgendwoher kannte er dieses Gesicht, diese Art: dieses Unfertige, Gehemmte, Vorwurfsvolle. Diese Unterschichtenüberheblichkeit, den Stolz der hängenden Schultern. Nur woher?

III. MEHLIGE KEHLEN

Ich brauche andere Reize, dachte Thorsten später, als die Nacht den Tag gnädig abgelöst hatte und die tanzenden Körper vor ihm herumwirbelten. Andere Reize, Frischstoff für die Augen, Effekttrigger im Hypothalamus, dachte er, alles Mögliche, um die Synapsen neu zu tunen. Das hier hatte er schon zu oft gesehen und in sich aufgesogen: die Nachtgesichter der Frauen und Männer, die Verhakungen auf der Tanzfläche, die vieldeutigen Gesten und Blicke.

Z-förmig zuckten die Lichter und stapelten sich übereinander; ein Gesicht schien auf, das er von woanders her kannte, mit zusammengewachsenen Augenbrauen wie ein stilisiertes, breites Vogel-V und hervorwölbenden Lippen; ein Lichtpilz schwirrte darüber hinweg und zerplatzte über der Tanzfläche.

Kennen die, die ich vom Sehen kenne, mich auch vom Sehen?, fragte er sich, während er sich durch die Menge schaufelte, um zur Bar zu gelangen. Er dachte dabei an den verschlagenen Journalisten vom Nachmittag. Ein weiteres bekanntes Gesicht tauchte auf aus der Dunkelheit, gleißte hoch, driftete seitwärts aus seinem Blickfeld und verglühte. Wie viele kennen mich, die ich nicht kenne? Wie groß ist die Schnittmenge? Fragen, die, kaum gestellt, sofort wieder erloschen.

Er kippte den Bourbon hinunter und bestellte einen weiteren. Der erste Bourbon schmeckte immer wie eine scharfe, magensäubernde Medizin, die seine Speiseröhre bei jedem Schluck ansengte, der zweite schmeckte wie linderndes Öl, das den Brand wieder schloss. Er nahm ein Bier, um nachzuspülen. Edwin saß neben ihm und wischte sich den Mund mit seiner Krawatte ab.

Edwin sagte: «Jedenfalls ist die eine solche Glam-Zicke.»

Thorsten nickte, ohne zu wissen, von welcher Frau Edwin sprach.

«Es gibt diese Frauen», sagte Edwin, «die klackern extralaut mit ihren Klackerstöckeln, die wuchten ihre Absätze so hart in den Asphalt, dass es den ganzen Ku’damm runterhallt, und die Löwenmähne und das Gucci-Täschchen wackeln im Takt der Schritte, auf eine Art, dass einem das kalte Kotzen kommt. Und das soll dann Selbstbewusstsein bedeuten. Proll-Glam-Zicke! Und das mir!»

Thorsten stellte sich noch einen Grasovka und ein Bier in den Magen. Er gab der Bedienung ein Zeichen. Sie kam und beugte sich vornüber, um seine Bestellung entgegenzunehmen. Er sah ihr in den Ausschnitt und wusste, dass sie es sah. Er lächelte; sie verzog keine Miene. Sie hatte einmal in einer Popband gespielt, hieß es, die einst Vorband einer anderen, weitaus berühmteren Band gewesen war. Thorsten kannte sich da nicht aus.

«Und ihr», sagte er, als die Bedienung wieder weg war, «ihr wart nur im Bett? Fuck Buddys? Oder was?» Er musste ein Gähnen unterdrücken. Der Wodka-Bull schmeckte säuerlich.

«Experimentaltheater», sagte Edwin. «Ins Experimentaltheater bin ich gegangen, drei-, viermal. Die studiert ja Theaterwissenschaften.»

«Ouh», hauchte Thorsten ironisch, steckte sich eine Zigarette an und zog gierig an ihr.

«Ja. Dafür gab’s dann aber auch Experimentaltheater im Bett», grunzte Edwin, «aber hallo! Akrobatik!», schrie er und wischte sich mit dem Ärmel über die glänzende Stirn.

«Ouh», sagte Thorsten wieder, «hört sich nicht gut an, hört sich gar nicht gut an.»

«Doch, war aber gut, war aber sehr gut», sagte Edwin, «das ist es ja, das ist ja das Problem. Sie ist ein weiblicher Fakir, eine Schlangenfrau, ein Wunderwerk der Elastik!»

«Ich verstehe», zwinkerte Thorsten dümmlich und winkte die Bedienung erneut herbei, um Edwin davon abzuhalten, weiter ins Detail zu gehen. Er konnte seinen Saufkumpan gerade schlecht ertragen, er konnte sich nicht ertragen.

Die Bedienung schlurfte heran, misstrauisch.

Thorsten sagte: «Mein Kollege hier und ich, wir möchten heute ans Limit gehen, werte Dame. Haben Sie eine Empfehlung? Einen Drink womöglich, der uns ausknockt mit der Geraden? Den Muhammad Ali unter den Drinks, sozusagen? Wir spüren nämlich nichts mehr, werte Dame», sagte er. «Wir sind stumpf. Wir brauchen’s mit dem Vorschlaghammer. Sonst sind wir tot.»

«Spinner», sagte die Bedienung und schmunzelte; in ihren Augen funkelte eine Discokugel.

Thorsten sagte: «Ich kann erkennen, dass diese Augen auch schon bessere Zeiten gesehen haben. Das Feuer in ihnen, wie lang ist es erloschen? Komm näher, Hase. Glüht da noch was? Ich sehe nur Asche. Willst du dich nicht mit uns feuern, feiern, Ferien nehmen von dir selbst? Nein? Wie heißt du, Hase? Willst du auch was trinken? Du bist eingeladen. Heute wird attackiert. Bis ans Limit gehen wir heute. Wir fahren am Anschlag, roter Bereich. Was geht noch heute Abend? Geht heute Abend noch was? Ich zahle!»

«Zwei Sexkiller also», sagte die Bedienung müde und drehte sich wieder um.

«Sexkiller? Sind damit jetzt wir gemeint, oder sind das die Drinks?, » prustete Edwin.

«Beides wahrscheinlich», sagte Thorsten, «wahrscheinlich beides.» Er schaute sich um. Die Leute standen an der Bar wie von einem Bildhauer verworfene Skulpturen und hatten seltsame Frisuren, denen man nicht ansehen konnte, ob das Verschnittene daran gewollt war oder nicht. Thorsten jedenfalls konnte es nicht, oder konnte es nicht glauben, dass diese Haare Ergebnisse eines absichtsvollen Willens darstellen sollten. Er selbst hatte einen konservativen Scheitel, der fünzig Euro kostete, beim Lehrling eines Prominentenfriseurs. Die Bedienung kam zurück mit den Drinks, er nippte daran: ultramarin und bitter.

«Das ist ja Schlumpfblut!», lachte er. Dünner Nebel wallte neben ihm auf. Er reichte der Bedienung einen Fünfziger.