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Lyanne flieht mit ihrem Sohn von Columbus/Ohio in die Kleinstadt Solana Beach in Kalifornien. Hier möchte sie ein neues Leben starten – ohne ihren Stalker, der sie verfolgt und ihr das Leben zur Hölle macht. Von Männern hat sie die Nase gestrichen voll, und doch ist da eine Anziehungskraft zwischen ihr und ihrem neuen Boss Connor. Wird sie ihr nachgeben? Wird er seine Vorurteile überwinden? Und was passiert, wenn ihr Stalker sie wieder findet?
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Impressum
© 2020, Alina Jipp
https://www.facebook.com/AlinaJippAutorin/
Alina Jipp
Am Georg-Stollen 30
37539 Bad Grund
Cover
Art for your book Sabrina Dahlenburg
Lektorat, Korrektorat & Buchlayout
Lektorat Buchstabenpuzzle B. Karwatt
www.buchstabenpuzzle.de
Erstkorrektorat
Andreas März
Bildmaterial Buchlayout
www.pixabay.com
Die geschilderten Personen und Ereignisse sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
2. Auflage
Imprint: Independently published.
ISBN-13: 978-1-6579-1173-4
1. Lyanne – Aufbruch
Ein letztes Mal sah ich mich in meiner Wohnung um und nahm still Abschied. Sechs Jahre hatte ich hier gelebt, aber es kam mir vor, als wäre es viel länger gewesen. So viele Erinnerungen steckten in diesen Räumen, viele gute, aber auch einige schlechte. Zum Beispiel an Nicks Vater – oder sollte ich besser Erzeuger sagen? –, der nur ein paar Wochen nach Nicks Geburt abgehauen war und sich seitdem nicht mehr gemeldet hatte. Jedes einzelne Möbelstück hatte ich selber ausgesucht und mir hart erarbeitet. Nun musste ich alles hier zurücklassen. In Solana Beach hatte ich eine möblierte Zweizimmerwohnung angemietet, die ich mir im Vorfeld nicht einmal persönlich ansehen konnte. Allein der Gedanke daran trieb mir die Tränen in die Augen. Auch wenn ich mich auf den Neuanfang irgendwie freute, so fiel es mir trotzdem verdammt schwer, alles hier zurückzulassen. Hoffentlich erwartete uns dort keine böse Überraschung. Eine andere Wahl gab es nicht, auch wenn das Risiko hoch war. Jetzt konnte ich sowieso nur das Nötigste für Nick und mich mitnehmen. Wir würden in ein ganz neues Leben starten, ohne die alten Sachen, aber, so hoffte ich, auch ohne die alten Probleme. Ich musste ihn einfach loswerden.
Es kam mir vor, als wären wir Flüchtlinge, die wir im Grunde ja auch waren. Wir flohen zwar nicht vor einem Krieg, aber doch vor Terror – Psychoterror – eines verrückten Stalkers. Zum Glück war ich auf Stopp–Stalking – Verein für Stalking–Opfer – aufmerksam geworden. Mithilfe dieser Menschen hatte ich meinen Umzug ganz genau geplant. Freunde hatte ich ohnehin kaum, zu denen ich jeden Kontakt abbrechen müsste, aber an die neue Identität würde ich mich trotzdem erst gewöhnen müssen. Aus Lyanne O’Sullivan, kurz Anne gerufen, würde Lyanne Brown werden. Als Rufnamen hatte ich mir Lynn ausgesucht. Außer meiner Großmutter hatte mich noch niemand so genannt, aber irgendwie fühlte es sich gut an. Besser jedenfalls als ein völlig fremder Name. Es war gewiss nicht einfach, alles hinter mir zu lassen, aber nur so hatte ich eine Chance auf einen Neuanfang ohne Angst.
Noch zwanzig Minuten bis das Taxi kam, es war höchste Zeit, meinen Engel endlich zu wecken. Der arme Kleine ahnte zum Glück nicht, was uns bevorstand. Hoffentlich konnte ich ihm das Ganze als Abenteuer verkaufen, um ihm den Neuanfang zu erleichtern.
Schnell wischte ich mir die Tränen weg, die in den letzten Minuten des Abschieds einfach so gelaufen waren, ehe ich ins Kinderzimmer hinüberging. Nick sollte nichts von meinen widersprüchlichen Gefühlen mitbekommen, aber er wurde gar nicht richtig wach, als ich ihn anzog. Das war auch kein Wunder, schließlich war es erst vier Uhr morgens. Noch ehe die Wohnungstür ein letztes Mal hinter uns ins Schloss fiel, schlief er auf meinen Arm schon wieder tief und fest. Ich konnte nur hoffen, dass er unser altes Zuhause nicht zu sehr vermisse würde.
Der Taxifahrer half mir, meinen Sohn und das Gepäck im Wagen zu verstauen. Es wäre leichter gewesen, wenn wir das Gepäck im Vorfeld aufgegeben hätten. Aber das Risiko war einfach zu groß. Jason könnte dadurch herausfinden, wohin ich verschwand. Genau aus diesem Grund hatte ich sogar mein Handy in der Wohnung liegen lassen und mich von keinem meiner Bekannten verabschiedet. So wenig Spuren wie nur möglich hinterlassen, das war unser Ziel. Ein Handy konnte man auch illegal orten und Bekannte könnten sich aus Versehen oder Unwissenheit verplappern. Um die Auflösung der Wohnung würde sich der Verein kümmern. Einen Teil der Möbel bekäme eine andere Frau, die in der gleichen Situation wie ich steckte, und der Rest wurde zugunsten des Vereins verkauft. So finanzierten sie einen ganzen Teil ihrer Hilfe.
Am Flughafen wurde Nick dann doch wach und beobachtete völlig fasziniert, was er um uns herum sah. Ständig musste ich aufpassen, dass er mir nicht davonrannte.
Plötzlich stieß ein dunkelhaariger Mann gegen meinen Gepäckwagen und ein Rucksack fiel herunter. Mir blieb fast das Herz stehen vor Schreck. Natürlich musste es auch noch ausgerechnet der sein, in dem sich zerbrechliche Sachen wie die Kamera und der Laptop befanden.
»Entschuldigen Sie bitte. Das war keine Absicht.« Der Mann lächelte mich entschuldigend an.
»Schon gut«, brummte ich und versuchte, den Rucksack wieder aufzuheben und gleichzeitig Nick am Weglaufen zu hindern.
»Darf ich Ihnen behilflich sein?«, fragte er höflich und hob den Rucksack wieder auf, während ich hinter meinem Sohn herrannte.
»Nick, bleib endlich stehen«, schimpfte ich, »sonst fliegt unser Flugzeug noch ohne uns.«
»Ich will aber jetzt fliegen. Ich bin ein Pilot«, antwortete mein Junior empört. Der kleine Mann liebte schon lange alles, was mit Autos und Luftfahrzeugen zu tun hatte. Vielleicht konnte ich ihn mit einer List dazu bekommen, dass er letztendlich auf mich hörte. Zumindest im Moment schien es zu funktionieren und er folgte mir wieder zu unseren Sachen. Der Mann war verschwunden, aber zum Glück stand mein Rucksack wieder auf dem Gepäckwagen. Einen Augenblick hatte ich befürchtet, er könnte ihn gestohlen haben.
Eine Viertelstunde später hatte ich eingecheckt und war mein Gepäck los. Nur den Rucksack würde ich als Handgepäck mit ins Flugzeug nehmen. Den trug ich nun auf dem Rücken und hatte somit beide Hände frei, um meinen Sohn zu bändigen. Die Wartezeit überbrückten wir mit einem Bummel durch den Flughafen, dabei ließ ich meinen Blick immer wieder über die Menschenmassen gleiten. Ich war sowieso lieber in Bewegung, solange wir noch hier in Columbus waren, die Angst trotz aller Vorbereitungen und Absicherungen doch noch von Jason gefunden zu werden, war einfach zu groß. Er durfte auf keinen Fall erfahren, wo unsere Reise hinführte, sonst würde er uns sicher folgen. Da war ich mir völlig sicher. Diesem Mann war alles zuzutrauen.
Endlich wurde unser Flug aufgerufen. Nick hampelte wie verrückt, denn er war noch nie geflogen und schrecklich aufgeregt, weil es nun losging. Für ihn war das Ganze ein großes Abenteuer. Fast wünschte ich mir, ich könnte es ebenso positiv sehen wie er. Aber im Moment sah ich nur die Risiken und was ich aufgeben musste. Und das nur wegen eines durchgeknallten Idioten, der behauptete, mich zu lieben.
Das Flugzeug hob ab und langsam atmete ich etwas auf. Wenn ich keinen Fehler gemacht hatte, würde Jason mich nun nicht mehr finden. Jeany, die Mitarbeiterin der Hilfsorganisation, hatte wirklich alles perfekt vorbereitet. In Solana Beach erwarteten mich eine Wohnung, ein Job, ein Kindergartenplatz für Nick und hoffentlich kein Stalker.
Er wird uns nicht finden, sprach ich mir selber Mut zu. Lyanne Brown war ein Allerweltsname und das O’Sullivan würde ich nicht vermissen. Den Mädchennamen meiner Großmutter zu benutzen machte mir Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Nick verschlief nach der anfänglichen Aufregung einen großen Teil des fast fünfstündigen Fluges und ich weckte ihn erst kurz vor der Landung in Los Angeles, damit er sich umziehen konnte. Die Sachen hatte ich im Handgepäck dabei. Denn während in Columbus vier Grad minus geherrscht hatten, würden uns hier in Kalifornien ungefähr fünfzehn Grad plus erwarten.
»Mom, es ist Winter. Da darf ich den dünnen Pulli doch nur im Haus anziehen«, protestierte der Kleine verwirrt. Schließlich verbot ich ihm seit Monaten, mit seinem Lieblingsteil vor die Tür zu gehen.
»In Kalifornien ist es wärmer, Nick«, erklärte ich ihm.
»Kein Schnee?«, fragte er noch einmal.
»Nein, Schatz. Den gibt es hier nicht. Aber dafür tolle Strände. Wir werden ganz oft ans Meer gehen, damit du dort spielen kannst«, versprach ich ihm.
»Wirklich?«, fragte er selig und ich bestätigte es ihm erneut.
»Und ich darf auch im Ozean baden?« Für ihn gab es nichts Schöneres als Wasser.
»Dafür ist es jetzt wahrscheinlich doch noch etwas kalt.«
Die Landung lenkte ihn noch etwas ab, aber während der ganzen Zeit, in der wir auf unser Gepäck warteten und dann zur Bushaltestelle gingen, hatte Nick nur ein Thema. Er wollte ans Meer – sofort. Dabei stand uns der anstrengendste Teil der Reise noch bevor.
Wir aßen schnell Burger in einem Schnellrestaurant und mussten uns auch schon beeilen, um den Bus noch rechtzeitig zu erwischen.
»Mommy, hast du auch meinen Bagger eingepackt? Den brauche ich am Strand.« Ich seufzte leise. Wie sollte ich ihm erklären, warum wir kaum etwas mitnehmen konnten? Sein großer Sitzbagger stand noch immer im Sandkasten im Innenhof unseres alten Hauses. Die anderen Kinder dort würden sich sicher darüber freuen.
»Nein, aber der wäre auch viel zu schwer, um ihn an den Strand zu tragen. Ich kaufe dir einen Kleineren, den du tragen kannst.« Damit gab er sich zufrieden, sah den Rest der ersten Busfahrt aus dem Fenster und unterhielt den ganzen Bus, indem er jede Kleinigkeit draußen kommentierte. Manchmal wünschte ich mir eine Mute–Taste, um ihn mal einige Augenblicke stumm zu schalten.
Es dauerte dreißig Minuten, bis wir unser erstes Ziel erreichten und in den anderen Bus umzusteigen. Zum Glück hielt der direkt hinter unserem. So war es nicht so kompliziert, mit Nick und Gepäck dorthin zu kommen, zumal wir nur zwanzig Minuten bis zur Abfahrt hatten. Dieser Abschnitt der Reise war etwas länger als der vorherige und Nick wurde mit der Zeit tatsächlich ein bisschen ruhiger, da er müde war. Aber das war ja auch kein Wunder, es war mittlerweile fast vierzehn Uhr in Columbus und somit waren wir schon zehn Stunden auf den Beinen. Hier war es erst elf Uhr Ortszeit. Außerdem hatte er viele neue Eindrücke zu verarbeiten. Ich schaffte es aber, ihn bis zum nächsten Halt am Einschlafen zu hindern.
Den Rest der Strecke nach Solana Beach würden wir jetzt mit der Bahn zurücklegen, und da diese Fahrt über zwei Stunden dauerte, konnte Nick auch ruhig schlafen. Allerdings tat er mir diesen Gefallen nicht. Durch das Umsteigen war er wieder richtig wach und wollte beschäftigt werden.
»Ich will auf deinem Handy spielen«, forderte er quengelig. Ab und zu durfte er das. Ich hatte sogar extra eine App für ihn installiert, mit der er Luftballons zerplatzen lassen konnte. Nur lag mein Handy ja in unserer alten Wohnung und ich musste ihn enttäuschen.
Nick war nun noch unleidlicher und meine Nerven lagen langsam blank. Ich fühlte mich völlig erschlagen und überfordert mit der Situation. Zumal mein kleiner Mann alles ablehnte, was ich ihm anbot. Egal ob Essen, Trinken, Malsachen oder Spielzeug. Er war nicht zufriedenzustellen.
»Das macht doch nichts. Kinder sind nun einmal so. Sie sind wohl schon länger unterwegs?«, fragte die ältere Frau, die uns gegenüber saß, nachdem ich mich für sein Verhalten entschuldigt hatte.
»Ja, wir kommen aus Ohio.« Näheres sagte ich nicht. Auch wenn Jason hier hoffentlich niemanden kannte, so hatte ich doch immer noch Angst, ihn auf unsere Fährte zu bringen.
»Dann darf er auch unleidlich sein. Ich habe drei Enkel, die sind auch nicht besser drauf, wenn sie verreisen. Bleiben Sie lange in Kalifornien?« Neugierig musterte sie unser Gepäck.
»Mommy, guck mal. So viel Wasser.« Der Zug fuhr nun direkt an der Küste entlang und Nick war völlig aus dem Häuschen. Seine Laune stieg sofort um ein Vielfaches.
»Das ist das Meer, Schatz«, erklärte ich ihm. »Jetzt dauert es auch nicht mehr lange und wir sind endlich da.« Ich konnte die Ankunft kaum erwarten. Auch wenn ich große Angst vor dem Neuanfang hatte. Schließlich kannte ich hier keine Menschenseele und musste Nick völlig fremden Menschen überlassen, wenn ich nächste Woche meinen neuen Job antreten würde. Selbst meinen Chef kannte ich nicht persönlich. Das Bewerbungsgespräch hatten wir über Videochat geführt. Ob wohl alles gut gehen würde?
2. Connor – Veränderungen
Genervt saß ich am Schreibtisch des Minibüros hinter dem Laden und versuchte, Ordnung in das Chaos zu bringen, das mein Bruder in meiner Abwesenheit angerichtet hatte. Ich war doch nur zwei Wochen nicht in der Stadt, wie hatte er es da geschafft, die Papiere der letzten Monate durcheinanderzubringen? Ich hatte ihm doch klar und deutlich gesagt, dass er die Finger davon lassen sollte. Warum hatte Jodie ihn überhaupt ins Büro gelassen? Normalerweise kümmerte sie sich um die Abrechnungen, wenn ich nicht da war. Auch wenn das nicht so oft vorkam.
»Daniel?«, rief ich den Schuldigen, der gerade dabei war Bilderrahmen auszupacken. Eigentlich nannte ich ihn nur Dan, aber im Moment war ich wirklich stinksauer. Das Chaos zu lichten würde mich Stunden kosten. Es war gerade kein Kunde im Laden und die Zeit musste man ausnutzen. Ich wusste das, weil wir hier hinten zwei Monitore hatten, auf denen man die Bilder der Überwachungskameras sehen konnte. Viel hielt ich nicht von dieser Dauerüberwachung, und ich würde sie auch nie nutzen, um das Personal auszuspionieren, aber ab und zu, so wie gerade jetzt, waren diese Kameras schon praktisch.
»Ja?« Mein Bruder kam ins Büro, blieb aber zögernd an der Tür stehen. Er sah aus wie das personifizierte schlechte Gewissen. Das kannte ich so gar nicht von ihm, normalerweise zuckte er bei solchen Sachen einfach nur mit den Schultern und meinte, ich würde das schon regeln. Aber viel mehr noch als sein Verhalten, irritierte mich seine neue Frisur. Bisher hatte er seine blonden Haare immer lang getragen und oft zum Pferdeschwanz gebunden. Nun trug er sie auf einmal genauso kurz wie ich. Das würde sicher zu Verwechslungen führen. Wir waren eineiige Zwillinge und die unterschiedlichen Frisuren hatten es den Leuten erleichtert, uns zu unterscheiden.
»Was hast du hier angestellt? Du sollst doch Jodie die Buchführung überlassen, wenn ich nicht da bin.« Mein Bruder schien etwas zu schrumpfen bei meinen Worten, und sofort schrillten bei mir die Alarmglocken. Was hatte er noch angerichtet? Dan konnte wunderbar mit Menschen umgehen, die Kunden liebten ihn, aber bei organisatorischen Dingen war er schnell überfordert. Eben ein echter Künstlertyp und genau das war er auch. Leider weigerte er sich, seine Bilder zu verkaufen, dabei hätten wir sicher Abnehmer dafür gefunden, aber seiner Meinung nach reichte sein Talent nicht aus. Jetzt ging es jedoch nicht darum, sondern um die Frage, wie Dan es geschafft hatte, einen solchen Saustall zu hinterlassen, und wo Jodie war. Immerhin war eigentlich sie dafür verantwortlich, wenn ich nicht da war.
Leider betrat genau in diesem Moment eine Kundin den Laden und Dan nutzte die Gelegenheit, um die Flucht zu ergreifen. Lieber leistete er ihr Hilfe, als mir Rede und Antwort zu stehen. Die Frau lächelte ganz verzückt während des Gesprächs mit ihm und er schaffte es, dass ihr Korb immer voller wurde. Die Kunden, vor allem die Frauen, liebten ihn einfach und er schwatzte ihnen auch nichts Unnötiges auf, so waren am Ende alle zufrieden. Auch wenn ich mich bei einigen Frauen fragte, ob sie wegen unserer Waren oder seinetwegen kamen. Aber solange die Kasse stimmte, konnte es mir ja eigentlich egal sein.
Äußerlich waren wir uns sehr ähnlich, aber innerlich waren wir wie zwei Hälften eines Ganzen. Er hatte alles Kreative abbekommen und ich alles Organisatorische. Er war der Gefühlsmensch – ich der Kopfmensch. Aber trotz allem standen wir uns sehr nah, vielleicht auch gerade, weil wir so verschieden waren. Wir ergänzten uns einfach perfekt. Ich kümmerte mich um das Büro, den Einkauf des Künstlerbedarfs und den Vertrieb, während mein Bruder für den Umgang mit Künstlern und die Anordnung der Waren im Geschäft verantwortlich war. Oft half er auch im Verkauf, obwohl wir dafür eigentlich unsere Angestellte Jodie und die Aushilfen Jim und Mike hatten.
Unser Geschäft war etwas ganz Besonderes und entsprach uns beiden sehr. Zum einen waren wir eine Art Galerie, die Werke von neuen Künstlern anbot und auch Ausstellungen ausrichtete. Daneben boten wir aber auch Drucke, Bilderrahmen, Künstlerbedarf und einiges anderes an.
Daniel hatte zwar davon geträumt, eine richtige Galerie zu besitzen, aber dafür war Solana einfach zu klein. Mit den Zusatzgeschäften lief es aber ganz gut und wir konnten langsam den Kredit zurückzahlen, den wir für die Geschäftseröffnung aufgenommen hatten. Reich waren wir nicht, aber wir konnten davon leben. Das Konzept kam wirklich bei den Kunden an. Deshalb hatte einer der Maler, der schon öfter bei uns ausgestellt hatte, es in seiner Heimatstadt kopiert. Nun strebte er eine Zusammenarbeit an und ich war die letzten zwei Wochen in Santa Cruz gewesen, um die Einzelheiten mit ihm abzusprechen.
Mit der gefundenen Lösung waren wir alle höchst zufrieden und es wurde Zeit, hier im Geschäft aufzuräumen. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass es fast Mittag war. Wo blieb Jodie heute nur? Laut Dienstplan sollte sie längst hier sein. Wie sollte ich so Ordnung in dieses Chaos bekommen?
Ich gab auf und ging nach vorn, um Dan nach Jodie zu fragen. Sie musste mir hier helfen. Da mein Bruder aber immer noch mit seiner Kundin beschäftigt war, sah ich mich erst einmal genauer um. Hier vorn war alles in bester Ordnung, dafür hatte er wirklich ein Händchen.
Zwei neue Kunden betraten den Laden und ich platzierte mich an der Kasse, um mit zu bedienen. Der Verkauf war zwar nicht meine Stärke, aber im Notfall sprang jeder überall ein. Die nächsten zwei Stunden hatten wir beide viel zu tun, und erst als Jim seinen Dienst antrat und etwas weniger los war, konnte ich mit meinem Bruder nach hinten gehen, um mich zu unterhalten.
»Ist Jodie krank?«, fragte ich ihn und machte uns beiden einen Kaffee. Der Vollautomat war zwar die teuerste, aber auch beste Anschaffung gewesen, die wir uns geleistet hatten. »Laut Plan hat sie doch heute Dienst.«
»Sie … sie hat«, stammelte Dan und bei mir klingelten schon die Alarmglocken. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht.
»Was hat sie?«, bohrte ich nach.
»Gekündigt.« Er senkte den Blick und hob die Schultern etwas, als wollte er sich vor mir schützen. Das schlechte Gewissen in seiner Stimme war nicht zu überhören. Was hatte er nur wieder angestellt?
»Warum?« Musste ich ihm denn heute alles aus der Nase ziehen? Dan stand auf und wäre wohl am liebsten Auf und Ab gelaufen, das tat er immer, wenn ihm etwas unangenehm war. Hier im Büro war dafür aber zum Glück kein Platz.
»Sie hat versucht, mich zu küssen und ich war so überrumpelt, da habe ich sie weggestoßen. Danach ist sie einfach gegangen und abends hatte ich ihre Kündigung im Briefkasten.« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und sah nervös zu mir herüber. Wäre das Ganze nicht eine Katastrophe für den Laden, hätte ich lachen müssen. Ich hatte Jodies Schwärmerei für Dan und seine für sie schon lange bemerkt, es aber lieber ignoriert. Dan war ein gebranntes Kind und wollte von Beziehungen nichts wissen, egal wie sehr er Jodie mochte. Hoffentlich würden die beiden das klären können, denn ich wollte Jodie als Angestellte wirklich nicht verlieren. So eine zuverlässige Mitarbeiterin fand man nicht so schnell.
»Meinst du, sie überlegt es sich wieder?«, fragte ich vorsichtshalber nach. Doch mein Bruder schüttelte nur den Kopf. »Sie hat schon eine neue Stelle, sie arbeitet nun bei Fabio im Eiscafé. Aber … ich … habe uns schon einen Ersatz besorgt. Sie fängt nächste Woche an.« Erst pausierte er nach jedem Wort und zum Ende hin sprach er plötzlich immer schneller. Nun war ich völlig perplex. Er hatte jemanden eingestellt? Dan hatte sich doch noch nie um das Personal gekümmert. Das erklärte aber die Unordnung im Büro. Wahrscheinlich hatte er nach den Vorlagen für die Arbeitspapiere gesucht.
»Wen hast du eingestellt? Kenne ich sie?« Irgendwie hatte ich Angst, es könnte meine Ex–Freundin sein. Schon mehrmals hatte sie versucht, über ihn wieder an mich heranzukommen. Dan verstand sich einfach viel zu gut mit ihr. Aber ich hatte wirklich keine Lust, noch mehr Privates und Berufliches zu verbinden.
»Zuerst hatte ich ja Milly gefragt.« Ich stöhnte auf. Genau so etwas hatte ich befürchtet. »Aber die ist schwanger und wird demnächst heiraten.« Erleichtert atmete ich auf und überlegte, wie lange ich sie nicht gesehen hatte. Seit wann hatte sie denn einen neuen Partner? Aber egal, ich freute mich für sie.
»Jim meinte dann, er hätte eine Idee und hat die Stelle zusammen mit mir online ausgeschrieben und wir haben innerhalb von ein paar Stunden auch jemanden gefunden«, erzählte er nun fast stolz.
»Wen?« Eigentlich wollte ich es gar nicht wissen. So sehr ich Daniel liebte, er war nicht wirklich dafür geeignet, solche Entscheidungen zu treffen.
»Eine Galeristin aus Ohio, sie kommt heute Nachmittag am Bahnhof an. Sie wird in Grandmas Einliegerwohnung ziehen.« Genervt stöhnte ich auf. Musste er Granny da mit hineinziehen? Er kannte diese Frau doch gar nicht, und ich wollte keinesfalls, dass Granny Probleme bekam. Sie hatte in ihrem Leben schon genug für andere getan. Immerhin hatte sie Dan und mich nach der Trennung unserer Eltern aufgenommen. Sie war uns mehr Mutter, als unsere wirkliche es je gewesen war und außerdem unser Fels in der Brandung. Die Einliegerwohnung war zwar in sich abgeschlossen, aber die Möbel waren wirklich hochwertig und hatten auch eine Bedeutung für Granny. Da konnte man doch nicht jeden reinlassen.
»Wann hat sie sich überhaupt vorgestellt? Das ging ja jetzt wirklich alles sehr schnell.«
»Wir haben das Bewerbungsgespräch über Skype geführt. Von Kunst hat sie wirklich Ahnung und sie suchte dringend eine neue Stelle weit weg von Ohio. Die Vermittlung lief über Stopp–Stalking, so können wir mal richtig helfen und nicht nur mit Spenden.«
Er wusste genau, wie er mich bekam. Stopp–Stalking war ein amerikaweiter Verein, der den Opfern half, ein neues Leben aufzubauen. Der Verein arbeitete eng mit den Behörden zusammen und würde niemandem helfen, der es nicht wirklich nötig hatte. Wir spendeten seit vier Jahren immer wieder kleine Beträge, um sie bei der Arbeit zu unterstützen. Große Beträge konnten wir uns bisher einfach nicht leisten. Dabei wussten wir nur zu genau, wie wichtig die Arbeit dieses Vereins war.
Jenny war eine ehemalige Schulfreundin von uns und hatte versucht, sich das Leben zu nehmen, weil ihr Stalker sie einfach nicht in Ruhe gelassen hatte. Der Kerl saß nun endlich im Gefängnis, aber leider landeten nicht alle Täter dort. Jenny hatte eine Therapie gemacht, um die Sache zu verarbeiten, und leitete jetzt die hiesige Stelle des Vereins.
»Na gut, ich werde ihr eine Chance geben, aber wenn es nicht klappt, dann feuerst du sie wieder.« Das »Du« betonte ich extra, denn ich hatte wirklich keine Lust darauf.
»Das wird schon klappen. Diese Lyanne hat anscheinend wirklich Ahnung von Kunst und ist froh, nicht völlig aus ihrem Beruf rauszukommen.« Daniel klang zuversichtlich. Immerhin würde eine Frau, die vor Stalking floh, keinen von uns anbaggern, vielleicht war das zur Abwechslung ganz gut, denn weder mein Bruder noch ich hatte Interesse an einer festen Beziehung.
»Übernimmst du den Laden ein paar Stunden?«, fragte er mich plötzlich in meine Überlegungen hinein. »Ich würde unsere neue Mitarbeiterin gern vom Bahnhof abholen und ihr die Wohnung zeigen.«
»Nein, das mache ich. Dann kann ich mir gleich selbst ein Bild von ihr machen. Wann kommt sie an?«
Daniel schien ganz zufrieden zu sein, nicht selbst loszumüssen, und gab mir sofort die gewünschten Daten. Kurz darauf machte ich mich auf den Weg zum Bahnhof, um diese Lyanne Brown abzuholen, und zum Haus unserer Grandma zu fahren.
3. Lyanne – Ankunft in Solana Beach
Endlich hielt der Zug in Solana Beach am Bahnhof.
»Sind wir jetzt da?« Nick zappelte ungeduldig herum und stellte diese Frage schon zum fünften Mal in höchstens drei Minuten. Seit wir uns fürs Aussteigen bereit gemacht hatten, war er völlig überdreht. Am Ende meiner Kräfte musste ich mich sehr zusammenreißen, um nicht mit ihm zu schimpfen. Immer wieder sagte ich mir, dass er doch erst vier Jahre alt und der Tag für ihn sicher noch viel aufregender und anstrengender als für mich gewesen war.
Da die Türen des Zuges aufgingen, sparte ich mir die Antwort und stieg schnell aus. Das war mit zwei Koffern, Rucksack und meinem Sohn an der Hand gar nicht so einfach. Aber endlich stand ich auf dem Bahnsteig unserer neuen Heimatstadt. Ob ich mich hier jemals heimisch fühlen könnte? Columbus war eine Großstadt, in der das Leben pulsierte. Solana dagegen ein beschaulicher Touristenort.
»Nick, komm bitte. Wir müssen ein Taxi finden.« Zum Glück war der Bahnhof hier nicht groß, da dürfte das kein Problem sein. In Columbus war das oft schon schwieriger.
»Warum sehen die Bäume hier so komisch aus?«, fragte mein Kleiner neugierig. Er musste immer alles ganz genau wissen.
»Das sind Palmen, die wachsen hier überall«, erklärte ich ihm, während wir in Richtung des Ausgangs gingen.
»Wo ist denn die Stadt? Hier sind ja nur kleine Häuser.« Krampfhaft versuchte ich, nicht loszulachen. Dabei war es eigentlich eher traurig, dass er fast nur Hochhäuser und Parks kannte. Aus unserem Stadtteil sind wir nie viel herausgekommen, da einfach immer das Geld fehlte.
»Hier gibt es keine, Schatz. Hochhäuser stehen nur in großen Städten, außerdem ist jeder Ort anders, hier gibt es dafür Palmen und Strand.« Über eines war ich mir schon jetzt sicher, für Nick würde der Umzug eine Bereicherung sein. Es wurde Zeit, dass er neue Orte kennenlernte. Vielleicht war dieser Neuanfang eine echte Chance für uns.
Als ich mit zwanzig schwanger wurde, hatten meine Eltern mich vor die Wahl gestellt. Entweder ich trieb das Kind ab, oder sie stellten die Unterhaltszahlungen ein. Also hatte ich mein Studium abgebrochen, mir einen Job gesucht und war in die kleine Wohnung in der vierzehnten Etage gezogen. Damals dachte ich wirklich, Nicks Vater und ich würden alles schaffen, wenn wir nur zusammenhielten. Nur war auch diese Zeit begrenzt.
Noch bevor unser Sohn zur Welt kam, teilte er mir eines Morgens mit, dass er ausziehen wollte. Ich konnte das gar nicht glauben und flehte ihn an, bei mir zu bleiben, aber als ich nach meiner Schicht nach Hause kam, war er weg. Er hatte nicht nur seine Sachen, sondern auch meinen Schmuck, den ich von meiner Großmutter geerbt hatte, mitgenommen. Ich hörte nie wieder etwas von ihm. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, ihn anzuzeigen, aber damals hatte ich noch die Hoffnung, er würde zu uns zurückkommen. Diese hatte ich eigentlich bis vor einem Jahr nicht ganz aufgegeben. Inzwischen hatte ich diese Hoffnung zum Glück begraben, denn auch er würde uns jetzt nicht mehr finden. Ich hatte alles getan, um unsere Spuren zu verwischen.
Doch jetzt war nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Der einzig wichtige Mann in meinem Leben war Nick und für ihn musste ich ein neues Zuhause schaffen. Aber dafür musste ich es erst einmal finden. Kofferwagen gab es hier nicht, also musste ich beide Koffer tragen.
»Komm, Spatz, dort drüber stehen die Taxen. Da müssen wir hin.« Während ich sprach, drehte ich mich leicht zu ihm um und übersah so einen Mann, der am Eingang des Bahnhofs auf jemanden wartete. Meine Koffer krachten gegen ihn und brachten ihn fast zu Fall.
»Entschuldigen Sie bitte. Ich habe Sie nicht gesehen. Alles in Ordnung bei Ihnen? Es tut mir so leid.« Immer wenn mir etwas peinlich war, redete ich zu viel und schämte mich hinterher noch mehr.
»Passen Sie einfach nächstes Mal besser auf.« Er sah mich böse an, ehe er sich umdrehte und mich einfach ignorierte. Dabei grummelte er vor sich hin. »Was müssen Touristen auch immer so viel Gepäck mitschleppen für ein paar Tage?«
Irgendwie kam mir der Mann bekannt vor, aber ich traute mich nicht, ihn darauf anzusprechen. Nachher dachte er noch, es wäre eine billige Anmache. Dabei wollte ich von Männern wirklich nichts mehr wissen. Lieber beeilte ich mich, meinen Sohn und unser Gepäck in ein Taxi zu bekommen. Erst als ich dem Fahrer die Adresse unserer zukünftigen Wohnstätte mitgeteilt hatte und er losfuhr, atmete ich etwas auf. Egal wie schrecklich die Wohnung war, für heute hatten wir das Schlimmste hinter uns. Außerdem hatte ich für Notfälle die Handynummer der hiesigen Vertretung von Stopp–Stalking in der Tasche. Wenn die Unterkunft gar nicht aushaltbar wäre, blieb mir die Möglichkeit, mich an sie zu wenden.
Keine zehn Minuten später hielt der Wagen an der angegebenen Adresse und ich entlohnte den Fahrer großzügig, der mir die Koffer noch bis zur Haustür getragen hatte. Neugierig sah ich mich um und bemerkte, wie gepflegt hier alles war. Das machte mir Hoffnung für die Wohnung.
Als er wieder zu seinem Wagen ging, atmete ich tief durch und drückte dann auf die Klingel meiner zukünftigen Vermieterin. Hoffentlich war Mrs Fisher nett. In Ohio waren mir meine Vermieter egal gewesen, dort war das eine anonyme Agentur gewesen, aber hier war das etwas anderes. Schließlich würden wir unter einem Dach leben.
Eine ältere Dame öffnete uns lächelnd die Tür.
»Hallo, ich bin Susan Fisher, aber nennt mich ruhig Susi oder Granny, das macht jeder. Ihr müsst die Browns sein.« Die Herzlichkeit, die diese Frau ausstrahlte, beruhigte meine Nerven. Wenn alle Menschen hier in Solana Beach so wären, dann würden wir uns schnell heimisch fühlen.
»Lyanne«, stellte ich mich vor. Früher wurde ich nur Anne genannt, aber das wollte ich jetzt nicht mehr. Auch Jason hatte mich so genannt. »Aber Sie können auch Lynn zu mir sagen.«
»Und wer bist du, junger Mann?«, fragte sie meinen Sohn und mir fiel siedend heiß ein, dass er die Sache mit der Namensänderung ja noch gar nicht verstand. Hoffentlich stellte er sich jetzt nicht mit O’Sullivan vor.
»Ich bin Nick. Bist du wirklich eine Granny? Mein Freund Luke hat eine und die ist toll«, plapperte er los. »Ich habe keine Großeltern. Das ist doof.«
»Ja, ich habe zwei Enkel. Aber die sind schon erwachsen und mein Urenkel ist auch bereits sechzehn.«
»Gleich so viele? Cool.« Das war im Moment sein Lieblingswort.
»Ja, meine Enkel sind Zwillinge«, bestätigte sie ihm. »Du wirst sie bestimmt bald kennenlernen. Daniel und Connor kommen mich oft besuchen. Mein Urenkel lebt leider nicht hier, sondern in New York bei seiner Mutter.«
Zwillinge fand Nick noch cooler, da war der Urenkel völlig unwichtig. Zumal der weit weg lebte, aber er wurde dann auch von diesem Thema abgelenkt. Susi öffnete nämlich die Tür zu unserer neuen Wohnung und ließ uns eintreten. Sein Zimmer interessierte ihn noch viel mehr als irgendwelche fremden Leute.
»Wirklich kindgerecht ist die Einrichtung des zweiten Zimmers nicht. Es sind einfach nur ein Wohnzimmer und ein Schlafzimmer. Auch wenn es eine Klappcouch im Wohnraum gibt.« Entschuldigend sah sie mich an. »Aber ich wusste ja nichts von Nick. Meinst du – ich darf doch du sagen? – der Platz reicht für euch beide? Ich hatte mit einem jungen Pärchen als Mieter gerechnet.« Hoffentlich wollte sie uns nicht schnell wieder loswerden, weil ich alleinerziehend war.
»Natürlich reicht es erst einmal. Später kann ich mich immer noch nach einer größeren Wohnung umsehen. Solange reicht das Sofa für mich völlig und für Nicks Zimmer besorge ich kindgerechte Dekoration.«
Natürlich nicht sofort, denn im Moment belief sich mein komplettes Erspartes auf etwa dreihundert Dollar. Die drei Monatsmieten im Voraus waren schon kaum aufzubringen gewesen. Aber ich hatte es geschafft, und wenn Nick in den Kindergarten ging und ich endlich wieder arbeitete, dann ging es uns bald besser. Auf keinen Fall würde ich meine Vermieterin mit meinen Sorgen belästigen. Ich hoffte nur, dass es auch ein bisschen Geschirr in der Wohnung gab und ich das nicht auch noch alles kaufen musste.
Der Rundgang durch die Wohnung ging relativ schnell und ich war angenehm überrascht. Es war alles sehr sauber und die Möbel waren zwar nicht neu, aber trotzdem hell und freundlich. Vor allem die Küche war ein Traum. Hier sah alles nagelneu aus und es gab sämtlichen Schnickschnack wie Müllzerkleinerer, Spülmaschine … So einen Luxus war ich gar nicht gewohnt. Wenn Susi uns nachher verließ, wollte ich den Inhalt der Schränke näher inspirieren.
Wenn im Schlafzimmer statt des riesigen Doppelbettes ein kleines Bett gestanden hätte, wäre die Wohnung wirklich perfekt. Dann hätte Nick mehr Platz zum Spielen, aber es würde schon irgendwie gehen. Ich konnte ja nicht erwarten, dass die Einrichtung genau auf uns abgestimmt war.
»Vielen Dank, Mrs …« Ihr verletzter Blick brachte mich dazu, mich schnell wieder zu verbessern. »Vielen Dank, Susi. Die Wohnung ist wunderschön. Wir werden uns hier sicher wohlfühlen.«
»Dann lasse ich euch jetzt allein. Ihr seid sicher müde von der Reise. Wenn ihr euch etwas eingerichtet habt, kommt doch raus zu mir in den Garten.« Bei diesen Worten zeigte sie auf die Tür in der Küche, hinter der ich nur einen Abstellraum mit Waschmaschine vermutet hatte. Die Tür, die von dort aus hinausführte, hatte ich völlig übersehen. »Ich habe alles für ein Barbecue vorbereitet. Dann musst du heute nicht mehr kochen. Aber auch sonst könnt ihr den Garten und den Pool jederzeit nutzen.«
»Ein Pool?«, quiekte Nick entzückt.
»Ja, aber ohne deine Mutter darfst du da nicht rein«, erklärte sie ihm und sah dann mich an. »Keine Angst, der Pool ist auch gesichert, sodass deinem Sohn nichts passieren kann.«
Konnte es eigentlich noch besser laufen? Wo war der Haken an der Sache?
Vielleicht wäre es ein Fehler, wenn ich mich gleich so auf die Vermieterin einlassen würde. Eigentlich wollte ich Abstand zu den Leuten hier halten. Aber Susi machte es mir wirklich schwer, diesen Vorsatz beizubehalten.
»Wann sollen wir da sein?«, frage ich also.
»Wie es euch passt, und falls ihr zu müde seid, ist das auch kein Problem. Ich bin draußen, bis ich ins Bett gehe und freue mich über Gesellschaft, bin dir aber auch nicht böse, wenn du nicht rauskommst.«
Susi verabschiedete sich und fragte mich doch allen Ernstes, ob sie durch meine Abstellkammer in den Garten gehen dürfte. Mein Blick sprach wohl Bände, denn sie erklärte ihre Frage sofort.
»Ab jetzt ist das euer Heim, da komme ich weder ungefragt herein, noch gehe ich in Räume, für die ich nicht deine Erlaubnis habe.« Sie lächelte mich wieder an, ehe sie die Tür hinter sich schloss.
Zuerst ging ich mit Nick in sein neues Zimmer und packte den Koffer aus. Freudig begrüßte er eines seiner Lieblingsspielzeuge und fragte zum Glück nicht nach seinen restlichen Sachen, die noch in der alten Wohnung waren. Hoffentlich würde er sie nicht zu sehr vermissen. Während er schon spielte, legte ich die wenigen Sommersachen, die ihm noch passten, in den Kleiderschrank. Er war ganz schön gewachsen in letzter Zeit und daher hatte ich die dicken Wintersachen gar nicht erst eingepackt. Die würde er hier sowieso nicht gebrauchen können. Wir mussten wohl oder übel einkaufen gehen, um ihn neu einzukleiden.
Nick setzte sich auf den Fußboden, baute seine Parkgarage auf und ließ seine Autos herunterflitzen. Die Zeit, in der er sich selbst beschäftigte, nutzte ich dazu, meinen Koffer auszupacken. Eigentlich hatte ich danach durch die Wohnung gehen wollen, um nachzusehen, was ich noch alles brauchen würde. Aber ich war zu erschöpft und ließ mich stattdessen aufs Sofa fallen, um wenigstens fünf Minuten die Augen zu schließen.
4. Connor – Versetzt
Der Zug war schon vor zehn Minuten abgefahren und der Bahnsteig hatte sich gelehrt. Von unserer neuen Mitarbeiterin war nichts zu sehen. Langsam musste ich es wohl einsehen – entweder hatte ich sie verpasst oder aber sie war gar nicht erst gekommen. Ich hoffte auf Ersteres, denn eine unzuverlässige Verkäuferin war das Letzte, das wir im Artists brauchen konnten.
Vielleicht stimmte die ganze Geschichte mit dem Stalking gar nicht. Es gab sicher Menschen, die den Verein nur ausnutzten, auch wenn alles dafür getan wurde, um dies zu verhindern. Je länger ich wartete, desto größer wurden meine Zweifel an dieser Frau. Wahrscheinlich sollte ich wieder zum Laden fahren und weiter versuchen, das Chaos zu ordnen, anstatt hier blöd herumzustehen. Hätte ich doch Dan hierherfahren lassen, immerhin hatte er uns diese Frau eingebrockt. Ich wollte sowieso am liebsten Jodie zurück. Sie war immer zuverlässig und pünktlich.
»Schon zurück?«, fragte mein Bruder erstaunt, als ich das Geschäft betrat.
»Nein, ich stehe noch am Bahnhof und warte auf Leute, die nicht kommen.« Die Antwort war nicht gerade nett, aber ich hasste solch dämliche Fragen.
»Oh, der Herr hat schlechte Laune. Entschuldige bitte, dass ich lebe.« Dan drehte sich um und begann, die Leinwände geradezurücken. Dan konnte ziemlich jähzornig werden, arbeitete aber daran, nicht gleich zu explodieren, um potenzielle Kunden nicht zu verschrecken. Diese Übersprunghandlungen halfen ihm dabei, ruhig zu bleiben. Während unserer Kindheit hätte er mich noch einfach geboxt.
»Sorry, Dan. Ich bin einfach genervt und außerdem traue ich der ganzen Geschichte nicht.« Er zögerte erst, schlug dann aber in meine hingehaltene Hand ein, auch wenn er mich immer noch böse ansah.
»Du immer mit deinem Misstrauen. Hast du jede Frau gefragt, ob sie Miss Brown ist oder nur dort gestanden und gewartet? Sie wusste ja nicht, dass ich sie abholen wollte.« In der Tat hatte ich das nicht getan, aber so viele weibliche Fahrgäste waren ja gar nicht ausgestiegen.
»Bist du hinterher bei Granny vorbeigefahren? Vielleicht ist sie ja dort. Es könnte auch das Flugzeug oder einer der Busse Verspätung gehabt haben und sie musste deshalb einen späteren Zug nehmen. Schon einmal daran gedacht?« Natürlich hatte ich das nicht. Irgendwie hatte ich das Gefühl, heute alles falsch zu machen.
»Ich wusste es. Du gehst ja immer direkt vom Schlimmsten aus«, erklärte er grinsend, als ich nicht antwortete. Immerhin stieg seine Laune jetzt wieder. »Soll ich Granny anrufen und nachfragen?«
»Nein, nicht nötig. Ich fahre jetzt zu ihr und gehe im Anschluss surfen. Die Papiere sind morgen ja auch noch da. Die Abrechnung könnt ihr mir einfach in den Ablagekorb legen.« Leider, hätte ich noch gern hinzugefügt, verkniff es mir aber, sonst würde ich Dans Stimmung gleich wieder ruinieren. Auf die Überstunden, die dadurch auf mich zukamen, um diese Unordnung zu beheben, freute ich mich zwar nicht, aber wenn ich sowieso zu Granny musste, wollte ich auch die Gelegenheit zum Wellenreiten nutzen. Immerhin hatte ich schon über zwei Wochen nicht mehr auf dem Brett gestanden, sondern nur in irgendwelchen Büros herumgesessen, und ihr Haus war ganz in der Nähe des Strandes. Vielleicht musste ich mich mal wieder richtig auspowern, um ebenfalls bessere Laune zu bekommen.
Als Teenager war es mein Traum gewesen, Profisurfer zu werden, und ich hatte wirklich hart dafür trainiert. Aber dann wurde unser Leben völlig auf den Kopf gestellt. Bei der Wahl zwischen einer Sportkarriere und meinem Bruder hatte ich ihn gewählt und wir hatten unsere Pläne für die Zukunft komplett geändert, nur um erneut enttäuscht zu werden. Doch darüber wollte ich jetzt nicht nachdenken. Deshalb beeilte ich mich, ins Auto zu steigen, um zu Granny zu fahren.
Kaum hielt ich vor ihrem Haus, da sah ich auch gleich, dass sämtliche Fenster der Einliegerwohnung offen standen. War diese Miss Brown also doch angekommen? Aber vielleicht hatte Granny auch einfach nur lüften wollen. Die Wohnung hatte ja schon länger leer gestanden. Dan und ich hatten ihr schon öfter vorgeschlagen, jemanden mit in ihr in Eigenheim zu holen, der ihr auch bei den Einkäufen etwas helfen könnte. Aber das hatte sie immer abgelehnt. Weil sie sich noch nicht so alt fühlte, obwohl sie schon einundachtzig Jahre alt war. Für die Urgroßmutter eines Sechzehnjährigen war das ja eigentlich auch noch kein Alter. Aber normalerweise wurde man ja auch nicht mit sechzehn Vater, so wie mein Bruder. Mir war seine Erfahrung immer eine Lehre gewesen und ich hatte lieber doppelt verhütet als gar nicht. Es gab nichts Schlimmeres, als ein Kind zu haben und es kaum sehen zu dürfen. Dans Ex–Freundin hatte Solana gleich nach der Schule verlassen und war mit dem Jungen nach New York gegangen. Seitdem konnte Dan seinen Sohn nur in den Ferien besuchen. Das Verhältnis der beiden hatte sehr darunter gelitten, und wenn Dave nicht ein leidenschaftlicher Surfer gewesen wäre, würde er sich bei seinem Vater wohl gar nicht mehr blicken lassen. Wie immer klingelte ich gar nicht erst, sondern ging durch das Tor direkt in den Garten. Granny lebte fast ausschließlich hier draußen und hatte sogar eine Gartenküche. Wenn es nicht zu heiß war, verbrachte sie jede Minute hier. Auch jetzt war sie, wie erwartet, in ihrer kleinen grünen Oase. Sie saß in ihrer Hollywoodschaukel und las.
»Connor«, rief sie erfreut, als sie mich entdeckte und legte ihr Buch auf den Beistelltisch. »Was machst du denn hier, mein Junge?« So, wie Granny strahlte, bekam ich sofort ein schlechtes Gewissen. Ich sollte sie öfter besuchen. Schließlich würde sie nicht ewig da sein, auch wenn ich darüber gar nicht nachdenken wollte.
»Ich wollte dich sehen und mich davon überzeugen, ob mit der neuen Mieterin alles klappt.«
»Bleib doch zum Barbecue, dann lernst du sie gleich kennen. Sie packt nur noch aus, aber dann kommen sie und Nick raus.« Nick? Von einem neuen Partner hatte Dan gar nichts erzählt. Wieder überkam mich das Gefühl, dass an ihrer Geschichte etwas nicht stimmen konnte. Wenigstens war ich jetzt hier, um Granny im Notfall vor diesen Betrügern zu beschützen.
»Ich bleibe gern.« Mit diesen Worten zauberte ich ihr ein noch breiteres Grinsen ins Gesicht. Hoffentlich würde sie nicht zu enttäuscht sein, wenn ich Miss Brown mit ihren Lügen konfrontierte.
5. Lyanne – Schlechte Träume
Mein Herz klopfte wie wild und ich fuhr regelrecht aus dem Schlaf hoch. Wo war ich? Hatte Jason nun ernst gemacht und mich entführt? Einen Augenblick lang war ich völlig orientierungslos. Weder erkannte ich das Sofa, auf dem ich lag, noch den Rest des Zimmers. Hektisch sah ich mich um, ob ich Jason irgendwo entdecken konnte. Doch zum Glück gab es keine Spur von ihm, doch leider auch nicht von Nick. Wo war mein Baby? Hatte Jason ihm etwas angetan? Mein Albtraum durfte doch nicht wahr werden.
»Mommy, ich habe Hunger«, rief Nick in diesem Moment und holte mich damit endgültig in die Wirklichkeit zurück. Er war da und alles gut. Jason hatte ihm nichts angetan. Nun wusste ich auch wieder, wo ich war. Solana Beach, weit weg von Columbus und auch von ihm.
Ich atmete einmal tief ein, um mich ein für alle Mal zu beruhigen, bevor ich aufstand. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass ich höchstens eine halbe Stunde geschlafen hatte. Wie hatte ich in der kurzen Zeit nur in einen Albtraum fallen können?
»Wir sind zum Essen eingeladen und sollten Granny Fisher nicht zu lange warten lassen. Komm, wir gehen in den Garten, Nick.« Er lief aufgeregt voraus und ich folgte ihm. Im Vorbeigehen nahm ich noch seinen Lieblingsball mit den Autos darauf mit. Nick war ein Autonarr und deshalb hatte ich auch dieses Teil und seine Parkgarage mitgenommen, obwohl die im Koffer jede Menge Platz benötigten und dieser dadurch allein schon halb voll war. Sein restliches Spielzeug war noch in unserer alten Wohnung. Mary, die nette Mitarbeiterin von Stopp–Stalking hatte mir angeboten, mir einen Teil meiner Sachen hinterherzuschicken. Doch das Risiko erschien mir zu hoch.
Durch so eine Aktion wollte ich Jason nicht auf unsere Spur bringen. Die Polizisten hatten mich auch davor gewarnt, jemand wie er würde nicht so leicht aufgeben.
Warum er nicht im Gefängnis saß, verstand ich sowieso nicht. Freispruch aufgrund eines Formfehlers. Das war doch ein schlechter Scherz. Nach allem, was er mir und Nick angetan hatte, gehörte er hinter Gitter. Und nur, weil ein Polizist einen Fehler während der Verhaftung gemacht hatte, war er auf freiem Fuß.
Nie werde ich den Tag vergessen, an dem er die Grenze des Erträglichen endgültig überschritten hatte. Es war am 12.07.2015 gewesen.
Wie jeden Tag nach der Arbeit hatte ich mich beeilen müssen, um rechtzeitig im Kindergarten zu sein. Schon am Vortag war ich fast zu spät gekommen und nun war ich wieder kurz vor Toreschluss an der Tür. Mein armer Nick war zu diesem Zeitpunkt erst zweieinhalb und fast immer das letzte Kind, das abgeholt wurde.
Gerade noch pünktlich kam ich endlich an und klingelte an der Tür des Kindergartens. Normalerweise dauerte es nie lange, bis jemand kam, um zu öffnen. Doch heute erschien niemand. Ich klingelte noch einmal und immer wieder. Doch das Ergebnis blieb dasselbe. Kein Mensch kam, um die Tür zu öffnen. Das konnte doch nicht wahr sein. Nachdem ich minutenlang wie wild gegen die Tür gehämmert und mehrere Male vergeblich versucht hatte, jemanden telefonisch zu erreichen, kam der Hausmeister.
»Es ist keiner mehr da, Missy. Was machen Sie für ein Theater?«
»Mein Sohn.« Ich musste tief Luft holen, um die Tränen zurückzudrängen. »Mein Sohn muss noch dort drin sein.«
»Tut mir leid, aber Mrs Clark ist vor fünfzehn Minuten gegangen und hat mir noch freudestrahlend erzählt, dass sie heute früher heimkäme, da schon alle Kinder abgeholt worden sind.«
Ich konnte und wollte es nicht glauben. Aber ein Anruf bei Mrs Clark, deren Handynummer der Hausmeister zum Glück hatte, bestätigte diesen Albtraum.
»Mrs O’Sullivan, ich hatte doch ihre schriftliche Einverständniserklärung, dass ihr Bruder Nick abholen dürfte«, entschuldigte sie sich bei mir. Mein Bruder? Ich hatte gar keinen Bruder. Wo war mein Sohn? Mrs Clark kam zurück zum Kindergarten und gemeinsam warteten wir auf die Polizei.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der Mrs Clark und ich alles erzählt hatten, was wir wussten, wurden wir gebeten, mit aufs Revier zu kommen. Dort wurde anhand der Personenbeschreibung ein Phantombild angefertigt. Normalerweise hätte mich die Arbeit mit diesem Computerprogramm fasziniert. Aber heute war ich viel zu verzweifelt, um mir über so etwas Gedanken zu machen.