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Mara kämpft sich seit Jahren durch ihr Leben, das einem Fegefeuer gleicht. Obwohl die junge Frau alles versucht, um die immer größer werdenden Flammen rund um sich zu löschen, gelingt es ihr nicht. Als sie schließlich mitsamt ihrem kleinen Sohn auf der Straße landet, kommt Matt ihr zu Hilfe. Der attraktive Surflehrer nimmt Mara bei sich auf und hilft ihr dabei, ihr Leben in neue Bahnen zu lenken. Doch reicht das, um ihre geschundene Seele zu heilen? Kann aus so viel verbrannter Erde dennoch eine neue Liebe wachsen? Oder sind am Ende doch alle Bemühungen vergebens? Solana Dreams ist eine Reihe mit in sich abgeschlossenen Romanen und wiederkehrenden Personen. Jeder Teil handelt von einem Paar und kann unabhängig von den anderen gelesen werden. Teil 1: Solana Dreams - Lyanne Teil 2: Solana Dreams - Mara
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Alina Jipp
Solana Dreams
Mara
Impressum
© 2019, Alina Jipp
https://www.facebook.com/AlinaJippAutorin/
Alina Jipp
Am Georg-Stollen 30
37539 Bad Grund
Cover
Art for your book Sabrina Dahlenburg
Lektorat, Korrektorat & Buchlayout
Lektorat Buchstabenpuzzle B. Karwatt
www.buchstabenpuzzle.de
Bildmaterial Buchlayout
www.pixabay.com
Die geschilderten Personen und Ereignisse sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder
verstorbenen Personen sind rein zufällig.
1. Auflage
Taschenbuch
Imprint: Independently published
ISBN-13: 979-8-6799-8236-9
Ein Blick auf meine Uhr zeigte mir, dass ich mal wieder zu spät dran war. Deshalb schnallte ich meinen Sohn im Buggy lieber gut an, ehe ich die dreihundert Meter Fußweg zur Praxis der Physiotherapeutin im Sturmschritt entlang eilte. Wie so oft hatte ich hier in Los Angeles keinen Parkplatz gefunden, der näher an der Praxis lag. Theoretisch gab es ja eine Tiefgarage für das Ärztehaus, aber praktisch bekam ich dort so gut wie nie einen Stellplatz und musste auf das Parkhaus der Mall ausweichen. Wie immer überkam mich ein mieses Gefühl, wenn ich zu spät oder wie jetzt auf den letzten Drücker dort ankam. Aber wie so oft hatte Julien, kurz bevor wir losmussten, eine frische Windel gebraucht. Dann hatte ich Steven noch einmal absaugen müssen, weil die Pflegekraft nicht pünktlich gekommen war … Irgendetwas kam mir immer dazwischen. Also betrat ich zum zweiten Mal in dieser Woche die Praxis ziemlich abgehetzt auf die letzte Sekunde.
»Hallo Mrs. Franklin, hi Julien. Gehen Sie schon einmal in Raum Zwei. Mrs. Bing kommt dann gleich zu Ihnen.« Wie immer begrüßte uns die Sprechstundenhilfe der Praxis freundlich lächelnd. In den zweieinhalb Jahren, die ich zweimal wöchentlich hierher kam, hatte ich sie noch nie schlecht gelaunt erlebt, was ich wirklich bewunderte. Allerdings war ich früher in meinem Geschäft nicht anders gewesen. Ich hatte meinen Blumenladen und die Arbeit mit den Pflanzen und den Kunden geliebt, aber … Schnell verdrängte ich den Gedanken an meinen eigenen kleinen Laden in Solana Beach. Das war in einem anderen Leben gewesen, in dem Leben davor. Nun war ich im Leben danach und hatte keine Zeit, über längst Vergangenes nachzudenken oder diesem nachzutrauern. Meine oberste Priorität galt nun schon lange nicht mehr meinem Leben, sondern dem meiner beiden Männer. Julien und Steven, sie waren mein ganzer Lebensinhalt und stellten mich täglich vor unzählige Herausforderungen. Erinnerungen an Solana Beach taten nur weh und kosteten Zeit, die ich nicht hatte. Nicht haben durfte.
Meine Aufmerksamkeit brauchte ich jetzt für Julien, der heute so gar keine Lust zu seinen Übungen hatte und schon motzte, ehe Mrs. Bing überhaupt den Raum betrat.
»Hause gehn«, verlangte er lautstark, aber diesen Wunsch konnte ich ihm leider nicht erfüllen.
»Nein, wir spielen jetzt mit Mrs. Bing. Du willst doch mal ein großer, starker Junge sein. Wenn du schön lieb bist, gehen wir nachher noch mit Daddy in den Garten.« Meine Schwiegermutter würde zwar meckern, falls sie uns erwischen würde, aber vielleicht hatte ich ja Glück und schaffte es, bevor sie aus dem Büro kam. Denn auf ihr Gezeter hatte ich noch weniger Lust, als auf Juliens Gejammer wegen der Krankengymnastik. Mrs. Bing gelang es zum Glück meistens, ihn nach kurzer Zeit so weit zu motivieren, dass er wenigstens unter Gestöhne bereit war, seine Übungen zu absolvieren. Aber heute war ein Tag, an dem gar nichts ging. Kaum betrat sie den Raum, fing Julien schon lautstark an zu weinen.
»Will nich. Will Hause. Nein, Nein, Nein!« Obwohl er noch nicht besonders gut sprach, so konnte er doch schon sehr deutlich machen, wenn er etwas nicht wollte und Krankengymnastik gehörte im Moment eindeutig dazu. Genau wie Ergotherapie und Logopädie. Aber er brauchte seine Therapien nun einmal, da führte kein Weg dran vorbei. In acht Wochen würde er drei werden und er war gegenüber seiner Altersgruppe weit zurück, konnte weder frei laufen – an Möbel entlang funktionierte es seit einiger Zeit – noch sprach er mehr als Zwei-Wort-Sätze. Warum das so war und ob er nun behindert oder entwicklungsverzögert war, darüber stritten sich die Ärzte teilweise. Obwohl inzwischen immer mehr in Richtung einer Entwicklungsverzögerung tendierten, aber mir war es mittlerweile egal. Ob nun die Frühgeburt oder ein noch nicht entdeckter Gendefekt der Auslöser war, änderte nichts an unserer Situation. Julien war mein ein und alles und da er mein einziges Kind war, hatte ich keine Vergleiche. Für mich war er einfach perfekt so, wie er war. Nichts konnte mich mehr aufregen, wie die Ärzte, die nach fünf Minuten, in denen sie ihn in einer für ihn fremden Umgebung gesehen hatten, über ihn urteilten. Na ja, abgesehen von meinen Schwiegereltern vielleicht. Aber mit denen musste ich leider leben – Steven zuliebe.
Endlich war die halbe Stunde rum und sowie ich Julien angezogen hatte, lachte er schon wieder und winkte Mrs. Bing zu.
»Vielleicht sollten wir mal eine Pause machen. Ich habe das Gefühl, ihr beide könntet eine Auszeit gut brauchen. Vielleicht könnt ihr mal ein paar Tage wegfahren, andere Sachen sehen und durchatmen.« Mrs. Bing lächelte mir zu, bloß schaffte ich es einfach nicht, es zu erwidern. Wie stellte sie sich das denn vor? Wir waren zwar nicht befreundet, aber wenn man sich über so lange Zeit mehrmals wöchentlich sieht, spricht man ja auch mitunter über Privates. Daher musste sie wissen, dass ich Los Angeles nicht verlassen konnte, egal wie gern ich es manchmal wollte und wie sehr ich mich nach Solana Beach zurücksehnte. Ein Urlaub wäre ein Traum, würde es aber auch bleiben. Für Steven musste ich stark sein und somit war unser Leben hier, so sehr ich ein paar Tage Ausspannen gebrauchen könnte. Es gab nun einmal keine andere Wahl.
»Ich werde darüber nachdenken«, versprach ich trotzdem halbherzig. Aber wir wussten beide, dass ich es nicht tun würde.
»Okay, aber selbst wenn ihr hier in L.A. bleibt, möchte ich die Pause. So gern ich euch mag, in den nächsten sechs Wochen möchte ich Julien hier nicht sehen. Genießt lieber etwas die Sonne, geht von mir aus ins Aquarium oder in den Park. Manchmal animiert das normale Leben mehr als jede Therapie …« Sie sprach weiter, aber ich hörte ihr gar nicht wirklich zu. Das normale Leben? Wenn ich nur wüsste, was das war. Vorher, ja, da hatte ich ein tolles Leben geführt. Als ich mit Julien schwanger geworden war, hielt ich mich sogar für die glücklichste Frau der Welt. Ich hatte einen Partner, der mich sinnbildlich auf Händen trug, ein eigenes gut laufendes Geschäft, das ich über alles liebte, Freunde und war zudem mit unserem Wunschkind schwanger. Wenn ich daran zurückdachte, dass mein einziges Problem ein paar verwelkte Blumen waren, die ich entsorgen musste, konnte ich heute nur lachen, obwohl mir eher nach Weinen zumute war. Aber dann veränderte sich unser Leben von einer Sekunde zur anderen völlig. »… Versuch auch bei den sonstigen Therapien eine Pause durchzusetzen. Es müssen ja nicht gleich sechs Wochen sein, obwohl ich das befürworten würde, aber wenigstens vier sollten es schon sein. Hörst du mir zu, Mara ähm entschuldige, Mrs. Franklin?« Das war das erste Mal, dass sie mich mit Vornamen ansprach und das tat so gut, fast als hätte ich wieder eine Freundin.
»Bleiben Sie ruhig bei Mara«, bat ich sie deshalb.
»Okay, Mara, ich bin Fiona, aber jetzt möchte ich euch wirklich nicht mehr sehen. Julien wird schon ganz ungeduldig.« Das stimmte, während wir uns unterhielten, hatte er zuerst mit ein paar Bausteinen gespielt, inzwischen war ihm das wohl zu langweilig und er war zur Tür gekrabbelt und versuchte, sich daran hochzuziehen. Da er aber nichts hatte, an dem er sich festhalten konnte, funktionierte das nicht und er fing jetzt lautstark an zu jammern.
»Tschüß, bis zum nächsten Mal«, verabschiedete ich mich und hob meinen kleinen Goldschatz schnell auf den Arm. Sofort war er wieder ruhig und lächelte. Laut meiner Schwiegermutter verwöhnte ich ihn ja viel zu sehr. Aber was verstand eine Frau wie sie schon davon? Nach Juliens Geburt hatte sie ihn zunächst mit Geschenken überhäuft, für die er noch viel zu klein war. Was sollte ein neugeborenes Baby auf der Kinderintensivstation mit einem ferngesteuerten Auto? Überall hatte sie mit ihrem Enkel angegeben, der sicher einmal ihre Firma übernehmen würde. Er war der Erbe, dem künftig alles gehören würde, da Steven seit seinem Unfall ja gesundheitlich nicht mehr in der Lage dazu war. Doch schon wenig später wurde klar, dass Julien kein normales Baby war. Seine Muskeln waren zu schwach und trotz Krankengymnastik konnte er sich mit sechs Monaten noch immer nicht drehen. Da wurde auch das Enkelkind uninteressant. Wenn nicht geradezu lästig. Heute schämte sie sich sogar für ihn und hielt ihn von ihren tollen Freunden fern.
Warum sie trotzdem darauf bestand, dass wir in dem kleinen Häuschen auf dem Grundstück ihrer Villa lebten, verstand ich nicht. Der riesige, parkähnliche Garten wäre ein Paradies für Julien zum Spielen, allerdings konnte meine Schwiegermutter es auf den Tod nicht ausstehen, wenn wir uns dort aufhielten. Selbst Steven sah sie nicht gern draußen und so hielten wir uns weitgehend im Haus auf, da Steven nicht mehr gern in die Öffentlichkeit ging.
Wehmütig dachte ich an die Zeit unseres Kennenlernen zurück, während ich Julien in seinen Buggy setzte und anschnallte. Dabei hatte ich mir schon vor über zwei Jahren verboten, an das Leben davor zu denken. Alles, was zählte, war unser jetziges – das Leben danach. Denn das war die Zeitrechnung, in der ich lebte. Wen interessierte schon Christus Geburt? Bei mir war Jahr zwei bald herum und Jahr drei würde beginnen. Inzwischen hoffte ich gar nicht mehr darauf, dass es besser werden würde oder leichter, sondern nur noch, dass uns größere Tragödien erspart blieben. Natürlich würden wir diesen Tag feiern, obwohl Steven davon gar nichts hören wollte. Aber immerhin war dieser Tag nicht nur der Jahrestag der größten Katastrophe in unserem Leben, sondern auch Juliens Geburtstag, denn die Geburt war durch die Aufregung ausgelöst worden. Heute erleichterte mir die Geburt die Erinnerungen an diesen Tag, obwohl es damals doppelt belastend war.
»Mara? Bist du es, Mara Webber ähm Franklin?« Eine Stimme, die ich unter Tausenden erkannt hätte, riss mich aus meinen Gedanken. Schnell drehte ich mich um, um zu sehen, ob sie es wirklich war.
»Jodie, was machst du denn in Los Angeles?« Das klang viel abweisender, als ich es wollte. Immerhin war sie meine beste Freundin gewesen und sie war es nicht, die den Kontakt abgebrochen hatte, sondern ich. Allerdings nicht freiwillig. »Ich freue mich wirklich, dich zu sehen«, schob ich deshalb noch hinterher. Musste sie gerade heute auftauchen, wo meine Gedanken sowieso ständig in Solana waren?
»Ich freue mich so, dich zu sehen. Unser letztes Treffen ist viel zu lange her. Wie geht es dir? Du musst mir alles erzählen.« Jodie lachte über sich selbst, weil sie mich so mit Fragen bombardierte, statt mir meine zu beantworten. »Ich bin mal wieder unmöglich, aber so kennst du mich ja.« Zumindest kannte sie mich früher. Doch das war vor dem schrecklichen Tag. Danach hatte sie versucht, den Kontakt zu halten, aber ich konnte es einfach nicht ertragen, dass ihr Leben weiter ging, während meines zum Stillstand gekommen war. Außerdem sahen meine Schwiegereltern es nicht gern, wenn ich Besuch bekam oder irgendwo hinfahren wollte.
»Hast du jetzt Zeit? Ich bin noch ein paar Stunden in der Stadt und würde gern einen Kaffee mit dir trinken gehen. Hier in der Mall gibt es ein Café mit Kinderspielecke, vielleicht gefällt das auch deinem Kleinen. Dort treffe ich mich nachher sowieso mit Lyanne – meiner Chefin – und ihrem Sohn auf ein Stück Kuchen.« Sie tat so, als wäre alles ganz normal zwischen uns und nicht, als hätte ich nicht vor über zweieinhalb Jahren jeglichen Kontakt zu ihr und meinem alten Leben in Solana Beach völlig abgebrochen. Konnte es so leicht sein, mal einen Tag auszuspannen? Und durfte ich das überhaupt? Nur eine normale Frau sein, die sich mit Freunden traf, in ein Café ging und entspannte? Zu Hause wurde ich erst später erwartet, trotzdem fiel es mir schwer, nicht sofort wieder zu Steven zu eilen.
»Spielen gehen. Kuchen«, verlange Julien nun lautstark. Er verstand jedes Wort und war begeistert von der Idee. Jodie strubbelte ihm durchs Haar.
»Siehst du, dein Kleiner ist auch dafür.« Ihr Blick war so bittend, dass ich mich überwand und zusagte.
»Okay, ich bin dabei. Vorher muss ich nur kurz zu Hause anrufen, ob alles in Ordnung ist.« So ganz konnte ich halt nicht aus meiner Haut und zum Glück zeigte Jodie Verständnis dafür. Sie fragte nicht warum, schließlich war sie in den ersten Monaten nach dem Unfall immer für mich da gewesen und wollte mich unterstützen, wenn ich sie gelassen hätte. Aber als ich die Hilfe meiner Schwiegereltern angenommen hatte, sah meine Schwiegermutter es nicht gern, dass ich meine alten Kontakte pflegte. Immer wieder hielt sie mir vor, wie selbstsüchtig das war und für Steven und Julien hatte ich dann irgendwann selbst auf Anrufe und Nachrichten verzichtet. Mir blieb ja keine andere Wahl, als mich mit meinen Schwiegereltern gut zu stellen. Stevens Krankenversicherung deckte zwar die notwendigsten Kosten, aber deren und meine Ansichten darüber, was nötig war, gingen weit auseinander und dann gab da ja noch Julien, dessen Behandlungen ebenfalls Unsummen verschluckten. Doch daran wollte ich jetzt nicht denken. Jodie blieb neben mir stehen, während ich mein Handy aus der Tasche zog und die Kurzwahl für zu Hause drückte.
»Mara, ist etwas passiert?« Jennifer – eine der drei Pflegekräfte, die Steven im Wechsel betreuten – klang richtig besorgt. Irgendwie verständlich, sie kannte meinen Zeitplan und normalerweise rief ich nie zwischendurch an, sondern hielt diesen absolut exakt ein. Dazu gehörte, dass ich vor der Abfahrt anrief.
»Nein, ich wollte mich nur erkundigen, wie es heute aussieht und ob ich mit Julien noch etwas auf einen Spielplatz gehen kann.« Das Kaffeetrinken verschwieg ich lieber. Nicht wegen Jennifer, die mich immer wieder aufforderte, mir meine Freiheit zu nehmen, bloß meine Schwiegermutter durfte nichts davon erfahren.
»Steven schläft, er ist heute nicht so gut drauf, aber es war nichts Besorgniserregendes. Ich sitze bei ihm und lese. Geht ihr mal ruhig raus. Julien muss auch mal etwas anderes und vor allem andere Kinder sehen. Ich decke dich, falls der Dra… Mrs. Franklin fragt.« Beinahe hätte sie meine Schwiegermutter als Drachen bezeichnet. In Gedanken tat ich das oft, aber laut auszusprechen traute ich es mich gar nicht. Obwohl es wahrscheinlich leicht paranoid war, hatte ich Angst davor, sie könne es mitbekommen. In Stevens Zimmer lief immer eine Überwachungskamera, denn sie traute niemanden und hatte mich und die Pflegekräfte mehr als einmal beschuldigt, Steven zu misshandeln, dabei käme keiner von uns auf die Idee. Dafür würde ich meine Hand ins Feuer legen. Er hatte schon genug gelitten und jeder wollte ihm helfen, obwohl er manchmal echt fiese Sprüche von sich gab. So war er früher nie gewesen, aber die Schmerzen machten einen verbitterten Mann aus ihm.
»Okay, ich bleibe höchstens eine Stunde, dann komme ich ins Haus.« Nach Hause konnte ich einfach nicht sagen, auch nach all der Zeit noch nicht, denn es fühlte sich nicht wie ein Zuhause an. Es war nur das Gebäude, in dem ich lebte, oder besser, in dem ich existierte, Leben konnte man das kaum nennen. Ich legte auf und wandte mich Jodie zu.
»Alles geregelt, nun habe ich eine Stunde Zeit.« Jodie freute sich sichtlich. Julien spielte in der Zwischenzeit mit einem Auto, das im Buggy gelegen hatte. Er war ein sehr genügsames Kind und daran gewöhnt, zu warten.
Gemeinsam liefen wir zu dem Café, von dem Jodie gesprochen hatte. Währenddessen erzählte sie mir von ihrem Leben in Solana Beach, das so vertraut und trotzdem so fremd klang. Noch vor drei Jahren war ich ein Teil des Solana-Beachcenters gewesen und Besitzerin meines eigenen kleinen Blumenladens, doch jetzt klang es wie eine völlig andere Welt.
»Das Artists würde dir gefallen. Es ist ein Geschäft für Bastel- und Malbedarf und gleichzeitig eine Art Galerie mit völlig unterschiedlichen Kunstwerken. Ich bin eher für den Verkauf der normalen Waren zuständig, springe allerdings oft im Büro ein, während Lyanne sich um die Präsentation und den Verkauf der Kunstwerke kümmert. Sie hat vorher in einer Galerie gearbeitet und hat vieles verändert, seit sie bei uns ist. Nicht zuletzt ihr ist es zu verdanken, dass es nun zusätzlich Ausstellungen in verschiedenen Hotels und nicht nur in Solana gibt.« Für mich klang es wie eine völlig andere Welt, dabei konnte ich mich an Connor sogar noch erinnern. Als ich mein Geschäft aufgeben musste, hatte er mir den Bastelbedarf, den der neue Inhaber meines Blumenladens nicht haben wollte, für seinen neuen Laden abgekauft. Das musste das Artists sein, zur Eröffnung war ich schon nicht mehr in Solana Beach gewesen. Sehnsucht nach meinem alten Leben erfasste mich. Wäre Steven an diesem Tag nur wie versprochen in der Wache geblieben, dann wäre alles anders gekommen und wir würden noch immer glücklich dort leben. Schnell verdrängte ich den Gedanken wieder. Es war ein Unfall gewesen und Steven traf keine Schuld, außerdem hatte er am meisten gelitten und verloren – litt ja bis heute täglich darunter – ihn jetzt noch dafür verantwortlich zu machen, wäre unfair. Schlimm genug, dass meine Schwiegermutter es so oft tat. Wenn sie nicht gerade mir die Schuld gab, weil ich in sein Leben getreten war. Manchmal verteilte das Leben einfach Arschkarten und es half nicht, irgendwem die Schuld dafür zu geben. Deshalb hörte ich lieber weiter zu, was Jodie über das Geschäft und ihre Kollegen erzählte.
»… Und was machst du so?« Irgendwann hatte die Frage ja kommen müssen.
»Ich kümmere mich immer noch ausschließlich um Julien und Steven und lebe vom Geld meiner Schwiegereltern.« Jodie schwieg und ich bereute meine Worte sofort. Irgendwie hatte es viel patziger geklungen, als ich es beabsichtigte. Aber wenn ich ehrlich sein wollte, war es nun einmal so. Aus der selbstständigen Geschäftsfrau war eine Frau geworden, die sich von der Familie ihres Mannes aushalten ließ. Ich hasste es. Zumal meine Schwiegermutter es mir ständig vorhielt, wie abhängig ich von ihr war. »Sorry, ich wollte nicht so zickig klingen, aber ich bin es nicht mehr gewohnt, Smalltalk zu halten. Vielleicht sollte ich besser nach Hause fahren und dir nicht den Tag verderben.« Doch noch bevor ich mich umdrehen konnte, griff Jodie nach meinem Arm und drehte mich so, dass ich ihr in die Augen sehen musste.
»Lass den Quatsch, Mara. Ich lasse mich nicht wieder so leicht wegschicken, irgendwie habe ich das Gefühl, dass du gerade dringend eine Freundin brauchst und dieses Mal lasse ich mich nicht abwimmeln, nicht so wie damals. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie oft ich mir das selbst vorgeworfen habe. Aber da du deine Telefonnummer geändert hast, konnte ich dich nicht erreichen. Einmal stand ich sogar vor eurem Tor und habe geklingelt, aber ich bin nicht hineingelassen worden.« Davon habe ich nie etwas erfahren. Wahrscheinlich hatte meine Schwiegermutter verboten, jemanden anderes, außer dem Pflegepersonal, hinein zu lassen. Das sähe ihr ähnlich. Schließlich war eine ihrer Bedingungen, als es um die Kostenübernahme ging, dass wir auf ihr Grundstück ziehen mussten und ich mich verpflichtete, mich ausschließlich um meinen Mann und meinen Sohn zu kümmern. Und genau das tat ich seitdem. Vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, zweiundfünfzig Wochen im Jahr. Ich schlief kaum und wenn dann nicht tief, um ja keinen Notfall zu verpassen, und ließ mich durch nichts von meiner Aufgabe ablenken. Zumindest hatte ich das bis jetzt getan. Doch heute würde ich eine Ausnahme machen und mir diese eine Stunde stehlen – für mich. Mrs. Franklin senior würde es ja nie erfahren.
Wie verhext klingelte genau in der Sekunde, in der ich das beschloss, mein Handy. Reflexartig riss ich es aus der Tasche und ging sofort dran. Normalerweise bedeuteten solche Anrufe einen akuten Notfall bei Steven. Auch wenn das Telefonat mit Jennifer erst ein paar Minuten her war, so konnten solche Notfälle innerhalb von Sekunden geschehen.
»Ja, was ist passiert?« Meine Stimme klang selbst in meinen Ohren panisch.
»Wo bist du?« Die Stimme meiner Schwiegermutter donnerte regelrecht aus dem Telefon, so dass Jodie mich erstaunt ansah. Mir war schon jetzt klar, was das bedeutete, sie hatte im Büro die Livebilder der Kamera laufen gehabt und dadurch mitbekommen, dass ich länger wegbleiben wollte. Die Frau war ein echter Kontrollfreak. Wahrscheinlich kochte sie gerade, weil Jennifer mich deckte. Hoffentlich warf sie die Arme nicht gleich hinaus, weil sie sich verplappert hatte.
»Ich bin noch in der Stadt und wollte gerade mit Julien auf einen Spielplatz. Er braucht Kontakt zu anderen Kindern hat seine Therapeutin gesagt.« Das stimmte sogar, Fiona hatte schon öfter darauf hingewiesen und seine Logopädin war ebenfalls der Meinung, es würde ihm helfen, schneller sprechen zu lernen. Aber natürlich sah der Drache das anders.
»Darüber reden wir heute Abend noch.« Mehr sagte sie nicht, sondern legte einfach auf. Na, das konnte ja etwas werden.
»Musst du gehen?«, fragte Jodie besorgt und sah mich mitleidig an. Wahrscheinlich hatte sie jedes Wort verstanden, so wie mein Schwiegerdrache gebrüllt hatte. Irgendwie weckte das den Trotz in mir, den ich sonst hinunterschluckte.
»Nein, lass uns gehen, sauer ist sie so oder so und Julien freut sich auf den Kuchen.« Entschlossen ging ich weiter. Heute würde ich zum ersten Mal nicht sofort springen, obwohl ich es später sicher bereuen würde.
Lustlos lief ich hinter Connor her. Warum zum Teufel hatte ich diesem Ausflug nur zugestimmt? Los Angeles war wirklich nicht meine Lieblingsstadt – viel zu laut, zu voll, die Abgase und dann auch noch dieses Shoppingcenter. Obendrein lebten meine Eltern seit einigen Jahren hier in der Stadt. Ein weiterer Grund, sie zu meiden. Welcher Mann betrat außerdem freiwillig so einen Tempel des Grauens? Ich sicher nicht, aber was tat man nicht alles für seinen besten Freund? Und um den eigenen dunklen Gedanken zu entkommen? Connors bessere Hälfte Lyanne war heute in der Stadt, um einige Einkäufe zu machen und dem Frauenarzt einen Besuch abzustatten. Der Frauenarzt in Solana Beach war gerade im Urlaub. Eigentlich war Jodie als Begleitung mit ihr und ihrem Sohn Nick gefahren, doch Connor hatte es zu Hause nicht ausgehalten. Lyanne übernahm sich seiner Meinung nach zu oft und er hatte Angst, dass darum vielleicht etwas mit dem Baby nicht stimmen könnte. Deshalb wollte er sie beim Frauenarzt überraschen. Blöderweise hatte er den Termin verpasst und Lyanne die Praxis schon längst wieder verlassen, als wir dort ankamen. Wäre er mal gleich mitgefahren, statt auf eine Lieferung zu warten. Das hätte ja Jodie übernehmen können.
Nun hatte er mich in diese Mall geschleppt, hier gab es angeblich ein Café, das Lyanne gern aufsuchte, weil es über eine Spielecke für Nick verfügte. Das Problem war nur, dass er weder wusste, wann sie da sein würden – oder ob überhaupt – noch sich erinnerte, wo dieses Café genau lag. Dabei war er schon selbst dort gewesen. Ganz im Gegensatz zu mir, weshalb ich nun sinnlos hinter ihm her trottete. Langsam verfluchte ich mich dafür, ihm überhaupt erzählt zu haben, dass ich heute keine Schüler hatte. Wenn meine große Klappe nicht wäre, könnte ich jetzt gemütlich am Strand liegen, surfen oder mal etwas am Haus machen. Aber nein, ich musste ja den Mund aufreißen und dann auch noch diesen Mist zusagen.
»Hier muss das doch irgendwo sein«, murmelte Connor vor sich hin, sah sich aber immer noch relativ orientierungslos um.
»Soll ich mal im Internet nachschauen?« Mein Vorschlag wurde nur mit einem Augenrollen beantwortet.
»Das hab ich schon, deshalb weiß ich ja, dass es hier sein müsste. Gleich neben dem Dessous-Geschäft. Aber ich finde beide nicht.« Er drehte sich im Kreis und holte dann doch wieder sein Handy heraus.
»Dad! Matt! Was macht ihr denn hier?«, rief auf einmal eine sehr vertraute Kinderstimme und schon stürmte Nick auf uns zu. Na, dann waren wir wohl doch nicht völlig falsch hier.
»Wir wollten euch überraschen.« Connor zwinkerte seinem Stiefsohn zu und zerzauste ihm liebevoll die blonden Haare.
»Connor Fisher, du verrückter Kerl, hast du mich wirklich bis nach L.A. verfolgt?« Lyanne sah aus, als wisse sie nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Entschied sich dann aber fürs Lachen.
»Sorry, mein Schatz, ich wollte unbedingt beim Arzt dabei sein, bin aber zu spät gekommen und du warst schon weg.« Er sah sie so zerknirscht an, dass ich fast Mitleid mit ihm bekam und ihr schien es nicht besser zu ergehen.
»Warum hast du das denn heute Morgen nicht gesagt? Dann hätten wir doch zusammen fahren können.« Das fragte ich mich allerdings auch. Connors Herumgedruckse hörte ich mir aber nicht an, sondern beschäftigte mich lieber mit Nick. Den Jungen sah ich sonst nur wenig, obwohl ich ihn wirklich gern mochte. Zugegebenermaßen hatte er sonst ständig seinen Hund dabei und auf den reagierte ich leider hochgradig allergisch.
»Und was hast du gemacht, während deine Mom beim Arzt war?« Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Lyanne ihn bei der Untersuchung dabei haben wollte.
»Da war ich mit Jodie im Park auf einem Spielplatz. Aber unser Strand ist viel schöner. Dort war überall Beton, kein Sand.« Das verstand ich voll und ganz, der Kleine war eine Wasserratte, so wie ich es ebenfalls seit Kindesbeinen an war, und er lernte gerade Surfen.
»Apropos Jodie, wo ist die eigentlich?« Stimmt, jetzt da Connor fragte, fiel mir auch auf, dass sie fehlte.
»Sie hat eine alte Freundin gesehen und wollte unbedingt mit ihr reden. Wir treffen uns im Kindercafé.« Lyanne lächelte mich leicht unsicher an, sie wusste, dass ich normalerweise solche Orte mied. In meinen Kursen hatte ich zu viele Katastrophenkinder. Leider war nicht jedes Kind so gut erzogen wie ihr Sohn. »Aber vielleicht sollten wir uns einen anderen Treffpunkt aussuchen, jetzt da ihr hier seid.« Nicks Unterlippe schob sich sofort schmollend nach vorn. Wahrscheinlich hatte er sich sehr darauf gefreut und das wollte ich ihm nicht verderben. Die Kinder dort würden mich schon nicht auffressen und Nick war mein kleiner Kumpel, für ihn tat ich alles – na ja, fast alles.
»Nein, lasst uns dorthin gehen. Die haben sicher Kuchen und Eisbecher für mich.« Ein strahlendes Lächeln von Nick belohnte mich dafür. Schnell hielt ich ihm die Handfläche hin, damit er einschlagen konnte.
»Danke, Matt.« Wenig später enterten wir einen Tisch direkt neben der Spielecke des Kindercafés. Nick ging gleich zum Spielen, während wir in die Karte guckten. Die Eisbecher hier sahen wirklich gut aus. Wenn ich mich schon von Connor in diese Höllenstadt schleifen lassen musste, konnte er mich wenigstens mit etwas Süßem belohnen. Am besten nahm ich eine Geschmacksbombe – wie der Eisbecher mit Früchten und Schokoladensoße auf der Karte hieß.
Lyanne zeigte Connor inzwischen das neuste Ultraschallbild und er starrte verliebt darauf statt in die Karte, da er aber sowieso immer dasselbe nahm – Spaghettieis – brauchte er dort ja gar nicht hineinsehen. Lyanne würde sicher etwas mit Früchten nehmen, seit sie schwanger war, aß sie Unmengen an Obst.
»Wollen wir auf Jodie warten, oder schon bestellen?«, fragte ich, als der Kellner in unsere Richtung sah. Doch genau in diesem Moment entdeckte ich die Fehlende schon. Sie kam zusammen mit einer Frau, die einen Buggy schob, auf uns zu. Von der sah man außer langen blonden Haaren nicht viel, denn sie hielt den Kopf gesenkt. Überhaupt wirkte ihre ganze Körperhaltung sehr unsicher. Sie schien sich absolut nicht wohl zu fühlen. Als Surflehrer war ich es gewöhnt, immer auf die Körpersprache meiner Schüler zu achten, und ihre sagte eindeutig, dass sie sich ganz weit weg wünschte. Dagegen war der kleine Kerl im Buggy umso fröhlicher, er zeigte aufgeregt auf die Eisbecher auf den anderen Tischen und klatschte dann in seine Hände.
»Mommy ham«, rief er lautstark. Die Frau entspannte sich etwas und nickte.
»Ja, Julien. Gleich bekommst du ein Eis.«
»Eis, Eis, Eis«, echote er. Inzwischen hatten die drei uns erreicht und Jodie stellte uns vor.
»Das ist Connor, einer der beiden Besitzer des Artists, wo ich inzwischen arbeite. Vielleicht kennt ihr euch noch. Dann haben wir hier seine Verlobte Lyanne, ihr Sohn heißt Nick und spielt dort drüben.« Lächelnd zeigte sie in Richtung der Spielecke und zum ersten Mal hob die Unbekannte ihren Kopf. Mich traf es fast wie ein Schlag, denn dieses Gesicht hatte ich schon einmal gesehen. Im Moment wusste ich zwar nicht, woher es mir so bekannt vorkam, aber ich war mir ganz sicher. Gesichter vergaß ich nur selten. »Und das ist Matt, ein guter Freund von uns, er ist Besitzer einer Surfschule in Solana Beach.« Das klang natürlich gleich viel hochtrabender als Surflehrer.
»Das sind Mara und ihr Sohn Julien. Mara gehörte früher das Blumengeschäft gegenüber des Artists. Nun lebt sie mit ihrer Familie leider hier in L.A. und wir haben uns ewig nicht gesehen.« Höflich stand ich auf und reichte ihr die Hand. Sie lächelte andeutungsweise und dieses Lächeln berührte etwas in mir. Es lag eine tiefe Traurigkeit darin, die sie zu überspielen versuchte. Als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, war es fröhlicher. Das wusste ich noch. Nur wollte mir absolut nicht einfallen, wann und wo wir uns begegnet waren. In diesem Blumenladen ganz sicher nicht. Mit Grünzeug konnte ich nicht viel anfangen, wenn ich ehrlich war.
»Schön, dich kennenzulernen. Wollen wir Julien zu Nick in die Spielecke lassen? Er freut sich bestimmt über Gesellschaft.« Lyanne lächelte freundlich, trotzdem sah Mara sich etwas skeptisch um, hob ihren Sohn dann doch aus dem Buggy heraus.
»Ich weiß aber nicht, ob Julien der richtige Spielpartner für deinen Sohn ist. Die meisten Kinder können leider nicht viel mit ihm anfangen. Er ist nicht so weit wie andere Kinder in seinem Alter.« Man konnte ihr ansehen, dass es ihr wehtat, das laut auszusprechen. Trotzdem ging sie mit dem Kleinen auf dem Arm die paar Schritte hinüber und setzte ihn auf dem Boden ab. Dort krabbelte der Junge zu einer Kiste mit Autos, zog sich etwas unbeholfen daran hoch und fing an, diese auszuräumen. Nick gesellte sich zu ihm und nachdem Mara sich davon überzeugt hatte, dass die beiden allein klar kamen, setzte sie sich zu uns.
»Siehst du, das geht schon. Nick kann gut mit jüngeren Kindern umgehen. Nun such dir erst einmal etwas aus. Wir haben von hier aus ja alles im Blick.« Im Gegensatz zu Jodies Freundin war Lyanne völlig entspannt. Mara sah die ganze Zeit angespannt zu ihrem Sohn.
»Wie geht es Steven?« Meiner Meinung nach stellte Jodie da eine absolut harmlose Frage, aber Maras Reaktion sagte irgendetwas völlig anderes aus. Einen Moment lang senkte sie den Kopf und als sie ihn wieder hob, lag etwas Kämpferisches in ihrem Blick. Keine Ahnung, wie ich das beschreiben sollte, irgendwie eine Mischung aus Angst, Trauer und Wut.
»Ich würde gerne sagen, dass es ihm gut geht. Doch das wäre eine Lüge. Möchtest du es wirklich wissen? Es könnte euch allen den Appetit verderben.« Einen Moment lang sahen sie alle, außer mir, Mara geschockt an. Dann senkte sie den Kopf. Ich war mir sicher, Tränen in ihren Augen schimmern zu sehen, bevor sie den Blick abwandte. Obwohl ich sie überhaupt nicht kannte, verspürte ich das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten. Doch das stand mir natürlich nicht zu. Nach einem kurzen unangenehmen Schweigen ergriff sie wieder das Wort: »Ich glaube, es ist besser, wenn ich gehe. In den letzten Jahren habe ich es verlernt, Smalltalk zu betreiben, und lege jedes Wort auf die Goldwaage. Tut mir leid, wenn ich euch den Tag verdorben habe.« Sie stand wirklich auf und ich wollte nichts lieber, als sie aufzuhalten, auch wenn ich selbst nicht wusste, warum. Irgendetwas hatte Mara an sich, das mich völlig in ihren Bann zog. Dabei stand ich sonst eher auf unkomplizierte Frauen.
»Bleib, bitte. Ich bin mir sicher, das lässt sich alles klären. Du musst nichts erzählen, wenn du nicht willst. Und guck doch, wie schön die Jungs spielen.« Lyanne rettet die Situation mit ihrer Einmischung und ich hätte sie am liebsten aus Dankbarkeit gedrückt, als Mara sich wieder setzte. Jodie sah Lyanne ebenfalls dankbar an. Ihr fehlten wohl ebenfalls die Worte.
Eigentlich sollte ich es inzwischen durch meine Schwiegermutter gewohnt sein, mich als Außenseiter zu fühlen, doch heute war es besonders schlimm für mich. Dabei gaben sich alle die größte Mühe, mich zu integrieren und mit einzubeziehen, aber ich spürte doch, dass ich einfach nicht zu ihnen passte. Irgendwie stellte ich mich selbst ins Abseits. Das Gespräch drehte sich um Dinge, über die ich nicht mitsprechen konnte.
Das Artists hatte ich schließlich noch nie gesehen und die Zeit, in der ich selbst Geschäftsinhaberin gewesen war, schien mir so unendlich weit weg. Einen anderen Job hatte ich zur Zeit auch nicht, wenn man von der Pflege Stevens und das Versorgen von Julien absah. Für die meisten Menschen zählte aber nur bezahlte Arbeit, das hatte ich im letzten Jahr öfter bemerkt, sobald das Gespräch irgendwo darauf kam, dass ich nur zu Hause war. Deshalb sprach ich inzwischen nicht mehr darüber, wie viel ich mit meinen Männern zu tun hatte. Ich tat es ja gern, schließlich liebte ich sie beide, doch manchmal wünschte ich mir nur eine Auszeit. Viel öfter aber einfach einen gesunden Ehemann und Sohn. Natürlich wusste ich, dass es unmöglich war, diesen Wunsch zu erfüllen, dennoch durfte ich ja träumen.
»Wenn du mal wieder nach Solana Beach kommst, musst du unbedingt bei uns im Laden vorbeisehen. Du warst doch schon immer so kreativ, ich glaube, es wäre genau dein Ding.« Jodie strahlte mich an und ich nickte brav. Ich brauchte ihr ja nicht auf die Nase zu binden, dass ein Besuch in Solana im Moment so realistisch wie eine Reise zum Mond für mich war. Und erst recht nicht, dass meine Kreativität seit Stevens Unfall völlig verschwunden war. Mein Blick wanderte zu meinem Sohn, der zu meiner Überraschung absolut friedlich mit Nick spielte. Obwohl dieser ja älter war und sicher sonst anders spielte, ließ er immer wieder einen Ball eine Kugelbahn hinunterrollen, was Julien mit Klatschen und Gelächter kommentierte. Wenigstens einer von uns schien sich hier also wohl zu fühlen. Da er viel zu selten mit anderen Kindern zusammenkam, wenngleich es ihm sicher guttäte, blieb ich brav sitzen, obwohl alles in mir danach schrie, hier zu verschwinden. Zu viele Erinnerungen an meine Freundschaft mit Jodie und das Kennenlernen mit Steven kochten hoch.
»Wenn du schon mal da bist, musst du unbedingt mit dem Zwerg zu mir an den Strand kommen. Zum Surfen ist er zwar noch zu klein, aber man kann in der Bucht auch prima baden, da es zuerst ganz flach rein geht und die großen Wellen erst weiter draußen kommen.« Mechanisch nickte ich. Dabei konnte ich es mir kaum vorstellen, mit Julien wirklich an den Strand zu fahren und dann noch bis Solana Beach raus. So viel freie Zeit hatte ich nicht und würde ich auch nie haben, solange Steven lebte. Und das würde er hoffentlich noch sehr lange, egal wie oft er sagte, dass er gehen wollte, um mir ein besseres Leben zu ermöglichen. Schnell verdrängte ich diese traurigen Gedanken an den Todeswunsch meines Mannes wieder, denn es war zu schrecklich, mich näher damit zu befassen.
»Wirklich überzeugt wirkst du nicht, Mara.« Jodie sah mich skeptisch an. »Dabei würde euch eine Auszeit sicher guttun. Matt will in seinem Haus demnächst Gästezimmer ausbauen und vermieten. Ich kann mir vorstellen, dass das etwas für euch wäre. Er bewohnt ein Stelzenhaus direkt am Stand.« Es klang wirklich traumhaft, allerdings würde es genau das bleiben müssen. Ein Traum. Mit Steven und dem ganzen Pflegeequipment war es unmöglich, wegzufahren. Und wenn er mal wieder im Krankenhaus lag, brachte ich es erst recht nicht fertig, ihn allein zu lassen. Obwohl die Ärzte mir jedes Mal dazu rieten, diese Zeiten zur Erholung zu nutzen. Fraglos würde meine Schwiegermutter mir die Hölle heißmachen, wenn ich auch nur den Wunsch äußerte. Da sie für alles bezahlte, durfte ich ihrer Meinung nach sowieso nur machen, was sie genehmigte. Manchmal fühlte ich mich wie ihre Leibeigene, dabei sollte ich echt Dankbarkeit empfinden, weil sie alles finanzierte. Doch leider verhinderte ihr Verhalten dies sehr effektiv.
»Mara? Hörst du mir eigentlich zu?« Jodie unterbrach meine Gedanken und der traurige Tonfall machte mir sofort ein schlechtes Gewissen. Warum musste ich ständig an meinen Schwiegerdrachen denken, statt mal abzuschalten und den Nachmittag zu genießen? So schnell würde ich wahrscheinlich keine Auszeit wieder bekommen.
»Entschuldige, ich war in Gedanken.« Das hörte sich besser an, als das, was ich eigentlich sagen wollte. ›Ich bin den Umgang mit Menschen nicht mehr gewohnt.‹ Wie sollte ich überhaupt erklären, dass ich kaum noch normale Gespräche führte und das seit Jahren? Bei Steven musste ich mir jedes Wort dreimal überlegen, damit er es nicht falsch auffasste. Bei meiner Schwiegermutter hieß es: Zähne zusammenbeißen und die Klappe halten. Julien war auch kein geeigneter Gesprächspartner. Erstens sprach er ja noch kaum und zweitens war er ein Kind. Ansonsten sah ich ja meistens nur die Ärzte, Pfleger und Therapeuten und mit denen führte ich fast nur Gespräche über Behandlungen und den aktuellen Zustand. Persönliche Plaudereien waren da die absolute Ausnahme, schließlich musste ich immer daran denken, dass sie alle von meiner Schwiegermutter bezahlt wurden. Oh Mann, nun schweifte ich schon wieder gedanklich ab. »Ich bin wahrscheinlich eine furchtbare Begleitung. Soll ich lieber gehen, bevor ich euch noch allen den Tag verderbe?« Eigentlich wollte ich bereits aufstehen, doch Matt war schneller und legte mir die Hand auf die Schulter und mich überlief ein Schaudern. Nicht aus Kälte oder weil ich mich unwohl fühlte, eher das Gegenteil und das durfte nicht sein. Bevor ich mich schnell verabschieden konnte, ergriff er das Wort.
»Bitte bleib und hör auf, dich zu entschuldigen. Es gibt manchmal Situationen, in denen einem nicht nach Reden ist, aber deshalb musst du doch nicht alleine sein. In unserem Kreis ist immer Platz und wir sind nicht immer so aufgekratzt wie heute.« Er sah mich so bittend an, dass ich gar nicht anders konnte, als mich langsam wieder auf meinen Stuhl zu setzen, außerdem verlangte Julien nun lautstark nach Eis und krabbelte zu mir. Dabei grinste er so süß, dass mein Herz regelrecht zerfloss. Mein kleiner Engel, für ihn würde ich wirklich alles tun und jedes Hindernis aus dem Weg räumen, nur um ihn glücklich zu machen.
»Ja, ich bleibe. Es tut mir leid, dass ich so unhöflich war.« Beschämt senkte ich meinen Blick und nahm lieber meinen Sohn auf den Schoß, als die anderen anzusehen. Zu meinem Glück kam jetzt der Kellner und statt weiter auf mein Benehmen einzugehen, ging das Bestellen los. Mir dröhnte schon etwas der Kopf, denn so viel Gerede war ich einfach nicht gewohnt. Die Freunde von Jodie waren zwar weder besonders laut, noch sprachen sie durcheinander, dennoch gab es eigentlich keine Sekunde der Ruhe. Sie erzählten, neckten sich gegenseitig, lachten, erzählten weiter … Obwohl sie sich redlich Mühe gaben, mich einzubeziehen, fühlte ich mich trotzdem wie ein Eindringling. Wahrscheinlich vermieste ich ihnen mit meiner Angespanntheit den ganzen Nachmittag, aber ich konnte nicht aus meiner Haut.
Zum Glück dauerte es nicht lange, bis mein Kaffee und Juliens Eis kam. Nun konnte ich mich darauf konzentrieren, ihn zu füttern. Eigentlich konnte er ja schon allein essen, allerdings nicht besonders gut mit Besteck und ich wollte verhindern, dass er hier im Café mit den Fingern aß und hinterher alles einsaute. Zu meiner Freude und meinem Erstaunen kam von keinem ein Wort dazu. Meine Schwiegermutter regte sich immer tierisch auf, wenn ich den Kleinen fütterte. Ihrer Meinung nach brauchte er nur eine ordentliche Tracht Prügel und dann würde er schon anständig mit Besteck essen. Das war eines der wenigen Themen, wo ich ihr nicht nur innerlich, sondern auch lautstark Kontra gab. Niemand würde meinen Sohn jemals schlagen.
»Hey, kleiner Mann.« Dieser Matt grinste meinem Sohn verschwörerisch zu. »Du magst doch bestimmt noch eine Waffel hinterher, oder? Nick bekommt immer noch eine.«
»Wafefl«, antwortete Julien nuschelnd. Welches Kind würde dazu schon nein sagen? Und ich brachte es nicht fertig, jetzt etwas dagegen zu halten. Obwohl er heute Abend bestimmt nicht mehr richtig essen würde.
»Na, dann komm, Sportsfreund.« Matt hielt Julien die Arme hin und mein Sohn, der sonst jeden Fremden misstrauisch beäugte, wurde zum Verräter und ließ sich ohne Protest hochheben und wegtragen. Nick folgte den beiden zur Theke, wo sie ihre Bestellung aufgaben und nur wenig später hielten die Jungs eine leere Eiswaffel in der Hand. Gemeinsam gingen die drei zur Spielecke. Okay, Julien wurde getragen, doch ihm schien es sichtlich zu gefallen. Alle sahen zu ihnen und zum ersten Mal an diesem Nachmittag sagte keiner ein Wort, sondern jeder hing seinen Gedanken nach. Lange hielt es aber nicht an.
»Matt kann wirklich gut mit Kindern umgehen«, meinte Lyanne lächelnd. »Wir müssen ihn nur davon abhalten, Nummer zwei vor dem ersten Geburtstag mit so etwas zu füttern.« Ihr Mann nickte brav, sah allerdings nicht so aus, als glaubte er an einen Erfolg. Ich beneidete sie so sehr um ihr normales Leben mit so völlig normalen Problemen. Aber was war überhaupt Normalität? Ich kannte es nicht mehr.
Nach dem Eis blieben wir noch etwas im Café. Die Kinder eroberten wieder das Spielzeug und die Frauen unterhielten sich über Lyannes Schwangerschaft, rätselten, welches Geschlecht das Baby wohl haben würde und sowas. Mir fiel es leichter, mich mit den beiden Jungs in der Spielecke aufzuhalten, als mit dieser Mara an einem Tisch zu sitzen. Die Frau hatte irgendetwas an sich, das mich magisch anzog. Obwohl sie kaum sprach und ständig abwesend wirkte, weckte sie etwas in mir. Ich wollte sie beschützen, halten … dabei war sie absolut tabu, denn ich machte mich grundsätzlich nicht an verheiratete Frauen heran. Schließlich war ich nicht mein Vater, der ständig seine Affären hatte, die meine Mutter stillschweigend ignorierte. Aber Mara wirkte so verletzlich und vom Leben gebeutelt, da meldete sich mein Beschützerinstinkt.