Sommersturm im Cuxland - Wolf S. Dietrich - E-Book

Sommersturm im Cuxland E-Book

Wolf S. Dietrich

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Beschreibung

Den Strandkorbverleih seines Vaters in Duhnen weiterführen? Daran hat Kai Kröger kein Interesse. Seine Passion ist das Pokerspiel. Im Hinterzimmer einer Hafenkneipe spielt er sehr erfolgreich gegen Amateure. Doch die Einnahmen reichen nicht, um bei denen mitzumischen, die hohe Einsätze auf den Tisch legen und die ihn in die Spielerparadiese der Welt führen können. Dann erhält Kai ein fragwürdiges Angebot: Für 50.000 Euro soll er eine Barkasse ins offene Meer fahren und dort eine große Kiste versenken. Kann er das ablehnen? Auch wenn ein orkanartiger Sturm sich bereits mit heftigen Böen ankündigt? Und obwohl er ahnt, was sich in der Kiste befinden könnte ...? Das altbewährte Team um Marie Janssen und Jan Feddersen muss sich in einem spannenden achten Fall bewähren. In diesem Cuxland-Krimi hält so manche unerwartete Wende die Leselust hoch: ein weiterer Pageturner des bekannten Krimiautors Wolf S. Dietrich.

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Seitenzahl: 340

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Inhalte

Titelangaben

Prolog

1

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Epilog

Danksagung

Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie des Autors. Ebenso die Verquickung mit tatsächlichen Ereignissen. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind bekannte Persönlichkeiten, Personen der Zeitgeschichte sowie Institutionen, Straßen und Schauplätze in Cuxhaven und Umland.
»Cuxland Krimi«® ist eine eingetragene Marke des Autors.
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2023
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Titelfoto: ©Druckerei Wöbber, absolut-cuxhaven.de
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-258-4
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-248-5
www.prolibris-verlag.de
Der Autor
Wolf S. Dietrich studierte Germanistik und Theologie und arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Göttingen. Dann war er Lehrer und Didaktischer Leiter einer Gesamtschule. Er lebt und arbeitet heute als freier Autor in Göttingen und Cappel-Neufeld bei Cuxhaven.
»Sommersturm im Cuxland« ist sein einundzwanzigster Krimi im Prolibris Verlag und der achte, der im Cuxland spielt. Der Autor ist Mitglied im Syndikat, der Autorengruppe deutschsprachiger Kriminalliteratur.
Mehr Informationen zum Autor unter: www.literatur-aktuell.de
Prolog
Bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag musste es geschehen. Janne Sievers hatte sich vorgenommen, im Kreis ihrer Freundinnen nicht die Letzte zu sein, die ihre Unschuld verlor. Fast alle hatten ihr erstes Mal hinter sich, sogar die schüchterne und unscheinbare Maja, die fast ein Jahr jünger war als sie und der sie das nicht zugetraut hätte. Ihre Erfahrungen hatten die Mädchen einzig der jeweils besten Freundin anvertraut. Jede von ihnen hatte aber noch andere beste Freundinnen, sodass – jedes Siegel der Verschwiegenheit brechend – die Berichte in Jannes Clique zunahmen. Wie die Häufigkeit jener Frage, die Janne künftig nicht mehr mit einem Kopfschütteln, sondern mit einem geheimnisvollen Lächeln beantworten wollte: »Und du?«
Ob das Erlebnis erstrebenswert war, hatte Janne nicht herausgefunden. Zu unterschiedlich waren die Erzählungen. Einige schwärmten von Liebesrausch und Ekstase, andere von Enttäuschungen, einige Versuche waren gescheitert. Auch Janne hatte mit der ersten Erprobung kein Glück gehabt. Sie hatte, wie sie glaubte, den liebenswertesten und beliebtesten Jungen ihrer Klasse ausgewählt. Er hatte keine feste Beziehung, sie würde also niemandem das Herz brechen, wenn sie mit ihm schlief. Doch mit dem stets freundlichen und hilfsbereiten Benjamin war sie über ein bisschen Geknutsche nicht hinausgekommen. Und auch das war nicht gerade leidenschaftlich gewesen. Er hatte ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen, nur den einen nicht. Nach eineinhalb Stunden waren sie unverrichteter Dinge auseinandergegangen.
Weil Janne die Schuld bei sich gesucht hatte, war einige Zeit vergangen, bis sie das Vorhaben erneut angehen mochte. Anscheinend war sie nicht hübsch oder nicht sexy genug, zu dick oder zu langweilig gewesen, obwohl sie doch eigentlich nicht schlechter aussah als Maja oder die anderen aus der Clique. Schließlich hatte sie erfahren, dass Benjamin sehr eng mit einem Jungen aus der Parallelklasse befreundet war und bei keiner ihrer Freundinnen jemals Annäherungsversuche gemacht hatte. Auch prahlte er nicht, wie die meisten anderen, mit angeblichen oder tatsächlichen Erfahrungen. Aber erst die Bemerkung einer Freundin hatte sie erkennen lassen, dass Benjamin für ihren Plan keine Lösung sein konnte. »Benny ist schwul. Vielleicht ist er deshalb so nett.«
Schließlich hatte sie sich für Florian Olsen entschieden. Er war eine Zeit lang mit einer ihrer Freundinnen zusammen gewesen, daher wusste sie einiges über ihn. »Flori küsst wunderbar«, hatte Birte geschwärmt. »Und er hat angenehme Hände. Nicht so grob, sondern mit viel Gefühl. Hat aber trotzdem nicht gepasst. Jedenfalls nicht auf Dauer. War mir zu weich. Irgendwie nachgiebig. Außerdem spricht er zu oft von seiner Mama. Flori ist vielleicht ein Mann zum Heiraten, aber nichts für jetzt. Ich meine, wir wollen doch was erleben, einen draufmachen und nicht Händchen haltend zu Hause sitzen. Und dann sein Musikgeschmack. Er steht auf Klassik, ich aber auf Hip-Hop.«
»Und habt ihr …?«, hatte Janne in möglichst beiläufigem Ton gefragt.
»Nur zweimal«, war die Antwort ihrer Freundin gewesen. »Beim ersten Mal hat’s nicht so richtig geklappt, beim zweiten Mal war’s besser. Genau. Er weiß jedenfalls, wie’s geht, wenn du das meinst. Aber irgendwann setzt bei den Typen der Verstand aus. Heutzutage müssten sie doch Bescheid wissen. Ich meine, worauf es ankommt, damit wir auch etwas davon haben.« Sie hatte mit den Schultern gezuckt. »Vielleicht sollte man sich fürs erste Mal einen Älteren suchen. Keine Ahnung.«
Die Vorstellung empfand Janne als eher abschreckend. Kandidaten hätte es genug gegeben. Der Surflehrer ihrer Mutter, der Mann ihrer älteren Schwester, der Chef des Restaurants, in dem sie an Sommerwochenenden Geld verdiente, und nicht zuletzt der Betreuer einer kirchlichen Jugendgruppe, mit der sie während der Osterferien ins Allgäu gereist war. Jeder dieser Typen hatte – auf die ein oder andere Weise – eindeutiges Interesse erkennen lassen. Der Jugendbetreuer hatte sie regelrecht bedrängt.
Nein, von denen kam keiner infrage.
Florian war der Richtige. Sie waren ein paar Mal miteinander ausgegangen, hatten geknutscht und auch ein bisschen mehr riskiert. Nun war der Tag gekommen, an dem es passieren sollte. Am späten Abend, nach Einbruch der Dunkelheit, in der Grimmershörnbucht, in einem Strandkorb.
Flori hatte die Schlüssel für drei Strandkörbe besorgt und gegen den Wind zu einer kleinen Burg zusammengerückt. Die Flasche Sekt, die er mitgebracht hatte, steckte in einem Kühlmantel. Sogar an Gläser hatte er gedacht. Janne küsste ihn zur Begrüßung und deutete auf das Getränk. »Zum Hinterher-Anstoßen?«, fragte sie verschmitzt.
Florian schüttelte den Kopf, zog sie ins Innere des kleinen Refugiums und begann, den Drahtkorb vom Korken zu lösen. »Ein Glas vorweg zur Auflockerung. Und dann sehen wir weiter.«
Janne musste plötzlich kichern. Verwirrende Bilder tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Wie das Weitersehen mit ihm wohl aussah? Rasch griff sie zu den Gläsern und hielt sie Florian hin. »Gute Idee.«
Der Korken ploppte, Sekt schäumte über die Ränder, tropfte ins Gras. Sie tranken rasch, Florian schenkte nach, erneut leerten sie die Gläser und stellten sie auf dem Klapptisch des Strandkorbs ab. Flori zog Janne zu sich heran. Sie ließ es geschehen, schmiegte sich an ihn und schloss die Augen.
Während sich Jannes Hände unter Florians T-Shirt vorwärts tasteten, ließ er seine Hand unter den Stoff ihres Tops gleiten. Schließlich begannen sie, sie sich gegenseitig aus den Kleidungsstücken zu helfen.
Als Janne sich für einen Moment von Flori löste, um ihren Slip abzustreifen, hielt sie plötzlich inne und sog die Luft ein. »Riechst du das auch? Irgendwie verbrannt. Oder?«
»Stimmt«, bestätigte er und streckte vorsichtig den Kopf durch die Lücke zwischen den Strandkörben. »Irgendwas kokelt hier«, murmelte er und reckte den Hals. Dann zuckte er zurück, griff nach seinen Kleidungsstücken. »Zieh dich an!«, rief er. »Da brennt ein Strandkorb. Direkt neben uns.«
Hastig schlüpfte Janne in Hose und Top und zwängte sich durch die Lücke zwischen den Körben ins Freie. Ob man das Feuer irgendwie löschen konnte? Vorsichtig näherte sie sich dem brennenden Objekt, während hinter ihr Florian in sein Handy sprach. »Ja, genau. Ein Strandkorb. Brennt lichterloh. In der Grimmershörnbucht. Ist nicht zu übersehen.«
Im nächsten Augenblick stand er hinter ihr und hielt sie fest. »Geh nicht zu dicht ran! Vielleicht hat einer Brandbeschleuniger benutzt. Benzin oder was weiß ich. So was kann explodieren. Wir können nichts machen.«
Hilflos beobachtete Janne die lodernden Flammen. Rasend schnell hatte das Feuer sämtliche Teile des Strandkorbs erfasst. Das Gewebe, mit dem er ausgekleidet war, segelte in Form verkohlter Fetzen durch die Luft. Flüssiges Plastik tropfte vom Zierkranz herab. Es fiel aber nicht auf die Sitzfläche, sondern landete auf einem unförmigen Gegenstand darauf, der sich schemenhaft abzeichnete.
Florian griff nach ihrer Hand. »Komm, lass uns verschwinden! Die Feuerwehr kommt gleich. Bestimmt auch die Polizei. Ich habe keine Lust, den Rest der Nacht auf einer Wache zu verbringen, um einem unterbelichteten Bullen eine Zeugenaussage zu diktieren, die der dann mit dem Zwei-Finger-Suchsystem in die Tastatur hackt. Habe ich nämlich schon mal erlebt. Als Zeuge bei einem Verkehrsunfall.«
Janne rührte sich nicht. Wie gebannt starrte sie in den brennenden Strandkorb. »Da liegt was drin«, stammelte sie und deutete mit ausgestrecktem Arm auf die Brandstelle.
»Manche Leute bewahren ihre Klamotten da drin auf, wenn sie das Ding für länger gemietet haben. Mach dir deswegen keinen Kopf! Komm jetzt!« Florian zog an ihrer Hand.
»Sie doch mal genau hin, Flori!« Janne entzog sich ihm. In dem Feuer fauchte und zischte es jetzt. Unsicher trat sie einen Schritt zurück. »Für mich sieht das aus wie ein Mensch.«
»Das wäre … Das ist ja … Ach du Scheiße! Ich glaube, du hast Recht. Das sieht wirklich aus wie …« Er brach ab, als von der Stadt eine Polizeisirene erklang. Oder die eines Feuerwehrwagens. »Jedenfalls können wir jetzt nicht mehr abhauen, ohne uns verdächtig zu machen«, stellte er bedauernd fest und deutete in Richtung Stadt, wo sich vom Fährhafen flackernde Blaulichter näherten.
1
Bei einigermaßen gutem Wetter benutzte Kriminaloberkommissarin Marie Janssen für den Weg von der Freiherr-vom-Stein-Straße in Groden zu ihrer Dienststelle in der Poststraße gern den Motorroller. Ihr Kommissariat war vor Jahren in das Gebäude der Volksbank ausgelagert worden, weil der alte Kasten in der Werner-Kammann-Straße schon lange aus allen Nähten platzte. Vor achtzehn Jahren hatte sie ihren Dienst begonnen, und bereits damals war davon die Rede gewesen, dass der Backsteinbau aus den Siebzigerjahren erneuert werden müsste. Nun sollte – wieder einmal – gebaut werden. Ein neues Gebäude neben dem alten.
Während sie den Roller aus der Garage schob, dachte sie an ihre ersten Erfahrungen im Fachkommissariat für Tötungsdelikte. Der damalige Kripo-Chef Christiansen hatte sie mit dem erfahrenen Ermittler Hauptkommissar Konrad Röverkamp zusammengespannt. Inzwischen war Konrad pensioniert und durch Jan Feddersen ersetzt worden. Der Nachfolger hatte sie durch sein Aussehen irritiert, weil er verblüffend dem machohaften Kommissar einer Fernsehserie glich. Aber auch bei ihm war die anfängliche Abneigung mit der Zeit freundschaftlicher Kollegialität gewichen. Im Grunde war Jan ein warmherziger Mensch, der Unsicherheiten hinter großspurigem Auftreten zu verbergen gesucht hatte.
Heute würde sie mit ihm gemeinsam an einer Fachtagung teilnehmen über die Künstliche Intelligenz im kriminalpolizeilichen Kontext. Gemeinsam würden sie mit einem Dienstwagen nach Bremerhaven fahren, wo die Polizeigewerkschaft diese Fortbildung organisiert hatte. Zumindest noch auf der Hinfahrt würden sie wieder einmal Gelegenheit zu persönlichen Gesprächen haben. Sie freute sich darauf.
Marie schloss das Garagentor, setzte den Helm auf, steckte den Schlüssel ins Schloss des Rollers und drückte den Startknopf. Es klickte, aber mehr geschah nicht. Erneutes Drücken nützte nichts. Zum Glück besaß der Roller einen Kickstarter. Sie klappte ihn aus und trat mit aller Kraft durch. Doch der Motor ließ sich nicht bewegen. Saß vielleicht der Zylinder fest? In diesem Fall würde auch anschieben zu keinem Ergebnis führen. Sie brachte den Roller zurück in die Garage. Dabei wurde ihr bewusst, wie lange ihr das Gefährt schon gedient hatte. Wahrscheinlich hatte Felix doch Recht. Schon mehrfach hatte er erwähnt, dass der Motorroller bald ausgedient haben könnte. »Du solltest dir einen neuen zulegen, bevor du irgendwo liegen bleibst.« Heute war er mit dem Auto unterwegs. Damit würde er Nele am Nachmittag von der Schule abholen. Außerdem erinnerte sie sich an einen Termin in Bremerhaven, den er erwähnt hatte. Es hatte also wenig Sinn, ihn anzurufen. Marie seufzte und zog ihr Smartphone aus der Tasche. Die Nummer der Nordsee-Taxen hatte sie im Kopf.
Eine halbe Stunde später saß Marie am Steuer des Dienstwagens neben Jan, der einen Becher Kaffee aus dem Dienstautomaten in der Hand hielt und ab und an daran nippte, um anschließend das Gesicht zu verziehen. Sie nahm es aus den Augenwinkeln wahr und musste schmunzeln.
»Tut mir leid, dass keine Zeit mehr geblieben ist, um bei Coffee & more vorbeizufahren. Aber wir sind spät dran.«
Jan zuckte mit den Schultern. »Zu dumm, dass ich dem Lütten noch über den Weg laufen und der noch mal seinen Senf zu der Thematik dazugeben musste. Als ob der irgendeine Ahnung von KI hätte.«
Kriminalrat Lütjen war von der Natur ein wenig benachteiligt worden. Wegen seiner geringen Körpergröße hatte er nur auf Umwegen in den niedersächsischen Polizeidienst kommen können. Um den Mangel zu kompensieren, trug er Schuhe mit dicken Sohlen und hohen Absätzen und gab manchmal überflüssige Ratschläge. Lütjen war der Nachfolger von Kriminaloberrat Christiansen, der kurze Zeit nach Konrad Röverkamp in den Ruhestand gegangen war. Er war das Gegenteil seines ruhigen und besonnenen Vorgängers, und weil er anfangs bei jeder Kleinigkeit ausgeflippt war, hatte man ihn in der Inspektion Rumpelstilzchen getauft. Mit der Zeit war er ruhiger geworden. Irgendwann hatte er den Spitznamen der Lütte bekommen. Und behalten.
»Ich hatte gehofft, er würde uns die Fortbildung in Bremerhaven wegen der Sturmwarnung ersparen und uns in zwei Wochen nach Hamburg fahren lassen. Die gleiche Fortbildung, dieselben Referenten. Aber leider … Bei der Gelegenheit hätte ich Luca treffen können.«
»Gehts ihm gut? Kommt er voran?«
»Soweit ich das beurteilen kann – zweimal ja. Das Praktikum bei der Filmproduktion hat bei ihm eingeschlagen. Erinnerst du dich? Wegen des Udo-Lindenberg-Films wollte er unbedingt zur Produktionsfirma Letterbox. Inzwischen studiert er an der Hamburg Media School, hat schon seinen ersten Kurzfilm gedreht und macht bald seinen Bachelor.«
»Toll. Kannst stolz auf deinen Sohn sein.« Marie nickte anerkennend. »Wirst du Frau Börnsen auch besuchen?«
Ein wenig zögerte Jan. »Ja«, antwortete er schließlich. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort. »Eigentlich wollte ich es dir schon längst erzählen. Wenn ich fahre, werde ich bei ihr übernachten.«
Überrascht sah Marie zu ihrem Kollegen rüber. »Wohnt sie nicht mehr in dem … in der Seniorenresidenz?«
»Schon lange nicht mehr. Nachdem sich herausgestellt hat, dass die Lähmung der Beine nicht durch den Unfall, sondern von einem spinalen Tumor verursacht worden war, hat sie sich im UKE operieren lassen. Die OP war erfolgreich. Danach hat sie ein halbes Jahr in einer Reha-Klinik verbracht, um wieder richtig laufen zu lernen. Anschließend wollte sie nicht mehr zurück ins Seniorenstift. Sie meinte, da wären ja nur alte Leute, und hat eine Weile im Fontenay gewohnt. Das ist das neue Superhotel an der Alster. Von da aus ist sie in eine Wohnung gezogen, die in einem ihrer Häuser frei wurde.«
»Und sie braucht keinen Rollstuhl?«
»Nein, den braucht sie nicht mehr.« Jan lächelte. »Sie geht wieder ganz normal. Jedenfalls fast. Wer nicht weiß, was sie hinter sich hat, bemerkt nichts. Auch sonst …« Er brach ab.
»Ihr seid zusammen!«, entfuhr es Marie. »Und ich erfahre das so nebenbei?«
»Na ja«, murmelte Jan. »Ich wollte es dir schon längst erzählt haben. Aber es hat nie so richtig gepasst. Jetzt weißt du’s. Wir wollten es schon letztes Jahr offiziell machen. Aber wegen Corona haben wir’s immer wieder verschoben.«
Begeistert strahlte Marie ihren Kollegen kurz an. »Ich habe mich schon gefragt, warum du so oft nach Hamburg gefahren bist. Deinen Sohn derart zu beglucken, passt gar nicht zu dir. Außerdem hast du kein Interesse mehr an Anne Lüken gezeigt.« Sie fädelte sich auf die A27 ein und wurde ernst. »Du warst also immer bei Frau Börnsen. Ihr seid tatsächlich ein Paar?«
Jan nickte. »Christina kommt nach Cuxhaven zurück. Wir suchen eine gemeinsame Wohnung. Und dann …«
»Super!«, unterbrach Marie ihn. »Säße ich nicht am Steuer, würde ich dir jetzt um den Hals fallen. Ich freue mich so für euch. Werdet ihr heiraten?« Sie schlug die Hand vor den Mund. »Entschuldige, ich möchte nicht neugierig sein. Weiß es sonst schon jemand? Was sagt dein Sohn dazu?«
»Luca ist schon länger klar, dass wir zusammen sind. Anfangs war er skeptisch, aber inzwischen hat er es akzeptiert. Ich glaube, er mag Christina. Meiner Ex habe ich angedeutet, dass sich bei mir eine neue feste Beziehung anbahnt. Sie sagt, sie findet es in Ordnung. Hier in Cuxhaven weiß niemand davon. Du bist die Erste.«
Marie machte große Augen. »Was für eine Ehre! Wem darf ich es erzählen? Oder soll es noch geheim bleiben?«
»Felix kannst du gern einweihen. Und meinetwegen auch deine Freundinnen. Nur den Kolleginnen und Kollegen in der Dienststelle würde ich es gern selbst bekannt geben.«
»Gute Idee!« Marie nickte zufrieden. »Am besten fängst du bei Anne Lüken an.«
Jan lachte. »Weil sie unsere Pressesprecherin ist? Damit sie es über die internen Verteiler bekannt gibt?«
»Nein. Du weißt schon. Wegen Erik aus der Kriminaltechnik. Er hat sich echt Sorgen gemacht, dass du ihm seine Anne ausspannst.«
»Ich habe nie ernsthaft …«
»Am Anfang sah es aber so aus. Als du zu uns gekommen bist, hast du sie ganz schön angehimmelt. Und im Vergleich zu Erik bist du ja auch ziemlich …« Sie unterbrach sich und winkte grinsend ab. »Das verkneif ich mir lieber!«
*
Besorgt musterte Kristian Kröger den Horizont. Die Sonne war schon am frühen Nachmittag verschwunden. Jetzt zogen weiße, graue und blauschwarze Wolken in rascher Folge über den Himmel. Böiger Wind fegte losen Sand über den verlassenen Strand, prasselte gegen alles, was im Weg stand. Nach und nach hatten die Feriengäste die schützenden Strandkörbe verlassen, zuletzt eine Gruppe Jugendlicher, die mit Bier und Lautstärke gegen die Unbilden des aufziehenden Windes angekämpft hatten. Das Wetter würde umschlagen und ein Sturm die Cuxhavener Küste erreichen, so war es vom Wetterdienst angesagt worden. Seine Stammgäste, besonders die älteren, hatte er gewarnt. Aber kaum einer wollte ihm Glauben schenken. Wie auch? Bis zur Mittagszeit waren nur wenige weiße Wolken über den blauen Himmel geglitten, wärmender Sonnenschein hatte Urlauber und Tagesgäste ans Meer gelockt und er hatte den letzten freien Korb vermietet. Wer wollte schon auf einen schönen Urlaubstag am Wasser verzichten?
Noch am Morgen hatte sich die Nordsee ja auch von ihrer besten Seite gezeigt, war endlos blau, das Wasser klar und der Wellengang harmlos erschienen. Jedenfalls für den ungeübten Beobachter. Kröger hatte weit draußen Schaumkronen auf den Wellen bemerkt. Und einen leichten Schleier, der den Horizont und die Konturen der Insel Neuwerk kaum merklich verschwimmen ließ. Doch auch er hatte gehofft, dass sich das näher rückende Sturmtief gegenüber den Vorhersagen der Meteorologen verspäten und seine Gäste nicht beeinträchtigen würde. Nach seiner Erfahrung trafen Tiefdruckgebiete nicht selten später ein als angekündigt. Oder sie nahmen einen nördlicheren Kurs. Kröger warf einen Blick auf die Uhr. Für ein paar Stunden waren die meisten Besucher auf ihre Kosten gekommen. Auch wenn einige von ihnen den Strand zu spät und dann geradezu fluchtartig verlassen hatten.
Ihren Scheitelpunkt würde die Flut erst nach Mitternacht erreichen. Laut Vorhersage sollte sie eineinhalb Meter höher als das mittlere Hochwasser ausfallen. Einen Teil seiner Strandkörbe würde er in Sicherheit bringen müssen. Mindestens dreißig, die ihren Platz in der Nähe der Wasserlinie hatten, mussten zur Promenade getragen werden. Wie früher.
Kröger hatte den Betrieb und den Strandabschnitt in Duhnen von seinem Vater Klaas übernommen. Dessen Vater Karl hatte schon vor dem Zweiten Weltkrieg Strandkörbe an Urlauber vermietet. Damals musste jeder Korb auf dem Rücken zu seinem Platz am Strand gebracht werden. Was jedoch nicht vermietet wurde, durfte leer nicht stehen bleiben, sondern musste wieder zurück hinter die Promenade getragen und dort abgestellt werden. Nach dem Krieg wurden Handkarren eingesetzt, später konnten fünf Körbe auf einem speziellen Anhänger mit dem Pkw transportiert werden. Eine Erleichterung, die aber auch mit Risiken verbunden war, weil sich die Räder der Fahrzeuge im Sand festfraßen, wenn man nicht aufpasste. Inzwischen benutzte Kröger einen Traktor, der nicht nur den Hänger mit neun Körben ziehen, sondern diese auch mit einem hydraulischen Hubmast herunterheben und absetzen konnte. Aber jetzt ging es nicht darum, sämtliche Körbe ins Winterlager zu transportieren. Mit dem Schlepper konnte er nicht zwischen den anderen Körben auf dem Strand rangieren. Also würde er die bedrohten Exemplare, wie seinerzeit Opa Karl, in den höher gelegenen Bereich tragen müssen. Ohne Hilfe war das nicht zu schaffen. Kröger zog sein Mobiltelefon aus der Tasche und wählte. Sein Sohn würde nicht begeistert sein. Aber die Strandkörbe mussten in Sicherheit gebracht werden.
*
»Showdown«, verkündete der Dealer. Neben Kai waren nach der letzten Setzrunde noch zwei Spieler in der Hand. »Okay«, bestätigte er und legte seine Karten mit fünf aufeinanderfolgenden Herz-Blättern ab. »Straight Flush.« Die anderen beiden warfen ihre Karten ebenfalls auf den Tisch. Kai grinste zufrieden und streckte die Hand nach dem Pot aus. In dem Augenblick vibrierte das Handy in seiner Gesäßtasche. Unwillig zog er es hervor und warf einen Blick auf das Display »Mein Alter«, murmelte er und drückte auf Abweisen.
»Kannst ruhig drangehen«, schlug einer seiner Mitspieler vor und tippte auf seine Armbanduhr. »Für mich wird’s eh Zeit.«
»Ich rufe später zurück«, entgegnete Kai. »Wenn der Alte um diese Zeit anruft, gibt’s nur Arbeit. Wahrscheinlich muss ein Strandkorb in die Werkstatt. Er kann ja nicht weg. Weil er unbedingt noch den letzten Korb vermieten will.«
»Eure Geschäfte laufen doch nicht schlecht«, behauptete der Wirt der Hafenkneipe, in deren Hinterzimmer sich die Pokerrunde regelmäßig traf, und stellte frisch gefüllte Biergläser auf den Tisch. »Zwölf Euronen am Tag. Wie viele von den Dingern habt ihr? Dreihundert? Macht Tageseinnahmen von drei Mille, das sind im Monat …«
»So kannste nicht rechnen«, widersprach Kai. »Die meisten Gäste mieten wochenweise, zahlen also weniger. Nicht alle Strandkörbe werden jeden Tag vermietet, bei Schietwetter sowieso nicht. Außerdem gibt’s Kosten. Reparaturen, Lagerung, Transport.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung und griff nach seinem Bierglas. »Was erzähle ich euch, mein Ding ist das sowieso nicht. Der Alte arbeitet im Sommer zwölf bis vierzehn Stunden am Tag, im Winter immerhin acht, von Montag bis Freitag. Manchmal übernachtet er sogar in der Werkstatt. Hat da ein Bett aufgestellt.« Mit der freien Hand zog er den Pott zu sich heran. »Ich krieg meine Kohle lieber auf andere Art.«
»Vielleicht isses wegen des Sturms«, vermutete einer seiner Mitspieler. »Womöglich muss dein Alter Strandkörbe einsammeln.«
Kai schüttelte den Kopf. »Um diese Jahreszeit gibt’s keinen Sturm. Jedenfalls keinen, der den Strand in Gefahr bringt.«
»Ist aber angesagt.« Der Wirt klemmte sein Tablett unter den Arm und wandte sich zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um. »Mit Orkanböen. Tide zweieinhalb Meter über Normal. Kam gerade im Radio. Heute Morgen war noch von eins fünfzig die Rede.« Er deutete zum Fenster, hinter dessen vergilbten Gardinen es grau schimmerte. »Hat sich jedenfalls ganz schön bezogen.«
Kai winkte ab. »Wird schon nicht so schlimm werden.«
Achselzuckend verließ der Wirt den Raum. »Mach meinen Deckel fertig!«, rief Kai ihm nach. »Ich muss los. Hab noch eine Verabredung.«
*
Nachdem Kristian Kröger aufgelegt hatte, rief er in der Werkstatt an. Einen Teil der Lagerhalle hatte er als Tischlerei eingerichtet. Dort waren zwei Mitarbeiter mit Reparaturen beschäftigt. Sie würden ihre Arbeit unterbrechen und zum Strand kommen müssen. Zu dritt konnten sie die bedrohten Körbe in Sicherheit bringen. Mit Kai würde er ein ernstes Wort reden. So ging es jedenfalls nicht weiter. Als kleiner Junge hatte er den Strand geliebt. Auch später noch war er dabei gewesen, wenn Kristian Kröger und Opa Klaas die Körbe aufgestellt, vorbereitet und an die Urlauber vermietet hatten. Mit Begeisterung hatte er die Gäste zum jeweiligen Strandkorb geführt und dafür ein glückliches Lächeln, hin und wieder sogar ein paar Groschen oder eine Mark, später meistens einen Euro bekommen.
Seit Kai die Schule verlassen hatte, waren sich Vater und Sohn fremd geworden. Der Junge sprach nur noch das Nötigste mit ihm und drückte sich vor der Arbeit, wann immer er konnte. Immerhin hatte er – zum Leidwesen seiner Mutter – eine Ausbildung zum Schiffsführer begonnen, es aber nicht weiter als zum Patent A1 gebracht – Schiffer auf Küstenfahrt. Danach hatte er die Seefahrt wieder aufgegeben. Seitdem trieb er sich mit Leuten herum, die Kristian Kröger nicht ganz geheuer waren, wirkte oft abwesend und war manchmal regelrecht streitsüchtig.
2
Als Kai die Kneipe verließ, hatte sich der Himmel bezogen, von der Nordsee fegte ein frischer Wind über das Hafengelände und trieb Papierfetzen und Plastiktüten, Sand und Staub über das Pflaster. Für einen Moment erwog er, seinen Vater zurückzurufen. Aber dann sagte er sich, dass es wahrscheinlich um eine Arbeit ging, die Kai hasste. So ein Strandkorb wog achtzig Kilo. Mit diesem Gewicht auf dem Rücken durch den Sand zu stapfen, war kein Vergnügen. Der Alte war mal wieder viel zu vorsichtig. Selbst wenn der ein oder andere Korb umkippte oder für ein paar Stunden im Wasser lag, würde kein nennenswerter Schaden entstehen. Nur um ein paar geringfügige Beschädigungen zu verhindern, würde er sich die Chance nicht entgehen lassen, die sich ihm mit dem heutigen Pokergewinn eröffnete.
Im Hinterzimmer des Hafenecks spielte er gegen Amateure. Die Einnahmen daraus waren nicht schlecht. Große Sprünge würde er damit allerdings nicht machen können. Aber vor einigen Tagen hatte ein Gast aus der Kneipe ihm eine aussichtsreiche Perspektive eröffnet. Auf einer Barkasse trafen sich regelmäßig Honoratioren aus der Region zum Spiel. Es waren Herren mittleren Alters, die auf Glücksspiel im Internet oder an elektronischen Geräten keine Lust hatten. Sie kamen aus Wilhelmshaven oder Oldenburg, Bremen oder Stade und bevorzugten Blackjack, Baccara und Poker. »Sie nennen sich Tafelrunde«, hatte der Mittelsmann erklärt. »Verstehen sich als Glücksritter. Ich bin nur der Schiffsführer, der die Kühle Brise aus dem Hafen steuert, wenn die Karten gemischt werden.« Er hatte die Hand ausgestreckt. »Mike. Bei uns gibt’s nur Vornamen. Der Chef heißt Harry. Eigentlich Henry. Aber seit er gelesen hat, dass der englische Prinz Henry sich Harry rufen lässt, nennt er sich auch so. Und du bist …?«
»Karl«, antwortete Kai rasch. Instinktiv hatte er den Namen seines Urgroßvaters genannt. Die Ritter dieser Tafelrunde waren sich offenbar der Illegalität ihrer Tätigkeit bewusst. Da war es wohl besser, sich an ihre Gepflogenheiten zu halten und anonym zu bleiben.
Erwartungsfroh bog Kai in die Kapitän-Alexander-Straße ein. Mit dem Gewinn aus dem Hafeneck würde er in der Tafelrunde seinen Einstieg geben. Die Kühle Brise schaukelte am Nordseekai im Wasser des Alten Fischereihafens. Sie hatte einmal einem Geschäftsmann gehört, der wegen eines Tötungsdelikts im Knast saß und in dessen Auftrag das ehemalige Fahrgastschiff an einen Cuxhavener Unternehmer verkauft worden sein sollte. Als Kai sich dem Anleger näherte, machte sich sein Handy mit einer SMS bemerkbar. Schon wieder der Alte. »Wir brauchen dich am Strand in Duhnen. Dringend.« Rasch tippte er eine Antwort. »Kann leider nicht. Bin geschäftlich unterwegs.«
Dann wählte er die Nummer, die Mike ihm gegeben hatte. »Du musst mir deinen Besuch ankündigen«, hatte er erklärt. »Damit ich weiß, dass du kommst, und dich aufs Schiff lassen kann.«
»Alles klar«, meldete sich der Mann. »Kannst an Bord kommen.« Bevor Kai etwas sagen konnte, war die Verbindung bereits beendet. Achselzuckend steckte er das Handy ein und betrat den Anleger.
Mike empfing ihn mit ausgestrecktem Arm. »Als Erstes brauche ich dein Handy. Ausschalten und abgeben.« Er grinste. »Sicherheitsmaßnahme«, erklärte er. »Kriegst es nachher unversehrt wieder.«
Nachdem er Kais Mobiltelefon im Führerstand in einer mit Samt ausgeschlagenen Schale abgelegt hatte, deutete er zum Niedergang. »Harry erwartet dich im Salon.«
Im Inneren des Schiffes war es deutlich leiser. Das Pfeifen des Windes und andere Geräusche des Hafens schienen ausgesperrt. Von außen hatte die Barkasse einen etwas heruntergekommenen Eindruck gemacht, doch nun fand sich Kai in einem Innenraum von gediegener Eleganz wieder. Altmodisch, aber teuer. Schwere dunkelrote Polstermöbel waren um polierte, schwarzbraune Holztische gruppiert. Im Hintergrund befand sich ein Tresen aus dem gleichen dunklen Holz, dahinter eine offensichtlich gut ausgestattete Bar. Goldgelbe Messingbeschläge von Schiffsinstrumenten an den Wänden bildeten einen passenden Kontrast zum roten Samt der Einrichtung. Was Mike als Salon bezeichnet hatte, erinnerte an ein Etablissement auf der Hamburger Reeperbahn, in das Kai einmal geraten war.
Harry hatte er sich als halbseidenen Typen mit Goldkette und Tätowierung vorgestellt. Doch der Mann, der ihn mit aufmerksamem Blick empfing, hätte aus der Chefetage einer Bank sein können. Er war schlank, trug einen dunkelblauen Anzug mit hellgrauer Krawatte, war mindestens sechzig, sein silbergraues volles Haar war perfekt frisiert. Kai kam sich in seiner Jeans und dem offenen Hemd plötzlich unbedeutend und schäbig vor.
»Ich habe gehört«, sagte Harry statt einer Begrüßung, »du bist ein Ass im Pokern?«
Kai war davon überzeugt, dass er der beste Spieler Cuxhavens war, doch jetzt hob er die Schultern. »Kann sein.«
»Bei uns ist jemand ausgefallen«, erklärte sein Gegenüber. Kai war, als wäre ein Schatten über Harrys Miene gehuscht. »Ein Stammgast«, fuhr er fort. »Hat gutes Geld gebracht. Leider ist er plötzlich verschwunden.« Er unterbrach sich und musterte Kai abschätzend. »Bei uns geht es um Beträge im fünfstelligen Bereich. Wir haben Erkundigungen über dich eingezogen, du könntest damit überfordert sein, mit solchen Summen einzusteigen. Aber wir geben dir fünfzig Mille Kredit. Die Rückzahlung entfällt, wenn du ein kleines Entsorgungsproblem für uns löst.«
Kai dachte an den Transport der Strandkörbe, den er seit seiner Kindheit zweimal jährlich miterlebt hatte. Die Männer, die hier zockten, besaßen wahrscheinlich jede Menge Kohle, aber weder Trecker noch Anhänger. Und er dachte an die Zahl, die Harry genannt hatte. Aus dem Einsatz ließ sich schnell das Doppelte machen, mit etwas Geduld das Zehnfache. Das wäre für ihn der Durchbruch. Mit seinen künftigen Gewinnen würde er Cuxhaven verlassen und in die Spielerparadiese der Welt reisen können: Liechtenstein, Las Vegas, Macau.
»Kein Problem«, antwortete Kai. Mit dem John-Deere seines Vaters und einem der Anhänger würde er so ziemlich alles transportieren können. Zur Not würden ein paar seiner Poker-Kumpel aus dem Hafeneck mit anpacken. »Was soll wohin gebracht werden?«, fragte er.
Harry deutete auf den Boden. »Im Unterdeck liegt etwas, das auf Nimmerwiedersehen verschwinden muss. Wie du das machst, ist deine Sache. Mir scheint, der einfachste Weg wäre ein kleiner Ausflug in die Elbmündung, wo das Paket über Bord gehen könnte. Wir haben erfahren, dass du in der Lage bist, ein Schiff wie dieses zu steuern.«
»Ein Paket also«, vergewisserte sich Kai, obwohl er Harry verstanden hatte, doch die Vorstellung, einen größeren Gegenstand in der Nordsee verschwinden zu lassen, irritierte ihn.
»Es müsste noch … ordentlich verpackt werden. Und so beschwert, dass es nicht wieder auftauchen kann. Auf der Heckplattform findest du einen alten Anker, den kannst du dafür verwenden. Wie gesagt, du darfst selbst entscheiden, wie du es anstellst. Allerdings musst du es allein machen. Es darf keine Mitwisser geben. Mike hilft dir beim Ab- und Anlegen. Seine Nummer hast du ja.« Mit einer Handbewegung deutete er nach draußen. »Heute wäre eine gute Gelegenheit. Der Wind vertreibt die Sportschiffer, von den großen Pötten kannst du dich leicht fernhalten.« Er stand auf und reichte ihm einen Zettel. »Ich muss jetzt gehen. Wenn die Sache erledigt ist, rufst du diese Nummer an. Dort meldet sich die Mailbox. Du hinterlässt nur eine kurze Nachricht. Auftrag ausgeführt. Mehr nicht.« Er erhob sich. »Noch Fragen?«
Kai schüttelte den Kopf. »Alles klar«, murmelte er und verfolgte seinen Auftraggeber mit den Augen, bis er das Schiff verlassen hatte.
Sein A-1-Patent berechtigte ihn nicht, allein mit der Kühlen Brise auf Fahrt zu gehen, aber einen kurzen Trip in die Elbmündung würde kaum jemand mitbekommen. Dennoch war ihm die Vorstellung ein wenig unheimlich. Was aber weniger an der Barkasse lag als an dem geheimnisvollen Paket, das er verschwinden lassen sollte. Warum beauftragten die Glücksritter nicht den Schiffsführer? Nachdenklich richtete er den Blick aus dem Fenster. Harry überquerte den Kai und strebte auf einen im Schatten des havenhostel geparkten Porsche Cayenne zu.
Für einen Augenblick erwog Kai Kröger, den Auftrag in den Wind zu schießen und zu verschwinden. Doch dann erschien ein Stapel Geldscheine vor seinem inneren Auge. 50.000 Euro. Startkapital für ein neues Leben. Ohne Strandkörbe und einen vorwurfsvollen Alten. Er gab sich einen Ruck und verließ den Salon, um im Unterdeck nach dem geheimnisvollen Paket zu suchen.
*
Kristian Kröger wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ein halbes Dutzend Strandkörbe, die während der gesamten Saison nicht weit vom Spülsaum der Wellen entfernt unbehelligt an ihren Plätzen gestanden und Urlaubern Wind- und Sonnenschutz geboten hatten, hatte er bereits fortgetragen. Sie standen aufgereiht im oberen Strandbereich, direkt unterhalb der Kaimauer, als seine Mitarbeiter eintrafen.
Wortlos machten sich die Männer an die Arbeit. Fast zwei Stunden schleppten Kröger und seine Leute die schwere Last auf dem Rücken durch den Sand. Schließlich betrachteten sie ihr Werk. Sämtliche Strandkörbe mit dem charakteristischen, von Krögers Großvater Karl schon vor dem Zweiten Weltkrieg entworfenen Doppel-K in einer verschlungenen Jugendstil-Schrift hatten sie aus der Gefahrenzone entfernt. »Hoffentlich reicht’s«, murmelte Bent Behrensen, der Älteste der Gruppe. »Im Radio haben sie von sehr hohem Wasserstand im gesamten Küstengebiet gesprochen.« Er deutete auf den Sand, der in Schleiern über den Strand gefegt wurde. »Noch kommt der Wind aus Südwest. Wenn er auf West oder Nordwest dreht, kriegen wir über drei Meter. In Holland haben sie Windstärke elf, da soll schon eine Fähre auf eine Sandbank gelaufen sein. Wenn der Sturm weiter aufdreht …«
»Kann ich mir nicht vorstellen«, wandte sein Kollege ein. »Um diese Jahreszeit bewegen sich die Sturmtiefs meistens weiter im Norden. Wenn sie überhaupt kommen.« Er stieß seinen Chef in die Seite. »Ich könnte jetzt ein Bier vertragen.«
»Ich auch.« Kröger nickte. »Kommt! Wir gehen zu Aale Peter.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Der macht erst in einer halben Stunde auf, aber uns lässt er bestimmt schon rein.«
Der Wirt öffnete den Besuchern, begrüßte sie mit einem freundlichen Moin und ließ sie eintreten. Hinter ihnen schloss er die Tür wieder ab. »Sonst ist es gleich wieder voll«, erklärte er. »Muss noch ein Fass anstechen, bevor der Ansturm losgeht. – Für euch drei Pils?« Er streckte den Arm aus, um das Radio leiser zu stellen, das im Regal hinter dem Tresen stand und aus dessen Lautsprecher der bekannte Jingle eines norddeutschen Senders ertönte. »Nee, lass mal!«, bat Kristian Kröger. »Da gibt’s gleich Nachrichten. Will mal hören, was die zum Wetter sagen.«
Aale Peter nickte wortlos und begann, drei Gläser zu füllen. Die Gäste ließen sich auf den Barhockern nieder. Als der Sprecher eine Sturmwarnung für die deutsche Nordseeküste ankündigte, wandten sie unwillkürlich ihre Blicke dem Radio zu.
Auf die Nachrichten aus der Politik folgten Berichte von den Auswirkungen des anrückenden Orkantiefs. Auf den westfriesischen Inseln hatten Böen Spitzengeschwindigkeiten von 150 Stundenkilometern erreicht. Ein Containerschiff hatte bei Hoek van Holland fünf Behälter verloren. Auch auf Borkum hatte der Wind schon gewütet. Strandkörbe waren auf die Promenade geweht worden, eine Fahrwassertonne hatte sich aus der Verankerung gelöst und war über den Strand gerollt. Die Wellen der Nordsee hatten den berühmten Musikpavillon überspült und für eine meterhohe Abbruchkante am Strand gesorgt. Auf der Höhe von Norderney war ein Frachter in Seenot geraten. Ein Schlepper und ein Seenotkreuzer befanden sich auf dem Weg zum Havaristen.
»Oha«, brummte Bent Behrensen, während der Radiosprecher vor drohenden Einschränkungen beim Flug-, Bahn- und Straßenverkehr für die späten Abendstunden und die Nacht warnte.
»Sieht nicht gut aus«, murmelte sein Kollege und griff nach dem Bierglas, das der Wirt vor ihm abstellte. »Prost!«
Schweigend leerten die Männer ihre Gläser. Kristian Kröger wischte sich den Schaum mit dem Handrücken von den Lippen. »Wir können aber jetzt nicht mehr alle Körbe in Sicherheit bringen. Nur beten, dass es nicht so schlimm wird.«
»Genau«, bestätigten seine Mitarbeiter wie aus einem Mund.
»Noch ’n Pils?«, fragte der Wirt.
Die drei Männer nickten wortlos und schoben ihre Gläser über den Tresen.
*
Im Unterdeck gab es vier Kabinen. Kai öffnete eine Tür nach der anderen. Dahinter fanden sich nicht die spartanischen Tische und Stühle, die er von seinen Ausbildungsfahrten kannte, sondern erstaunlich bequeme Sessel und Sofas. Offenbar hatte man Zwischenwände und Kojen entfernt, um Platz für bequemes Mobiliar zu schaffen. Auf den ersten Blick erkannte er, welchen Vergnügungen hier nachgegangen wurde. Wer oben im Salon gewonnen oder verloren hatte, konnte hier entspannen und seinen Gewinn feiern oder den Ärger über den Verlust vertreiben und sich verwöhnen lassen.
Am Ende des Gangs führte eine Tür nach draußen auf die Heck-Plattform. Kai trat ins Freie und sah sich um. Hier pfiff der Wind über das Schiff. Er fragte sich, wo er wohl noch nach dem Paket suchen sollte, von dem Harry gesprochen hatte. Da bemerkte er eine dunkelbraune Seemannskiste aus verwittertem Holz. Vorsichtig hob er den Deckel an.
Der Himmel hatte sich bezogen, nur wenig Licht fiel ins Innere der Kiste. Auf den ersten Blick war nichts zu erkennen. Undeutlich zeichneten sich unter einer dunklen Plane Konturen ab, die an ein aufgerolltes Tau erinnerten. Kai trat näher und zog die Abdeckung zur Seite.
Was er für ein Stück Tauwerk gehalten hatte, entpuppte sich als menschlicher Arm. Erschrocken wich Kai zurück, ließ den Deckel zufallen und sah sich hektisch um. Doch weder auf der Pier noch auf dem Wasser war jemand unterwegs, der ihn hätte beobachten können. Sein Puls raste, während er fieberhaft überlegte, ob er dem Impuls folgen sollte, das Schiff fluchtartig zu verlassen. Oder ob er den Auftrag des mysteriösen Harry ausführen sollte, der darin bestand, das war keine Frage, eine Leiche verschwinden zu lassen. Vor seinem inneren Auge erschien das Bild der Kühlen Brise auf offener See. Über die Reling rutschte eine Seekiste ins Wasser und versank gurgelnd im Meer. Nein, sie versank nicht, sondern trieb auf der Oberfläche. Ein hölzerner Sarg, der allenfalls durch ein Gewicht – dieser Harry hatte von einem Anker gesprochen, in die Tiefe gezogen werden konnte. Vielleicht auch nicht. Er würde den Toten aus der Kiste heben müssen, in die Folie einwickeln, verschnüren und mitsamt dem Anker in die Nordsee gleiten lassen. Eine erschreckende Vorstellung.
Kai wandte sich zur Tür, um sein Handy aus dem Führerstand zu holen und von Bord zu gehen.
3
In dem Augenblick, als Kai Kröger den Fuß auf die Gangway setzte, um die Barkasse zu verlassen, durchzuckte ihn der beängstigende Gedanke, einen Fehler zu machen. Vor seinem inneren Auge tauchte das Bild eines schwankenden hochgehobenen Strandkorbs auf, unter dem zwei menschliche Beine hervorlugten. Wie ein riesiges Insekt kroch das Ungetüm über den Sand. Darunter buckelte sein Großvater, nein, sein Vater. Oder war er es selbst, dessen Rücken von der Last gebeugt wurde? Würde er sein Leben lang Strandkörbe verhökern, statt an den großen Spieltischen der Welt Gewinne einfahren, von denen Durchschnittsverdiener nur träumen konnten? War er im Begriff, die Chance seines Lebens zu vergeben?
Zögernd machte er den nächsten Schritt, blieb stehen, verharrte auf dem schwankenden Blech. Sein Blick wanderte erst zur Kaimauer, dann zum Sturmfluttor, das den alten Fischereihafen vom Meer abgegrenzte. Was er als Kind der Küste im Gefühl hatte, bestätigte sich: ansteigender Wasserstand. Ideal für einen Kurztrip auf die Nordsee und in die Elbmündung. Mit dem Tidenanstieg würde es keine halbe Stunde dauern, den Elbstrom zu erreichen. Für den Rückweg würde er länger brauchen. Vielleicht auch nicht – wenn es ihm gelang, den Scheitelpunkt des Hochwassers zu treffen und mit ablaufendem Wasser in den Hafen zurückzukehren. Alles in allem hätte er die Aktion in zwei Stunden hinter sich gebracht, wäre vor Beginn der nächtlichen Dunkelheit wieder am Anleger.
Entschlossen zog er die kleine Gangway aufs Deck und betrat den Führerstand. Der Schlüssel für die Maschine steckte, sein Handy lag noch in der Schale. Er nahm es heraus und tippte auf die Wahlwiederholung. Mike meldete sich sofort. »Eine halbe Stunde solltest du noch warten«, riet er. »Dann ist die Tide optimal. Ich komme zum Anleger und kümmere mich um die Festmacher. Okay?«
»Okay«, bestätigte Kai Kröger und beendete die Verbindung.
*
Die Männer bei Aale Peter blieben nicht lange unter sich. Nachdem der Wirt sein Lokal geöffnet hatte, waren Menschen hereingeströmt und hatten die Kneipe regelrecht geflutet. Hauptsächlich Touristen. Es war laut geworden, sodass die Stimme des Nachrichtensprechers aus dem Radio nur mit Mühe zu verstehen war. Trotzdem verfolgten Kristian Kröger und seine Mitarbeiter die Nachrichten und Sturmwarnungen des Norddeutschen Rundfunks. Aber die Aufmerksamkeit hatte nachgelassen. Sie waren inzwischen beim dritten Bier. In die Sorge um das möglicherweise bevorstehende Hochwasser mischten sich Erinnerungen an frühere Ereignisse. Krögers Vater hatte das Sturmtief vom Februar 1962 miterlebt und oft davon gesprochen. Damals war beim Feuerschiff Elbe III die Ankerkette gerissen, ein Schlepper und ein Tonnenleger waren ausgelaufen, um das Schiff nach Cuxhaven zu schleppen. Aus dem Gasthaus zur Fähre hatte Karl Kröger zusammen mit anderen Männern mit Schlauchbooten zwei Frauen gerettet und am Seepavillon vier Männer geborgen, die sich am Maschendrahtzaun festgeklammert hatten. An den Orkan mit der Januar-Flut von 1976 konnten sich die Männer ebenso erinnern wie an Anatol im Jahr 1999.
»So schlimm wird’s ja wohl nicht werden«, knurrte Kristian Kröger und gab Aale Peter einen Wink. »Zahlen!«
»Wir hätten jetzt Feierabend«, stellte Bent Behrensen nach einem Blick auf die Uhr fest. »Gehst du noch mal zum Strand?«
Kröger schüttelte den Kopf. »Ich fahre zur Werkstatt. Die Saison geht zwar zu Ende, aber es gab in diesem Sommer ziemlich viel Bruch. Da ist noch so einiges aufzuholen.«
Seine Mitarbeiter nickten wortlos und erhoben sich von den Barhockern. »Dann bis morgen.«