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Man sagt, ein einziges Lied kann dein Leben ändern - würdest du es hören wollen? Eine berühende Rockstar-Romance für alle Fans von Lilly Lucas und Emma Scott
»Die Welt um mich herum verstummte. Da war nur das kräftige Pulsieren meines Herzens. Laut und schnell hämmerte es gegen meinen Brustkorb. Adrenalin strömte durch meine Adern. Ich ging in einem Feuer aus Leidenschaft auf, drohte zu verbrennen.«
Zwölf Songs, zwölf Erinnerungen, zwölf Liebeserklärungen
Vor drei Jahren musste Carrie Abernathy Knall auf Fall fort aus ihrer Wahlheimat Seattle - und damit auch fort von Evan, dem Sänger der Broken Sons.
Nun ist sie zurück in ihrer Stadt, lässt sich durch die Straßen treiben und gerät zufällig auf ein Konzert der Broken Sons - und schon das erste Lied katapultiert Carrie zurück in ihre gemeinsame Zeit mit Evan. Und mit jedem Song kommen mehr Erinnerungen zurück - von Küssen und Konflikten, von traumhaften Momenten und von dem Liebeskummer, den Carrie spürt, seit sie Evan verlassen hat...
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Cover & Impressum
Playlist
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Epilog
Danksagung
Lenny Kravitz – Fly away
Kaleo – Automobile
Kaleo – Hot Blood
Royal Republic – Sailing man
Royal Republic – Can’t fight the disco
Coldplay – trouble
Oasis – Wonderwall
You me at six – Spell it out
Kaleo – Can’t go without you
Acoustic hits – Boulevard of broken dreams
Buckcherry – Gluttony
Miley Cyrus – Nothing breaks like a heart
Fleurie – hurts like hell
♫
»Die Erinnerung, sagt Jean Paul, ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Manchmal mag das zutreffen. Öfter aber ist die Erinnerung die einzige Hölle, in die wir schuldlos verdammt werden.«
Arthur Schnitzler
Evan
Die Welt um mich herum verstummte. Da war nur das kräftige Pulsieren meines Herzens. Laut und schnell hämmerte es gegen meinen Brustkorb. Adrenalin strömte durch meine Adern. Ich ging in einem Feuer aus Leidenschaft auf, drohte zu verbrennen.
Es war eine Mischung aus Ekstase und Genuss, die mich diesem irren Zustand der Lebendigkeit aussetzte. Mein Körper vibrierte vor Spannung und bebte unter dem hämmernden Bass der Musik. Die Instrumente schrien nach mir, warteten auf eine Antwort meinerseits. Ich hob die Lider, blickte zu der wilden Menge vor mir und konnte nicht anders, als zu lächeln. Bunte Lichter tänzelten über die jubelnden Menschen, die sich im Einklang mit unseren Melodien hin und her wiegten, ihre Hände nach uns ausstreckten.
Schweißperlen hatten sich auf meiner Stirn gesammelt, flossen langsam daran herunter und verfingen sich in meinen Brauen. Hastig wischte ich sie fort, ehe ich mich zum Mikrofon hinunterbeugte.
Meine Hand schloss sich um das kühle Metall, und ich genoss den Schauer, der meinen erhitzten Körper überrannte. Meine Nackenhaare stellten sich auf, dann presste ich meine Lippen dagegen – noch einen Moment.
Kurz ließ ich meinen Blick über die Menschen vor mir schweifen, genoss ihren Anblick, als ich plötzlich zwei Männer bemerkte. Einer davon war Brandon, der Leader einer befreundeten Band. Hatte ich sie zunächst nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen, lenkten ihre Bewegungen und stämmigen Körper meine Aufmerksamkeit nun vollkommen auf sie. Die beiden standen in einigen Metern Entfernung an der Bar. Sie schienen ein Mädchen zu belästigen.
Ihr Gesicht konnte ich nicht sehen. Ich nahm lediglich ihre Silhouette wahr. Sie griff sich schützend auf den Kopf, wollte sich abwenden, doch die Männer ließen nicht locker. Gerade als ich etwas durch das Mikro sagen wollte, zog einer der beiden ihr die Mütze vom Kopf.
Plötzlich rückte das wilde Geschrei der Gitarre und der aggressive Rhythmus des Schlagzeugs in weite Ferne. Die Welt um mich herum schien aus dem Gleichgewicht zu geraten.
Weiße Haare fielen in sanften Wellen hinunter. Weiß …
Ich erstarrte, und mein Herzschlag setzte einen Moment aus. Brandon, dessen breite Schultern das Mädchen zuvor verdeckt hatten, ging einen Schritt zur Seite und warf die Mütze fort.
Weiß … Weiß erinnerte mich immer an sie.
Nur war es keine Erinnerung.
Carrie
Zurückkehren.
Ein Wort. Zwölf Buchstaben. Unendlich viele Gefühle. Unendlich viele Möglichkeiten.
Heute war es so weit, heute kehrte ich zurück. In eine Stadt, nach der ich mich schon so lange gesehnt hatte. Als ich meinen Fuß auf den Boden des Flughafens stellte, fühlte es sich beinahe so an, wie nach Hause zu kommen.
Für den Bruchteil einer Sekunde schloss ich die Augen, erlaubte mir, den Geruch der Stadt tief einzuatmen, erlaubte mir zurückzukehren.
Als ich die Lider wieder öffnete und sich die Sonne langsam in den Himmel kämpfte, lächelte ich. Es war, als wäre ich nie fort gewesen.
Ich kämpfte mich durch die Menschenmenge und lief zum Rollband, um meine Koffer zu holen. Zwei Koffer. Das war alles. Mein gesamtes Hab und Gut hatte ich in diese zwei Koffer gequetscht. War es nicht erstaunlich, wie wenig man wirklich brauchte?
Ich sah meinen Namen bereits, da hatte ich die Ankunftshalle noch nicht einmal verlassen. In weißen großen Lettern war er auf schwarze Pappe gedruckt. Mir entglitt ein Seufzen. Wäre das denn nicht auch diskreter gegangen?
Eilig zog ich meine große Sonnenbrille aus dem Etui und ließ sie mir unauffällig ins Gesicht gleiten. Ich gab dem Chauffeur ein schnelles Zeichen, bevor ich die restlichen Meter zwischen uns überbrückte.
»Hallo.« Ich schenkte ihm ein knappes Lächeln.
»Willkommen in Seattle, Ms. Abernathy. Wir freuen uns wie verrückt, Sie hier begrüßen zu dürfen«, erklärte er mit brummiger Stimme.
Kurz starrte ich auf meinen Koffer, dann sah ich auf und konnte nicht anders, als zu lächeln. Diesmal aufrichtig. »Danke«, sagte ich, wobei mein Blick über die feingliedrige Uhr an meinem Handgelenk flog. »Wir müssen los!«, verkündete ich, bevor ich mir meine übergroße Strickjacke vor dem Körper zusammenzog und in Richtung Ausgang davoneilte. Schnellen Schrittes durchlief ich die große Halle, dabei ließ ich den Blick stetig herumschweifen. Ich hasste es, wenn ich nicht wusste, wo sich die Reporter versteckten.
»Kommen Sie, hier entlang!«
Japsend eilte der Chauffeur an mir vorbei in Richtung Schiebetür. Erst jetzt fiel mir auf, wie klein er war. Seine Beine waren kurz, und wenn ich einen großen Schritt machte, machte er drei kleine. Kein Wunder, dass er nach nur wenigen Metern aus der Puste war. Wir hatten die Glasfronten kaum passiert, da blitzte es bereits. Automatisch hob ich die Hand – als würde das irgendetwas bringen –, bevor ich ihm folgte.
Fragen prasselten auf mich ein wie die Tropfen eines heftigen Regenschauers.
»Wie lange bleiben Sie in Seattle?«
»Was ist der Grund, dass Sie wieder hier sind?«
»Nehmen Sie an dem Kunstprojekt von Fernando teil?«
Kommentarlos lief ich an den Journalisten vorbei, dann schwang ich mich in den schwarzen Chevrolet und zog, so schnell ich konnte, die Tür hinter mir zu. Sofort umhüllte mich der vertraut herbe Geruch von Leder. Ich sog ihn tief ein.
»Die sind ja wie die Geier!«, bemerkte der Chauffeur, als er sich hinters Lenkrad schob.
Einen Moment betrachtete ich die kahle Stelle auf seinem Hinterkopf, bevor ich beschloss, dass ich ihn Louis nennen würde. Mit seinem rundlichen Körperbau und den kurzen Beinen erinnerte er mich irgendwie an den Louis aus meiner früheren Nachbarschaft. Louis hatte Croissants und Schokolade geliebt, und wenn wir »Fange mich!« gespielt hatten, hatte er ebenso kleine Schritte gemacht wie der Mann, der nun dort hinterm Steuer saß. Ich lächelte.
Als er den Motor startete, wandte ich den Blick ab, legte meinen Kopf an die Lehne und schloss die Augen.
»Sind Sie das erste Mal in Seattle?«
»Nein. Es ist bereits mein zweites Mal.«
Ich blickte auf meine Tasche, in der mein Skizzenbuch schlummerte. Seit drei Jahren hatte ich es nicht mehr angerührt, und trotzdem trug ich es täglich mit mir herum. In einem früheren Leben hatte ich jeden Tag etwas hineingezeichnet und kurz meine Gedanken notiert – es war nicht einfach nur ein Skizzenbuch, sondern eher ein Tagebuch.
»Dann kennen Sie die Stadt ja schon. Umso besser. Sonst hätte ich mich jetzt schon einmal für den Verkehr entschuldigt.«
Mir entglitt ein Lachen. »Nein, nein. Den bin ich gewöhnt.« Mehr oder weniger.
»Und was erwartet Sie diesmal hier? Eine Ausstellung Ihrer neuen Bilder oder …?«
Während der Flughafen hinter uns verblasste und die Sonne immer weiter aufstieg, ließ ich mir seine Frage für einen Augenblick durch den Kopf gehen. Was erwartete mich?
Eine Ausstellung meiner neusten Werke?
Zweifellos.
Neue Inspiration?
Zweifellos.
Die Zusammenarbeit mit einigen der besten amerikanischen Künstler?
Zweifellos.
Doch was erwartete mich wirklich hier? Ich biss mir auf die Unterlippe.
Ungewissheit, das war es, was mich erwartete. Als ich vor einigen Monaten das Angebot meines Agenten erhielt, sah ich ganz klar vor mir, was auf mich zukommen würde. Doch als ich heute den Fuß aus dem Flugzeug gesetzt hatte, war diese Klarheit gemeinsam mit meinem alten Leben in den Hintergrund gerückt und etwas anderem gewichen … Ungewissheit. Ich wusste zwar, was ich hier zu tun haben würde, was meine Aufgaben waren, doch eine wirkliche Ahnung von dem, was mich hier erwartete, hatte ich nicht. Wie konnte ich auch?
In Wahrheit hatten wir doch alle einen groben Plan, eine skizzierte Idee, an der wir tausendfach herumradierten, bis wir irgendwann nach einiger Zeit ein fertiges Bild hatten.
Meine Rückkehr war ein völlig neues Kunstwerk. Und obwohl ich die Umrisse bereits gezeichnet hatte, hatte ich in Wahrheit nicht den leisesten Hauch einer Ahnung, welche Farben das Bild letztendlich mit Leben erfüllen würden. Ich wusste auch nicht, welche Pinselführung es werden, geschweige denn, ob ich Öl- oder Acrylfarbe verwenden würde. Im Grunde genommen hatte ich nichts als eine grobe Skizze. Der Rest würde von allein kommen. Und ich würde auch nicht versuchen, das Bild jetzt schon im Ganzen betrachten zu wollen, denn wenn ich etwas gelernt hatte, dann dass es mindestens genauso gefährlich war, in der Zukunft zu leben wie in der Vergangenheit. Das Einzige, was uns Sicherheit versprach, war die Gegenwart.
»Ja, eine Ausstellung«, sagte ich.
»Wundervoll. Ich muss gestehen, ich habe nur wenige Ihrer Kunstwerke gesehen, aber das, was ich gesehen habe, war wirklich toll!« Er hatte wahrscheinlich das Bild gesehen, das alle kannten, jenes Bild, das mich berühmt gemacht hatte. »Danke sehr.« Beiläufig zog ich das Handy aus der Tasche und schickte meiner Mutter eine schnelle SMS, dass ich gut angekommen war.
»Langen Flug gehabt, was?«
Automatisch schob ich mir die Brille bis auf die Nasenwurzel hoch, ehe ich langsam nickte. »Das können Sie laut sagen. Langer Flug und fiese Kopfschmerzen.« Ich fing seinen Blick im Rückspiegel auf, sah jedoch sofort weg.
»Kopfschmerzen sind wirklich entsetzlich. Ich hoffe, Sie haben eine Tablette genommen!« Er warf mir einen fragenden Blick zu.
»Ich bin nicht der größte Fan von Tabletten, wissen Sie. Zudem kriege ich während des Flugs immer Kopfschmerzen. Ein Flug ohne wäre quasi nicht dasselbe.« Ich lachte.
»Und Sie sind sicher, dass ich Sie direkt in die Galerie und nicht erst mal ins Hotel bringen soll?«
Das Angebot eines weichen Betts inklusive Zimmerservice klang verlockend, doch ich wusste, dass mein Boss alles andere als begeistert wäre, wenn ich ein Bett unserem Gespräch vorziehen würde. »Geht schon. Ich trinke einfach mein Wasser.« Ich wedelte mit der Flasche herum und versuchte mich in einem überzeugenden Gesichtsausdruck. »Und dann bin ich wieder fit.« Erneut fing ich seinen Blick im Rückspiegel auf, diesmal sah ich nicht weg.
»Na, wenn Sie das sagen«, meinte er zweifelnd.
Der Rest der Fahrt verlief schweigsam, und es gelang mir sogar, für einige Minuten zu dösen.
Als wir zum Stehen kamen, stand die Sonne schon fast im Zenit.
»Stadtverkehr in Seattle«, murmelte ich leise, bevor ich aus dem Wagen stieg. Louis tat es mir gleich und kam vor mir zum Stehen.
»Ich hole Sie gegen drei Uhr nachmittags wieder ab. Brauchen Sie etwas aus Ihren Koffern?« Einen Augenblick sah ich in Richtung Kofferraum, schüttelte dann jedoch entschieden den Kopf.
»Nein, danke. Bis später!« Er streckte mir noch seine Visitenkarte entgegen, salutierte, was mir erneut ein Lächeln entlockte, dann setzte er sich zurück in den Wagen und fuhr davon.
Die Galerie hatte ihren Sitz im Herzen Seattles – Capitol Hill. Umgeben von schicken Boutiquen und angesehenen Bars hatte sie die perfekte Lage, um unterschiedlichstes Publikum anzulocken.
Sie befand sich in einem sanierten Industriegebäude aus rotem Backstein. Die Fassade des Erdgeschosses hatte man beinahe komplett verglast und mit breiten schwarzen Rahmen verkleidet. Die massive Holztür war ebenso dunkel wie der Rahmen selbst und war von zwei verzierten Säulen eingekesselt. Es wirkte modern und doch irgendwie nicht aus dieser Zeit. Einige stumme Sekunden ließ ich das Bild auf mich wirken, dann hob ich den Blick an und entdeckte die weißen Lettern, die feinsäuberlich über der Tür angebracht waren. Auch vor drei Jahren hatten sie schon dort geprangt.
Dumónt Kunstgalerie
Die Erinnerungen, die mich in diesem Moment durchflutete, machte mich sprachlos. Es war, als hätte ich eine Zeitreise gemacht. Eilig griff ich in meine Jackentasche und steckte mir eine Zigarette an.
Den ersten Zug inhalierte ich zu stark und hustete. Nachdem ich mich etwas beruhigt hatte, lehnte ich mich gegen eine der beiden Säulen, während ich Seattle auf mich wirken ließ. Die Luft war wie immer leicht feucht, und einige Pfützen hatten sich auf den unebenen Straßen gebildet. Doch obwohl die Stadt noch im Nebelschleier gefangen war, hatte sich die Sonne tapfer durch die dichten Wolken gekämpft und brachte meine Lieblingsstadt so wortwörtlich zum Strahlen.
Einige Menschen liefen an mir vorüber, das Handy ans Ohr gepresst. Ihre Schuhe hinterließen ein markantes Klackern, welches sich unter das Brummen der Motoren und das aufgeregte Hupen in einiger Entfernung mischte.
Ich ließ den Blick weiter schweifen, sah über die Straße, ignorierte das aggressive Hupen, als ich sie überquerte, und fand mich plötzlich einer kleinen Bar gegenüber. Sie hatte definitiv seine besten Tage schon hinter sich, doch der Charme, der von ihr ausging, war kaum zu ignorieren.
Ein schneller Blick auf die Getränketafel genügte, dann war eine Entscheidung getroffen. Louis würde noch etwas auf mich warten müssen, denn ich würde heute noch einen kleinen Absacker trinken. Ich kramte die Visitenkarte mit der Telefonnummer aus meiner Jackentasche und schickte ihm eine kurze SMS.
Zwei der Dinge, die ich in Schottland wirklich vermisst hatte, waren die Livebands und das amerikanische Bier. In Edinburgh gab es zwar jede Menge Pubs, doch man konnte sie nicht mit den Bars in Seattle vergleichen. Diese Stadt war wie pure Musik und Lebenslust. Wenn man die Augen schloss und genau lauschte, hörte man sie pulsieren. Wer einmal etwas Vergleichbares erlebt hatte, würde Seattle nie vergessen. Denn kaum eine Stadt war so lebendig, aufregend und musikalisch. Und genau deswegen hatte sie mir auch so gefehlt … Ein wenig war es, als schlüge das Herz dieser Stadt im selben Takt wie meines.
Einen Moment sah ich in die Ferne, dann warf ich einen schnellen Blick auf meine Uhr. »Verdammt!« Ich nahm noch einen schnellen Zug, dann trat ich die Zigarette aus und eilte über die Straße zurück zur Galerie. Als ich vor der massiven Holztür zum Stehen kam, zögerte ich für den Bruchteil einer Sekunde und gab mich den Ängsten und Zweifeln hin, die tief in meinem Innersten vor sich hin köchelten. Dann nahm ich einen tiefen Atemzug, drückte den Knauf nach unten und trat ein.
Ein Glöckchen läutete und verkündete, dass Besuch gekommen war.
Sofort umhüllte mich der süßliche Geruch von Vanille. Ich unterdrückte ein Niesen, dann lief ich weiter hinein und sah mich um. Die Wände waren noch immer in demselben Weiß gestrichen wie vor drei Jahren. Lediglich den Tresen hatte man erneuert. Wo früher noch ein eher altertümlicher Ankunftsbereich gewesen war, befand sich nun ein moderner Tresen mit geraden Linien – aus Glas. Doch noch etwas Entscheidendes fehlte: die Person, die dort gesessen hatte. Ich schluckte den bitteren Geschmack der Enttäuschung hinunter.
Die »Neue« begrüßte mich mit einem höflichen Lächeln. »Hallo! Kann ich ihnen helfen?«
»Ich möchte zu Mr. Dumónt, aber machen Sie sich keinen Stress, ich schaue mich vorher noch kurz um.« Langsam nahm ich die Brille ab und steckte sie an meine Bluse. Als sie mich erkannte, weitete sich ihre Augen leicht.
Sie stotterte irgendwas, aber ich war schon weitergegangen.
Als ich um die Ecke bog, knarzten die Dielen unter meinem Gewicht, und das Licht über mir begann zu flackern. Ich blieb stehen, sah zu meiner Linken. Ich erkannte die ersten meiner Bilder – angestrahlt von grellen Neonleuchten. Nach nur wenigen Schritten kam ich direkt vor dem ersten zum Stehen. Es war, als könnte ich in meinen eigenen Kopf schauen, als würden meine Gedanken unausgesprochen durch diesen Raum schweben. Ich hob den Finger, berührte das Bild.
Erinnerungen durchfluteten mich.
Viele Künstler sprachen mit ihrer Kunst gesellschaftskritische Themen an. Manche wollten den Zuschauer in andere Welten entführen, wieder andere wollten ihre Ängste teilen. Doch dann gab es noch Künstler, die ihre eigenen Erlebnisse in der Abstraktion versteckten, die versuchten, das zu verarbeiten, was ihnen passiert ist. Künstler wie mich.
»Ms. Abernathy, da sind Sie ja! Ich warte schon seit einer gefühlten Ewigkeit!«
Erschrocken zuckte ich zusammen. »Mr. Dumónt!« Eilig überbrückte ich die wenigen Meter zwischen uns, bevor wir einander die Hand schüttelten.
»Hatten Sie einen guten Flug?«
Ich lachte und versuchte, mich aufs Hier und Jetzt zu konzentrieren. Doch noch immer waren da diese Erinnerungen. Am liebsten wäre ich stehen geblieben, hätte den inneren Kampf ausgefochten, der in mir tobte, doch ich durfte mir nichts anmerken lassen.
»Der Flug war etwas lang. Ich kriege doch immer Kopfschmerzen, wenn ich in der Luft bin.« Ich folgte ihm durch einen kleinen Flur in sein Büro.
»Ich habe gesehen, dass die Presse Sie schon erwartet hat, nehmen Sie sich in Acht vor denen. Das vorhin war nur ein Vorgeschmack.« Er drehte sein Tablet in meine Richtung. Ich sah ein Bild von mir, nickte jedoch nur.
Einen Moment dachte ich darüber nach, stellte fest, dass es mich zum ersten Mal nicht störte. Ganz im Gegenteil. Ich brauchte sie. Denn hinter all den genervten Seufzern meinerseits und den gegrölten Worten ihrerseits lauerte eine Chance – die Chance, gesehen zu werden. Und zwar von dem Menschen, der es sehen sollte. Von ihm.
Es war nicht leicht, die Aufmerksamkeit eines einzigen Menschen zu ergattern, wenn man ihn nicht direkt kontaktieren konnte. Oder wollte.
Was ich also brauchte, um ihm eine Botschaft zu senden, waren eben diese Menschen, die mich sonst nichts als nervten. Für heute und morgen würden sie mein Instrument sein, um die Nachricht in die Welt hinauszuschreien – die Nachricht, dass ich wieder hier war. Und zu gegebener Zeit würde ich ihnen auch verraten, dass ich nicht gleich wieder verschwinden würde. Und mit all den Bildern, die sie in die Welt twitterten, würde die Botschaft auch bei ihm ankommen.
Erst einmal musste ich mich wieder einleben, lernen, mich nicht von meinen Erinnerungen und den alten Emotionen, die in dieser Stadt auf mich lauerten, überwältigen zu lassen. Ein Lächeln legte sich auf meine Lippen. »Ich denke, damit komme ich zurecht.«
Mr. Dumónt ließ sich in den großen, mehrfach gepolsterten Lederstuhl sinken und deutete auf den Sessel, der ihm gegenüberstand. Ich setzte mich. Als ich ihn vor drei Jahren zuletzt gesehen hatte, waren seine Haare noch blond gewesen. Mittlerweile war er fast vollständig ergraut. Doch das Strahlen seiner grauen Augen war noch immer dasselbe.
»Das hoffe ich, denn mit jedem Tag, den Sie hier sind, und mit jedem Tag, den Ihre Bilder hier hängen, wird Ihr Name bekannter werden. Seien Sie sich dessen bitte bewusst. ›Vincent‹ war ein Glückstreffer, der Sie bis hierher gebracht hat. Ob Sie hierbleiben, muss sich erst noch beweisen.« Er strich sein Hemd glatt. Die Knöpfe spannten über einem kleinen Bäuchlein.
»Vincent« war eines der unzähligen Bilder, das während der letzten Jahre entstanden war. Es war eines der ersten und wohl auch eines der tiefgründigsten gewesen, die ich nach meiner Rückkehr nach Schottland gemalt hatte. Es stellte die Transformation eines Mannes in ein Monster dar – »Vincent«, dass Monster unter meinem Bett, das Monster in meinem Leben.
Ich nickte knapp.
»Kaffee?«
Nachdem wir die letzten Stunden damit verbracht hatten, Organisatorisches für die Ausstellungseröffnung durchzugehen, neigte sich mittlerweile die Sonne dem Horizont zu.
»Es war mir eine Freude, Ms. Abernathy.«
»Die Freude ist ganz meinerseits. Wenn es noch irgendetwas gibt, Sie wissen ja, wie Sie mich erreichen können.« Ich winkte mit meinem Smartphone.
»Ja, das weiß ich.«
Wir schüttelten uns zum Abschied die Hände, dann verließ ich die Galerie.
Draußen angekommen sog ich den Geruch der frühen Abendluft tief ein. Für den Bruchteil einer Sekunde schloss ich die Augen, gab mich dem völlig hin. Es war das Klackern von Absätzen, das mich aus meiner Starre heraus und zurück in die Gegenwart holte. Ich blinzelte einige Male, ehe ich den Blick in die Richtung schweifen ließ, aus der das Geräusch kam. Nur wenige Meter hinter mir eilten zwei junge Mädchen über den Fußweg. Sie trugen Lederröcke, die gerade so ihre Hintern bedeckten, Lederjacken und Overknee-Stiefel … im Partnerlook.
Unsere Blicke begegneten sich. Schnell schaute ich weg und sah stattdessen hinüber zu der Bar, welche heute noch auf meiner Liste stand. Vor der knarzenden Holztür – man hörte sie bis zu mir hinüber – hatte sich eine lange Schlange gebildet. Die Band, die dort heute spielen würde, war offenbar ein Insidertipp. Umso besser.
»Sie sind unglaublich. Wenn wir Glück haben, können wir einen von ihnen aufreißen, auf Dreier stehen Kerle doch immer!«, hörte ich eines der beiden Mädchen sagen.
Nun, damit hatte sich meine Theorie wohl bestätigt. Amüsiert zog ich eine Braue hoch, während ich mir auf die Lippe biss. Sie erinnerten mich an mich selbst, als ich noch jünger gewesen war. Auch wenn ich nie mit dem Vorsatz, jemanden flachzulegen, auf Konzerte gegangen war.
Gerade als ich das Ende der Schlange erreicht hatte, erklang das gedämpfte Zupfen von Gitarrensaiten. Wo zuvor noch Geplauder und aufgeregte Stimmen geherrscht hatten, war nun Stille wahrzunehmen. Lediglich die Gitarrenmusik schwebte durch die Luft.
Wie erstarrt lauschte ich der Melodie. Sie kam mir bekannt vor. Aber warum? Sie war ruhig, und zugleich schrie sie einen Schmerz hinaus, der mir fast das Herz zerriss.
War er das? Bereits der Gedanke beschleunigte meinen Herzschlag, doch ich schob ihn beiseite, verbarrikadierte ihn hinter einer dicken Mauer. Nein. Er spielte so etwas nicht. Niemals.
Es erschienen endlos viele Bilder vor meinem inneren Auge. Bilder von ihm, seinem Lächeln, seinen Berührungen. Ich schluckte.
Einen Moment spielte ich mit dem Gedanken zu gehen. Was erwartete ich, hier zu finden? Wollte ich wirklich einer fremden Band beim Spielen zuhören, oder gab ich mich nur der Stimme in meinem Inneren hin, die mir hoffnungsvoll entgegenschrie, dass er vielleicht hier sein würde?
Ich zögerte, balancierte auf einem dünnen Seil, unsicher, ob ich den Weg wirklich auf mich nehmen oder nicht doch lieber umdrehen sollte. Die gezupfte Melodie drang durch die knarzende Tür der Bar, wurde mit jedem Aufschwingen lauter und elektrisierte die Luft um uns herum. Ich hatte meine Entscheidung getroffen.
Ohne etwas dagegen unternehmen zu können, erlag ich meinen Emotionen, musste mich dem vollends hingeben, schloss die Augen. Die Klänge durchfluteten mich wie eine Welle, brachen an meinem Herzen und erreichten mich auf einer gefühlsmäßigen Ebene, zu der ich schon länger keinen Zugang mehr gehabt hatte.
Es war Magie. Anders ließ es sich nicht beschreiben. Musik war für mich die pure Magie. Egal welche Schutzwälle ich errichtete, die richtige Melodie schaffte es, jede einzelne davon zu durchbrechen. Vielleicht hatte ich es in Schottland auch deswegen vermieden, auf irgendwelche Konzerte zu gehen …
»Laufen nicht vergessen.«
Erschrocken zuckte ich zusammen, dann öffnete ich die Augen, tauchte aus den Tiefen meiner Gedanken auf und murmelte eine leise Entschuldigung, wobei ich zu den Leuten vor mir aufschloss. Mittlerweile waren wir nur noch wenige Meter vom Eingang entfernt, und ich konnte die stickige Luft schon wahrnehmen.
Die Menschentraube vor mir verschwand durch die massive Holztür, und einer der Türsteher warf mir einen gelangweilten Blick zu.
»20 Dollar, bitte«, sagte der Kassierer.
»20? Wer ist denn 20 Dollar wert?« Normalerweise bezahlte man in Bars gar nichts, sondern marschierte einfach hinein. So kannte ich es jedenfalls von früher. Das Wort ›früher‹ hatte einen merkwürdigen Beigeschmack.
»Wer spielt, darf ich nicht sagen. Aber sie sind nicht unbedingt Newcomer. Deswegen der Preis.« Der Typ zwinkerte mir zu. »Also?«
Ein Kloß begann, sich in meinem Hals zu bilden, doch ich würgte ihn hinunter wie einen zähen Kaugummi. Dann nickte ich und fischte meinen Ausweis und das Geld aus der Tasche. Er drückte mir einen Stempel auf den Handrücken und deutete mit dem Kopf in Richtung Tür. »Viel Spaß.«
Ich lächelte freundlich, dann marschierte ich hinein. Nur mit Mühe konnte ich die Tür aufhalten, doch in dem Moment, als ich den ersten Fuß über die Türschwelle gesetzt hatte, kribbelte mein Körper wie elektrisiert, und eine altbekannte Aufregung machte sich in mir breit. Wie hatte ich dieses Gefühl vermisst …
Die Luft war schlecht. Der Geruch von Rauch, Alkohol und Schweiß blähte meine Nasenflügel auf. An diesen Geruch waren derart viele Erinnerungen geknüpft, dass mein Herz einen Hüpfer machte.
Langsam näherte ich mich der Theke, wobei ich mich durch die Rauchschwaden hindurch im Lokal umsah. Die Bar war bereits gut gefüllt, lautes Stimmengemurmel füllte den Teil des Raumes aus, wo der Rauch nicht hinkam, und gestresste Kellner eilten durch die Gänge.
Als ich an der Theke noch einen freien Hocker entdeckte, lief ich hinüber, quetschte mich an einigen Menschen und Tischen vorbei und setzte mich schließlich.
Es war heiß. Ich schälte mich aus meinem Mantel und legte ihn mir über den Schoß. Die Mütze würde ich aufbehalten, dann stanken meine Haare hinterher vielleicht nicht ganz so schlimm.
Nachdem ich etwas zur Ruhe gekommen war, sah ich mich noch einmal um. Die Bar war gemütlich und erinnerte mich sogar ein wenig an die Pubs in Schottland. Es gab nur gedämmtes Licht, gerade genug, damit man einander noch erkennen konnte, und alles war in dunklem Holz gehalten. Vor der Bühne hatte man die Tische weggeräumt, wodurch mehr Menschen zum Tanzen Platz fanden. Die Bühne selbst war hinter einem roten Vorhang verborgen. Im hinteren Bereich gab es dafür zig Sitzecken aus schwerem roten Leder. Die Bar schien fensterlos zu sein, sodass es kein Wunder war, dass die Luft regelrecht stand.
»Hi, wollen Sie was trinken?« Ich drehte mich abrupt zu der zarten Stimme um, die mich angesprochen hatte, und spürte, wie binnen weniger Millisekunden sämtliche Farbe aus meinem Gesicht wich.
Blaue Augen sahen mir erschrocken entgegen, dann wich sie einen Schritt zurück. »Ach, du Scheiße«, war alles, was sie hervorbrachte.
Und bei Gott, das konnte sie laut sagen.
»Carrie fucking Abernathy.«
Unfähig, etwas zu erwidern, glotzte ich sie an. Ich war wie gelähmt. Melanie de Bow hätte ich sicher überall erwartet, aber wohl kaum hinter dem Tresen einer Bar. Für einen Moment schloss ich die Augen, atmete mehrfach tief ein, dann öffnete ich sie wieder und sah sie an. »Mel.« Meine Stimme brach. Ihr Blick brannte sich in meinen, und ich sah, wie sie mit den Tränen kämpfte, dann riss sie sich die Schürze von ihrem noch immer viel zu schmalen Körper und kam um die Theke herum.
»Ich kann nicht glauben, dass du hier bist«, hörte ich sie noch sagen, bevor sie mich in eine feste Umarmung riss.
Im ersten Moment zog sich alles in mir zusammen, doch als ich den mir nur allzu bekannten Geruch von Minze mit einem Schuss Schokolade roch, entspannte ich mich. »Scheiße«, murmelte ich, dann umarmte ich sie richtig zurück. Wir schwankten durch die Bar, und ich konnte die Blicke der anderen Gäste förmlich auf uns spüren.
Nach einer Weile löste sie sich von mir, dann deutete sie auf den Hocker. »Komm, setz dich.« Es war keine Bitte. Schweigend band sie ihre Schürze wieder um, dann stellte sie mir ein Glas hin. »Whiskey?«
Ich lachte. »Lass uns doch mit etwas Leichterem anfangen, Cola zum Beispiel.«
Sie zog eine Braue hoch, dann grinste sie, doch das Zucken ihrer Wangen verriet mir, dass es ein angespanntes Lächeln war. Angesichts der Situation nicht weiter verwunderlich.
»Du wirst mich nachher noch anflehen, dass ich dir Alkohol gebe.«
Einen Moment sah ich sie nur stumm an. »Was meinst du damit?«, fragte ich dann. Sie zuckte nur mit den Schultern, dann fuhr sie sich über den blonden Pferdeschwanz. Eher Platin. Man hätte uns für Geschwister halten können.
»Nur so.«
Mich beschlich eine böse Vorahnung. Eilig verdrängte ich sie und beobachtete stattdessen, wie sie Eiswürfel in mein Getränk gab. Sie hatte eine nahezu elfenhafte Statur, was durch das enge schwarze Shirt, das sie trug, nur noch betont wurde. Als sie mir die Cola reichte, drückte ich ihr das Geld in die Hand, wobei meine Augen an ihrem Gesicht hängen blieben. Sie zog eine ihrer perfekt gezupften Brauen hoch, dann schob sie mir den Schein wieder über den Tresen.
»Willst du mich verarschen?«, fragte sie.
Ich lachte, dann packte ich das Geld wieder ein.
»Erzähl, was bringt dich nach Seattle?«
»Der Beruf.«
Sie nickte. »Dachte ich mir schon fast.« Sie legte ihre Hand auf meine, dann lächelte sie.
»Und was bringt dich hinter den Tresen einer Bar?« Es wunderte mich, dass sie hier kellnerte.
»Wir kennen den Besitzer. Ihm ist jemand ausgefallen, und ich springe nur ein.« Ich nickte wissend. Mel sah mich kurz an, dann legte sie eine Hand auf meine und lächelte zaghaft. »Tut gut, dich zu sehen, Carrie.«
Ihre Worte trafen mich mitten ins Herz. Es war, als schmolz ein Teil des Eises dahin, das sich dort vor drei Jahren gebildet hatte. Ich schenkte ihr ein ehrliches Lächeln, wollte etwas erwidern, da ebbten plötzlich die Gespräche um uns herum ab, und ein Räuspern ertönte.
Langsam drehte ich mich zur Bühne, und just in diesem Moment zog sich der rote Vorhang zur Seite auf.
Ich erstarrte und verschluckte mich an meinem Getränk. Schwer hustend drehte ich mich zurück und stellte das Glas ab. Meine Hand zitterte so sehr, dass die Hälfte der Cola überschwappte, doch es scherte mich nicht. Die Welt um mich herum hörte auf, sich zu drehen. Verzweifelt stützte ich mich am Holz des Tresens ab, als könnte mich das vom Untergang bewahren.
»Geht’s?«, hörte ich Mel mit einem Lachen in der Stimme fragen.
Ich schwieg, starrte stattdessen auf die weißen Knöchel meiner Hand, die das Holz umklammert hielt.
Verdammt. Es ist zu früh, viel zu früh. Ich sollte gehen. Ich musste gehen. Doch mein Körper war plötzlich tonnenschwer. Langsam löste ich mich vom Tresen.
Ich musste das tun. Ich konnte nicht hierbleiben!
Fast hätte ich es geschafft, einen Fuß von dem Hocker zu nehmen, doch dann erklang seine tiefe Stimme. Die Stimme, die ich drei Jahre lang nicht mehr gehört hatte. Die Stimme, die ich mehr als alles andere vermisst hatte. Die Stimme, die mich zu allem bewegen konnte – und mit ihr verschwanden die Zweifel. Innerhalb weniger Sekunden hatten Hirn und Körper sich getrennt, arbeiteten gegen mich. Mein Körper schaltete auf Autopilot.
Wie automatisiert sah ich erst zu Mel und drehte mich dann schließlich um in Richtung Bühne.
Mein Herzschlag geriet außer Takt. Ich rang um Atem, versuchte, das Gleichgewicht und meine Fassung wiederzuerlangen. Vergebens.
»Guten Abend, Seattle. Mein Name ist Evan Black, einige werden mich sicher kennen.«
Jubel brach um mich herum aus. Scheinwerfer strahlten Evan an und ließen ihn in einem Licht erscheinen, das völlig unwirklich war. Er sah noch genauso gut aus wie vor drei Jahren. Ihn dort so stehen zu sehen … Es war, als wäre ich durch eine unsichtbare Tür direkt in meine Vergangenheit gestolpert. Schon wieder. Er trug noch immer dieselben klobigen Ringe an jedem Finger, hatte die dunkelblonden Haare sexy zurückgegelt und trug einen gestutzten Dreitagebart. Das Einzige, was wirklich neu war, waren die zahlreichen Tattoos, die seine Arme zierten. Doch von hier aus konnte ich die Motive nicht genau erkennen.
Mein Herz schlug mittlerweile so heftig, dass es mir sämtliche Luft zum Atmen raubte.
»Der Idiot hier neben mir ist Lawrence.«
Lawrence streckte die Zunge raus, ehe er eine kurze Melodie auf der Gitarre spielte.
»Das ist Matthew …«
Matt hob die Hand und grinste in die Menge.
»… und das hinter mir ist mein geliebter Bruder Killian.«
Killian winkte ebenfalls und warf Evan eine Kusshand zu.
Ich konnte einfach nicht glauben, was ich da sah. So oft hatte ich mir ein Wiedersehen mit ihnen vorgestellt, hatte gedacht, sie wären völlig andere Menschen. Doch sie wirkten noch genauso wie früher, als hätte sich nichts verändert. Als wäre die Zeit einfach stehen geblieben. Doch ich wusste, das war sie nicht.
«Nun aber genug der Floskeln, ich wünsche euch viel Spaß mit den Broken Sons.« Er zwinkerte verführerisch einem Mädchen zu, das direkt an der Bühne stand, ehe er sich zu Killian drehte und sie sich zunickten.
Lawrence begann, die ersten Gitarrensaiten zu zupfen, wobei Evan sich zum Mikro drehte und seine tiefe, rauchige Stimme mich bis ins Mark erschütterte.
Carrie
Kurznotiz Skizzenheft, 24.06.2016, 1. Tag in Seattle
Das Leben ist voller Möglichkeiten, ungesagter Dinge, stummer Bitten, ungelebter Träume. Warum ist das so? Was stört uns daran, die Angst in unserem Inneren zu überwinden, für das einzustehen, was wir wirklich wollen?
Ist es wirklich die Angst vor dem Unbekannten? Oder vielmehr die Furcht vor den Konsequenzen, den damit einhergehenden Risiken?
Ist es nicht die Angst und das Risiko der Zurückweisung, die uns daran hindern, unserem Schwarm zu sagen, dass wir ihn lieben?
Ist es nicht immer das Risiko, das uns hindert, bestimmte Dinge zu tun? Unser Leben zu leben? Und damit meine ich nicht dieses Fünfzig-Prozent-Leben, sondern dieses Alles-riskieren-, Immer-aus-dem-Fenster-lehnen- und In-jede-Pfütze-springen-Leben?
Ich ertappte mich zu oft dabei, wie ich nur auf fünfzig Prozent lebte, immer auf der Hut: bloß nicht das Falsche sagen, immer auf Sicherheitsabstand bleiben. Doch dieses eine Mal, an dem Tag, an dem ich beschloss, nach Seattle zu gehen, da beschloss ich auch, mein Leben fortan auf hundert Prozent zu leben. Keine halben Sachen mehr, keine Angst vor Risiken. Einfach leben, denn wer weiß schon, wie schnell es vorbei ist?
Remember myself walking through the rain
Miles away from the next train
Wie gebannt lauschte ich der Melodie ihres ersten Songs. Drei Sekunden reichten aus, um zu wissen, was für eine Stimmung dieser Song transportierte: Roadtrip, Feel good, Fernweh.
Eine Gänsehaut jagte über meinen Körper, sorgte dafür, dass sich jedes einzelne Haar aufstellte. Nur selten hatte ich so einen Zustand gespürt. Die Aufregung, das Adrenalin, gepaart mit Angst, Freude und Glück. Ein schneller Blick reichte aus, und ich fühlte mich, als wäre ich wieder einundzwanzig. Das meinten die Leute wohl, wenn sie von Lebendigkeit sprachen.
Wie festgewachsen saß ich auf dem Hocker und lauschte den Worten, die seinen Mund verließen. Ich konnte seine Lippen an meinem Ohr regelrecht spüren, nahm die zarte Haut wahr, die Worte, die sie mir zuflüsterten. Ich fühlte mich ihm plötzlich furchtbar nah.
In den letzten Jahren hatte ich es vermieden, ihre Songs zu hören, hatte mich nicht an sie erinnern wollen, und so war es das erste Mal seit drei Jahren, dass ich ihn singen hörte. Nervös knetete ich mir die Hände, während mein Herz hämmerte, als wolle es einen Nagel in die Wand schlagen.
But then I hear the roar of your car
And that’s the moment, when rain turns into war
Zunächst hörte ich nur Worte … Doch als ich eine Sekunde über sie nachdachte, wurde mir schlagartig klar, wovon er da sang. Am liebsten wäre ich weggerannt, hätte mich vor dem versteckt, was ich gleich hören würde. Sang er wirklich das, was ich hörte? Ich, spürte wie die Vergangenheit lebendig wurde. Und mit ihr kamen auch all die Gefühle, die mich seit drei Jahren verfolgten.
Er sang von unserer ersten Begegnung. Und die Emotionen, die er allein mit seiner Stimme in mir weckte, brachten mich um. Es war wie kleine Messerstiche mitten ins Herz. Unfähig, mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen, starrte ich ihn an, bekam mit, wie sich die Menge um mich herum zu bewegen begann, sah, wie er die Augen schloss, sich der Vergangenheit hingab.
Und dann, ohne es zu wollen, tat ich dasselbe.
♫
Kühle, feuchte Luft umspielte meine Haare. Ich sog den Duft von Regen tief ein, atmete durch und fädelte schließlich den Autoschlüssel aus meiner Jackentasche. Da ich nicht wusste, welches Auto meins war, drückte ich den Entriegelungsknopf so lange, bis ich ein paar Scheinwerfer leuchten sah. Es war das erste Mal, dass ich mir einen Mietwagen geliehen hatte, doch ich war froh darum. In meiner Heimatstadt Edinburgh war ich oft mit meinem Auto unterwegs gewesen, es bedeutete nicht nur mehr Freiheit als öffentliche Verkehrsmittel, sondern man hatte auch seine Ruhe.
Als ich den Wagen sah, erschien ein Lächeln auf meinem Gesicht. Eigentlich hatte ich mir einen Ford Fiesta gebucht – klein und kompakt – doch die Dame an der Info hatte mich bereits darüber informiert, dass ich einen anderen Wagen bekommen würde. Als sie von einem Cadillac Escalade EXT sprach, hatte ich zwar genickt, allerdings nicht den leisesten Hauch einer Ahnung gehabt, um was für ein Auto es sich handelte. Ganze drei Mal verglich ich das Kennzeichen auf dem Autoschlüssel mit dem des Autos vor mir. Ich war davon ausgegangen, einen vergleichbaren Wagen zu erhalten, stattdessen handelte es sich hier um einen gigantischen Pick-up. Das Auto hatte mindestens die dreifache Größe eines durchschnittlichen Kleinwagens und ließ sich nur über ein Trittbrett erreichen.
Ich seufzte. Mit einem solchen Raumschiff einzuparken, hatte man mir in der Fahrschule definitiv nicht beigebracht, ließ sich nur hoffen, dass es wenigstens über eine Einparkhilfe verfügte. Ich drückte den Entriegelungsknopf und lauschte auf das »Piep-Piep«, welches ertönte, als sich der Wagen öffnete. Dann eilte ich herum und warf meine beiden Koffer in den Kofferraum. Ich knallte die Klappe zu und stieg ein.
Im Innenraum roch es nach Leder und Putzmittel. Ich schnallte mich an und drückte den Startknopf. Brummend erwachte der Titan zum Leben. Einen Moment machte ich mich mit dem Armaturenbrett vertraut, bevor ich alles Weitere einstellte. Nachdem ich fertig war, nickte ich mir im Rückspiegel zu, ehe ich langsam aus der Parklücke rangierte.
Als ich mich erfolgreich vom Flughafen entfernt hatte und auf die nächste Straße gefahren war, entfuhr mir ein erleichtertes Seufzen. Ich wischte meine schweißnassen Hände eilig an der Jeans ab und trat aufs Gas.
Da es schon elf Uhr abends war, war die Straße nur wenig befahren, und so gelang es mir sogar, ein wenig runterzukommen. Doch die Entspannung sollte nicht lange halten. Ich hatte gerade die ersten paar Kilometer hinter mich gebracht, als mir plötzlich etwas auf die Scheibe klatschte. Erschrocken zuckte ich zusammen und betrachte den fetten Regentropfen. Verdammt.
Ich warf einen giftigen Blick gen Himmel, hoffte, dem Regenguss davonfahren zu können, doch ich hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, da begann es zu schütten. Binnen weniger Sekunden sah ich absolut nichts mehr.
Fluchend drosselte ich das Tempo, bemüht, nicht von der Straße abzukommen. Es war zum Verrücktwerden.
Eine fremde Stadt, ein mir unbekanntes Auto und zu allem Überfluss auch noch dieser Scheißregen, der mir die Sicht raubte. Mein Abenteuer begann ja schon mal super.
Konzentriert starrte ich auf die Straße, als ich mir plötzlich einbildete, eine Person zu sehen.
»Was zur …« Ich bremste ab, wobei ich die Augen zu kleinen Schlitzen verengte. Tatsächlich. Mitten durch den Regenguss lief jemand. Ein Blitz zuckte durch den Himmel, und wenige Augenblicke später ertönte ein Donnergrollen.
Ich biss die Zähne zusammen. Das könnte ein Verrückter sein, warnte ich mich selbst. Oder ein Mörder oder wer weiß was sonst. Erneut ein Blitz. Langsam fuhr ich an ihm vorbei, trat in letzter Sekunde jedoch auf die Bremse und kam zum Stehen. Es könnte ebenso gut irgendein lebensmüder Typ sein, der sein Glück herausforderte.
»Und außerdem wolltest du doch mal etwas erleben, also, Carrie …«, sagte ich zu mir selbst.
Ich zog die Handbremse an.
And then we stay in the middle of war
With the rain in my ear I hear
Do you want to come with me
Unsicher blickte ich in den Rückspiegel und sah, wie er losrannte. Mein Herz begann wie wild zu hämmern. Ich hatte noch nie jemanden mitgenommen, was nicht zuletzt an meinem Vater lag. Er hatte mich stets gewarnt, fremde Leute in mein Auto zu lassen.
Tausend Gedanken irrten in meinem Kopf herum, widersprachen einander. Einen Moment schloss ich die Augen, versuchte, sie auszublenden, dann krallte ich die Hände ins Lenkrad, bevor ich noch einmal tief Luft holte. Als ich sie wieder öffnete, zog ich mir die Jacke enger um den Körper, bevor ich nach dem Schlüssel griff und ausstieg.
Der Mann hatte sein Tempo mittlerweile verlangsamt und kam nun auf mich zu. Sein Körper wurde von den Rückblenden meines Autos angestrahlt.
Er war um einiges größer als ich – ich schätzte, gute zwanzig Zentimeter – und hatte breite Schultern. Regen tropfte von seinen Haaren, und seine Klamotten waren klatschnass, das schien ihn allerdings nicht weiter zu stören. Als er näher kam, sah er mich einen Moment an, dann lehnte er sich lässig an den Wagen. Seine Klamotten trieften. Da half es auch nicht, dass er seine Lederjacke bis unters Kinn geschlossen hatte.
Gern hätte ich ihm in die Augen gesehen, sagten sie schließlich das meiste über einen Menschen aus, doch sein Gesicht ließ sich nur in schwachen Zügen erkennen. Es war kantig, um nicht zu sagen, messerscharf, und seine dicken Augenbrauen wirkten wie ein Rahmen. Er war wie ein Schatten – da, aber nicht wirklich greifbar.
Einen Moment starrten wir uns stumm an.
»Bitte fang jetzt nicht an zu kreischen«, sagte er.
Warum sollte ich kreischen? Möglicherweise hätte ich den »Most wanted«-Flugblättern am Flughafen doch mehr Aufmerksamkeit widmen sollen. Ich taumelte einen Schritt zurück, dann griff ich beinahe panisch nach dem Knauf der Tür. Die Gedanken in meinem Kopf überschlugen sich. Verunsichert lachte ich. »Kreischen? Wieso sollte ich kreischen?«, fragte ich schließlich. Meine Stimme klang dünn.
Ich erkannte im schwachen Licht der Scheinwerfer, wie sich seine Brauen zusammenzogen. Doch er antwortete nicht. Alles, was die Stille durchbrach, war das heftige Grollen eines Donnerschlags.
»Entschuldige, ich habe keine Ahnung.«
Nun war ich es, die die Augen zusammenkniff. Dieser Mann war alles, aber bestimmt kein Mörder. Aber was hatte er dann mit seiner Aussage gemeint? Noch immer nervös leckte ich mir über die Lippen.
»Was ist? Soll ich dich nun mitnehmen, oder was? Langsam wird es ziemlich nass.« Betont lässig sah ich ihn an. Er glotzte noch immer. Ich kam mir vor, als wäre ich ein seltenes Tier.
»Okay … Sehr gesprächig bist du scheinbar nicht. Macht nichts, aber ich werde jetzt fahren. Also entweder steigst du ein oder aber …«
Ich zuckte mit den Schultern. Es bedurfte keiner weiteren Erklärung. Schnell wandte ich mich ab, dann öffnete ich die Tür und stieg in den Wagen. Der Fremde ließ es sich nicht zweimal sagen. Ich beobachte im Rückspiegel, wie er um das Auto herumlief und schließlich einstieg.
Well, I jump into the car
And we drive into the night
Ohne ihn zu fragen, schaltete ich bei ihm die Sitzheizung ein, bevor ich die Handbremse löste und langsam weiterfuhr.
Ich war froh, dass wenigstens der Regen laut genug war. Ich schluckte einige Mal, bevor ich ihm einen schnellen Blick zuwarf. Er starrte mich mit großen Augen an.
Irritiert blinzelte ich, dann wandte ich mich eilig wieder der Straße zu. »Willst du mir sagen, wo ich dich hinbringen soll?«
Keine Antwort.
Ich war bereits drauf und dran, anzuhalten und ihn rauszuwerfen, als seine tiefe Stimme plötzlich die Stille zerriss.
»Dein Dialekt … Wo kommst du her?«
Ich wusste nicht, was tiefer war, seine Stimme oder das Grollen des Donners. Unsicher sah ich auf die Straße, nahm jedoch aus den Augenwinkeln wahr, wie er mich noch immer anstarrte.
»Schottland«, sagte ich. »Ich komme aus Schottland.« Noch einmal sah ich in seine Richtung. Einen Moment begegneten sich unsere Blicke, dann versank er im Sitz und schien sich sichtlich zu entspannen. Er öffnete die Jacke und zog sie schließlich aus. Darunter verbarg sich ein weißes Shirt, das wie eine zweite Haut an ihm klebte. Wie erwartet war es ebenfalls klitschnass. Ich erkannte definierte Bauchmuskeln.Eilig wandte ich mich ab, sah zurück auf die Straße.
»Oh, Schottland … Ein schönes Land«, ertönte seine tiefe Baritonstimme.
Irritiert von seinem plötzlichen Stimmungswechsel brauchte ich einen Moment, um ihm zu antworten.
»Allerdings.« Schottland war wohl das schönste Land, das ich kannte. Ich liebte alles daran. Das raue Wetter, den Wind, der stets den Geruch von Gras und umgewälzter Erde mit sich brachte … »Du warst schon einmal dort?«
Er nickte. »Ja, vor einigen Jahren gemeinsam mit meiner Familie. Für sie kann es nie weit genug weg gehen. Aber ich will mich nicht beschweren, ich mag die Einsamkeit da … erinnert mich an Kanada.«
Zu mehr als einem traurigen Lachen war ich nicht imstande. »Ja, Schottland kann in der Tat recht einsam sein.« Ich fühlte mich seit meiner Kindheit so … einsam. Meine Eltern hatten jede Entscheidung, die sie getroffen hatten, für mich getroffen. Aber eben nicht aus den Augen eines Kindes, sondern aus den Augen eines Erwachsenen, der für sein Kind das Beste wollte. Und so wurde ich mit vier Jahren in die Vorschule geschickt. Nach einem schrecklichen Zwischenfall hatten es meine Eltern jedoch keine Sekunde länger in Edinburgh ausgehalten. Und so waren wir von Edinburgh nach Inverness gezogen. Von da an war ich zu Hause unterrichtet worden. Zwölf Jahre lang. Meiner Meinung nach war es der Versuch gewesen, ihre damalige Nachlässigkeit zu entschuldigen. Sie hatten mich nicht aus den Augen lassen wollen und können – aus Angst, dass mir etwas passieren könnte. Und das hatte ich verstanden. Aber wegen ihrer Angst hatten sie mich den wohl einsamsten Jahre meines Lebens ausgesetzt, eingesperrt auf hundertzwanzig Quadratmetern. Der einzig zwischenmenschliche Kontakt war der zu den Kindern der Nachbarschaft und meinen Eltern gewesen.
So sehr ich sie auch liebte, manchmal hasste ich sie für die Entscheidungen, die sie getroffen hatten. Doch etwas Gutes hatte diese Zeit mit sich gebracht: meine Leidenschaft für Kunst. Sowohl hinter als auch vor der Leinwand.
»Und was macht eine Schottin in Seattle?«
Der Regen wurde langsam weniger, sodass ich das Tempo etwas beschleunigen konnte. »Tja, ich würde sagen herausfinden, was das Leben alles so zu bieten hat … der Einsamkeit entfliehen.« Obwohl ich ihn nicht ansah, konnte ich seinen Blick auf mir spüren.
Just in diesem Moment verkündete das Navi: »Sie haben ihr Ziel erreicht.«
Ich fuhr an den Straßenrand und hielt an.
Einen Moment sah er das Navi an, dann mich. »Wie kann ich mich dafür bedanken?«
Mit hochgezogener Braue sah ich ihn an. »Ich hab dich doch bloß mitgenommen. Keine große Sache, ehrlich.«
Einen Moment zögerte er, dann beugte er sich langsam vor. »Lass es mich zumindest versuchen, ja?«
Seine Worte waren nur ein leises Flüstern, und kurz überlegte ich, ob ich sie mir eingebildet hatte. Doch dann beugte er sich über die Armaturen, nahm mein Gesicht in seine Hände und küsste mich.
I guess I would do it again
With you by my side
You and me together
Riding into the night
Im ersten Moment war ich wie erstarrt.