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Luisa lernt in der Firma, in der sie arbeitet, Ingeborg kennen und fühlt sich sofort zu ihr hingezogen. Sie verlässt den Mann, mit dem sie seit sechs Jahren zusammenlebt, und versucht sich Ingeborg vorsichtig zu nähern. Ingeborg jedoch lehnt dies stets schroff ab. Als das Chorsingen sie beide ins Schweizerische Bergell verschlägt - gemeinsames Hotelzimmer mit Doppelbett - schlägt Luisas Stunde: Kann sie Ingeborgs Zuneigung gewinnen?
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Seitenzahl: 304
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Roman
Originalausgabe: © 2006 ePUB-Edition: © 2013édition el!es
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Sie wanderte durch die nächtlichen Straßen der Großstadt wie eine einsame Wölfin. Sie war nicht auf der Jagd, doch sie hatte eine Spur, der sie folgte. Sie suchte nach ihrem Rudel, nach denjenigen, die zu ihr gehörten, zu denen sie gehörte.
Sie war noch nicht sehr lange auf dieser Spur, denn die Fährte kannte sie erst, seit sie in einem Buch darauf gestoßen war. Ein Zufall, dachte sie, doch ihre Überraschung hielt sich in Grenzen.
Das Buch hatte sie auf Gedanken gebracht, die ihr nicht gefielen. Sie ahnte, dass sie sich auf Neuland begeben musste, um der Fährte zu folgen. Sie wehrte sich dagegen, doch je mehr Zeit verging, um so unruhiger wurde sie.
Die Spur, die sie zu ignorieren versuchte, hatte sie vor kurzem in einen Buchladen geführt, den sie nie zuvor betreten hatte. Sie fühlte sich unwohl, doch sie ließ sich nichts davon anmerken, als sie zwischen den Regalen umherging.
Wurde sie beobachtet? Fiel sie auf? Merkten die anderen, dass sie hier neu war?
Ihre Beute hatte sie drei Nächte lang beschäftigt. Sie las ohne Pause, kehrte nur für die Stunden, die sie als Mensch zur Arbeit gehen musste, aus dieser neuen, unbekannten und doch irgendwie unheimlich vertrauten Welt auf. Sie erkannte in den Texten Seiten ihres Wesens, die sie seit Jahren zu vergessen versuchte.
Dann wuchs die Unruhe wieder. Vor allem am Wochenende ließ sie sie nicht los. Sie musste auf die Straße, sie musste der Spur, die immer deutlicher wurde, folgen. Vielleicht könnte sie ausweichen? Möglicherweise genügte es, wieder in den Buchladen zu gehen, sich neues Material zu holen und so der Versuchung zu widerstehen?
Sie hätte es nicht tun sollen, sagte sie sich. Sie hätte wegbleiben müssen!
Aber jetzt war es zu spät. Sie sah die Aufschrift mit der Adresse des Lokals deutlich vor ihrem inneren Auge. Der Straßenname, unauffällig auf dem Flugblatt in der Buchhandlung, hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt.
Sie erkannte das Café sofort. Unauffällig, ganz gewöhnlich stand es da, doch für sie bedeutete es einen großen, entscheidenden Schritt auf ihrer Suche.
Sie würde sich nur umschauen. Sie würde sich im Schatten aufhalten, sich am Rande bewegen und beobachten, niemand würde sie bemerken, denn sie konnte sich tarnen. Die Versuchung, wenigstens einmal von der Frucht, die sie sich selbst verboten hatte, zu kosten, war groß. Sie stand in der Ecke und fühlte, wie ihre Widerstandskraft schwächer wurde.
Ja, das ist meine Welt, erkannte sie.
Schnell verließ sie das Lokal. Noch war nichts passiert. Sie durfte nie wieder hierher zurückkehren, es war zu gefährlich. Ihr Leben sollte nicht noch einmal fast zerbrechen. Sie würde lieber einsam ihre Runden laufen, allein bleiben und sich vielleicht ab und zu einen Traum gestatten, doch niemals würde sie sich als eine von ihnen zu erkennen geben.
»Was meinst du, Beate, soll ich mit Norbert eine Komödie oder eher einen anspruchsvolleren Film anschauen?«
Luisa studierte mit gerunzelter Stirn das Kinoprogramm und wartete auf den Kommentar ihrer Kollegin.
»Dein Norbert und anspruchsvolle Filme?« fragte Beate abgelenkt.
»Du hast recht, das kann nicht gut gehen. Aber die Auswahl ist nicht eben berauschend«, erklärte Luisa mit übertriebener Verzweiflung.
Sie wippte auf ihrem Bürostuhl und versuchte Beates Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Es war ihr kein Erfolg beschieden, die Werbefotografin, die am Schreibtisch gegenüber mit der Maus ihres PCs hektisch hin und her fuhr, würdigte sie keines Blickes.
»Beate!« rief Luisa zu laut.
»Was ist? Kannst du mich nicht in Ruhe arbeiten lassen?«
Luisa grinste. »Arbeiten nennst du das? Erzähl das jemand anderem. Du legst dir eine Patience!« Luisa wurde wieder ernst. »Bitte, Beate, ich brauche deine Hilfe. Du als erfahrene Ehefrau müsstest mir doch einen Rat geben können.«
Mit Schmeicheleien erreichte man bei Beate fast soviel, als ob man ihr ein Stück Kuchen vor die Nase setzte. Beates Liebe zu Gebäck in allen Erscheinungsformen sah man ihr nur zu deutlich an. Zwar startete die Fotografin mindestens jedes Jahr zwei Diäten, doch niemals war ein Erfolg auszumachen.
»Hansi mag mich so, wie ich bin«, erklärte sie dann, um sich ihr Scheitern nicht zu Herzen nehmen zu müssen.
»Ja, Hansi und ich sind schon über zwanzig Jahren verheiratet, ich weiß also, wovon ich spreche, wenn ich dir sage, anspruchsvolle Filme sind nichts für den Durchschnittsmann«, holte Beate mit ernster Miene aus.
»Oh, lass das Norbert bloß nicht hören«, unterbrach Luisa lachend, »er sieht sich ganz und gar nicht als Durchschnittsmann!«
»Na klar, jeder ist ein Supermann, an dessen Seite alle Brad Pitts und Tom Cruises einpacken können!« schnaufte Beate.
»Hansi meint ja auch, er sei zum Star geboren, nur habe ihn niemand entdeckt. Manchmal frage ich mich, wo mein Verstand war, als ich mich vor dem Traualtar ins Unglück stürzte.«
Luisa kannte Beates Geschichten, alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Werbeagentur Creativ Work kannten sie, denn Beate und Hansi führten eine offene Ehe im engeren Sinn: Jede und jeder durfte Einblick nehmen in ihren Alltag, wurde über Sorgen und Ängste ebenso ausführlich informiert wie über die Glücksmomente und Träume der beiden.
»Am besten, du gehst mit deinem Liebsten in einen Actionfilm, dann ist er ruhig«, riet Beate nun ganz ernst.
»Bitte, du weißt doch, wie sehr ich solche Streifen hasse! Ich liebe Romantik oder dann halt wirklich Filme, bei denen man denken muss«, entgegnete Luisa.
»Ach, Schäfchen, den Sinn für Romantik hat der Schöpfer offenbar nur der weiblichen Hälfte der Menschheit mitgegeben«, seufzte Beate.
Ob sie mit ihrem Hansi die Romantik vermisst? fragte sich Luisa. Aber sie war mit Norbert auch nicht besser dran. Wenn sie da an seine Hobbys dachte: Motorradfahren, Eishockey und Rugby! Natürlich würde sich Norbert nie aktiv ins Getümmel werfen, da könnten seine gepflegten Hände leiden, und die brauchte er als Architekt mit Ambitionen auf jeden Fall noch.
»Vielleicht gibt’s ja einen Kompromiss?« überlegte Luisa laut. »Eine Komödie mit romantischem Touch, in der auch ein bisschen Action vorkommt?«
»Du hast es begriffen, Schäfchen, jede Beziehung ist ein einziges Aneinanderreihen von Kompromissen«, bestätigte Beate.
Luisa runzelte die Stirn und strich sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie wollte nur einen Filmtipp und bekam statt dessen einen Beziehungsratgeber.
»Nenn mich nicht Schäfchen, das mag ich nicht! Und sag mir endlich, welchen Film wir heute anschauen sollen. Wenn ich keinen Vorschlag mache, landen wir wieder in einem Streifen wie ›Armageddon‹ oder ›Independence Day‹«, knurrte sie.
»Also gut, dann lies mal vor«, lenkte Beate ein.
Immer noch mürrisch begann Luisa das Kinoprogramm zu entschlüsseln. Es wurmte sie, wenn man sie Schäfchen nannte, denn es war ja nicht ihre Schuld, dass sie Schaefer hieß.
»Stopp!« unterbrach Beate ihr monotones Gemurmel.
»›Vier Hochzeiten und ein Todesfall‹? Das läuft wieder? Dieser Film ist doch uralt.«
»Hm, ja, da steht, es sei eine Reprise«, las Luisa. »Hast du ihn gesehen?«
Beate nickte begeistert. »Der wird dir gefallen«, versicherte sie ihrer Bürokollegin.
»Aber Hochzeiten? Und gleich vier davon! Und was hat der Todesfall hier verloren?« wandte Luisa zweifelnd ein.
Sie hielt nichts vom Heiraten und wollte Norbert nicht wieder auf die unsinnige Idee bringen, ihr noch einen Antrag zu machen. Beim letzten hatte sie sich noch herausreden können, doch der lag jetzt schon drei Jahre zurück.
»Ja, es wird geheiratet und gestorben, aber es ist ein wirklich witziger und romantischer Film«, versicherte ihr Beate. »Und die Schauspieler! Hugh Grant und Andie MacDowell! Da muss man einfach schmelzen!«
Mehr konnte Luisa nicht aus Beate herauskitzeln, denn in diesem Moment gab ihr PC ein leises Pling von sich und fesselte deren ganze Aufmerksamkeit.
»Ich fass’ es nicht!« Beate raufte sich die Haare. »Ausgerechnet diesen Vamp setzt man uns vor die Nase!«
Luisa, die keine Ahnung hatte, worüber Beate sich aufregte, startete ebenfalls ihren Computer. Auf dem Bildschirm wurde eine interne Nachricht angezeigt. Neugierig öffnete Luisa das Dokument.
»Die Umbauarbeiten in der Management-Etage gehen in die entscheidende Phase«, las sie. »Die Zusammenlegung von Räumen bedingt den Umzug unserer allseits geschätzten Koordinatorin Ingeborg Wolf. Sie wird im Verlauf der nächsten Woche ihr neues Büro in der Kreativabteilung beziehen.«
Anschließend folgten noch weitere Erklärungen, wie die obere Etage genau umgestaltet und erneuert werden sollte, doch die ignorierte Luisa, da sie nun wusste, was Beates Kreislauf in Wallung brachte.
Ingeborg Wolf, die schon hier angestellt gewesen war, als Luisa als Werbetexterin in die Firma eintrat, verfügte über einen denkbar schlechten Ruf. Die Frauen schnitten sie und tauschten hinter ihrem Rücken Gerüchte über ihren ausschweifenden Lebenswandel aus. Bei den Betriebsfesten, die die Belegschaft einander eigentlich hätten näherbringen sollen, stand Ingeborg meist mit ihrem Begleiter irgendwo am Rande. Sie wurde ignoriert. Wenn sie Gesprächspartner fand, dann waren es Männer, die ohne ihre Frauen oder Freundinnen auf dem Fest weilten. Die weiblichen Wesen hätten ihre Männer wohl am liebsten an die Leine gelegt, um sie nicht der Gefahr auszusetzen, von Ingeborg gekapert zu werden.
Luisa verstand die Aufregung um die Koordinatorin nicht. Sie kannte sie zugegebenermaßen nicht besonders gut, hatte ihr bei flüchtigen Begegnungen gerade einmal zugewinkt, doch noch nie war sie zu dem Vergnügen des persönlichen Kontaktes gekommen. Vielleicht wirkte Ingeborg ja nur aus der Ferne sympathisch?
»Ich weiß wirklich nicht, was du gegen diese Frau hast«, wandte sich Luisa an Beate. »Ist sie deinem Hansi je zu nahe getreten?«
»Das möchte ich ihr nicht raten!« brauste Beate auf. »Sollte sie sich meinem Mann nähern, schlage ich ihr die Zähne ein!«
»Du übertreibst«, lachte Luisa.
»Oh nein, keineswegs. Du hast ja keine Ahnung, wie die Wolf wirklich ist. Was glaubst du, weshalb sie jedesmal mit einem anderen Typ zum Betriebsfest kommt? Die wechselt ihre Männer, als handle es sich um Schuhe!« Beate schob eine kleine Pause ein, um Atem zu schöpfen. »Du ahnst nicht, was los war, als sie mit dem Chef eine Affäre hatte. Und kaum hatte sie genug von ihm, kam der Sohn, der Juniorchef, an die Reihe. Ich sage dir, Schäfchen, dieser Frau traue ich alles zu«, schloss sie mit unheilschwangerer Stimme.
»Ich finde sie nett«, widersprach Luisa, obwohl sie sich nicht sicher war. »Sie ist souverän und zielstrebig. Sie macht ihre Arbeit sehr gut, sie findet die besten Models, die tollsten Locations und sorgt dafür, dass der Zeitplan eingehalten wird.«
Beate zuckte verächtlich mit den Schultern. »Niemand zweifelt daran, dass sie als Koordinatorin einsame Spitze ist«, gab sie zu, »doch als Mensch? Nein danke! Mit der will ich nichts zu tun haben!«
»Kennst du sie denn? Hast du mit ihr je ein Gespräch geführt? Weißt du, was sie in ihrer Freizeit macht? Hat sie Familie?« bombardierte Luisa ihre Bürogenossin mit Fragen.
Sie konnte Menschen mit Vorurteilen nicht ausstehen. Beate mochte zwar eine unterhaltsame Kollegin sein, doch dass sie so absolut negativ über jemanden herzog, wollte Luisa nicht auf sich beruhen lassen.
»Wo denkst du hin? Um dieses Weib mach’ ich einen weiten, sehr weiten Bogen!« erklärte Beate mit Nachdruck.
Es hatte keinen Zweck, mit ihr weiter darüber zu diskutieren, Beate ließ sich von ihrer Meinung nicht abbringen. Luisa würde sich ihr nicht anschließen, und bestimmt würde es ihr in Zukunft leichter fallen, direkt neben Ingeborg Wolfs Büro, das nur mit einer verglasten Wand von ihrem Raum getrennt war, zu arbeiten.
»›Vier Hochzeiten und ein Todesfall‹?« Norbert blickte Luisa zweifelnd an. »Das klingt nicht eben nach einer vergnüglichen oder spannenden Geschichte.«
Luisa ließ sich nicht beirren. Sie stand mit ihrem Dauerfreund an der Kinokasse und bezahlte die beiden Tickets. Wenn es ums Bezahlen ging, dann war Norbert viel weniger Macho, als Luisa es manchmal gern gehabt hätte.
»Du hast gesagt, es sei mein Abend und meine Entscheidung«, wandte sich Luisa an Norbert. »Also lass bitte deine Kommentare, und schau dir den Film einfach an.«
»Ja, ist schon gut«, lenkte Norbert ein. »Ich weiß, dass ich dich in letzter Zeit vernachlässigt habe. Aber mein Job ist halt intensiv. Wenn ich weiterkommen will, muss ich Überstunden schieben, das gehört dazu.«
Als ob sie das nicht längst wüsste, dachte Luisa bitter. Sie war im Grunde froh, dass sie keine gemeinsame Wohnung hatten, denn so konnte sie sich wenigstens das Warten auf Norberts Heimkommen sparen.
Die Verabredungen, die sie trafen, hielt er meistens ein. Wenn ihm etwas dazwischenkam, rief er an. Auf diese Weise fühlte sich Luisa meistens als Single, und das gefiel ihr besser, als sie ihren Freunden gegenüber zugeben würde.
Hugh Grant mit seinem manchmal etwas vertrottelten Gesichtsausdruck war amüsant, Andie MacDowell als amerikanischer Männertraum umwerfend. Luisa gab Beate recht, dieser Film war sehenswert und unterhaltsam. Allerdings konnte sie sich bis zur Pause noch keinen Reim auf den im Titel erwähnten Todesfall machen, denn bis zu diesem Zeitpunkt wurde wacker geheiratet, und alle Gäste – es waren immer etwa die gleichen – schienen sich bester Gesundheit zu erfreuen.
»Gehen wir nachher zu dir oder zu mir?« riss Norbert Luisa aus ihren Überlegungen.
Diese Frage hatte sie vorausgesehen. Immerhin stand das Wochenende vor der Tür, da musste man als Paar schon ein bisschen mehr Zweisamkeit an den Tag legen als wochentags.
»Zu dir«, entschied Luisa, dann könnte sie gehen, wenn sie wollte.
Der Gong rief das Publikum in den Kinosaal zurück. Norbert ließ sich mit betont gelangweilter Miene in den Sessel fallen. Vielleicht hätte Luisa nicht auf einer romantischen Komödie bestehen sollen, sagte sie sich. Andererseits, wenn sie schon gefragt wurde – was selten genug vorkam –, musste sie sich doch für etwas entscheiden, was ihr gefiel.
Wenn Luisa allerdings auch nur ansatzweise geahnt hätte, wer in diesem Film an einem Herzstillstand sterben würde, hätte sie mit Sicherheit einen anderen Streifen gewählt. Ausgerechnet die eine Hälfte eines schwulen Pärchens verschied auf einer schottischen Hochzeitsparty.
Luisa fand die Trauerfeier sehr ergreifend, sie kämpfte gegen Tränen, doch sie wusste, dass Norbert neben ihr allmählich zu kochen begann. Der folgenden Diskussion über Homosexualität blickte Luisa mit gemischten Gefühlen entgegen.
Wie erwartet legte Norbert los, kaum dass sie den Kinotempel hinter sich gelassen hatten. »Der Film war ja streckenweise amüsant, aber dass sie unbedingt noch Schwuchteln einbauen mussten, finde ich völlig daneben!«
»Die Trauerfeier war doch schön. Könntest du dir passendere Worte vorstellen, um einen geliebten Menschen zu verabschieden, als die, die sein Freund gesprochen hat?« fragte Luisa.
Sie führten diese Diskussion nicht zum ersten Mal. Meistens schwieg Luisa, denn sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, bei Norbert um Toleranz zu werben. Alle, die nicht so waren, wie Norbert meinte, dass man zu sein hatte, verurteilte er. Als Einzelkind mit Hochschulabschluss, weit gereist, mit den richtigen Leuten auf Du und Du, glaubte er, die Weisheit mit der Muttermilch eingesogen zu haben.
»Du kennst meine Meinung«, brauste Norbert wie erwartet auf. »Schwule sind nicht normal! Die müsste man alle in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie stecken. Die ticken nicht richtig. Dass man ihnen in einem Film auch noch die Plattform bietet, ihre Krankheit bekanntzumachen, ist nicht nur verwerflich, falsch und unmoralisch, es ist im höchsten Maße gefährlich! Da glaubt man, eine Komödie zu sehen, und was ist es? Ein Werbefilm für Homos!«
»Du bist unglaublich intolerant! Woher nimmst du das Recht, Menschen zu verurteilen? Wer bist du, dass du bestimmst, was moralisch ist oder nicht?« Luisa ignorierte Norberts beschwichtigendes Gemurmel. Sie musste endlich ihre Meinung loswerden. Manchmal beschlich sie das Gefühl, mit Norbert den falschen Partner gewählt zu haben.
Luisa war noch längst nicht fertig. Sie sparte nicht mit Kraftausdrücken, die für Norbert nicht besonders schmeichelhaft waren. Während ihrer Tirade an die Adresse aller Ignoranten und selbstherrlichen Egozentriker stand ihr das Bild ihres ersten Freundes Armin vor Augen. Er hieß heute nicht mehr Armin, sondern Amanda, und schluckte täglich Hormone. Irgendwann würde er eine Sie sein . . .
Natürlich kannte Norbert Armins Leidensgeschichte nicht. Seinen hämischen Kommentar wollte Luisa nicht hören. Für Luisa aber hatte sich seit Armins Entscheidung ziemlich viel verändert. Sie hatte in ihrem Ex-Freund eine neue Freundin gefunden und ein Schicksal kennengelernt, das sie selbst zu ertragen nie imstande gewesen wäre.
»Lass uns nicht streiten«, bat Norbert.
Dass Luisa sich derart in ein Thema hineinsteigerte, hatte er noch nie erlebt. Seine Luisa war angepasst, nett und biegsam. Sie widersprach nur sehr selten, und ihre Argumente konnte er mit einem Lächeln unter den Tisch kehren. Er wusste, wie er mit seiner Freundin umgehen musste. In Gedanken beschloss Norbert, Luisa morgen einen Blumenstrauß zu kaufen, um sie zu versöhnen.
Inzwischen war das Paar vor Norberts Wohnhaus angelangt. Selbstredend logierte ein aufstrebender Architekt nicht in den Slums der Großstadt, sondern nannte eine Attikawohnung sein eigen.
Die Fortsetzung des Abends unterschied sich nicht von anderen, unzähligen, die Luisa und Norbert gemeinsam verbracht hatten. Er informierte sich mittels Fernseher über die sportlichen Ereignisse, die er verpasst hatte, während Luisa sich eine beruhigende Dusche gönnte. Anschließend trafen sich die beiden im Schlafzimmer.
Wie kann er nach einem Streit mit mir schlafen wollen? fragte sich Luisa. Sie hatte absolut keine Lust auf Sex, doch Norberts Avancen vermochte sie auch nicht abzuwehren.
Während er sie streichelte, zumindest nannte er sein Drücken, Reiben und Pressen so, überlegte Luisa wieder, ob sie mit diesem Mann eine gute Wahl getroffen hatte. Im Moment, dachte sie, musste sie diese Frage mit Nein beantworten.
Norbert hatte beschlossen, dass das Vorspiel zu Ende sei, nun kam der Hauptteil, der nicht wesentlich länger dauerte und in Luisa, wie üblich, kaum eine Reaktion auslöste. Das Nachspiel bestand aus einem Gähnen, einem Kuss, dem Satz: »Ich liebe dich!« und einem Tätscheln der Wange, das wahrscheinlich hätte zärtlich sein sollen. Dann drehte sich der erschöpfte Liebhaber um, und wenige Minuten später vernahm Luisa das gleichmäßige Schnarchen, das ihre Gedanken störte.
Endlich gehörte das Hämmern, Bohren und Rumpeln der Vergangenheit an. Beates kritischer Blick in Richtung des neu gestalteten Raumes sprach Bände.
»Die wird mit viel Trara einfahren«, prophezeite sie.
Luisa lächelte abwesend. Es interessierte sie nicht im geringsten, wie diese Ingeborg Wolf ihr Büro zu beziehen gedachte. Ihre Hirnwindungen waren im Moment damit beschäftigt, einen mitreißenden Slogan für eine Babyseife zu erfinden.
An diesem Montag tauchte keine Koordinatorin auf. Auch der Dienstag ging ereignislos vorüber.
»Wahrscheinlich muss sie sich von ihrem Wochenende erholen«, mutmaßte Beate bissig.
»Wieso? War etwas Besonderes los?« fragte Luisa irritiert.
Beate grinste wissend. »Nein, bei mir jedenfalls nicht, aber bei dem ausschweifenden Lebenswandel der Wolf liegt das ja wohl auf der Hand.«
»Du bist ungerecht«, wies Luisa ihre Kollegin zurecht. »Du hast von ihrem Leben so gut wie keine Ahnung, und trotzdem hackst du auf ihr herum.«
Beate tat den Einwand mit einem Achselzucken ab und widmete sich wieder ihren Bildern, die über den Monitor flackerten.
Als Luisa und Beate am Mittwoch auf die kreative Etage kamen, erkannten sie Ingeborg Wolfs charakteristisches Gesicht hinter der Glasscheibe. Die schwarzen, kurzen Haare standen in alle Richtungen von ihrem Kopf ab und verliehen der wild gestikulierenden Koordinatorin das Aussehen eines hektischen Igels.
Luisa fühlte, wie sich bei diesem Vergleich ein Lächeln auf ihr Gesicht stahl. In diesem Moment drehte sich Ingeborg, die in der einen Hand den Telefonhörer und in der anderen eine brennende Zigarette hielt, zu ihnen um. Sie winkte den beiden grüßend zu.
Beate drehte sich demonstrativ zur Seite, während Luisa den Gruß erwiderte.
»Ist denn das die Möglichkeit?« fauchte Beate. »Jetzt vernebelt sie mit ihren Zigaretten auch noch unsere Abteilung! Man sollte endlich ein generelles Rauchverbot erlassen. Zustände sind das!«
»Krieg dich wieder ein«, konterte Luisa, »schließlich dringt der Rauch ja nicht in unser Büro. Die Scheibe ist dicht, und zudem scheint Ingeborg nur bei weit geöffnetem Fenster zu arbeiten.«
»Ha! Jetzt vielleicht. Aber im Herbst, wenn’s draußen trübe wird, nass und kalt, dann wird sie die Tür zu ihrem Büro öffnen und das Fenster schön geschlossen halten.«
Luisa hob resigniert die Hände. »Beate, der Frühling hat noch längst nicht begonnen«, erklärte sie geduldig. »Draußen ist es nass und kalt – wie im Herbst –, und sie hat das Fenster geöffnet.«
Beate ging auf die Worte, die ihre Voraussage als böswillige Unterstellung entlarvten, nicht ein. »Sie ist unmöglich und absolut rücksichtslos«, behauptete sie giftig.
»Es hat keinen Sinn, mit dir über Ingeborg zu reden. Du verrennst dich in Vorurteilen, so dass du nicht mehr in der Lage bist, sie überhaupt kennenzulernen«, seufzte Luisa entnervt.
An diesem Morgen arbeiteten Luisa und Beate außergewöhnlich konzentriert. Ihre üblichen Gespräche und Neckereien blieben aus, auch die gemeinsame Pause fiel ins Wasser, weil Beate viel zu früh von ihrem Platz aufstand und in Richtung Cafeteria verschwand.
Beate war wortlos wieder an ihren Schreibtisch zurückgekehrt. Sie hämmerte auf der Tastatur ihres PCs herum, als handle es sich bei dem Gerät um einen persönlichen Feind. Ab und zu bedachte sie Luisa, die ebenfalls still arbeitete, mit einem Blick, der von Verachtung über Verständnislosigkeit bis zu herablassendem Mitleid alles bedeuten konnte.
Luisa ihrerseits reagierte nicht auf das ungewöhnliche Schweigen. Sie vertrat die Ansicht, dass es an Beate wäre, die Stille zwischen ihnen aufzuheben.
Irgendwann entschied sie sich, ihre zwanzig Minuten Pause einzulegen und verließ mit einem angedeuteten Kopfnicken das gemeinsame Büro.
Wieso musste sich Beate bloß so stur anstellen? War vielleicht doch etwas dran an den Gerüchten, die sich um Ingeborg rankten?
Luisa schenkte sich einen Kaffee ein, goss reichlich heiße Milch in die schwarze Brühe und griff nach einem der wie üblich etwas zu stark gebackenen Brötchen.
Enttäuscht registrierte sie, dass ihr Stammplatz am Fenster heute schon besetzt war. Ein schwarzbehaartes Haupt neigte sich über eine Zeitung, neben der eine Zigarette vergessen im Aschenbecher vor sich hin qualmte.
Das warme Gefühl der Freude, das Luisa beim Anblick von Ingeborg durchströmte, überraschte sie. Sie schlängelte sich zwischen den Plastikstühlen hindurch und trat an den Tisch.
»Ich störe doch nicht?« fragte sie mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht, ehe sie sich setzte.
Ingeborgs Kopf schoss nach oben, sie reckte ihr Kinn kämpferisch nach vorn, doch dann, nach einem Moment der Unentschlossenheit, schüttelte sie den Kopf und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.
»Eigentlich ungenießbar, dieser Kaffee«, begann Luisa die Unterhaltung, »und doch mache ich täglich den Fehler, mir einen zu nehmen.«
Ingeborg erwiderte nichts. Allmählich begann sich Luisa etwas unwohl zu fühlen. Die Koordinatorin taxierte sie mit ihren dunklen Augen, die fast schwarz wirkten, und wartete offenbar auf die Fortsetzung des Exkurses über die nicht sonderlich kreative Verpflegung in der Cafeteria.
Luisa hatte das Gefühl, sich unter dem prüfenden und, wie ihr schien, amüsierten Blick der anderen aufzulösen, deshalb wechselte sie das Thema.
»Wir arbeiten doch schon eine Weile in dieser Bude, und trotzdem sind wir einander noch nie wirklich begegnet«, versuchte sie sich auf einem anderen Terrain. »Ich bin Luisa Schaefer und arbeite als Werbetexterin.«
Ingeborg nickte. Sie inhalierte den Rauch ihrer Zigarette, mit der sie gedankenverloren gespielt hatte, dann drückte sie den Sargnagel aus.
»Ich weiß, wer Sie sind, und auch, wie Sie heißen«, antwortete sie endlich. »Schließlich war ich noch in der Personalabteilung tätig, als Sie eingestellt wurden.«
»Oh, das wusste ich nicht«, entschlüpfte es Luisa. Sie errötete und beschloss, nichts mehr zu sagen.
»Aber man muss nicht dort gearbeitet haben, um zu wissen, wer hier wer ist«, fuhr die Stimme, die ebenso dunkel klang wie die Augen leuchteten, fort. »Und darum ist es unnötig, dass ich mich Ihnen vorstelle.«
Ja, schon, dachte Luisa, trotzdem wäre das doch genau der richtige erste Schritt gewesen, um sich kennenzulernen.
Die andere zeigte jedoch nicht das geringste Interesse an einer Bekanntschaft, sondern widmete sich wieder ihrer Zeitung.
Wieso ging sie nicht einfach? Sie könnte aufstehen, den Kaffee stehenlassen und in ihr Büro zurückkehren. Eine Luisa Schaefer hatte es nicht nötig, sich aufs Abstellgleis schieben zu lassen, sagte sie sich. Trotzdem blieb sie sitzen, betrachtete die Frau gegenüber, die ihre Anwesenheit bereits wieder vergessen hatte.
Der Haarfarbe hatte Ingeborg nachgeholfen, vermutete Luisa, denn an den Schläfen entdeckte sie einzelne graue Strähnchen, die der Tönung entkommen waren. Die Stirn wirkte durch die wilde Frisur ziemlich hoch. Ob die Falten zwischen den Augenbrauen, die auf die kurze Distanz gut zu erkennen waren, von Sorgen herrührten?
Um die mandelförmigen Augen scharten sich viele kleine Fältchen, ansonsten war die Haut, die sich über die hohen Wangenknochen spannte, glatt und leicht gebräunt. Solarium, dachte Luisa. Die Nase, gerade und markant, lenkte Luisas Blick hinab zu den vollen Lippen. Sinnlich, dachte Luisa, doch sie korrigierte sich im gleichen Moment. Die Lippen, die auch ohne Hilfe von Lippenstift rot schimmerten, waren einfach von Natur aus leicht geschwungen und sahen einladend weich aus.
Wahrscheinlich setzte Ingeborg ebendiese Lippen auf ihren Eroberungszügen als Waffe ein. Bestimmt mit großem Erfolg, schloss Luisa, denn zusammen mit dem geheimnisvollen Dunkel ihrer Augen musste dieser Mund auf Männer eine geradezu betörende Wirkung ausüben. Sinnlich, geheimnisvoll, erfahren und auch eine Prise gefährlich, entschied Luisa.
Außer den breiten, geraden Schultern und den Armen, die ebenfalls nicht sehr schwächlich wirkten, konnte Luisa zu ihrem Bedauern nichts von Ingeborgs Körper erkennen. Da sich das Objekt ihrer Beobachtung über die Zeitung gebeugt hatte und leider anstelle einer Bluse auch noch eines dieser modernen Shirts mit kleinem Stehkragen trug, ließ sich noch nicht einmal der Brustumfang abschätzen. Dieses Kriterium war nicht unerheblich für Männer, erinnerte sich Luisa.
Sie selbst konnte mit ihrem Busen zufrieden sein, nicht zu groß und nicht zu klein für ihren Geschmack, doch Norbert hatte ihr vorgeschlagen, eine Vergrößerung in Betracht zu ziehen. Er fand große Brüste umwerfend. Luisa hatte ihm geraten, sich mit Dolly Buster in Verbindung zu setzen und war verletzt aus seiner Wohnung gestürmt. Natürlich lag die Geschichte, die nie wieder angesprochen wurde, schon lange zurück, doch Luisa erinnerte sich noch immer mit einem Gefühl der Scham daran.
In ihre Gedanken versunken hatte Luisa nicht bemerkt, wie Ingeborg ihre Lektüre unterbrochen hatte. Sie saß nur da und trommelte leise mit den Fingern auf die zerkratzte Tischplatte.
Das unregelmäßige Geräusch holte Luisa in die Cafeteria zurück. Ehe sie schon wieder errötete, suchte sie schnell nach einem unverfänglichen Thema, das sich für eine solche doch eher ungewöhnliche Situation eignete. Ihr Blick fiel auf die aufgeschlagene Zeitung.
»Sie gehen ins Kino?« fragte sie, als sie die Seite mit den Filmtipps erkannte.
»Ab und zu«, antwortete Ingeborg ausweichend.
»Kürzlich habe ich mit meinem Freund ›Vier Hochzeiten und ein Todesfall‹ gesehen. Kennen Sie den?« fuhr Luisa fort.
Ihr fiel es schwer, Ingeborg zu siezen, doch das Du schien ihr nicht angebracht, schließlich war die andere die ältere und arbeitete schon länger bei Creativ Work.
»Hm, ja, aber ich habe ihn schon vor ein paar Jahren gesehen«, erwiderte die Koordinatorin.
»Ja, es war ja auch eine Reprise«, sagte Luisa. Froh, endlich Antworten zu erhalten, wollte sie das Gespräch über die Hochzeiten und den bedauerlichen Todesfall vertiefen.
»Mein Freund und ich waren uns nicht ganz einig, was den Film betrifft. Er meinte, es sei Zeitverschwendung, solche Geschichten zu verfilmen«, nahm Luisa das Gespräch wieder auf.
»Hat Ihr Freund«, fragte Ingeborg mit einem amüsierten Klang in der Stimme, »auch einen Namen?«
»Wie?« Luisa errötete nun doch.
»Ihr Freund«, half Ingeborg nach, »wie heißt er?«
»Ach so! Norbert«, erklärte Luisa peinlich berührt. Sie hatte im Moment wirklich nicht gewusst, was sie antworten sollte.
»Und weshalb fand er den Film überflüssig?« erkundigte sich ihr Gegenüber.
»Vielleicht war er für seinen Geschmack zu romantisch? Das Ende schien ihm nicht zu passen, denn da wurde ja nicht mehr geheiratet«, sagte Luisa.
»Romantik!« Ingeborg ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. »Romantik ist nichts für Männer«, erklärte sie dann. »Solche, sagen wir mal: Emotionen sind in der genetischen Struktur eines Mannes nicht vorhanden.«
Sie unterbrach sich und musterte Luisa erneut. Ihre Augen funkelten stärker als beim ersten Mal.
»Aber warum gefiel ihm der Schluss nicht?« fragte sie. »Wenn ich mich richtig entsinne, bleiben die beiden Hauptdarsteller doch zusammen und haben sogar ein Kind?«
»Ja, schon, nur waren sie eben nicht verheiratet«, versuchte Luisa Norberts Reaktion zu begründen. »Mein Freund ist nämlich der Ansicht, dass man nach einer gewissen Anzahl Jahre eine Beziehung legitimieren sollte, und das bedeutet, dass man heiratet.«
»Sehen Sie das auch so?« erkundigte sich Ingeborg mit einem Anflug von Interesse.
»Ich weiß nicht«, wich Luisa aus, »eher nicht. Irgendwie müsste es doch noch einen anderen Grund geben als die Anzahl Beziehungsjahre.«
»Und der wäre?«
Macht sie sich jetzt lustig über mich? Luisa wollte das Gespräch nicht auf diese Weise führen. Sie hatte über den Film reden wollen und nicht über ihre Heiratsabsichten.
»Gefühle!« antwortete sie nun doch. Ihre Stimme klang trotzig. Sollte die Wolf sie doch für hoffnungslos romantisch und naiv halten. Was spielte diese Meinung in ihrem Leben schon für eine Rolle?
»Das sehe ich auch so«, vernahm Luisa die dunkle Stimme. Beinahe hätte sie sich an ihrem kalten Kaffee verschluckt. Ingeborg Wolf teilte ihre Ansicht?
»Sie entschuldigen mich.« Die Koordinatorin faltete die Zeitung zusammen und stand auf. »Ich sollte zurück an die Arbeit. Sicher klingelt das Telefon mit dem Fax um die Wette, und die Mailbox ist kurz vor dem Kollaps.« Mit einem freundlichen Lächeln drehte sie sich um und ging davon.
Luisa blieb sitzen. Sie ließ sich diese seltsame Begegnung mit dieser überraschenden Frau noch einmal durch den Kopf gehen.
Was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht, als sie sich unaufgefordert an ihren Tisch gesetzt hatte? Was hatte sie erwartet? Vielleicht, dass die Wolf ihr versicherte, kein Vamp zu sein? Dass sie ihr gestanden hätte, wie einsam sie sich manchmal fühlte, wie unverstanden?
Luisa lachte über sich selbst. Nein, dachte sie, eine Frau wie Ingeborg Wolf legte niemals ihre Gedanken und Gefühle vor einer anderen auf den Tisch. Vor allem würde sie sich ganz bestimmt hüten, mit jemandem aus dieser Firma über mehr als das Wetter und das Kinoprogramm zu sprechen. Sie fragte andere aus, okay, Luisa hatte das gleiche ja auch versucht, doch die Wolf gab keine Antworten.
Ob diese Frau überhaupt jemanden an sich heranließ, ob sie eine gute Freundin hatte? Bestimmt musste sie auch manchmal über die Dinge, die sie ärgerten und die, die sie freuten, reden können. Wer war dann für sie da?
Luisa erhob sich von ihrem Stuhl. Die Pause hatte sie längst überzogen, doch das kümmerte sie wenig. Wichtiger war die Frage, weshalb sie sich überhaupt Gedanken über das seelische Wohlbefinden einer Person machte, die sie nicht kannte und die auch keinen Wert darauf zu legen schien, dass sie einen sympathischen Eindruck bei anderen hinterließ.
Widerstand hatte Luisa in ihrem Leben nie mit dem Begriff ›unmöglich‹ gleichgesetzt. Wenn etwas nicht so funktionierte, wie sie es sich vorstellte, sah sie das als eine Herausforderung an, vor der sie so gut wie nie kapitulierte. Diese Haltung hatte ihr mehr als einmal nicht nur Gutes beschert, oft bestand ihr einziger Erfolg darin, sich sagen zu können: »Wenigstens habe ich es versucht.«
Ingeborg Wolf stellte für Luisa eine solche Herausforderung dar. Sie widersetzte sich standhaft allen Versuchen, sie, ihr Leben und ihre Gedanken näher kennenzulernen. Sie hielt offensichtlich nichts von kollegialem Smalltalk, und die Seelenmassage einer selbsternannten Freundin hatte sie offenbar überhaupt nicht nötig.
Trotz der manchmal offen zutage tretenden Abwehr ließ sich Luisa nicht von ihrem Ziel abbringen. Sie verbrachte in den folgenden beiden Wochen jede Pause mit Ingeborg und löcherte sie mit Fragen, auf die sie keine oder nur sehr ausweichende, allgemeine Antworten erhielt. Sprachen sie jedoch über alltägliche Begebenheiten, verblüffte Ingeborg Luisa mit ihren Witzen, mit der feinen Ironie, die Luisa sehr zu schätzen begann. Alles in allem schien die Wolf mit Intelligenz und einem zum Teil gewöhnungsbedürftigen Sinn für Humor gesegnet zu sein, der aber Luisa sehr gefiel.
Luisas Bemühungen blieben ihrer Bürogenossin Beate nicht lange verborgen. Sie reagierte mit Verärgerung und Vorwürfen. Sie fühlte sich in die Ecke gestellt, doch auch davon ließ sich Luisa nicht beirren.
»Niemand schreibt mir vor, wann und mit wem ich meine Kaffeepause verbringe«, erklärte sie Beate freundlich.
»Du hängst dauernd mit dieser Wolf herum. Es wird schon geredet, sie hätte dich infiziert«, gab Beate bedeutend weniger freundlich zurück.
Erstaunt fuhr Luisas rechte Augenbraue nach oben. »Infiziert?« erkundigte sie sich. »Womit denn? Mit dem Erfolgsvirus?«
»Quatsch!« schnaubte Beate ungehalten. »Mit ihrer Lebenseinstellung. ›Nimm dir, was du kriegen kannst und schau ja nicht, ob du jemandem damit schadest!‹«
»Oh«, machte Luisa, »du kennst ihre Lebenseinstellung? Da bist du tatsächlich wesentlich besser informiert über sie als ich, obwohl ich mich bemühe, sie kennenzulernen.«
»Ich warne dich, Schäfchen«, Beate setzte ihren mütterlich besorgten Blick auf, »halte dich von ihr fern. Diese Frau bedeutet nur Ärger, großen Ärger.«
»Und ich mache dir einen Vorschlag, Beate«, erwiderte Luisa lächelnd, »du setzt dich einfach mal zu uns in der Pause und machst dir selbst ein Bild von Ingeborg. Ich versichere dir, dass da keine Viren oder Bazillen mit schädlichen Wirkungen umherfliegen.«
»Nie im Leben!« fauchte Beate. »Du wirst schon noch sehen, was du davon hast! Eines schönen Tages wirst du unsanft aus deinem menschenfreundlichen Höhenflug abstürzen.«
Norbert stoppte seinen VW Golf mit quietschenden Reifen. Um ein Haar hätte er den dunklen BMW gerammt, der vor der Treppe des Schaefer-Wohnhauses parkte.
»Schau an, der Herr Lebemann ist schon da«, feixte er.
»Tatsächlich, das hätte ich nicht gedacht«, meinte Luisa, die ihr über die Schultern fallendes blondes Haar wieder in die ursprüngliche Form zu zupfen versuchte.
Sie mochte es nicht, wenn Norbert die Landstraße, die aus der Stadt hinaus zum Wohnort ihrer Eltern führte, als Rennstrecke missbrauchte. Die angeberischen Manöver, mit denen ihr Freund am Ende einer solchen Überlandrallye sein Gefährt parkte, passten ihr noch viel weniger, da sowohl ihr Aussehen als auch ihr Magen darunter litten.
Norbert ließ den Motor noch einmal aufheulen, dann drehte er endlich den Zündschlüssel um und brachte das Auto zum Schweigen.
Mit einem neidischen Seitenblick auf den eleganten Wagen seines Fast-Schwagers knurrte er: »Manuel ist mit seinen vierzig Jährchen wohl schon etwas gebrechlich. Jedesmal stellt er seine Karre direkt vor die Treppe und blockiert den ganzen Platz.«
»Ach was, deinen Golf kannst du doch in der kleinsten Lücke parken«, verteidigte Luisa ihren Bruder und beging dabei den unverzeihlichen Fehler, Norberts fahrbaren Untersatz zu verniedlichen.
Sie grinste etwas schadenfroh. »Wenn wir zuerst angekommen wären, hättest du dein Auto auf diesem Platz abgestellt.«
Ohne auf das wütende Protestgemurmel einzugehen, stieg Luisa aus. Sie fischte das Paket vom Rücksitz und wartete, bis Norbert die Bügelfalten seiner Hose zurechtgestreift hatte. Norbert gab sich immer die größte Mühe, Manuel wenigstens mit seiner äußeren Erscheinung zu übertrumpfen, da er ihm karrieremäßig unterlegen war.
Bestimmt hatten ihre Eltern ihr Ankommen gehört, dachte Luisa ungeduldig, sie werden sich fragen, wo wir so lange bleiben.
Sie wusste, dass sich ihre Mutter mit Vorliebe eine heiße Kuss-Szene im Auto vorstellte, und dieser Gedanke behagte Luisa gar nicht. In letzter Zeit waren solche Szenen – mit oder ohne Auto – sowieso sehr selten, viel öfter lagen sie sich in den Haaren und stritten über Kleinigkeiten. Luisa stellte fest, dass die Sympathie, mit der sie Norbert zu begegnen pflegte, allmählich, aber stetig abnahm. Immer häufiger suchte sie nach Ausreden, um sich nicht mit ihm zu treffen, denn ihre Rendezvous langweilten sie, da sie absolut vorhersehbar waren, sie liefen immer nach dem gleichen Muster ab, und immer blieb in Luisa ein schales Gefühl zurück. Hatten sie sich überhaupt noch etwas zu sagen? fragte sie sich.
»Kinder, da seid ihr ja endlich!« Die Stimme von Luisas Mutter überschlug sich fast vor Begeisterung.
Sie eilte die Treppe herab und umarmte ihre einzige Tochter. Norbert bekam das obligatorische Küsschen auf die Wange, ehe Frau Schaefer die Gäste unter andauerndem Redefluss ins Haus führte.
Linus, Luisas Vater, der heute Geburtstag feierte, und Manuel saßen im Wohnzimmer und schienen bereits mehr als einmal auf das Wiegenfest angestoßen zu haben.
Nachdem die Gratulationen und Geschenke – Utensilien für Linus’ liebstes Hobby, das Grillen – an den Mann gebracht worden waren, tauschte man die familieninternen Neuigkeiten aus.
Luisa registrierte mit Erstaunen, dass ihr Bruder wieder einmal abgenommen hatte. Ob da eine neue Frau im Spiel war? Sein Job als Leiter einer Bankfiliale verlangte das wohl nicht. Überhaupt sah er ganz gut aus, besser noch als kurz vor seiner Scheidung, als er regelmäßig mit einer jungen Rothaarigen die Bars unsicher gemacht hatte.
»Was machen Kevin und Steven?« fragte Luisa.
»Denen geht’s gut. Sie halten Maren ziemlich auf Trab, aber ich habe leider«, hier lächelte Manuel sein Macholächeln, »nicht sehr viel Zeit, mich um meinen Nachwuchs zu kümmern.«
Luisa bedauerte im stillen ihre Ex-Schwägerin, die auf ihren Bruder hereingefallen war und nun mit der Sorge um die gemeinsamen Kinder alleingelassen wurde.
Es dauerte nicht lange, und Familie Schaefer mit Anhang machte sich auf den Weg zu dem rustikalen Gasthof, in dem das Fest gefeiert werden sollte. Im Lindenhof wartete bereits die restliche geladene Verwandtschaft, um Linus zu seinem Fünfundsechzigsten zu gratulieren.
Es wurde ein feuchtfröhlicher Abend. Alles tanzte und lachte, die Welt war rund und drehte sich, und das war gut so – Luisa langweilte sich fast zu Tode.
Ihre Mutter aber brachte das Fass zum Überlaufen, als sie beim Dessert fragte, wann sie endlich zu Luisas Hochzeit eingeladen werden würde.