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Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Die beiden sind echte Identifikationsfiguren. Dieses klare Konzept mit seinen beiden Helden hat die zu Tränen rührende Romanserie auf ihren Erfolgsweg gebracht. "Regine, du hast bei deinen enthusiastischen Berichten über Sophienlust wirklich nicht übertrieben. Wenn Frau von Schoenecker nichts dagegen hätte, würde ich gern noch den Rest meines Urlaubes hierbleiben." Renate Hagen, fünfundzwanzig Jahre alt, mit auffallend schönen braunen Augen und dunklen Haaren, wandte sich ihrer langjährigen Freundin zu, die hier nach dem Tod ihres Mannes und ihrer kleinen Tochter Elke eine zweite Heimat gefunden hatte. "Nun kann ich auch verstehen, weshalb du nicht am Leben verzweifelt bist", fügte sie nach einer Weile leiser hinzu. "Am meisten hat mir Frau von Schoenecker geholfen. Ohne sie hätte ich nicht die Kraft aufgebracht, weiterzuleben.
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Seitenzahl: 150
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»Regine, du hast bei deinen enthusiastischen Berichten über Sophienlust wirklich nicht übertrieben. Wenn Frau von Schoenecker nichts dagegen hätte, würde ich gern noch den Rest meines Urlaubes hierbleiben.«
Renate Hagen, fünfundzwanzig Jahre alt, mit auffallend schönen braunen Augen und dunklen Haaren, wandte sich ihrer langjährigen Freundin zu, die hier nach dem Tod ihres Mannes und ihrer kleinen Tochter Elke eine zweite Heimat gefunden hatte. »Nun kann ich auch verstehen, weshalb du nicht am Leben verzweifelt bist«, fügte sie nach einer Weile leiser hinzu.
»Am meisten hat mir Frau von Schoenecker geholfen. Ohne sie hätte ich nicht die Kraft aufgebracht, weiterzuleben. Es ist eine lohnende Aufgabe, für Kinder zu sorgen«, erklärte Schwester Regine.
»Die Kinder hier sind ganz anders als anderswo. Bisher ist noch keines in meiner Gegenwart ausfallend geworden. Als Krankenschwester komme ich mit vielen Menschen zusammen und auch mit unzähligen Kindern. Leider habe ich die bittere Erfahrung gemacht, dass gerade Kinder einem das Leben vergällen können.«
»Wenn Kinder so sind, dann liegt es nur an ihrer Umgebung«, meinte die Kinderschwester von Sophienlust. »Kein Kind ist von Natur aus wirklich böse. Jedes Kind sehnt sich nach Liebe und Verständnis.«
»Beides wird den Kindern hier zuteil«, stellte Schwester Renate fest. Dabei steckte sie ihr volles dunkles Haar vor dem Spiegel auf. »Hier in Sophienlust wäre ich ganz gern Kinderschwester geworden.« Sie warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel. »Ich glaube, ich habe hier schon zugenommen«, erklärte sie mit einem Seufzer. »Eure Köchin kocht viel zu gut. Ab heute muss ich mich mit dem Essen ein wenig zurückhalten. Ich neige nun mal dazu, schnell zuzunehmen.«
»Als du in Sophienlust ankamst, sahst du sehr elend aus, Renate. Im übrigen bist du keineswegs zu dick«, bemerkte Schwester Regine fröhlich. »Und außerdem wirst du die überflüssigen Kilos bei deinem anstrengenden Beruf schnell wieder verlieren.«
»Wenn ich noch hierbleiben darf, dann liegen noch herrliche Wochen vor mir. Ich werde Nicks Angebot, reiten zu lernen, doch akzeptieren.«
»Das würde ich an deiner Stelle auch tun. Nun müssen wir aber nach unten gehen. Es gongt bereits das zweitemal zum Abendessen.«
Schwester Regine fuhr sich noch einmal ordnend durch ihr blondes Haar und verließ dann zusammen mit ihrer Freundin Renate das hübsche Gastzimmer.
Die Kinder saßen bereits an den Tischen, als die beiden den Speisesaal betraten. Das Hausmädchen Ulla und die alte Lena servierten eben das Abendbrot. Es gab Hammelragout mit grünen Bohnen, ein Gericht, das bei den Kindern sehr beliebt war.
Auch Dominik von Wellentin-Schoenecker, genannt Nick, der zukünftige Besitzer von Sophienlust, nahm an diesem Abendessen teil. Ebenso sein siebenjähriger Bruder Henrik, das Nesthäkchen der Familie von Schoenecker. Während Nick vorhatte, auch in Sophienlust zu übernachten, sollte Henrik nach dem Abendessen mit seiner Mutter, Denise von Schoenecker, nach Schoeneich zurückfahren. Doch darüber war der Junge gar nicht erfreut. Er beneidete Nick glühend um das Zimmer, das er hier hatte, und wünschte sich sehnlichst, in Sophienlust ebenfalls ein Zimmer zu bekommen. Doch davon wollten seine Eltern nichts wissen.
Lustlos stocherte Henrik in seinem Essen herum.
»Ich fahre heute ganz einfach nicht nach Hause«, rief er entschlossen.
»Dann fahre ich mit deiner Mutti mit«, erwiderte die vierjährige Heidi Holsten sofort erfreut. »Bestimmt nimmt mich Tante Isi mit.«
»Das glaube ich kaum.« Henrik funkelte das kleine Mädchen an. »Mutti wird nicht mit dem Tausch einverstanden sein«, fügte er eifersüchtig hinzu.
Schwester Regine lachte. »Henrik, du bist mir einer. Du möchtest über Nacht in Sophienlust bleiben, aber dass Heidi an deiner Stelle deine Mutti nach Schoeneich begleitet, das passt dir auch nicht.«
»Heidi könnte dir doch ihr Bett überlassen«, schlug Pünktchen, ein reizendes zwölfjähriges Mädchen, fröhlich vor. »Und Heidi schläft dafür in deinem Bett in Schoeneich.«
»Dann fahre ich lieber mit«, erklärte der siebenjährige Henrik kategorisch. »Ich …«
Ein ohrenbetäubender Knall unterbrach ihn. Einen Moment hatten alle das Gefühl, in einem schwankenden Boot zu sitzen. Ein Krachen und Bersten ertönte, Fensterscheiben zersplitterten. Die Kinder schrien und sprangen auf. Die Erwachsenen aber waren alle bleich geworden. Mit angehaltenem Atem lauschten sie.
Nick fand als erster die Sprache wieder. »Irgendwo hier ganz in der Nähe ist etwas explodiert. Es war ganz bestimmt eine Explosion.«
Heidi weinte laut, während Henrik angstvoll die Hand seines großen Bruders umklammerte. Die größeren Kinder versuchten die kleineren zu beruhigen, denn die Kleinen stimmten nun in Heidis Weinen ein.
»Ihr bleibt auf alle Fälle im Haus«, bestimmte Frau Rennert, die Heimleiterin. Sie war nach dem Knall sofort in den Speisesaal gekommen.
»Ich muss aber hinaus!«, erklärte Nick. »Nein, Pünktchen, du nicht!«, rief er seiner kleinen Freundin zu.
Aber die großen Kinder ließen sich durch nichts zurückhalten. Sie drängten trotz der Ermahnungen der Heimleiterin zur Tür hinaus. Auch Schwester Renate war dabei. Als Krankenschwester wollte sie ihre Hilfe anbieten, falls es Verletzte geben sollte.
Schwester Regine hatte Mühe, die kleineren Kinder im Haus zu halten. Frau Rennert und die Köchin Magda unterstützten sie dabei. Mit vereinten Kräften gelang es den Erwachsenen schließlich, die aufgeregten Kinder zu beruhigen.
Währenddessen standen einige Erwachsene und die großen Kinder aufgeregt vor der Freitreppe des Herrenhauses von Sophienlust. Es war noch taghell. Alle rätselten herum, was geschehen sein könnte, als der alte Justus außer Atem angelaufen kam. Er musste erst mehrmals nach Luft schnappen, bevor er reden konnte. »Ein Flugzeug ist abgestürzt. Ganz in der Nähe. Auf der Wiese zwischen Wildmoos und Bachenau. Ich glaube, keiner hat das Unglück überlebt.« Er fuhr sich mit seinem großen grünen Taschentuch über die schweißnasse Stirn.
»Entsetzlich«, flüsterte Nick. »Das Flugzeug hätte auch auf Sophienlust oder Schoeneich fallen können.«
»Oder auf eines der Häuser in Wildmoos. Wäre es direkt über Wildmoos abgestürzt, wäre noch mehr geschehen«, überlegte Irmela Groote, ein vierzehnjähriges Mädchen.
»Nicht auszudenken, was dann geschehen wäre«, pflichtete Pünktchen ihr bei. Dabei fasste sie wie hilfesuchend nach Nicks Hand.
Alle liefen nun zu der großen Wiese.
Kurz darauf trafen auch Denise und Alexander von Schoenecker am Unfallort ein.
Denise wurde totenblass beim Anblick der Flugzeugtrümmer, die weit verstreut herumlagen.
»Alexander, das ist doch kein Anblick für die Kinder«, sagte sie erregt. »Schick sie nach Hause. Ich kann es nicht.«
»Ich bin der Meinung, dass sie dableiben sollten, Denise. Es sind ja nur die großen Kinder hier. Vielleicht können sie irgendwie helfen.«
»Pünktchen ist doch erst zwölf. Mein Gott, die armen Menschen!«, rief Denise erschüttert.
»Da kommen die ersten Rettungswagen. Und auch die Polizei. Ich bin fast sicher, dass niemand das Unglück überlebt hat«, meinte Alexander leise.
Pünktchen begann laut zu schreien, als sie einen der toten Passagiere erblickte. Denise war froh, dass sie nun einen plausiblen Grund hatte, den schaurigen Platz zu verlassen. »Sei ruhig, mein Kleines, ganz ruhig«, redete sie dem Mädchen zu.
Alexander hielt es nun doch für besser, alle Kinder nach Hause zu schicken. Sie folgten Denise und Pünktchen ohne Widerspruch. Nur Nick blieb noch da. Ebenso Renate Hagen. Sie hoffte, dass doch einige Passagiere das Unglück überlebt hatten. Obwohl sie als Krankenschwester abgehärtet war, drehte sich ihr fast der Magen um, als sie mit den Rettungsmannschaften nach Überlebenden suchte. Leichenteile wurden auf die bereitstehenden Bahren gelegt.
»Es wird schwer sein, die Verunglückten zu identifizieren«, erklärte Frau Dr. Frey, die ganz grün im Gesicht war. »So etwas habe ich noch niemals …«
»Kommen Sie schnell!«, rief Schwester Renate in diesem Augenblick aufgeregt. »Hier ist eine Überlebende. Kommen Sie schnell!« Sie blickte wie gebannt auf eine junge rothaarige Frau, die halb unter einem Wrackteil lag und laut stöhnte. »Help me! Help me!«, rief sie dann.
Kurz darauf lag die Verunglückte auf einer Trage. Sie wurde in Eile zu einem Rettungswagen getragen und dort von Frau Dr. Anja Frey versorgt.
Renates Hoffnung, noch weitere Überlebende zu finden, wuchs. Sie hatte ihren Schwächeanfall nun überwunden und dachte nur noch daran, dass hilflose Menschen ihre Hilfe benötigten. Als sie Frau Dr. Frey sagte, sie sei Krankenschwester, war diese ihr unendlich dankbar für die fachmännische Hilfe.
Tapfer stieg Renate über Wrackteile und zerfetzte Gepäckstücke, über Handtaschen und Kleidungsstücke und über ein totes kleines Mädchen hinweg, das einen großen Teddybären im Arm hielt. Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie die großen dunklen Kinderaugen zudrückte. »Schlaf gut, mein Kleines«, flüsterte sie ergriffen und ging schnell weiter, weil sie wusste, dass man sie brauchte.
Bis in die Nacht hinein suchte man mit Scheinwerfern nach Überlebenden. Nick und sein Stiefvater Alexander von Schoenecker blieben bis zuletzt da, genau wie Renate Hagen.
Als die Uhren von den Kirchtürmen der Umgebung Mitternacht schlugen, hatte man zwanzig Schwerverletzte gerettet. Erschöpft fuhr sich Renate über die Stirn. Sie taumelte ein wenig, als sie, geführt von Alexander von Schoenecker, zum Wagen ging. »Ich habe das Gefühl, einen wüsten Traum zu haben«, flüsterte sie und überließ sich dann ihren Tränen.
»Man hat nur ein Kind gefunden. Die Chartermaschine war hauptsächlich von Frauen besetzt. Es war ein Ferienflug nach dem Engadin. Es sollen Mütter aus dem gleichen Ort gewesen sein«, erzählte Nick.
»Mein Gott, wie furchtbar. Wie viele Familien werden davon betroffen sein?« Renate trocknete ihre brennenden Lider. »Wie viele Kinder werden ihre Mütter, wie viele Männer ihre Frau verloren haben?« Sie schluchzte auf.
»Vati, ein Teil unserer Bäume wurden wie Streichhölzer geknickt«, fuhr Nick fort. Auch er konnte nur schwer seine große Erregung verbergen. Er hatte das Gefühl, diesen entsetzlichen Anblick sein Leben lang nicht mehr vergessen zu können. Besonders nicht das tote kleine Mädchen mit dem großen Teddybären im Arm.
Alexander war froh, als sie Sophienlust erreichten. Die Kinder schliefen schon, aber keiner der Erwachsenen hatte es über sich gebracht, zu Bett zu gehen. Sie hatten sich in der Halle versammelt und sprachen dort über das Unglück.
Als Denise Nicks graues Gesicht sah, ging sie ihm entgegen und legte ihren Arm um seine Schultern. »Komm, mein Junge, du musst schleunigst ins Bett.«
Nick sah sie dankbar an. Es wurde ihm kaum bewusst, dass seine Mutter ihn die Treppe hinaufführte.
»Mutti, es war entsetzlich«, flüsterte er, als sie ihm beim Ausziehen half. Zu jeder anderen Zeit hätte er sich geweigert, sich von ihr helfen zu lassen. In diesem Moment war er froh, dass sie bei ihm war. Und dann hatte er plötzlich einen merkwürdigen Druck im Hals und spürte ein Ziehen im ganzen Körper.
Denise war auf seinen Nervenzusammenbruch gefasst gewesen. Als er zu schluchzen anfing, nahm sie ihn ganz fest in die Arme.
Es dauerte lange, bis Nick ruhiger wurde. »Nicht wahr, Mutti, du sagst keinem, dass ich plötzlich wie ein kleines Kind weinen musste«, bat er später. »Auch Vati soll es nicht wissen.«
»Ich verspreche es dir, mein Junge. Aber du brauchst dich deiner Tränen nicht zu schämen. Auch Männer weinen noch. Ich bin gleich wieder da«, sagte sie leise.
Nick lag in seinem Bett und blickte zur Decke empor, auf der nun die grausigen Bilder wieder lebendig wurden. Er schlug die Hände vor die Augen, aber die Bilder blieben. Sie schienen sich mehr und mehr in seinem Kopf auszubreiten. Verzweifelt warf er sich hin und her und vergrub sein Gesicht im Kopfkissen.
»So, Nick, das wird dir guttun«, sagte Denise zärtlich und strich ihm über das schwarze Haar. »Da, nimm die beiden Tabletten. Danach wirst du wie ein Murmeltier schlafen.«
»Danke, Mutti.« Nick setzte sich auf. »Ich könnte sonst bestimmt nicht schlafen.« Er nahm die Tabletten ein. Dann fuhr er fort: »Aber ich habe helfen können. Ich wünsche mir nur noch, dass alle Verletzten durchkommen.«
»Das hoffe ich auch, Nick. Soll ich noch bei dir bleiben?«
»Das wäre nett, Mutti. Wo ist Henrik?«
»Er schläft bei Heidi im Zimmer. Auf diese Weise kann er mal eine Nacht in Sophienlust übernachten.«
»Mutti, ich …« Nick konnte nicht weitersprechen. Er hatte plötzlich das Gefühl, dass seine Zunge ihm nicht mehr gehorchte. Er spürte noch, dass sich seine inneren Verkrampfungen lösten. Dann war er fest eingeschlafen.
Denises Lächeln verschwand, als sie das Licht ausknipste. Sie fühlte sich plötzlich so erschöpft, wie eine uralte Frau. Als sie die Treppe hinuntertapste, kam ihr Alexander entgegen. »Es ist höchste Zeit für dich, ins Bett zu gehen«, erklärte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
Denise fügte sich seinen Worten nur zu gern. Wie in Trance verabschiedete sie sich von den Sophienlustern.
Renate Hagen war ebenfalls am Ende ihrer Kräfte. Wie ein kleines Kind ließ sie sich von Schwester Regine zu Bett bringen und schluckte gehorsam eine Schlaftablette. Als sie dann alleine war, tat sie etwas, was sie seit Jahren nicht mehr getan hatte. Sie faltete die Hände und betete. Inständigst flehte sie Gott an, alle Verletzten durchkommen zu lassen.
*
Daisy war ein Kind, das selten weinte. Aber als sie jetzt durch die Wiesen heimwärts wanderte, stolperte sie mehrmals, weil ihr die Tränen immer wieder in die Augen schossen. Zum erstenmal hatte ihre Mutter ihren Daddy, Jeremy und sie allein gelassen.
Daisy wusste, ihr Daddy war auch traurig. Aber er hatte gesagt, dass ihre Mummy einmal Ferien machen müsse. »Du bist doch mit deinen acht Jahren schon ein großes Mädchen und kannst mir im Haushalt helfen«, hatte er gemeint.
Damit hatte er natürlich recht, überlegte Daisy und wischte ihre Tränen fort. Aber das Haus war ohne Mummy doch sehr leer.
Wieder schossen Daisy Tränen in die Augen. Als sie aber das große Hoftor erreicht hatte, versiegten ihre Tränen schnell. Nun konnte sie sogar wieder lächeln. Mit einer anmutigen Bewegung warf sie den Kopf zurück, sodass ihr langes blondes Haar, das über der Stirn zu einer Ponyfrisur geschnitten war, nach hinten flog.
Der Irish-Terrier Tommy erhob sich von seinem Sonnenplatz neben der Haustür und kam Daisy entgegengelaufen. Voller Freude begrüßte er sie.
»Daisy, endlich bist du da!«, rief Jeremy, ein dunkelhaariger vierjähriger Junge mit großen braunen Augen und lebhaftem Naturell. »Daddy hat schon mehrere Male nach dir gefragt. Du sollst ihm doch in der Küche helfen. Morgen wird dann die alte Barbara zu uns kommen und für uns kochen. Dann braucht Daddy keine Küchenarbeiten mehr zu machen. Sag, Daisy, sind vier Wochen eine lange Zeit? Ich meine, weil doch unsere Mummy so lange fortbleiben will.«
»Vier Wochen sind sehr lang, Jeremy.« Tapfer schluckte das Mädchen seine Tränen hinunter. Schließlich musste es dem kleinen Bruder doch mit gutem Beispiel vorangehen.
»Ich habe vergessen, wie der Ort heißt, zu dem Mummy geflogen ist«, sagte der Junge weinerlich.
»Sie ist ins Engadin geflogen. Das ist eine Tallandschaft in Graubünden. Und Graubünden liegt in der Schweiz.«
»Ach so.«
»Daisy, wo warst du denn so lange?«, fragte in diesem Moment Roy Bennet von der Tür her. »Du weißt doch besser als ich, wo in der Küche die Sachen sind.«
Daisy nickte. Sie kam sich dabei sehr erwachsen vor. Sie hatte ihrer Mutter ganz fest versprochen, sie zu vertreten. Und ein Versprechen musste man unbedingt halten.
»Daddy, ich war nur ein bisschen spazieren. Ich habe nachdenken müssen. Nun bin ich aber gar nicht mehr traurig. Vier Wochen vergehen auch«, fügte sie altklug hinzu.
»So ist es, mein Schatz.« Roy Bennet sah seine Tochter an. Er ahnte, was sie hinausgetrieben hatte. Er litt unter der Trennung von seiner Frau ebenso wie die Kinder unter der Trennung von der Mutter. Aber er hatte eingesehen, dass Mary dringend Erholung brauchte. Sie musste einmal heraus aus dem Alltag. Deshalb hatte er seiner Frau unter Opfern den Ferienaufenthalt im Engadin ermöglicht.
Obwohl das Mittagessen nicht ganz so gut schmeckte wie sonst, griffen die Kinder doch tüchtig zu. Nach dem Essen lief Jeremy wieder hinaus auf den Hof, begleitet von Tommy. Roy und seine Tochter wuschen das Geschirr ab.
»Daddy, nun ist Mummy schon einen ganzen Tag fort. Sie ist gestern Mittag von London abgeflogen. Ich werde täglich einen Tag im Kalender ausstreichen, damit die Zeit schneller vergeht«, erklärte Daisy und stellte die Teller in den Küchenschrank.
»Ich muss am Nachmittag nach Alvery fahren, um Hühnerfutter zu kaufen. Nicht wahr, du passt gut auf Jeremy auf? Er ist doch noch so sehr klein.«
»Keine Sorge, Daddy, ich lasse ihn bestimmt nicht aus den Augen. Kommt die alte Barbara wirklich morgen zu uns?«
»Nur tagsüber, Daisy, damit unser Haushalt besser klappt.«
»Sie kann so schöne Geschichten von Wales erzählen. Auch Mummy kennt viele Legenden, Daddy.«
»Ich weiß. Sie ist eine echte Waliserin. Du weißt ja, dass diese kleine Farm früher ihren Eltern gehörte.«
»Aber du bist in Bristol geboren, nicht wahr, Daddy?«
»Ja, mein Schatz. Ich bin ein echter Städter gewesen. Nun aber liebe ich das Landleben sehr.«
»Weil du Mummy liebhast, Daddy?«
»So ist es, Daisy.«
»Ein Leben ohne unsere Mummy wäre auf die Dauer nicht schön«, meinte das Mädchen altklug.
»Es wäre unvorstellbar. So, nun laufe hinaus zu Jeremy. Ich fahre gleich los.«
Roy ging ins Schlafzimmer, um sich umzukleiden. Er war ein gutaussehender Mann mit leuchtend blauen Augen und mittelblonden Haaren. Sein Teint war tief gebräunt. Man sah ihm an, dass er den ganzen Tag in der frischen Luft verbrachte.
Als Roy sich rasierte, dachte er plötzlich an seine Eltern. Sein Vater war Beamter in Bristol gewesen, seine Mutter hatte eine Halbtagsstellung in einem Modegeschäft gehabt, um noch etwas dazuzuverdienen. Er und sein Bruder Jeremy hatten immer zur See gehen wollen. Sein Bruder hatte das schließlich auch getan. Er selbst aber hatte Mary kennengelernt. Bis zu dem Tag, als sie ihn auf die Farm mitgenommen hatte, hätte er nie geglaubt, dass er eines Tages den Wunsch haben würde, für immer auf dem Lande zu leben. Aber Mary hatte die Farm, die seit Generationen im Besitz ihrer Familie war, geerbt und erklärt, sie könne nur einen Mann heiraten, der Interesse für diese Farm habe.
Roy hatte keine Sekunde gezögert, sondern versichert, er liebe das Landleben. Keine Stunde hatte er seitdem bereut, seine Pläne aufgegeben zu haben.