Sophienlust 115 – Familienroman - Judith Parker - E-Book

Sophienlust 115 – Familienroman E-Book

Judith Parker

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Beschreibung

Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Die beiden sind echte Identifikationsfiguren. Dieses klare Konzept mit seinen beiden Helden hat die zu Tränen rührende Romanserie auf ihren Erfolgsweg gebracht. Es war eine mondhelle Maiennacht. Eine jener Nächte, die das Herz mit einer unbestimmten Sehnsucht erfüllen und Träume nach Glück und Liebe erwecken. Auch Regine Nielsen fand nicht den ersehnten Schlaf. Mit offenen Augen lag sie im Bett und überließ sich ihren Gedanken. Seit dem Tod ihres Mannes und ihres damals zweijährigen Töchterchens Elke fürchtete sie sich vor diesen schlaflosen Nächten. Glücklicherweise waren sie, seit sie als Kinderschwester im Kinderheim Sophienlust tätig war, sehr selten geworden. Aber manchmal, wie in dieser Nacht, überfielen sie die quälenden Erinnerungen an ihre kurze glückliche Ehe wieder mit aller Macht. Dann schien ihr Herz eine einzige blutende Wunde zu sein. Mann und Tochter waren Schwester Regine in diesem Moment so nah, dass sie glaubte, die Stimmen der beiden zu hören. Deutlich sah sie alle beide vor sich. So greifbar nahe, dass sie das Gefühl hatte, sie seien in ihrem Zimmer. Heiße Tränen rannen über Regines Wangen, benetzten das Kopfkissen. Um diesem Wachtraum zu entfliehen, knipste sie die Nachttischlampe an. Das Licht verscheuchte die Schatten der Vergangenheit.

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Sophienlust –115–

Eltern unbekannt

Roman von Judith Parker

Es war eine mondhelle Maiennacht. Eine jener Nächte, die das Herz mit einer unbestimmten Sehnsucht erfüllen und Träume nach Glück und Liebe erwecken.

Auch Regine Nielsen fand nicht den ersehnten Schlaf. Mit offenen Augen lag sie im Bett und überließ sich ihren Gedanken. Seit dem Tod ihres Mannes und ihres damals zweijährigen Töchterchens Elke fürchtete sie sich vor diesen schlaflosen Nächten. Glücklicherweise waren sie, seit sie als Kinderschwester im Kinderheim Sophienlust tätig war, sehr selten geworden. Aber manchmal, wie in dieser Nacht, überfielen sie die quälenden Erinnerungen an ihre kurze glückliche Ehe wieder mit aller Macht. Dann schien ihr Herz eine einzige blutende Wunde zu sein.

Mann und Tochter waren Schwester Regine in diesem Moment so nah, dass sie glaubte, die Stimmen der beiden zu hören. Deutlich sah sie alle beide vor sich. So greifbar nahe, dass sie das Gefühl hatte, sie seien in ihrem Zimmer.

Heiße Tränen rannen über Regines Wangen, benetzten das Kopfkissen. Um diesem Wachtraum zu entfliehen, knipste sie die Nachttischlampe an. Das Licht verscheuchte die Schatten der Vergangenheit.

Dankbarkeit stieg in ihr auf, als sie sich in dem gemütlichen Zimmer umblickte. Die weißen Schleiflackmöbel, der blaue Teppich und die farblich dazu abgestimmten Vorhänge schufen eine so anheimelnde Atmosphäre, dass die Kinderschwester das Bewusstsein hatte, daheim zu sein.

Regines Gedanken wandten sich nun der Gegenwart zu. Dabei breitete sich ein tiefes Glücksgefühl in ihr aus. Musste sie dem Schicksal nicht unendlich dankbar sein, dass es sie in dieses Kinderparadies verschlagen hatte? Es war eine lohnende Aufgabe, leidgeprüften Kindern den Weg in eine glücklichere Zukunft zu ebnen.

Ein tiefer Atemzug hob die Brust der Kinderschwester. Ein kleines Lächeln huschte wie ein Sonnenstrahl über ihr schmales Gesicht mit den tiefblauen Augen, als sie das Licht wieder ausknipste.

Schwester Regine spürte, wie sie sich entspannte und ins Traumland hinüberdämmerte. Doch kurz darauf wurde sie unsanft aus ihrem Schlaf gerissen. Verwirrt richtete sie sich auf und lauschte. Hatte es nicht geläutet?, überlegte sie und knipste die Nachttischlampe wieder an. Sie stand auf und zog sich ihren Hausmantel über. Dann verließ sie das Zimmer.

Als Schwester Regine an Nicks Schlafzimmertür vorbeikam, blieb sie unschlüssig stehen. Vielleicht sollte sie den Jungen wecken und ihn bitten, sie zu begleiten?

Kurz entschlossen trat sie in Nicks Zimmer und machte Licht. Der Junge war sofort wach. »Was ist los, Schwester Regine?«, fragte er und fuhr sich mit beiden Händen glättend über sein lockiges schwarzes Haar. Dabei sah er die Kinderschwester erschrocken an.

»Es hat geläutet, Nick. Ich glaube kaum, dass ich mich verhört habe. Und weil es schon fast drei ist, ist es mir lieber, wenn du mit hinunterkommst.«

»Klar, Schwester Regine.« Der Fünfzehnjährige war sofort einverstanden und stand auf. Rasch schlüpfte er in seinen weinroten Bademantel und folgte der Kinderschwester. »Ein Glück, dass ich heute hier geblieben bin«, meinte er, als die beiden nebeneinander die Treppe hinuntergingen.

»Ja, das ist es, Nick.« Schwester Regine lächelte den Jungen an.

Nick, der mit vollem Namen Dominik von Wellentin-Schoenecker hieß, war der Erbe und Besitzer von Sophienlust. Er hatte das Gut von seiner Urgroßmutter Sophie von Wellentin geerbt, deren Wunsch es gewesen war, das Herrenhaus in ein Heim für heimatlose und in Not geratene Kinder umzugestalten. Bis zu seiner Großjährigkeit verwaltete seine Mutter, Denise von Schoenecker, das Erbe.

Nick wohnte mit seiner Mutter und seinem Stiefvater Alexander von Schoen­ecker eigentlich auf Gut Schoeneich. Er konnte jedoch jederzeit in Sophienlust übernachten, da er auch hier ein eigenes Zimmer hatte.

Schwester Regine wusste, dass Nick ein sehr vernünftiger Junge war, auf den man sich stets verlassen konnte. Das war auch der Grund, weshalb sie ihn kurzerhand geweckt hatte. Jetzt schloss sie die Haustür auf und blickte hinaus. Unter der erleuchteten Lampe am Parktor sah sie einen Mann stehen.

»Ich habe mich also doch nicht verhört«, stellte Schwester Regine sichtlich erleichtert fest, weil sie Nick damit nicht umsonst geweckt hatte. »Sieh doch, der Mann hat etwas auf den Armen. Ein Bündel? Vielleicht ein kleines Kind? Bestimmt ist es ein Kind!«, rief sie erregt.

Ehe Nick es sich versah, war die Kinderschwester bereits die Freitreppe hinuntergelaufen und ging nun mit schnellen Schritten auf das Parktor zu. Nick sah, dass der Mann sich plötzlich umwandte und davoneilte.

Schwester Regine schloss eiligst das Tor auf und hatte den Fremden bald eingeholt. Als er weitergehen wollte, hielt sie ihn am Arm fest und fragte: »Warum haben Sie uns zuerst aus dem Schlaf geläutet, wenn Sie nun doch wieder fortgehen wollen?« Ihr Blick heftete sich auf das Bündel. Also doch, dachte sie. Es ist tatsächlich ein kleines Kind.

Schwester Regine sah wieder den Mann an, dessen Gesicht vom Mondlicht übergossen war, so dass sie den verstörten Ausdruck in seinen Augen erkennen konnte.

»Ich …, ich hatte geglaubt, es würde niemand aufmachen. Außerdem habe ich … Gut, ich komme mit zurück«, stotterte der Unbekannte.

»Nicht wahr, Sie wollten das Kind zu uns bringen?«, fragte die Kinderschwester mitfühlend. »Ist es krank?« Sie blickte in das runde Kindergesicht mit den geschlossenen Augen. Ein gehäkeltes Mützchen verdeckte nur halb das helle Haar.

»Evi scheint Prellungen davongetragen zu haben. Ich habe kurz vor Wildmoos einen Autounfall gehabt und erfahren, dass ganz in der Nähe ein Kinderheim ist. Ich heiße Rösler. Bernd Rösler«, stellte sich der Mann leise vor.

»Kommen Sie erst einmal mit ins Haus«, bat Schwester Regine. »Dort können Sie mir alles erzählen. Ich bin die Kinderschwester Regine. Und das ist Dominik von Wellentin-Schoenecker«, stellte sie Nick vor, der ihnen entgegengekommen war.

»Guten Abend«, sagte der Junge. »Oh, Sie haben ein kleines Kind. Ist es ein Mädchen oder ein Junge?«

»Ein Mädchen. Evi ist eineinhalb Jahre alt. Es tut mir leid, dass ich Sie mitten in der Nacht aufgeweckt habe. Aber ich wusste mir einfach keinen Rat mehr. Das …« Er stockte.

»Ja?«, fragte Schwester Regine und überlegte, ob sie nicht doch lieber Frau Rennert wecken sollte. Aber dann dachte sie daran, dass sich die Heimleiterin den ganzen Tag sehr angegriffen gefühlt hatte und dringend ihren Schlaf benötigte. Außerdem war ja Nick bei ihr.

Als sie die Halle betraten, machte Nick das große Licht an. Schwester Regine entging nicht das verhärmte Aussehen des unerwarteten Besuchers und auch nicht das unstete Flackern in seinen Augen. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sich dieser Mann in irgendwelchen Schwierigkeiten befand. War er vielleicht auf der Flucht? Genauso sah er aus.

Das Interesse der Kinderschwester wandte sich nun wieder dem kleinen Mädchen zu, das jetzt die großen tiefblauen Augen aufschlug und sich erstaunt umblickte. Dann aber verzog sich sein Mündchen weinerlich. »Geben Sie mir bitte das Kind«, bat Schwester Regine.

Bernd Rösler reichte es ihr sichtlich erleichtert.

»Nick, bitte geh voraus zum Krankenzimmer und mache Licht. Ich will die Kleine zuerst untersuchen. Vielleicht ist es nötig, dass wir sie ins Krankenhaus bringen müssen.«

»Auf keinen Fall!«, rief Bernd Rösler heftig.

Erstaunt richteten sich die Augen von Schwester Regine und Nick auf ihn. Dann warfen die beiden sich einen verstohlenen Blick zu.

Bernd Rösler entging die stille Zwiesprache zwischen der hübschen blondhaarigen Kinderschwester und dem dunkellockigen großen Jungen nicht. »Ich habe eine Abneigung gegen Krankenhäuser«, erklärte er leise. »Wenn Evi nicht viel geschehen ist, möchte ich sie lieber hierlassen.«

Das Krankenzimmer war mit weißen Stahlrohrmöbeln ausgestattet. Es gab darin zwei Betten und Nacht­kästchen, einen Tisch und zwei Stühle.

Die Kinderschwester legte das Kind auf ein Bett und wickelte die Kleine aus der Decke. An der sauberen Kleidung erkannte Schwester Regine, dass das kleine Mädchen in keiner Weise vernachlässigt war. Es war auch wohlgenährt. Bernd Rösler war dagegen auffallend mager. Auch seine Kleidung ließ zu wünschen übrig.

»Also, Evi heißt du«, stellte die Kinderschwester lächelnd fest, als sie das Kind auszog und genau untersuchte. »Sie hat leichte Prellungen am linken Bein und am linken Arm«, stellte sie nach der Untersuchung fest. »Ich wäre doch dafür, dass Sie das Kind in ein Krankenhaus bringen, Herr Rösler.«

In den dunklen Männeraugen blitzte es erregt auf. »Bitte, Schwester, behalten Sie Evi hier. Ich komme auch für alle Unkosten auf.«

Nick, der bis dahin still zugesehen hatte, mischte sich nun ein. »Schwester Regine, tun Sie doch Herrn Rösler den Gefallen. Frau Dr. Frey kann Evi morgen früh untersuchen. Wo steht denn Ihr Wagen, Herr Rösler? Weit von Wildmoos entfernt?«

»Nein, nicht weit«, murmelte er. »Ich werde jetzt gehen, um mich um das Auto zu kümmern.«

»Vor morgen früh können Sie doch nichts unternehmen«, meinte Nick. »Sie können doch hierbleiben. Morgen früh rufen wir dann die Werkstatt an und …«

»Auf keinen Fall bleibe ich hier!«, rief der Mann nervös. »Der Morgen graut doch schon. Ich nehme mir ein Zimmer in Wildmoos.«

»Im Gasthof ›Zum grünen Krug‹ bekommen Sie bestimmt noch ein Zimmer«, sagte Schwester Regine rasch. Es war ihr lieber, dass der Besucher wieder ging. Irgendwie kam er ihr undurchsichtig vor.

»Gut, dann gehe ich.« Bernd Rösler strich dem bereits wieder schlafenden Kind leicht über das spärliche rötlich schimmernde Haar. »Dein Vati kommt bald wieder«, sagte er leise. Dann wandte er sich abrupt um.

»Nick, sei doch bitte so lieb und begleite Herrn Rösler hinaus. Ich bringe die kleine Evi gleich hinauf. Heute Nacht kann sie in meinem Zimmer schlafen. Du könntest mir nachher noch helfen, das Gitterbett aufzustellen, Nick.«

»Ich bin gleich wieder da!«, rief Nick und verließ zusammen mit Bernd Rösler das Krankenzimmer.

Auch der Fünfzehnjährige machte sich so seine Gedanken über den nächtlichen Besucher, der seiner Meinung nach irgendetwas auf dem Kerbholz hatte. Wäre alles bei ihm in Ordnung, würde er nicht so nervös sein. Na ja, morgen würde man mehr über seine Verhältnisse erfahren, sagte sich der Junge, als er sich vor dem Parktor von Bernd Rösler verabschiedete.

Ein Weilchen blieb Nick noch stehen und blickte der schlanken Männergestalt im Trenchcoat nach. Dann schloss er das Tor wieder sorgfältig ab und kehrte ins Haus zurück. Er fand Schwester Regine mit der kleinen Evi in ihrem Zimmer. Das Kind lag auf dem Bett, und die Kinderschwester bemühte sich, das Kinderbett aufzustellen.

»Lassen Sie nur, ich mache das schon«, bot Nick sich an.

Schwester Regine nickte ihm dankbar zu und bezog dann das Kissen und die leichte Federdecke. Kurz darauf lag die kleine Evi in einem der Kinderschlafanzüge, die in dem Bett immer bereitlagen.

Ein winziges Lächeln umspielte die vollen kirschroten Lippen, als das Kind noch einmal die Augen aufschlug. Es murmelte etwas, bevor es wieder einschlief.

»Ich glaube kaum, dass sie sich mehr getan hat«, überlegte Nick gähnend.

»Ich auch nicht. Ich habe die Prellungen mit einer Salbe behandelt und verbunden. Frau Dr. Frey wird morgen ein Übriges tun. Ich finde, wir sollten uns nun auch wieder niederlegen, Nick. Es ist gleich vier Uhr.«

»Schwester Regine, ist Ihnen nicht aufgefallen, dass Herr Rösler sich recht seltsam benahm?«

»Ja, Nick, den Eindruck hatte ich auch. Aber sicherlich war es der Schock, die Folge des Autounfalls.«

»Möglich wäre das. Trotzdem glaube ich, dass es irgendetwas anderes ist. Vermutlich ist die kleine Evi gar nicht seine Tochter.«

»Nick, du bist unverbesserlich.« Schwester Regine lachte leise auf. »Obwohl du nun schon fast erwachsen bist, vermutest du nach wie vor hinter jeder Geschichte ein Geheimnis.«

»Meist hatte ich auch recht. Dass hier etwas nicht stimmt, steht für mich fest. Ob wir das morgen erfahren werden?« Nick gähnte wieder laut. »Ich bin nun ehrlich müde. Gute Nacht. Die anderen Kinder werden morgen früh, das heißt heute früh, Augen machen, wenn sie Evi sehen werden. Ein so kleines Kind hatten wir schon lange nicht mehr. Besonders die Mädchen werden selig über unseren neuesten Zuwachs sein«, fügte er noch hinzu. »Dann also gute Nacht, Schwester Regine.«

»Gute Nacht, Nick.«

Schwester Regine war mit dem Kind allein. Noch lange stand sie vor dem Kinderbett und betrachtete das schlafende kleine Mädchen. Wieder musste sie an ihre kleine Elke denken.

*

Als Schwester Regine am Morgen erwachte, schlief die kleine Evi noch immer. Schnell ging die Kinderschwester ins Bad und zog sich an. Im Haus ging es schon lebhaft zu. Die Kinder waren bereits aufgestanden und hatten von Nick sofort einen Bericht über das nächtliche Erlebnis erhalten. Nun brannten sie natürlich darauf, das kleine Mädchen zu sehen.

Als Evi endlich aufwachte, blickte sie Schwester Regine mit erstaunten Augen an. Zuerst wollte sie weinen, doch dann lachte sie plötzlich und streckte Schwester Regine die molligen Ärmchen entgegen.

»Na, mein kleiner Schatz, du scheinst gut geschlafen zu haben«, sagte die Kinderschwester mit einem glücklichen Lächeln und hob das Kind hoch.

Pünktchen, das zwölfjährige Mädchen mit den rotblonden Haaren und den großen blauen Augen, steckte als Erste ihre mit Sommersprossen übersäte Stupsnase in das Zimmer von Schwester Regine. »Stören wir?«, fragte sie fröhlich. »Wir wollen doch die kleine Evi sehen.«

»Guten Morgen, Pünktchen. Kommt ruhig herein. Evi hat ausgeschlafen.«

»Sie ist süß!«, rief Pünktchen begeistert.

Die Schwestern Angelika und Vicky Langenbach folgten Pünktchen auf dem Fuß. Die elfjährige Angelika richtete ihre blauen Augen ernst auf das neue Kind. »Es ist wirklich sehr niedlich«, stellte sie fest.

Auch ihre um zwei Jahre jüngere Schwester Vicky – eigentlich hieß sie Viktoria – war der gleichen Meinung. »Sie hat genau die gleiche Haarfarbe wie du«, meinte sie.

»Ach wo, Evi hat rötliches Haar und ich mehr gelbliches.«

Etwas später erschien noch Irmela Groote. Sie war momentan mit ihren vierzehn Jahren das älteste Mädchen im Kinderheim und gehörte ebenfalls zu den Dauerkindern, weil ihre Mutter mit ihrem zweiten Mann in Bombay lebte.

»Wo steckt denn nur Heidi?«, fragte Pünktchen verwundert. »Aber da ist sie ja!«, rief sie, als ein ungefähr vierjähriges Mädchen mit Stirnpony und Rattenschwänzchen ins Zimmer kam.

»Wo ist das Baby?«, fragte Heidi aufgeregt. »Ich möchte es auch sehen!«

»Nicht so stürmisch, mein Kleines.« Schwester Regine strich dem kleinen Mädchen – es war ihr Lieblingskind – über den lichtblonden Scheitel. »Sieh, dort im Bett liegt Evi.«

»Sie sieht wie eine große Puppe aus«, staunte Heidi. »Hat das Baby auch keine Eltern mehr? So wie ich?«

»Es hat noch einen Vater. Vielleicht auch eine Mutter. Aber das werden wir noch erfahren. Ach, da kommt unsere gute Magda mit einer Milchflasche. Ich glaube, Evi ist doch schon zu groß für die Flasche«, wandte Schwester Regine sich an die etwas beleibte, sehr mütterliche Köchin von Sophienlust, die schon Nicks Urgroßmutter gedient hatte.

»Mir scheint, sie trinkt doch noch aus der Flasche«, widersprach die alte Frau vergnügt, als die kleine Evi mit strahlenden Augen ihre dicken Ärmchen nach der Flasche ausstreckte.

Schwester Regine hob das Kind wieder aus dem Bett und setzte sich mit ihm auf einen Sessel. Die Kinder standen neugierig um sie herum.

Evi saugte gierig an dem Gummisauger der Flasche, die sich in Windeseile leerte. Als kein Tröpfchen Milch mehr darin war, rief sie: »Noch!«

Alle lachten.

Nun steckte auch der zehnjährige Fabian Schöller seinen Kopf ins Zimmer. Er war ein schmächtiger Junge mit mittelblondem Haar und graugrünen Augen. Auch er war ein Dauerkind in Sophienlust. Er hatte seine Eltern durch ein Zugunglück verloren und war von seiner Stiefgroßmutter nach Sophienlust abgeschoben worden.

Seinem Alter entsprechend zeigte Fabian keine überschwängliche Begeisterung für das kleine Mädchen. Aber man sah ihm trotzdem deutlich an, wie sehr es ihm gefiel.

Nick hatte inzwischen seine Mutter verständigt. Denise hatte versprochen, gleich nach dem Frühstück zusammen mit Henrik nach Sophienlust zu kommen.

Frau Rennert hatte an diesem Morgen länger als sonst geschlafen und fiel aus allen Wolken, als sie von dem Zuwachs im Kinderheim erfuhr. Als sie hörte, dass Evi leichte Prellungen bei dem Autounfall davongetragen hatte, rief sie Frau Dr. Frey an, die versprach, sofort zu kommen. Bald darauf stellte die Ärztin fest, dass dem Kind nichts fehlte außer den oberflächlichen Hautabschürfungen.

Die Kinder waren sehr froh, dass Sonnabend war, der schulfrei war. Auf diese Weise konnten sie sich mit Evi beschäftigen. Sie wichen keine Minute von der neuen kleinen Heimbewohnerin.

Währenddessen warteten die Erwachsenen auf Bernd Rösler. Als der Vormittag verging und er noch immer nicht zurückgekommen war, wurden sie unruhig. Nick sagte: »Es wird schon so sein, wie ich vermute. Evi ist entführt worden. Herr Rösler hat sich ganz sonderbar benommen. So, als habe er ein schlechtes Gewissen.«

»Du könntest Recht haben«, gab seine Mutter zögernd zu. Insgeheim befürchtete sie, dass neue Probleme auf sie zukamen.

Denise von Schoenecker war eine aparte, noch sehr jugendlich aussehende Frau mit schwarzen Haaren und dunklen Augen. Ihren ersten Mann Dittmar von Wellentin, Nicks Vater, hatte sie nach ganz kurzer Ehe verloren. Danach hatte sie schwere Jahre erlebt. Doch in ihrer zweiten Ehe mit Alexander von Schoenecker war sie sehr glücklich geworden. Henrik war das Kind aus dieser Ehe. Er war das verwöhnte Nesthäkchen der Familie von Schoenecker.

Denise war aber auch ihren Stiefkindern, dem jetzt zwanzigjährigen Sascha und der achtzehnjährigen Andrea, die bereits verheiratet war, eine gute Mutter. Beide liebten sie sehr und holten sich Rat und Trost bei ihr, wenn sie mit einem Problem nicht fertig wurden.

»Wir sollten noch bis morgen früh warten«, schlug Frau Rennert vor. Die Kinder nannten sie Tante Ma und duzten sie genauso wie Denise, die für sie Tante Isi war.

»Ja, das müssen wir wohl«, stimmte Schwester Regine ihr sofort zu, hoffte aber, dass Evi recht lange in Sophienlust bleibe.

Die großen und kleinen Bewohner von Sophienlust hatten die kleine Evi vom ersten Augenblick an ins Herz geschlossen. Alles drehte sich um das reizende Mädchen, das sehr zufrieden mit seinem jetzigen Los zu sein schien.

Evi sprach sogar schon ein paar Worte und war mit einem besonders guten Appetit gesegnet.

Schwester Regine zog Evi an diesem heißen Maientag ein schönes hellrosa Kleidchen mit einer blau-gelb bestickten Passe an. Das Kleid hatte einmal ihrer kleinen Elke gehört.

Pünktchen schmückte Evis Haar mit einer rosa Schleife. Das Kind sah zum Anbeißen süß aus.

»Evi, schau doch mal in den Spiegel«, forderte Pünktchen das Kind auf, das auf sehr strammen Beinchen durch das Zimmer lief.

»Piegel«, wiederholte die Kleine und deutete auf den Spiegel an der gegenüberliegenden Wand. »Söne Evi, brave Evi.«

»Ja, schöne Evi«, wiederholte Pünktchen.