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Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Die beiden sind echte Identifikationsfiguren. Dieses klare Konzept mit seinen beiden Helden hat die zu Tränen rührende Romanserie auf ihren Erfolgsweg gebracht. Frau Dr. Anja Frey ging mit dem Fieberthermometer zum Fenster, um die Skala besser sehen zu können. "Wirklich, Nick, du darfst auf keinen Fall aufstehen", erklärte sie ernst. "38,8. Du hast zwar kein hohes Fieber, aber mit einer Angina darf man auf keinen Fall leichtsinnig sein." Dominik von Wellentin-Schoenecker, den alle Nick nannten, machte ein recht unglückliches Gesicht bei dieser Anordnung. "Ich wollte doch zusammen mit Mutti nach München fahren", entgegnete er erregt. "Ich habe mich doch so auf die Reise gefreut." "Es ist unmöglich, mein Junge. Vielleicht kann deine Mutter die Reise um ein paar Tage verschieben."
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Seitenzahl: 152
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Frau Dr. Anja Frey ging mit dem Fieberthermometer zum Fenster, um die Skala besser sehen zu können. »Wirklich, Nick, du darfst auf keinen Fall aufstehen«, erklärte sie ernst. »38,8. Du hast zwar kein hohes Fieber, aber mit einer Angina darf man auf keinen Fall leichtsinnig sein.«
Dominik von Wellentin-Schoenecker, den alle Nick nannten, machte ein recht unglückliches Gesicht bei dieser Anordnung. »Ich wollte doch zusammen mit Mutti nach München fahren«, entgegnete er erregt. »Ich habe mich doch so auf die Reise gefreut.«
»Es ist unmöglich, mein Junge. Vielleicht kann deine Mutter die Reise um ein paar Tage verschieben.«
»Das geht doch nicht.« In den dunklen Jungenaugen schimmerten Tränen. »Eine Freundin von Mutti heiratet. Und Mutti ist Trauzeugin. Nein, sie muss unbedingt fahren.« Mit beiden Händen fuhr der Junge sich durch das lockige schwarze Haar. »Es ist schon ein Pech, dass ich ausgerechnet jetzt krank werden musste.« Tapfer schluckte er seine Tränen hinunter, weil er sich sagte, dass ein fünfzehnjähriger Junge wegen einer solchen Lappalie nicht gleich losheulen konnte wie ein Mädchen.
Frau Dr. Anja Frey, die ärztliche Betreuerin der Kinder von Sophienlust, packte ihre Sachen in die Arzttasche. »Morgen sehe ich wieder nach dir, Nick. Bis dahin. Kopf hoch.« Sie reichte ihm die Hand.
»Auf Wiedersehen, Frau Doktor.« Nick lächelte sie matt an. »Wenn ich wenigstens in den nächsten Tagen in Sophienlust sein könnte. Ich habe doch dort auch ein eigenes Zimmer. Und Schwester Regine würde mich pflegen.«
»Sobald es dir etwas besser geht, habe ich nichts dagegen, dass dein Vater dich hinüberbringt«, erwiderte die Ärztin freundlich.
»Na, wie geht es unserem Patienten?«, fragte Denise von Schoenecker in diesem Moment von der Tür her.
»Schon besser.« Die junge Ärztin mit den dunklen Augen und den mittelblonden Haaren begrüßte Nicks Mutter. »Aber er muss unbedingt noch im Bett bleiben.«
»Ich kann nicht mitfahren, Mutti.«
»In ein paar Tagen bin ich ja wieder da. Warte einen Moment. Ich bringe Frau Dr. Frey noch hinaus, dann komme ich zu dir.«
»Gut, Mutti.« Nick blickte auf die Tür, die seine Mutter leise hinter sich zuzog. Wütend stieß er mit den Füßen gegen die Fußlehne des Bettes. Wieder schossen ihm die Tränen in die Augen. Ärgerlich wischte er sie fort.
Zu dumm, dass er hatte krank werden müssen. Dabei war das Wetter noch so schön. Seit Tagen schien die Sonne von morgens bis abends. Es war so heiß, dass er es im Bett kaum aushielt.
Nick setzte sich auf und schaute zum Fenster hinaus. Er konnte vom Bett aus in den Park mit den alten Bäumen blicken. In den Blättern spielte der Wind. Wie still es um diese Tageszeit in Schoeneich war. Würde er in Sophienlust liegen, würde er die fröhlichen Stimmen der Kinder hören. Dann würde er auch nicht so viel allein sein. Aber hier in Schoeneich war er von der Welt wie abgeschnitten. Hier …
»So, da bin ich wieder, Nick!«, rief Denise von Schoenecker, als sie das Zimmer wieder betrat. »Mach bitte kein so verzweifeltes Gesicht«, bat sie. »Wenn es irgendwie ginge, würde ich mit der Reise nach München warten, bis du wieder gesund bist. Aber wie du weißt, Tante Lilly heiratet und ich …«
»Ja, ich weiß. Du musst auf jeden Fall fahren, Mutti.« Nick schluckte krampfhaft. »Ich hatte mich nur sehr auf die Reise mit dir gefreut. Es ist gut, dass Vati hierbleibt.«
»Wegen der Ernte kann er nicht fort. Wäre Sascha hier, ginge es eher.«
»Sascha hat es gut. Er fährt fast jeden Sommer irgendwohin.«
»Bis du zwanzig bist und studierst, kannst du das auch, mein Junge.« Denise lächelte. »Aber wie ich dich kenne, wirst du in den Semesterferien stets heimkommen. Sascha ist da anders. Ihn zieht es immer wieder in die Ferne. Und Michael Langenbach ist genauso wie er. Die beiden müssen schon gestern in Sardinien angekommen sein.«
»Angelika und Vicky haben bereits eine Karte von ihrem Bruder bekommen. Pünktchen hat es mir gestern am Telefon gesagt. Weißt du, Mutti, ich mag Michael sehr gern. Er ist für mich fast wie ein Bruder.«
»Und für Vati und mich wie ein Sohn.« Denise dachte an die drei Geschwister Langenbach, die nun schon seit vielen Jahren ihrer Obhut anvertraut waren. Vor sechs Jahren hatten Michael und seine Schwestern Angelika und Vicky die Eltern durch ein Lawinenunglück verloren. Denises Stiefsohn Sascha hatte sich von Anfang an gut mit Michael verstanden, der im selben Alter wie er war. Wie Brüder waren die beiden aufgewachsen und unzertrennlich geworden. Jetzt studierten beide in Heidelberg.
»Nicht, nachher kommt Pünktchen, um dich zu besuchen. Und Frau Dr. Frey hat erlaubt, dass du übermorgen nach Sophienlust übersiedeln darfst. Allerdings musst du auch dort noch einige Tage das Bett hüten.«
»Fein, Mutti. Ich meine damit nicht, dass ich noch im Bett bleiben muss, sondern dass ich nach Sophienlust übersiedeln darf.«
»Du hast dort auch eine bessere Pflege, wenn ich fort bin. Schwester Regine und Tante Ma werden dich nach Strich und Faden verwöhnen.«
Nick schmunzelte. Er hatte sich bereits damit abgefunden, seine Mutter nicht nach München begleiten zu können. »Du könntest doch Henrik mitnehmen« schlug er großzügig vor.
»Gott bewahre. Henrik ist mit seinen sieben Jahren viel zu lebhaft. Er würde mich von morgens bis abends in Atem halten. Ich bin schon froh, dass er während meiner Abwesenheit in Sophienlust untergebracht ist.«
Bei dem Gedanken an ihren Jüngsten leuchtete es in Denises dunklen Augen auf. Henrik war das einzige Kind aus ihrer zweiten Ehe mit Alexander. Obwohl sie sich von Anfang an vorgenommen hatte, den Jungen nicht zu verwöhnen, geschah das doch immer wieder. Henrik hatte einen umwerfenden Charme und machte mit seinen Eltern, was er wollte.
»Warum fährst du denn nicht mit dem Auto?«, fragte Nick.
»Mit dem Zug ist es viel bequemer. Vati bringt mich morgen früh nach Frankfurt. Von dort fahre ich bis München durch. Meine Freundin holt mich dann vom Zug ab.« Denise gab Nick einen Kuss. »Ich muss noch auf einen Sprung nach Sophienlust fahren. Auch Andrea und Hans-Joachim möchte ich noch auf Wiedersehen sagen. Bis nachher.«
»Bis nachher.« Nick seufzte tief auf, als er wieder allein war. Um sich abzulenken, vertiefte er sich in einen Kriminalroman.
*
Denise fuhr nach Sophienlust, wo sie von ihrem Jüngsten und von den Sophienluster Kindern voller Freude begrüßt wurde. Pünktchen erkundigte sich sofort nach Nick und schwang sich dann aufs Fahrrad. »Damit er ein bisschen Gesellschaft hat!«, rief sie Denise noch zu.
»Nick kann es kaum erwarten, dass du ihn besuchst.« Denise blickte dem zwölfjährigen Mädchen lächelnd nach. Auch Pünktchen, die in Wirklichkeit Angelina Dommin hieß, war schon vor vielen Jahren nach Sophienlust gekommen. Sie war ein Zirkuskind und hatte mit fünf Jahren ihre Eltern bei einem Zirkusbrand verloren. Nick hatte sie von der Straße aufgelesen und nach Sophienlust gebracht. Eine tiefe Freundschaft verband seitdem die beiden Kinder. Pünktchen hing mit großer Liebe an Nick und träumte davon, ihn später zu heiraten.
Wie hübsch Pünktchen geworden ist, dachte Denise, als sie die Freitreppe des Herrenhauses von Sophienlust hinaufstieg. Ihre großen blauen Augen blickten stets fröhlich in die Welt, und ihre niedliche Stupsnase ist nach wie vor mit Sommersprossen übersät. Früher war allerdings ihr ganzes Gesicht mit Sommersprossen übersät. Deshalb hatte Nick ihr auch den Namen Pünktchen gegeben.
Nachdem Denise sich ein Weilchen mit der Heimleiterin, Frau Else Rennert, unterhalten und sich auch von den Kindern verabschiedet hatte, fuhr sie weiter nach Bachenau zu ihrer Stieftochter Andrea, die mit dem Tierarzt Dr. Hans-Joachim von Lehn verheiratet war. Die beiden hatten einen Sohn, der Peter Alexander hieß, aber nur Peterle genannt wurde.
Als Denise durch das breite Eingangstor mit dem roten Schild fuhr, auf dem in grünen Buchstaben WALDI & CO. – DAS HEIM DER GLÜCKLICHEN TIERE stand, erblickte sie schon von Weitem die vier Dackel. Nun trat Andrea aus der Haustür. Sofort sprangen die Hunde an ihr hoch. Lachend wehrte sie sie ab.
Wie hübsch Andrea ist, dachte Denise mit mütterlichem Stolz. Selbst in ihren abgetragenen Jeans und der alten Bluse sieht sie zauberhaft aus und sehr jung.
»Mutti, wie schön, dass du kommst!«, rief die junge Frau. Dabei strahlten ihre tiefblauen Augen hell auf. »Wie geht es Nick?«
»Schon besser, sehr viel besser. Aber natürlich darf er mich nicht nach München begleiten, der arme Kerl. Aber er ist sehr tapfer. Wie geht es Peterle?«, erkundigte sich Denise dann nach ihrem Enkel.
»Prima, Waldi, Hexe, ihr macht Mutti ja ganz dreckig!«, rief Andrea, als die beiden älteren Dackel voller Freude an Denise hochsprangen.
»Das macht doch nichts. Ich bin in dieser Beziehung Kummer gewöhnt. Mir scheint, Pucki und Purzel sind wieder gewachsen.«
»Leider, Mutti. Wir füttern sie zu gut. Komm doch ins Haus.«
»Lange habe ich nicht Zeit. Ich wollte mich nur noch von euch verabschieden. Nicht wahr, du kümmerst dich um Vati?«
»Na klar, Mutti. Er kommt jeden Abend zu uns. Keine Sorge, er wird nicht verhungern.«
»Guten Tag, gnädige Frau«, sagte Betti leise, als sie Denise in der Diele begegnete.
Denise bemerkte sofort die verweinten Augen des Hausmädchens ihrer Tochter. »Was ist los?«, fragte sie später, als sie mit Andrea das Kinderzimmer betrat.
»Betti ist eifersüchtig auf Herrn Koster.«
Helmut Koster war der Tierpfleger des Tierheims Waldi & Co. und so gut wie verlobt mit Betti.
»Auf Herrn Koster? Er sieht gar nicht danach aus, ihr einen Grund dafür zu geben.«
»Seit ein paar Tagen ist eine Kusine von ihm zu Besuch. Betti glaubt aber nicht, dass es eine Kusine ist, obwohl er es immer wieder beteuert. Dieses Fräulein Annemarie Krüger ist im Gasthof ›Zum goldenen Krug‹ in Wildmoos abgestiegen und besucht Herrn Koster täglich hier. Sie ist wirklich recht hübsch, aber etwas gewöhnlich.« Andrea lachte. »Ich glaube, Herr Koster hat schon die Nase voll von ihr. Sie ist wirklich aufdringlich.« Andrea strich der Dogge Severin kurz über den schwarzen Kopf, dann hob sie ihren Sohn aus dem Bettchen. Peterle hatte blondes flaumiges Haar und große braune Augen.
»Dada!«, rief er begeistert und streckte Denise die Ärmchen entgegen.
»Dada«, erwiderte Denise glücklich und nahm Andrea das Kind ab.
Etwas später erschien Hans-Joachim von Lehn im Kinderzimmer. »Ich habe gehört, dass du da bist, Mutti«, sagte er. »Wann geht es denn los?«
»Morgen früh, Hans-Joachim.« Denise war sehr stolz auf ihren tüchtigen und gut aussehenden Schwiegersohn. Er war groß, hatte blonde Haare und freundliche blaue Augen. Sein natürliches, aufgeschlossenes Wesen machte ihn stets zum Mittelpunkt.
Andrea und Hans-Joachim waren ein auffallend hübsches Paar und wie für einander geschaffen. Andrea war sehr lebhaft, schlagfertig und immer zu Späßen aufgelegt. Hans-Joachim forderte seine junge Frau gern heraus und amüsierte sich immer über die Art, in der sie ihm widersprach. Sie half ihm täglich in der Praxis und begleitete ihn auch häufig zu den Bauernhöfen, wenn dort ihre Hilfe nötig war. Dass sie auch im Tierheim tatkräftig mit zugriff, passte Hans-Joachim nicht sehr, obwohl er ihre große Liebe zu den Tieren teilte. Er wollte nicht, dass sie sich überanstrengte.
Hans-Joachim ging schon bald wieder. Kurz darauf hörte man sein Auto wegfahren.
Während Andrea ihren Sohn wickelte, unterhielt sie sich mit ihrer Mutter. Es gab immer eine Menge zwischen den beiden zu besprechen. Andrea liebte ihre Stiefmutter innig und vertraute ihr vorbehaltlos.
»Komm gesund wieder!«, rief sie ihr später nach, als Denise wieder nach Schoeneich zurückfuhr.
Am Abend saß Denise mit ihrem Mann noch lange auf der Terrasse. Alexander schmauchte seine unvermeidliche Pfeife, aber er machte keinen sehr glücklichen Eindruck. Denise musste heimlich lächeln. Alle taten so, als würde sie für lange Zeit fortfahren. Dabei würde sie Mitte nächster Woche schon wieder daheim sein.
»Ich habe mir den ganzen Tag überlegt, ob es nicht doch eine Möglichkeit gibt, dich zu begleiten, Denise«, sagte Alexander in das plötzlich zwischen ihnen eingetretene Schweigen hinein. »Aber ich kann nicht fort. Die Saisonarbeiter müssen beaufsichtigt werden.« Ein abgrundtiefer Seufzer folgte.
»Ich habe dir schon oft gesagt, wir sollten einen Verwalter einstellen, Alexander.« Denise nippte an ihrem Weinglas.
»Aber ich fühle mich noch viel zu jung, um nichts zu tun.«
»Du hättest noch immer eine Menge Arbeit, Alexander.«
»Aber nicht genügend.« Er klopfte den Pfeifenkopf an der Tischkante aus. »Mondlicht steht dir gut, Denise.«
»Nicht nur mir, sondern jeder Frau in meinem Alter, mein Lieber. Mondlicht schmeichelt, verwischt die Fältchen, gibt einem die Illusion, noch jung zu sein.«
»Du bist noch jung. Du wirst für mich immer jung bleiben. Noch heute folgen dir Männerblicke.«
»Ist es wirklich so?«, fragte Denise ein wenig ironisch. »Ich bin Mutter von zwei ganz erwachsenen Kindern, einem schon fast erwachsenen Sohn und einem kleinen Jungen.«
Diese Worte waren typisch für Denise. Damit wollte sie zu verstehen geben, dass ihr die beiden Kinder aus Alexanders erster Ehe ebenso ans Herz gewachsen waren wie ihre beiden eigenen Söhne. Nick stammte aus ihrer sehr kurzen Ehe mit Dietmar von Wellentin. Zu ihrer Schande musste sie gestehen, dass ihre Erinnerungen an ihn inzwischen so verblasst waren, dass es ihr schwerfiel, sich an das Aussehen ihres ersten Mannes zu erinnern. Wahrscheinlich hatte sie ihn nicht so tief geliebt. Ihre wirkliche große Liebe war Alexander geworden, der Mann, der ihr alles auf der Welt bedeutete.
»Wenn du fort bist, fühle ich mich nur als halber Mensch«, gestand Alexander in Denises Gedanken hinein.
»Mir ergeht es genauso, Alexander. Ich werde versuchen, mit dem Flugzeug zurückzufliegen, damit es schneller geht.«
»Lieber nicht, Denise. Mir ist es lieber, du fährst wieder mit dem Zug. Die Luft hat bekanntlich keine Balken«, scherzte er. Dann blickte er auf die Uhr. »Es ist schon fast Mitternacht.«
»Höchste Zeit schlafen zu gehen.« Denise erhob sich.
Alexander schlief bald ein, aber Denise lag noch lange mit offenen Augen da. Einerseits freute sie sich, dass sie ihre langjährige Freundin Lilly Portmann wiedersehen würde. Lilly war schon einmal verheiratet gewesen. Ihr Mann war an einer heimtückischen Krankheit gestorben, und sie hatte lange unter seinem viel zu frühen Tod gelitten. Nun aber hatte sie ein zweites Glück gefunden mit einem bekannten Chirurgen. Übermorgen würde sie ihn heiraten.
Andererseits hätte sich Denise gewünscht, nicht fahren zu müssen. Denn sie hatte das Gefühl, dass man ohne sie weder in Schoeneich noch in Sophienlust zurechtkommen konnte.
Nick scheint das von mir geerbt zu haben, dachte Denise mit einem kleinen amüsierten Lächeln. Auch er ist der Meinung, dass seine Anwesenheit hier unbedingt notwendig ist. Jedenfalls wird er einmal ein guter Herr von Sophienlust werden. Er fühlt sich schon jetzt für diesen herrlichen Besitz, den er von seiner Urgroßmutter Sophie von Wellentin geerbt hat, verantwortlich. Aber bis zu seiner Großjährigkeit muss ich den Besitz für ihn verwalten.
Noch mancherlei Gedanken gingen Denise durch den Kopf. Doch endlich schlief auch sie ein.
*
Am nächsten Nachmittag saß Denise ihrer Freundin Lilly Portmann auf der Terrasse des luxuriösen Bungalows in München-Bogenhausen gegenüber. Von dort hatte man einen Blick auf die Isar.
Lilly Portmann war eine hübsche Blondine, etwas füllig und sehr fraulich. Das helle Glück strahlte aus ihren blauen Augen. »Denise, ich hätte nicht geglaubt, dass ich mich nach Pauls Tod noch einmal würde verlieben können. Klaus ist ein wunderbarer Mensch und ein fantastischer Arzt. Natürlich hat er wenig Zeit für mich. Ich bin nur froh, dass er sich einverstanden erklärt hat, seine Junggesellenwohnung in der Stadt aufzugeben und in dieses Haus zu ziehen. Ich hänge an dem Haus.«
»Es ist auch wunderschön, und die Lage ist herrlich.«
»Nicht wahr, Denise? Und all die Blumen habe ich selbst angepflanzt. Glaubst du, dass ich schon zu alt für Kinder bin?«
»Keineswegs, Lilly«, erwiderte Denise.
»Sollten Klaus und ich kein Kind mehr bekommen, werde ich eines adoptieren. Dann musst du mir behilflich sein.«
»Gern, Lilly. Aber warum solltest du keine Kinder bekommen? Du bist doch wie geschaffen für eine Mutter.«
»Aber mit Paul hat es nicht geklappt. Ach, da kommt Klaus!«, rief Lilly begeistert. »Er hat sich über eine Woche frei genommen, damit wir auch etwas von den Flitterwochen haben.« Sie erhob sich und ging dem großen Mann mit den grau melierten Haaren und dem gut geschnittenen Gesicht entgegen. »Klaus, Denise, unsere Trauzeugin, ist schon da.«
Dr. Klaus Hellerich nannte seinen Namen und stellte dabei fest, dass Lillys Freundin bildschön war. Sogleich verstand er sich mit Denise sehr gut, die ihrerseits überzeugt war, dass Lilly mit diesem Mann das große Los gezogen habe.
Die Hochzeit am nächsten Tag war sehr feierlich. Lilly wollte nichts davon wissen, dass Denise gleich wieder abreiste. »Du störst uns keineswegs. Wir sind schließlich schon ein mittelalterliches Ehepaar«, fügte sie fröhlich hinzu.
»Gut, ich bleibe gern noch, weil ich einige Besorgungen machen möchte.« Denise erhob sich vom Frühstückstisch. »Ich werde mir ein Taxi bestellen.«
»Aber nimm doch meinen Wagen«, schlug Lilly vor.
»Ich fahre lieber mit einem Taxi. München ist für mich eine fremde Stadt.«
»Ich verstehe, dass Denise mit einem Taxi fahren will«, mischte sich Klaus ein. »Es ist auch erholsamer.«
»Also gut, dann rufe ich ein Taxi.« Lilly folgte Denise ins Haus. Kurz darauf stieg Denise in den bestellten Wagen ein.
*
Gegen Mittag hatte Denise ihre Besorgungen erledigt und suchte wieder ein Taxi, um zu dem Bungalow ihrer Freundin zurückzufahren. Diesmal saß eine Fahrerin am Steuer. Es war eine noch junge Frau mit verhärmten Zügen und traurigen Augen, die sofort Denises Mitgefühl erregte.
Für unglückliche Menschen hatte Denise ein Gespür. Als sie dann eine aufgeregte Kinderstimme aus dem Sprechfunk des Wagens hörte, die fragte: »Mutti, wann kommst du endlich nach Hause?«, wuchs ihr Interesse für die Taxifahrerin noch.
Um mit der Fahrerin ins Gespräch zu kommen, sagte Denise: »Die Technik ist für viele Dinge ein Segen.«
»Das ist wahr«, gab die Taxifahrerin zu. »Besonders für Frauen in meiner Lage. So kann ich immer wieder mit meinen Kindern über die Sprechfunkanlage Kontakt aufnehmen und weiß, was daheim los ist.«
»Wie viele Kinder haben Sie denn?«
»Zwei. Einen Jungen und ein Mädchen. Meine Tochter ist vier, und mein Sohn wird bald neun.«
»Wie heißen sie denn?«, erkundigte sich Denise.
»Ich? Anita Gabler.«
»Ich meinte eigentlich Ihre Kinder«, erwiderte Denise lächelnd.