Soul Catcher - Dana Kilborne - E-Book

Soul Catcher E-Book

DANA KILBORNE

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Beschreibung

In der Kleinstadt Deveraux geht die Angst um, und auch Alyssa reagiert geschockt auf den tödlichen Unfall ihrer Mitschülerin Fallon. Als sich die unheimlichen Vorfälle in ihrer Clique häufen, wird schnell klar, dass mehr dahinterstecken muss. Irgendjemand hat es auf sie und ihre Freunde abgesehen, aber wer? Und warum? Zusammen mit ihrem besten Freund Declan macht sie sich auf die Suche nach dem skrupellosen Killer, von dem sie rein gar nichts wissen. Dann aber finden sie heraus, dass jedes Opfer ein Geschenk bekommen hat – ein Geschenk ohne Absender, aber mit einer furchtbaren Wirkung ...

Lies jetzt "Soul Catcher" – und erinnere dich an den Roman, wenn du das nächste Mal ein Geschenk auspacken willst!

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Dana Kilborne

Soul Catcher

 

 

 

1. KAPITEL

Fallon stand am Rand des Abgrunds und blickte in die Tiefe. Wind zerrte an ihrem blonden, schulterlangen Haar, und der Regen peitschte ihr hart ins Gesicht. Eine dichte, schwarze Wolkendecke hing tief und drohend am Himmel. Schon den ganzen Tag über goss es wie aus Kübeln, und Fallon war längst klatschnass, doch das kümmerte sie nicht. Sie stand nur reglos am Abgrund des alten Steinbruchs und starrte nach unten.

Sollte sie es wirklich tun? Sollte sie sie wirklich dort hinunter werfen? Aber warum eigentlich nicht? Dann war sie das Teil endlich los. Ein für alle Mal. Andererseits war es auch verrückt. Da fuhr sie spät am Abend hier zum alten Steinbruch hinaus, nur um diese Uhr loszuwerden. Aber was sollte sie denn machen?

Noch einmal sah sie das Kästchen an, das sie in der rechten Hand hielt. Die Wolkendecke riss auf, und das fahle Licht des vollen Mondes ergoss sich über das Areal. Für einen Moment war es fast taghell, obwohl es schon ziemlich spät war. Die Uhr war ziemlich alt, ein richtiges antikes Schätzchen, und es war auch keine einfache Armband- oder Wanduhr, sondern eine Spieluhr. Sie war etwa so groß wie ein Schmuckkästchen und bestand aus edlem, mattschimmerndem Holz, das am Deckel und auf der Vorderseite mit kleinen Blumen und Blüten dekoriert war. Wenn man den Deckel öffnete, sah man eine zierliche Tänzerin, die sich auf einem kleinen Sockel drehte, und im selben Moment begann die Melodie zu spielen.

Fallon hatte keine Ahnung, was das war. Irgendetwas Klassisches. Schubert oder Bach? Oder vielleicht Mozart? Sie wusste es nicht, kannte sich mit so etwas nicht aus, und es interessierte sie auch nicht. Dennoch wollte ihr die Melodie einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Kein Wunder, sie hörte sie ja ununterbrochen, seit sie diese verdammte Spieluhr besaß!

Normalerweise sollte die Melodie aufhören zu spielen, sobald man den Deckel wieder schloss. Nicht so bei dieser Spieluhr. Zuerst hatte Fallon es für einen Defekt gehalten und alles Mögliche ausprobiert. Erfolglos, die Melodie wollte einfach nicht verstummen. Dann aber hatte sie etwas festgestellt, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Denn ganz offenbar konnte außer ihr selbst niemand sonst die Musik hören. Wenn der Deckel geschlossen war, schien die Melodie nur für sie weiterzuspielen. Nur Fallon selbst konnte sie hören.

Inzwischen begann sie bereits langsam, an ihrem Verstand zu zweifeln. Was hatte sie schon alles versucht, diese Uhr loszuwerden! Aber was sie auch tat, es ging einfach nicht. Zuerst hatte sie das Teil einfach in den Mülleimer vor dem Haus geworfen. Als sie daraufhin zurück in ihr Zimmer kam und sah, dass die Uhr wieder auf ihrem Bett lag, hatte sie einen richtigen Schock bekommen. Dann war sie in die Werkstatt ihres Vaters gelaufen und hatte das verdammte Teil mit einem Vorschlaghammer demoliert. Doch ihre Erleichterung hatte nicht lange vorgehalten, denn als sie den Hammer an seinen Platz zurückgelegt und sich wieder zur Werkbank umgedreht hatte, war die Uhr wieder völlig intakt gewesen. Es war, als wäre die Uhr unzerstörbar.

Und jetzt? Jetzt stand sie hier am Steinbruch und wollte die Uhr den Abgrund hinunter werfen. Dabei musste sie doch einfach kaputtgehen. Oder wenigstens auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Oder vielleicht doch nicht?

Fallon wusste nicht, ob es überhaupt eine Möglichkeit gab, die Spieluhr loszuwerden, aber sie musste es wenigstens versuchen. Denn wenn sie diese verdammte Melodie noch länger hören musste, würde sie am Ende noch in der Klapsmühle landen.

Entschlossen holte sie aus, dann atmete sie noch einmal tief durch und schleuderte die Uhr in hohem Bogen von sich.

In dem Moment schob sich wieder eine große, dunkle Wolke vor den Mond, so dass sie nicht sehen konnte, wie die Uhr in die Tiefe fiel. Aber als Fallon nach einer Weile den leisen Aufprall und das Scheppern von Glas und Metall hörte, atmete sie erleichtert auf.

Angestrengt lauschte sie in die Dunkelheit. Keine Melodie war mehr zu hören, nicht der kleinste Laut.

Nichts! Nur das sanfte Prasseln des Regens und das Geräusch des Windes, der durch die Kronen der Bäume fuhr.

Fallon wollte es erst nicht glauben, aber nach und nach wurde ihr klar, dass sie es geschafft hatte. Ja, es gab keinen Zweifel: Die Spieluhr war zerstört, für immer und ewig kaputt.

Endlich!

Fallon fühlte sich, als sei eine zentnerschwere Last von ihr gefallen. Wie sehr hatte sie dieses Teil gehasst! Es hatte sie fertig machen wollen, doch damit war jetzt Schluss.

Mit einem befreiten Lächeln auf den Lippen machte sie sich auf den Weg zurück zu ihrem Wagen. Als sie den alten Pontiac, für den sie zwei Sommerferien lang bis zum Umkippen gejobbt hatte, schließlich erreichte, konnte sie es irgendwie noch immer nicht so richtig fassen. Was hatte sie alles versucht, um diese verfluchte Uhr loszuwerden? Nichts hatte geklappt, doch jetzt war es soweit. Endlich war sie wieder frei!

Sie schwang sich hinters Steuer und startete den Motor. Es war ein Wunder, dass er sofort ansprang, in der letzten Zeit hatte er ständig Zicken gemacht. Aber manchmal hatte man einfach Glück, und heute war offenbar so ein Tag.

Fallon schaltete das Radio ein und suchte den Oldiesender, denn danach war ihr jetzt einfach. Sie wollte die Nacht und ihre neu gewonnene Freiheit genießen. Ja, zum ersten Mal seit einer ganzen Weile schien sie wieder richtig frei atmen zu können.

Sie fuhr los. Die Scheinwerfer ihres Wagens zerschnitten die Dunkelheit vor ihr, und die Scheibenwischer liefen auf Hochtouren, um den Regenmassen Herr zu werden, was ihnen aber nur schwer gelang. Der Regen wurde immer stärker.

Fallon war noch nicht weit gekommen, als sie plötzlich stutzte. Was war das? Für einen Moment glaubte sie, die Melodie zu hören, die die Uhr immer gespielt hatte. Aber das war Quatsch, schließlich gab es die Spieluhr nicht mehr. Trotzdem war es seltsam. Im Radio lief irgendein Song von Elvis, und das klang nun gar nicht wie die Melodie. Na, wahrscheinlich phantasierte sie inzwischen wirklich schon bildete sich irgendetwas ein.

Doch da! Wieder hörte sie es. Hastig stellte sie das Radio leiser. Und tatsächlich! Es war die Melodie, die sie da hörte, kein Zweifel möglich. Und sie kam von …

Fallon wirbelte herum. Erschrocken riss sie die Augen auf, als sie die Spieluhr entdeckte. Sie lag auf der Rückbank des Wagens, war seltsamerweise in grelles Licht gehüllt – und zu Fallons grenzenlosem Entsetzen alles anderes als kaputt.

“Nein!”, schrie Fallon entsetzt. “Das kann doch nicht …”

In dem Moment blickte sie nach vorne – und zuckte zusammen, als sie erkannte, dass die Straße vor ihr eine scharfe Biegung machte. Geistesgegenwärtig riss sie das Lenkrad herum, doch es war zu spät.

Erschrocken schrie sie auf, als sie den Felsen sah, an dem ihr geliebter Pontiac nur einen Sekundenbruchteil später sein Ende fand.

Sie spürte den Aufprall, dann wurde es finster um sie herum.

Als ihr Herz aufhörte zu schlagen, verstummte auch die Spieluhr, die noch immer auf dem Rücksitz lag und keinen Kratzer abbekommen hatte.

 

*

Oh, arme kleine Fallon … Sie war doch noch so jung. Welch ein Jammer! Aber keine Angst, kleine Fallon, ein Teil von dir wird weiterleben. Dein Tod war nicht umsonst. Endlich habe ich, was ich von dir wollte. Es wird gut in meine Sammlung passen, da bin ich mir sicher.

Und bald schon sind deine Freunde an der Reihe. Sie sind auch alle noch so wunderbar jung …

Die nächsten Geschenke sind schon unterwegs. Bestimmt werden deine Freunde sich darüber freuen. Ich habe nur das Beste für sie ausgesucht.

Aber am meisten werde ich mich freuen. Hinterher, wenn die Geschenke ihren Zweck erfüllt haben.

Ich kann es kaum noch erwarten!

 

*

“Irgendwie ist das mit der Schülerzeitung doch total hirnrissig, findet ihr nicht?” Fragend sah Alyssa Cardasian ihre Freunde an. Es war große Pause, und sie standen etwas abseits von den anderen Schülern auf dem Schulhof. Es war ein ziemlich ungemütlicher Tag. Der Himmel war grau, zudem wehte ein starker Wind, und sicher würde es bald wieder anfangen zu regnen, nachdem es gestern schon den ganzen Abend und auch in der Nacht ununterbrochen gegossen hatte.

Shannon Cox, ein hübsches schlankes Mädchen mit rotem Haar, das ihm bis über die Schultern fiel, zuckte die Achseln. “Wieso meinst du? Ich finde es irgendwie aufregend, dass es jetzt endlich eine Schülerzeitung bei uns gibt. Und dass wir da mitmischen können, macht die ganze Sache doch noch viel besser. Das wird doch bestimmt ein Riesenspaß! Und spannend stelle ich mir so was auch vor.”

“Sehe ich auch so”, stimmte Mary-Ann Stears ihr zu. Mary-Ann war groß und schlank, hatte fast schon Modelmaße und war auch ziemlich stolz auf ihre Figur. Oft wirkte sie ein bisschen eingebildet, aber alles in allem war sie schwer in Ordnung. “Und wenn wir es richtig anpacken, wird das Ganze sicher ein Riesenerfolg.”

“Nee, ist klar.” Alyssa verdrehte die Augen. “Wie soll das denn ein Riesenerfolg werden bei den paar Schülern? Selbst die Lokalpresse hat doch hier im Ort zu knacken. Ich meine, sind wir doch mal ehrlich: Wenn sich irgendeiner in unserer tollen Stadt morgens die Tageszeitung holt und sie nach dem Lesen weitergibt, hat sie spätestens am Nachmittag der Letzte durch.”

“Ach, du siehst das mal wieder zu schwarz”, erwiderte Shannon. “Nur weil du im Moment eine Krise hast, kann man doch nicht jede Idee gleich verteufeln.”

Alyssa nickte. Irgendwie stimmte es ja schon, sie hatte im Moment tatsächlich eine Krise, zumindest so was in der Art. Aber im Moment ging ihr hier alles mächtig auf den Geist. Deveraux mochte eine hübsche, friedliche Stadt sein, aber gleichzeitig war es wohl auch der kleinste Ort in ganz Neuengland. Hier sagten sich Fuchs und Hase Gute Nacht, und hier war in etwa so viel los wie in einem Altenheim ohne Bewohner. Sicher, es gab schon ein paar Einrichtungen, die auch was für Kids waren: Eine Pizzeria, ein Diner und nicht zu vergessen den Cox Coffee Corner. Aber das war es dann auch schon, und da war es kein Wunder, dass sich viele der Kids schon ziemlich langweilten. Ohne Auto war man praktisch aufgeschmissen, denn die nächste größere Stadt lag zu weit entfernt, als dass man sie zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichen konnte. Tagsüber ging es gerade noch, denn da fuhr wenigstens noch der Bus, aber abends … Mal mit Freunden ins Kino gehen (und zwar nicht die Nachmittagsvorstellung) war nur drin, wenn man eine fahrbaren Untersatz hatte. Und davon konnten Alyssa und ihre Freunde noch eine ganze Weile lang nur träumen.

Im Moment nervte es sie tierisch, dass sie praktisch an Deveraux gefesselt war. Solche Phasen hatte sie öfters. Doch das ging vorbei, und bald würde sie sich wieder mit dem Leben in Deveraux arrangieren. Aber so lange hatte sie doch wohl das Recht, von einem aufregenden Leben in der Großstadt zu träumen! Und dazu gehörte für sie auch, ein wenig aus dem öden Kleinstadtleben auszubrechen, was sie zurzeit tat, indem sie sich ziemlich untypisch stylte. Erst letzte Woche hatte sie ihr Haar mit dunkelblauen Strähnen versehen (um die Farbe zu bekommen, hatte sie extra bis nach Bangor fahren müssen), außerdem trug sie seit kurzem einen Nasenstecker (auch den hatte sie natürlich nicht in Deveraux bekommen). Ihre Mutter hatte das erlaubt, aber das war kein Wunder, denn seit Alyssas Vater vor fünf Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen war, erlaubte Mrs. Cardasian ihrer Tochter so gut wie alles.

Die anderen Erwachsenen in Deveraux hatten dafür nicht unbedingt Verständnis, jedenfalls starrten sie Alyssa seit ihrem Typwechsel an wie einen Alien. Die Kids nahmen das zum Glück etwas lockerer, insgeheim bewunderten sie Alyssa wohl für ihren Mut, sich so vor die Tür zu trauen. Als nächstes wollte Alyssa sich ein Bauchnabelpiercing machen lassen, aber dazu musste sie wohl erst noch eine Diät einlegen, dummerweise gehörte sie nämlich nicht zu den Schlanksten, was sie gehörig störte. Aber die Burger im hiesigen Diner waren einfach unwiderstehlich.

“Außerdem weiß ich gar nicht, was du hast”, sagte Mary-Ann. “Gut, du hast im Moment die Nase voll vom Kleinstadtleben. Aber denk doch mal nach: Wenn du in London, New York oder Los Angeles leben würdest, würdest du ihn garantiert nicht jeden Tag sehen!”

Alyssa sah in die Richtung, in die ihre Freundin deutete. Als sie Declan Brannagh erblickte, der mit ein paar anderen Jungs auf der anderen Seite des Schulhofs stand, nahm ihr Blick sofort einen verträumten Ausdruck an. Er war einfach nur total cool. Seine strahlend blauen Augen funkelten richtig, und er hatte ein echt süßes Grübchen am Kinn. Das kurze, dunkelbraune Haar sah immer ein bisschen aus, als wäre er gerade erst aus dem Bett gekommen, und obwohl er sich nicht großartig für Styling und Klamotten zu interessieren schien, sah er immer zum Anbeißen aus. Es war schwer zu beschreiben, aber irgendetwas ließ Declan erwachsener wirken als die meisten anderen Jungs an ihrer Schule.

Als er jetzt in ihre Richtung sah und ihr zulächelte, fing ihr Herz heftig an zu pochen, und sie hatte das Gefühl, tausend Schmetterlinge im Bauch zu haben.

Reiß dich bloß zusammen! wies sie sich selbst zurecht. Declan durfte auf keinen Fall etwas von dem komischen Gefühlschaos mitkriegen, das seit einiger Zeit in ihr tobte! Schlimm genug, dass Mary-Ann und die anderen offenbar schon etwas ahnten.

“Und?” Betont gelassen zuckte Alyssa die Achseln. “Declan ist mein bester Freund, okay. Aber deshalb …”

Ihre Freundinnen kicherten. “So, so, bester Freund also.” Mary-Ann schüttelte den Kopf. “Na, wer’s glaubt. Ich jedenfalls denke, dass du dir schon seit einer Weile etwas ganz anderes wünschst …”

“Na, was du mal wieder denkst! Aber jetzt lasst uns mal lieber wieder auf die Schülerzeitung zurückkommen”, sagte Alyssa rasch, um das Thema zu wechseln. “Was sollen wir denn da überhaupt schreiben? Ich meine, wir leben hier in Deveraux. Wenn irgendwo niemals etwas Aufregendes passiert, dann doch wohl hier!”

In dem Moment tauchte Aaron Rothman auf. Er war ziemlich dürr, hatte ein heftiges Akneproblem und zudem eine Vorliebe für rote Sweatshirts, die sich furchtbar mit seinem karottenroten Haar bissen. Weil er ein bisschen schräg aussah, hatte er es nicht leicht an der Schule. Alyssa mochte ihn trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb. Er war für sie so etwas wie ein kleiner Bruder, den sie beschützen wollte. Ein kleiner Bruder, der im Augenblick ziemlich außer Atem zu sein schien.

“Habt ihr schon gehört?”, fragte er aufgeregt. “Fallon … Sie … Sie ist …”

“Was ist mit Fallon?”, fragte Charlie genervt. “Hat ihr Daddy, unser geliebter Herr Bürgermeister, ihr wieder mal ‘ne Entschuldigung geschrieben, weil sie Migräne hat oder so?” Charlie mochte Fallon nicht, was Alyssa schade fand, weil sie mit der Tochter des Bürgermeisters total gut auskam.

Heftig schüttelte Aaron den Kopf. “Nein, das ist es nicht. Sie ist …”

“Ja, was denn nun?”, fragte Charlie ungeduldig. “Jetzt rück doch endlich raus mit deiner Neuigkeit!”

“Sie ist tot. Fallon ist tot!”

Alyssa hatte keinen Schimmer, wie sie nach Hause gekommen war. Sie lag auf ihrem Bett, starrte an die Decke und rührte sich nicht. Ein leises Klopfen riss sie aus ihren Gedanken. Gleich darauf wurde die Tür geöffnet, und ihre Mom steckte den Kopf ins Zimmer.

“Ich habe dir einen Tee gemacht, Honey. Hast du vielleicht auch Hunger? Ich könnte dir eine Suppe machen oder vielleicht auch …”

“Lass mal, Mom. Mir wird schon schlecht, wenn ich nur an Essen denke. Ich krieg jetzt echt nichts runter.”

“Aber den Tee trinkst du doch? Du musst schließlich wieder zu Kräften kommen, nach dem Schock, den du heute erlebt hast.” Ihre Mutter stellte die Teetasse auf den kleinen Nachttisch und setzte sich zu Alyssa ans Bett. “Es ist aber auch wirklich furchtbar. Was die armen Eltern des Mädchens wohl jetzt durchmachen? Es muss grausam sein, sein einziges Kind … Über so etwas darf ich gar nicht nachdenken!”

“Dann lass es doch am besten, Mom. Und um mich brauchst du dir auch keine Sorgen machen. Ich ruh mich noch ein bisschen aus, dann geht’s mir bestimmt auch schon wieder besser.”

“Wenn du meinst.” Mrs. Cardasian wirkte unschlüssig. “Aber bist du dir auch wirklich sicher, dass du ganz bestimmt nichts essen …?”

“Mom!”

“Ist ja schon gut. Also, ich gehe dann mal nach unten, in Ordnung?”

Als sie endlich wieder allein in ihrem Zimmer war, atmete Alyssa erleichtert auf. Sie liebte ihre Mutter total, daran gab es nichts zu rütteln – aber mit ihrer übertriebenen Fürsorge konnte sie einen halt schon ziemlich nerven. Schließlich war sie kein kleines Kind mehr!

Seufzend richtete Alyssa sich in ihrem Bett auf und blieb so sitzen. Kaum, dass sie allein war, dachte sie wieder an Fallon und spürte, wie ihr eine Träne über die Wange rollte. Irgendwie konnte sie es noch immer nicht fassen, dass Fallon tatsächlich tot sein sollte. Das alles kam Alyssa so unwirklich vor, so furchtbar unwirklich.

Sie griff in ihre Hosentasche und umfasste das Sturmfeuerzeug, das sich darin befand. Es war ein Geschenk ihres Vaters gewesen. Er hatte es ihr kurz vor seinem Tod geschenkt und ihr gesagt, dass es sich bei dem Feuerzeug um ein Erbstück seines Vaters handelte und Alyssa es in Ehren halten solle. “Und solltest du einmal auf die Idee kommen, dir eine Zigarette damit anzustecken, denk immer daran, dass deinem Grandpa das gar nicht gefallen würde. Und mir übrigens auch nicht.”

So wollte er wohl verhindern, dass Alyssa jemals anfing zu rauchen. Heute aber hatte sie manchmal das Gefühl, dass er irgendwie ahnte, dass er nicht mehr lange zu leben hatte und ihr einfach etwas geben wollte, das sie immer an ihn erinnerte.

Nun, beides hatte geklappt. Immer, wenn sie das Feuerzeug sah oder es in ihrer Tasche fühlte, dachte sie an ihren Dad. Und bis heute hatte sie keine Zigarette angerührt, und sie schwor sich, dass sich das auch nie ändern würde. Rauchen war schließlich nicht nur uncool, sondern auch total ungesund.

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als es wieder an der Tür klopfte.

“Mom, ich hab doch gesagt, dass …”, stöhnte Alyssa genervt, doch als sie sah, wer da jetzt tatsächlich den Raum betrat, erhellte sich ihre Miene schlagartig.

“Declan!”, rief sie begeistert aus. “Und Blink!”

Blink war Alyssas dreijähriger Hund, ein gutmütiger brauner Labrador, und stürmte jetzt lauthals bellend zu seinem Frauchen aufs Bett. Seinen Namen hatte er weg, weil Alyssa damals, mit zwölf, ein riesengroßer Fan von Blink-182 gewesen war. Heute bedauerte sie das arme Tier für seinen schrecklichen Namen, aber was sollte sie machen? Ändern konnte sie nichts mehr, schließlich hörte er jetzt auf den Namen.

“Wo kommt ihr denn her?”, fragte sie Declan, nachdem sie sich rasch die Tränen aus dem Gesicht gewischt hatte und jetzt ihren Hund kraulte, der dies hechelnd und mit heraushängender Zunge genoss.

“Blink und ich haben uns gedacht, dass wir mal eine Runde Gassi gehen, damit du dich ein bisschen ausruhen kannst.” Er musterte sie. “Geht’s denn wieder einigermaßen?”

Alyssa nickte. Jetzt erinnerte sie sich auch wieder, wie sie nach Hause gekommen war: Nachdem sich die Nachricht von Fallons Unfall an der Schule herumgesprochen hatte, war vom Direktor beschlossen worden, den Unterricht für heute zu beenden. Doch der frühe Schulschluss hatte für keine Jubelstimmung gesorgt. Das, was mit Fallon passiert war, hatte einfach jeden geschockt.

Da Alyssa nach der schrecklichen Neuigkeit richtig schlecht gewesen war, hatte Declan sie nach Hause gebracht, doch das hatte sie irgendwie gar nicht richtig mitbekommen. Jetzt war sie aber froh, dass er bei ihr war. In seiner Nähe fühlte sie sich total sicher. Das war schon immer so gewesen, seit einiger Zeit aber mehr denn je.

“Ich kann es noch immer nicht richtig glauben”, sagte Alyssa nach einer Weile leise. “Gestern war Fallon doch noch in der Schule, und heute …”

“Ich weiß, was du meinst. Ich kann es auch nicht fassen.” Declan nickte und setzte sich zu ihr ans Bett. Liebevoll legte er seine Hand auf die ihre. Sofort schlug Alyssas Herz höher.

“Weiß man denn überhaupt, wie das genau passiert ist?”

Declan hob die Schultern. “Ich habe eben von unterwegs noch mal Aaron vom Handy aus angerufen. Fest steht, dass Fallon mit dem Wagen verunglückt ist, aber der Sheriff ist sich noch nicht sicher, ob es wirklich ein Unfall oder vielleicht doch Selbstmord war.”

“Selbstmord? Der hat sie ja wohl nicht alle!”, stieß Alyssa aufgebracht aus. “Fallon und Selbstmord, das ist doch absurd!” Entschieden schüttelte sie den Kopf. Man konnte ihr ja viel erzählen, aber nicht so etwas! Sie hatte Fallon wohl besser gekannt als die meisten anderen Kids hier. Fallon war nicht bei jedem beliebt gewesen, was vor allem daran lag, dass viele sie für sehr arrogant hielten. Einige meinten, dass sie sich auf die Tatsache, dass ihr Vater der Bürgermeister des Ortes war, total viel eingebildet hatte, was aber überhaupt nicht stimmte. Im Gegenteil war ihr das sogar immer ziemlich unangenehm gewesen. Alyssa jedenfalls war immer spitzenmäßig mit ihr ausgekommen, und eines wusste sie ganz sicher: Niemals – wirklich niemals – hätte Fallon ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt. Dazu hatte sie viel zu sehr am Leben gehangen. Und welche Träume und Ziele sie gehabt hatte. Da war es doch total hirnrissig, an Selbstmord auch nur zu denken! “Nein, es muss ein Unfall gewesen sein”, murmelte Alyssa.

Declan nickte. “Das denke ich ja auch. Komisch ist aber, dass der Unfall ganz in der Nähe des Steinbruchs passiert ist. Und zwar ziemlich spät am Abend.”

“Am Steinbruch? Was hat sie denn da gewollt?”

“Genau das frage ich mich eben auch. Ich meine, du kanntest sie besser als ich, aber irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass der Steinbruch zu Fallons bevorzugten Gegenden gehört hat. Und dann noch um diese Zeit.”

“Da hast du ganz sicher Recht. Mir kommt das ja auch seltsam vor.”

“Aber passt das nicht irgendwie ganz gut ins Bild? Ich meine, hat sich Fallon nicht in der letzten Zeit ohnehin ziemlich merkwürdig verhalten?”

Nachdenklich kniff Alyssa die Augen zusammen. “Jetzt wo du es sagst – ein bisschen komisch kam sie mir in der letzten Zeit wirklich vor. Irgendwie war sie immer so abwesend, und wenn ich mal bei ihr war, hat sie immer auf diese Spieluhr gestarrt, die da seit einiger Zeit in ihrem Zimmer stand. Total komisch, sag ich dir.”

“Was für eine Spieluhr?”

Alyssa hob die Schultern. “Keine Ahnung, die hat sie wohl vor kurzem geschenkt bekommen. Ich glaube, sie wusste nicht mal, von wem. War schon ziemlich merkwürdig. Na ja, ich hab sie jedenfalls mehrmals gefragt, was im Moment mit ihr los sei, aber sie hat immer nur gemeint, dass sie irgendwelchen Stress mit ihrem Vater habe. Und da habe dann auch nicht weiter nachgehakt. Hoffentlich war das kein Fehler.”

Declan winkte ab. “Mach dir da mal keinen Kopf, du warst schließlich nicht ihr Babysitter. Und wenn es ihr wirklich richtig dreckig gegangen wäre, hätte sie bestimmt mit dir darüber gesprochen und dich um Hilfe gebeten.”

“Klar. Aber das bringt uns jetzt kein Stück weiter. Andererseits – wenn es wirklich ein Unfall war, spielt es ja auch keine Rolle, was Fallon am Steinbruch wollte. Ändern können wir sowieso nichts mehr.”

“Eben.” Declan stand auf. “Und ich bin mir sicher, dass es sich tatsächlich um einen Unfall handelt. An Selbstmord glaube ich jedenfalls genauso wenig wie du.” Er sah sie unsicher an. “Sag mal, kommst du jetzt klar? Ich frag nur, weil ich gleich noch mit einem Kumpel verabredet bin. Ich meine, ich kann ihn auch anrufen und absagen, aber …”

Alyssa winkte ab. “Kein Ding, echt. Geh nur, ich komm schon zurecht.

---ENDE DER LESEPROBE---