Spuren der Verirrten - Peter Handke - E-Book

Spuren der Verirrten E-Book

Peter Handke

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Beschreibung

In seinem neuen Stück erzählt Peter Handke von Gehenden, von Figuren, die einzeln, paarweise, zu dritt den Raum durchqueren und aus der stummen Bewegung heraus zur Sprache finden. Im Spiel entdecken sie die Fragen, die die menschliche Existenz berühren: nach den ersten Wahrnehmungen, nach dem Verlust des inneren Friedens, dem Verschwinden des Anderen und dem Ende der Zeit. Peter Handke bannt die Spuren seiner Figuren für einen Augenblick, bis sie einander wieder verlieren.
Heimlicher Protagonist ist der Zuschauer, der im Verlauf der Handlung seine Distanz aufgibt und mitspielt, für kurze Zeit …
Der Leser ist der Zuschauer, der ins Stück hineingezogen wird, sich auf der Bühne wiederfindet und zusieht, wie des Lebens Traum entschwindet.
Spuren der Verirrten ist ein faszinierender Text, der dem Theater zurückgibt, was längst verloren schien: die Ahnung einer anderen Zeit.

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Seitenzahl: 73

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Peter Handke

Spuren der Verirrten

Suhrkamp Verlag

Und wieder die Gehenden, jeweils zu zweit, als eine Art Paar, jedesmal ein verschiedenes. Von Zeit zu Zeit ist dann auch ein Dritter mit ihnen. Und wieder die auf der einen Seite Auftretenden, auf der anderen Seite Abgehenden und, nach einer kleinen Pause, in geänderter Aufmachung und Gestalt, neu Auftretenden, zu ihrem jeweiligen Reden oder Schweigen Innehaltenden, oder sich Verlangsamenden, oder Beschleunigenden, und so von Anfang bis Ende, während der ganzen Spielzeit. Und wieder habe auch ich meinen Platz eingenommen, als Zuschauer. Seit jeher habe ich nichts getan als zuschauen. Und inzwischen ist das meine Rolle geworden. Vor lauter Zuschauen bin ich zu nichts anderem gekommen. Es wird mir freilich nachgesagt, ich sei ein guter Zuschauer, ja, ein überzeugender, und das sei mehr als ein guter Zuhörer. Wie überzeugend? Man wird vielleicht noch sehen.

*

Zunächst sehe ich zwei, die im Gehen ihren Weg markieren, mit Brotbrocken? Es sind Erwachsene, keine Kinder. Ist es für den Rückweg? Jedenfalls wenden sie sich immer wieder um, winken sogar, ein Winken freilich, welches der, dem es etwa zugedacht war, offenbar ziemlich bald nicht mehr erwidert. Die beiden verschwinden, und treten auch schon wieder auf, vor- und zurücklaufend, Kleidung und Haare in Unordnung. Sie rennen im Zickzack hin und her, dann einer dem andern nicht von den Fersen weichend, einander im Weg stehend. Schließlich stockt einer und läßt sich hören: »Dort ‒ ein Licht!« Und der andere: »Ein Haus!« Und der eine: »Mitten im Wald.« Und sie gehen, wo ihre Arme hingezeigt haben. Wind kommt auf, und die Markierungen verwehen. Und gleich kommen zwei andere daher, auf einem anderen Weg, der in der Mitte den Weg des ersten Paars sozusagen kreuzt, und markieren ihrerseits, mit Papierknäueln? mit Steinchen? Ohne sich umzuschauen, sind sie dann auch schon verschwunden, stumm, worauf unverzüglich ein Getöse einsetzt, wie ich es von den Laubfegemaschinen (oder wie das Gebläse heißt) im Spätherbst kenne, und auch diese Markierungen, egal ob Papier oder Steine, sind augenblicklich weggefegt. Und dann ist noch ein Paar aufgetreten, auf wieder einem anderen Weg, der in der Mitte den Weg der beiden vorangegangenen Paare kreuzt, so daß der Eindruck einer Wegkreuzung mit sechs verschiedenen Wegarmen entsteht (der sich in all den Folgeauftritten noch verstärkt haben wird.) Und auch diese zwei da markieren ihren Weg, mit kleinen Kegeln, offenbar schweren, wohl aus Eisen?, und sind mir dann gleich wieder aus dem Blick. Und wie durch einen Zauber kippen und rollen die Metallkegelchen von der Szene, als würden sie weggesaugt von einem starken Magneten.

*

Der nächste Auftritt, in der immergleichen, immer gleichhellen Leere geschieht zu dritt. Der Dritte da wird verfolgt von zweien, welche Stöcke und Prügel schwingen und überdies mit Steinen, auch Äpfeln, nach ihm werfen. Er flüchtet kreuz und quer, taucht weg, weicht aus. Bevor sie ihn aber sozusagen umzingelt haben, geht er unversehens in die Hocke und wartet still auf sie. Sie halten ein, hieven ihn auf die Beine. Im gemeinsamen Abgehen, wobei die drei einander die Arme um die Schulter legen, fragt ihn der eine: »Wo wohnst du?« Der Dritte: »Am Mittellandkanal.« Und der zweite: »Hast du nicht eine Schwester?« Der Dritte: »Meine Schwester ist gestorben.« Ein Apfel wird ihm gereicht, und hinter der Szene höre ich ein Hineinbeißen.

*

Beim nächsten Mal sind sie ‒ aber sind es überhaupt dieselben? ‒ wieder nur zu zweit. Sie kommen daher mit Taschen, die sie wie Schultaschen auf den Schultern tragen. Einer trägt spürbar schwerer als der andere, und dieser bietet sich an zu helfen, worauf ihm die Last willig überlassen wird ‒ und schon sind sie wieder weg. Auf einem zweiten Weg kommt dafür gleich ein anderes Paar daher. Einer schleppt einen Koffer, und der andere, der mit freien Händen geht, nimmt ihm diesen dann ab. Und weg sind jetzt auch sie, worauf gleich noch ein Paar auftritt, auf wieder einem anderen Weg, beide ohne Gepäck, von denen der eine dann im Gehen die Hand des anderen streichelt und der andere, im Abgehen, die Hand des einen küßt. Und schon kommen wieder die zwei mit den Schultaschen auf dem Rücken daher ‒ aber sind es überhaupt dieselben? Der eine geht schnell vor dem anderen her. Dieser will ihn immerzu einholen, auf gleiche Höhe mit ihm gelangen. Aber ein jedes Mal beschleunigt der erste, weicht ihm regelrecht aus, oder schüttelt ihn buchstäblich ab; stößt ihn zurück. Dabei will ihm der zweite doch nur die schwere Tasche abnehmen, und versucht das auf dem ganzen Weg, bis zur Bitte, einer leisen: »Laß mich tragen!« Und immer wieder, auf dem ganzen Weg, wird ihm das verwehrt. Und im Abgang höre ich noch, nach dem letzten Versuch: »Seien wir wieder gut!« Keine Antwort. Und in der Zwischenzeit ist schon das zweite Paar ‒ ist es das überhaupt? ‒ wieder dahergekommen, der eine mit dem schweren Koffer, den er sich dann sichtlich abgenommen wünscht. Doch der andere läßt ihn schleppen, gleichsam zu Fleiß; und auch auf das leise: »So hilf mir doch!« zuletzt: extra keine Reaktion. Worauf auch schon das dritte ‌(?) Paar des Weges kommt, wo wieder die Hand des einen dann sich in die des anderen nestelt, und jetzt aber auf der Stelle weggeschlagen wird. Dann ein Kußversuch. Der Küssenwollende wird weggestoßen. Noch ein Versuch: er wird als Ganzer zurückgestoßen, mit Gewalt. Er zeigt dem anderen ein Photo: »Schau, wir zwei!« Das Photo wird zerrissen. Und jetzt erst sehe ich, daß der andere heftig aus der Nase blutet. Bei jedem dritten Schritt wird ihm ein Taschentuch hingehalten, und jedesmal wird es abgewiesen. Dazu wiederholt der erste in einem fort: »Es tut mir leid«, und zwischendurch auch: »Ich war ein Feigling«, und auch: »Es soll nicht wieder vorkommen«, und zuletzt: »Beim nächsten Mal …«, worauf der oder die Blutende im Abgehen innehält und antwortet: »Ein nächstes Mal wird es nicht geben. Nicht mit dir. Nicht mit mir. Du bist ‒ gewesen. Ah, deine Blutsbrüderschwüre. Und im entscheidenden Moment: Was kommt da von dir? Ein Zuzwinkern. Ein Zublinzeln, nichts sonst. Du da: nie wieder. Auszeit. Ausgespielt. Brüderlein fein, einmal muß geschieden sein.«

*

Und wieder sehe ich dann zwei daherkommen, jetzt klar als Frau und als Mann. Dazu erscheint, vom anderen Ende der Wegkreuzung her, neuerlich ein Dritter. Er zeigt sich bloß so und verschwindet wieder. Die beiden umschlingen einander, und der Mann sagt zur Frau (oder umgekehrt?): »Hab keine Angst.« Und sie umschlingen einander noch fester, und gehen dann weiter, Schritt um Schritt, der Mann mit dem Arm um die Hüfte der Frau, oder umgekehrt? Und wieder tritt ihnen gegenüber der Dritte auf, weist mit dem Kopf wie gebieterisch hinter sich und verschwindet. Die beiden, zuerst die Frau? zuerst der Mann? sinken in die Knie, und neuerlich umschlingen sie so einander. Und einer der beiden ‒ es ist durch das Umschlungensein weder zu sehen noch zu hören, wer ‒ spricht: »Wie es auch kommt: Ich lasse dich nicht allein. Wir haben schon Schlimmeres überstanden. Erinnere dich an deinen Abschied fürs Internat. Und die Nacht draußen im Schneesturm. Und die Nachricht vom Tod deines Vaters in der Tundra. Und der Traum, in dem ich mit meiner Mutter schlief. Und wie man uns zusammengesperrt hat mit dem toten deutschen Schäferhund, der schon nach ein paar Stunden zu verwesen anfing, damals im Sommer, und wie erst am zweiten Tag, und wie erst am dritten.« Sie lösen sich voneinander, raffen sich auf und gehen Schritt für Schritt weiter, den Blick gleichermaßen weit voraus. Und neuerlich zeigt sich ihnen der Dritte, für einen kleinen Augenblick ‒ und hat schon kehrtum gemacht ‒, und die zwei folgen ihm, wobei sich der oder die eine noch hören läßt: »Dein Schweiß hat immer so gut gerochen. Selbst dein Angstschweiß.« Und die oder der andere: »Und jetzt?« Und zuletzt, schon verschwanden die beiden, abwechselnd: »Und nie bist du laut geworden.« ‒ »Und immer bist du so fröhlich gewesen.« ‒ »Und immer hast du nur an die anderen gedacht.« ‒ »Und dein schweres Leiden hast du mit Geduld ertragen.« ‒ »Und welche Verlassenheit jetzt!« ‒ »Und das ist das Ziel?« ‒ (Und dann, wie mit der Stimme eines Dritten:) »Ja.«

*