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Sie war Stalins einzige Tochter. Swetlana liebte ihren Vater bedingungslos, bis sie als Jugendliche die Unmenschlichkeit des Sowjetdiktators erkannte. 1967, inmitten des Kalten Krieges, gelang ihr über Indien die Flucht aus der Heimat in die USA – ein Er-eignis, das weltweit für Schlagzeilen sorgte. 1984 trieb es sie für kurze Zeit zurück nach Moskau, danach lebte sie in England und anschließend bis zu ihrem Tod 2011 in den USA. Anhand von Dokumenten, Zeitzeugenberichten und Gesprächen mit Stalins Tochter zeichnet die Historikerin Martha Schad den außergewöhnlichen Lebensweg der Swetlana Allilujewa nach, der es nicht gelang, aus dem Schatten ihres übermächtigen Vaters herauszutreten. Ein einfühlsames Porträt und ein packendes Stück Zeitgeschichte.
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Seitenzahl: 366
Bildnachweis:
Alle Abbildungen aus dem Archiv der Autorin, außer:
Süddeutsche Zeitung Photo: 1 (Rue des Archives), 2 (S.M.), 3, 14, 17 (dpa); Faber, Elmar, Leipzig: 8, 10; Astier, Christophe d’, Paris/Foto: 13; Allilujewa, Swetlana: 15, 16, 18, 21, 22
Komplett überarbeitete und ergänzte Neuausgabe des gleichnamigen 2004 in der Verlagsgruppe Lübbe GmbH und Co. KG erschienenen Titels
© für die Originalausgabe und das eBook:
2013 F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München
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Schutzumschlag: Wolfgang Heinzel
Umschlagmotiv: Laski Diffusion/Getty Images;
eBook-Produktion: VerlagsService Dr. Helmut Neuberger & Karl Schaumann GmbH, Heimstetten
ISBN 978-3-7766-8164-2
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Vor der Vergangenheit kann man nicht fliehen,
aber auch nicht zu ihr zurückkehren.
Der Exildichter Aleksander Sinowjew an Swetlana
Inhalt
Der Tod des Vaters
Swetlanas Mutter Nadeschda
Der Tod der Mutter
Vater und Tochter sind ein Herz und eine Seele
Die erste und tragische Liebe
Swetlanas Ehemänner in Russland
Swetlanas Freunde und Familie
Stalins Terror gegen die eigene Familie
Jahre der Selbstbefreiung
Die Reise nach Indien
Zwischenaufenthalt in Europa
Die Neue Welt – Amerika
Die Schriftstellerin Swetlana Allilujewa
Der amerikanische Ehemann Wesley W. Peters
Meine Tochter ist so amerikanisch wie Apple-Pie
Die Rückkehr der verlorenen Tochter
Swetlana Allilujewa, die Weltbürgerin
Ein Blick zurück
Anhang
Danksagung
Literaturverzeichnis
Der Tod des Vaters
Siebenundzwanzig Jahre lang war ich Zeuge der geistigen Zerstörung meines eigenen Vaters und beobachtete Tag für Tag, wie ihn alles Menschliche verließ und er immer mehr zu einem finsteren Monument seiner selbst wurde.[1]
»Das Sterben des Vaters war furchtbar und schwer, und es war das erste und bisher einzige, das ich miterlebte.«[2] Es ist sicher bezeichnend, wenn eine Tochter das erste Kapitel ihres ersten Buches »Zwanzig Briefe an einen Freund« ganz ihrem Vater widmet, nicht dem lebenden Vater, sondern dem sterbenden. Zehn Jahre nach dem einschneidenden Erlebnis schaute Stalins Tochter zurück auf jene Märztage des Jahres 1953. Sie hatte seit Langem gewusst, dass ihr Vater durch eine Arteriosklerose gefährlich geschwächt war. Im Dezember 1952 sprach die ganze Stadt Moskau schon von einer ernsthaften Erkrankung Stalins. Am 21. Dezember wurde Stalins 73. Geburtstag auf seiner Datscha in Kunzewo gefeiert.Molotow und Mikoyan hatten die letzten 30 Geburtstage mit Stalin gefeiert und Swetlana war auch anwesend. Stalin war ruhig und freundlich, hatte aber Atemprobleme, die sich schnell verschlechterten und über die seine Tochter nicht informiert wurde. Swetlana versuchte verzweifelt, wenigstens telefonisch aus der Datscha in Kunzewo etwas über seinen Gesundheitszustand zu erfahren. Aber alle Anrufe wurden von der Geheimpolizei unterbrochen. Offiziell verlautete, dass Stalin in der Nacht vom 1. auf den 2. März »eine Gehirnblutung erlitten« habe.
Stalins Entourage entschloss sich endlich am 2. März, sie zum sterbenden Vater nach Kunzewo kommen zu lassen. Man holte sie aus dem Französischunterricht in der Akademie. In Kunzewo angekommen, traf sie Bulganin[3], Malenkow[4] und den weinenden Chruschtschow[5]. Sie wurde zu ihrem Vater gebracht, der auf dem Diwan lag, auf dem er für gewöhnlich schlief. Einer der diensthabenden Mitarbeiter hatte ihren Vater um drei Uhr in der Früh ohnmächtig am Boden liegend gefunden. Als Swetlana ankam, herrschte im Sterbezimmer eine schreckliche Betriebsamkeit von Ärzten und Krankenschwestern, die sich um ihren Vater bemühten, doch die Tochter fühlte längst, dass für ihn nichts mehr getan werden konnte. Selbst ein rasch herbeigebrachtes Beatmungsgerät wurde nicht mehr gebraucht. Stalins Schlaganfall war zu schwer gewesen, sein Sprachvermögen war zerstört und die rechte Körperhälfte gelähmt.
Swetlana stand an seinem Bett und hielt seine Hand. Ob der Vater sie erkannte? Sie hoffte es, denn seine Augen waren noch lebendig. Sie schrieb über diesen Moment: »Und zugleich blickte ich auf dieses schöne, ruhige, ja sogar traurige Gesicht (…) und es zerriss mir das Herz vor Leid. Ich fühlte, dass ich eine ganz und gar untaugliche Tochter, dass ich nie eine gute Tochter gewesen war, dass ich zu Hause wie ein fremder Mensch gelebt und dieser einsamen Seele, diesem alten, kranken, von allen abgelehnten, einsam auf seinem Olymp lebenden Manne nie die geringste Hilfe geschenkt hatte, der doch immerhin mein Vater war und mich geliebt hatte, so gut er es vermochte, dem ich nicht nur und ausschließlich Böses, sondern auch Gutes zu verdanken hatte.«[6]
In den vorangegangenen zwölf Stunden war Stalin das Atmen bereits immer schwerer gefallen. Sein Gesicht hatte sich verfärbt, seine Züge waren verzerrt. In den letzten zwei Stunden seines Lebens kämpfte er mit dem Ersticken. In Swetlanas Worten: »Die Agonie war entsetzlich, sie erwürgte ihn vor aller Augen. In einem dieser Augenblicke – ich weiß nicht, ob es wirklich so war, aber mir schien es jedenfalls so –, offenbar in der letzten Minute öffnete er plötzlich die Augen und ließ seinen Blick über alle Umstehenden schweifen. Es war ein furchtbarer Blick, halb wahnsinnig, halb zornig, voll Entsetzen vor dem Tode und den unbekannten Gesichtern der Ärzte, die sich über ihn beugten – dieser Blick ging im Bruchteil einer Sekunde über alle hin, und da – es war unfasslich und entsetzlich (…), da hob er plötzlich die linke Hand (die noch beweglich war) und wies mit ihr nach oben, drohte uns allen. Die Geste war unverständlich, aber drohend, und es blieb unbekannt, worauf oder auf wen sie sich bezog (…). Im nächsten Augenblick riss sich die Seele nach einer letzten Anstrengung vom Körper los.«[7] Es war 21.50 Uhr am Abend des 5. März 1953.
Kurz vorher war auch Stalins Sohn Wassilij geholt worden. Er setzte sich erst einmal in die große Halle, dann ging er in die Diensträume des Vaters, soff sich weiter zu und schrie betrunken, dass man den Vater töten wolle. Irgendwann fiel er auf ein Sofa und schlief ein. Das Sterben des Vaters erschütterte ihn. Er verstand, dass die Welt, ohne die er nicht existieren konnte, gerade unterging.[8]
In den letzten Minuten des Sterbens war erneut Berija[9] ins Zimmer gekommen. Er wagte es, auf Stalins Tochter zu deuten und anzuordnen: »Führt Swetlana hinaus!« Doch wer sollte dies tun und warum sollte sie hinausgeführt werden? Dieser »entsetzliche Mann« trieb Swetlana die Wut ins Gesicht. Sie nannte ihn »ein modernes Prachtstück von einem verschlagenen Höfling, die Verkörperung östlicher Hinterlist, Schmeichelei, Heuchelei, die sogar meinen Vater betörte, den man sonst nur sehr schwer täuschen konnte«.[10] Berija führte sich auf wie der Kronprinz eines gigantischen Imperiums, der nun über das Leben der anderen allein zu bestimmen hatte. Er konnte den letzten Atemzug Stalins kaum erwarten, als er frohlockte: »Ich habe ihn beseitigt! Das größte Genie der Wissenschaft, ha!«[11] Dann sprang er als Erster auf den Korridor hinaus und rief nach seinem Fahrer. Dmitri Wolkogonow vermutet, dass Berija deshalb auf dem schnellsten Weg zum Kreml fuhr, damit er die Dokumente aus Stalins Safe beseitigen konnte, die irgendetwas Negatives über ihn enthielten.[12]
Allmählich lösten sich die anderen Regierungsmitglieder vom Sterbebett in der Datscha. Sie mussten zum Zentralkomitee, wo alle auf Nachricht warteten und die Nachfolgerfrage zu lösen war. Die Sitzung des ZK – von 1952 bis 1966 hieß es Politbüro – leitete Malenkow, der Vorsitzender des Ministerrats wurde. Seine Stellvertreter wurden Berija, Molotow[13], Bulganin und Kaganowitsch[14]. Molotow, der dieses Amt 1949 hatte abgeben müssen, wurde von Neuem Außenminister und Bulganin Verteidigungsminister.
Swetlana wollte bei ihrem toten Vater bleiben. Sie erlebte, wie die Dienerschaft zum letzten Gruß kam und um den »Voschd« weinte. Die ebenfalls weinende Krankenschwester verabreichte auf Wunsch Baldriantropfen. Nur eine konnte nicht weinen, das war Swetlana. Sie war wie versteinert, starrte vor sich hin, hatte aber nicht die Kraft, aus dem Zimmer zu gehen. Als Nächste wurde die Haushälterin Valentina Wassiljewna Istomina an Stalins Sterbebett vorgelassen. Sie hatte ihm 18 Jahre gedient und kannte ihn besser als alle anderen. Sie brach zusammen, ließ den Kopf auf die Brust des Toten sinken und weinte und klagte laut, wie dies die Bäuerinnen auf dem Land tun.
Gegen Morgen wurde der Leichnam zur Obduktion und Einbalsamierung abgeholt.[15] Nun befielen Swetlana ein nervöses Zittern und ein Schüttelfrost. Die Leichenträger legten Stalin auf die Bahre. Zum ersten Mal sah sie ihren Vater nackt. Sie fand den Körper schön, gar nicht greisenhaft. Als man den Leichnam zu einem weißen Auto brachte, stand Swetlana zitternd vor Kälte an der Tür. Bulganin legte ihr einen Mantel um. Sie barg ihr Gesicht an Nikolaj Aleksandrowitschs Brust, und nun endlich konnte sie weinen.
Gegen fünf Uhr morgens gab es in der Küche der Datscha etwas zu essen und man zwang die Trauernde, ein paar Bissen zu sich zu nehmen, denn sie hatte seit ihrem Eintreffen in Kunzewo nichts mehr gegessen.
»Eines Morgens«, erinnerte sich Swetlanas Sohn Josef, »sagte mir meine Mutter, dass mein Großvater sehr krank sei. Ihr Gesicht war weiß, sie wirkte bestürzt, müde und sie war die nächsten zwei Tage ganz weg und wir sahen sie überhaupt nicht. Als sie wiederkam, sagte sie nur, dass alles vorbei sei und Großvater nicht mehr lebe. Sie sprach oft mit uns über den Großvater, über ihre ganz persönlichen Erinnerungen und ihre Gefühle.«[16]
Die Öffentlichkeit erfuhr vom Tod des Diktators erst nach mehreren Stunden. Um 4.03 Uhr in der Frühe meldete nach einem Trommelwirbel die Stimme des Nachrichtensprechers: »Das Herz des Waffengefährten und genialen Fortführers von Lenins Werk, des weisen Leiters und Lehrers der Kommunistischen Partei und der Sowjetunion, hat den letzten Schlag getan.« Etwas später wurde der Text des ärztlichen Bulletins verlesen. In der Zwischenzeit einigten sich die Diadochen auf ein vorläufiges Machtarrangement. Und um 23.30 Uhr desselben Tages erfuhren die Menschen in der Sowjetunion, wer das Rennen um die neue Regierung gewonnen hatte.
Elf Stunden nach der ersten Meldung von Stalins Tod, um 15.00 Uhr nachmittags, verließ ein möbelwagenähnliches blaues Vehikel, das dem Moskauer Gesundheitsamt gehörte, den Kreml durch das Spasskij-Tor und fuhr zur Säulenhalle des Moskauer Gewerkschaftshauses, die bereits schwarz verhüllt war. Dorthin begaben sich ein paar Minuten später auch die neuen Herrscher, um den Mann, dem sie ihre Machtstellung verdankten, die letzte Ehre zu erweisen. In einem mit Satin ausgeschlagenen Sarg, halb verborgen unter Bergen von wächsernen Blumen, lag Stalin in seiner Generalissimus-Uniform mit Orden und Auszeichnungen geschmückt. Swetlana und ihr 34 Jahre alter betrunkener und krakeelender Bruder Wassilij traten an den Sarg. Swetlana beugte sich über den Sarg und küsste den toten Vater, Wassilij dagegen schaffte es lediglich, sich zu einer kurzen Habachtstellung durchzuringen, um dann unüberhörbar lallend zu schimpfen, dass man seinen Vater vergiftet habe.
Der Leichnam blieb drei Tage aufgebahrt, damit das Volk sich von seinem geliebten Führer verabschieden konnte. Eine unübersehbare Menge defilierte am Sarg vorbei, die Menschen weinten und legten Blumen nieder. Mehr als ein flüchtiger Blick war nicht gestattet, denn es hatten sich kilometerlange Schlangen vor der Säulenhalle gebildet.
Am 9. März fand die Trauerfeier statt. Chruschtschow war zum Präsidenten des Bestattungskomitees gewählt worden. Drei Ansprachen wurden gehalten, die Filmkameras surrten, ein Streichorchester spielte Trauermusik. Der Sarg wurde auf den Schultern von neun Männern aus der Säulenhalle getragen. Es waren die acht neuen Machthaber und Wassilij Stalin, dem man einen kurzen Auftritt bei der Leichenfeier gestattet hatte. Swetlana hatte ihren Sohn Josef und ihre Nichte Galja an ihrer Seite. Um 11.45 Uhr feuerte die Artillerie 30 Salutschüsse und die neun Männer trugen den mit schwarzer und roter Seide bedeckten Sarg ins Mausoleum. Gleich darauf, um Punkt zwölf Uhr, brach im ganzen Russischen Reich, von Wladiwostok bis Ostberlin, ein ohrenbetäubender Lärm los. Geschütze, Fabriksirenen, Dampflokomotiven, Schiffspfeifen vereinigten sich zu einem höllischen Konzert und die Menschen hielten sich die Ohren zu.[17]
Nicht nur Stalins 60. und 70. Geburtstag, sondern auch sein Begräbnis wurde zu einer Orgie der ungeheuerlichsten Huldigungen in Prosa und Versen, Musiken und Bildern. Stalin war von allen gefürchtet worden. Hatten sie sich gegen ihn verschworen? Indirekt war Stalins Tod die Ursache einer weiteren Tragödie. Während er aufgebahrt lag, drängten sich Millionen Sowjetbürger nach Moskau hinein, um diesen Mann, von dem sie so wenig wussten und dem sie so lange vertraut hatten, die letzte Ehre zu erweisen. Wegen fehlender Anweisungen vonseiten der Behörden kam es zu einem furchtbaren Durcheinander, und Hunderte, vielleicht auch Tausende Sowjetbürger wurden zu Tode getrampelt. Gleichzeitig verhaftete das NKWD[18] allein in Moskau Hunderte aufgrund des »Mobilmachungsplanes«, der vorsah, im Fall eines Krieges sowie innerer oder äußerer Wirren bestimmte Personen »vorbeugend« in Haft zu nehmen. Das aber waren die letzten unmittelbar mit Stalins Namen verbundenen Tragödien.
Nachdem Swetlanas Vater im Mausoleum ruhte, lud man sie als eine der Ersten ein, es zu besuchen. Swetlana nannte dieses Mausoleum in ihrem 1967 erschienenen Buch »Das erste Jahr« ein »barbarisches altägyptisches Pharaonenheiligtum des Weltkommunismus«[19]. Noch lange nachher stand sie unter dem »entsetzlichen Eindruck dieses aller Natur zuwiderlaufenden ›Hinabschauens‹ ins Grab«. Swetlana wusste, dass Nadeschda Krupskaja, Lenins Witwe, sich ebenfalls weigerte, das »Heiligtum« mit dem Leichnam ihres Mannes zu besuchen. Auch sie empfand diesen Ort als absurd, denn die Zeit der »heiligen Reliquien« war längst vorüber. Acht Jahre lang konnten Menschenmassen den mumifizierten »Führer« besichtigen. Swetlana ging nie mehr zum Mausoleum, da es sie zu sehr aufwühlte. Ihr Sohn Josef erzählte, dass die Familie des Großvaters an seinem Todestag jedoch stets besonders gedachte.
Viele Menschen weinten um den großen Führer, auch solche, die unter ihm gelitten hatten. Der Kult um seine Persönlichkeit hatte ihn als den unersetzlichen weisen Vater aller Völker etabliert, von dem alles abhing. Die Massen fühlten sich orientierungslos und in einen Zustand tiefster Hoffnungslosigkeit gestoßen. Noch wurden Lobeshymnen auf den »genialen Führer« gehalten. Kaum einer konnte ahnen, was der XX. Parteitag 1956 ans Licht bringen würde: Stalin, einer der größten Massenmörder. Swetlana hatte schwer daran zu tragen. Sie glaubte nicht, dass ihr Vater »jemals Gewissensbisse verspürte, dass er jemals unter Schuldgefühlen litt«. Die Tochter wusste, dass er »auch nicht glücklich [war], als er den höchsten Gipfel all seiner Wünsche erreicht hatte – durch Hinrichtung der einen, Versklavung und Demütigung der anderen«.[20]
Als Stalin 1961 seinen Glorienschein verlor, wurde er in einer Nacht- und Nebelaktion umgebettet. Am 31. Oktober 1961 musste seine Mumie aus dem Mausoleum entfernt und an der Kreml-Mauer beigesetzt werden. Die Tochter fand es ganz in Ordnung, dass die Leiche ihres Vaters »nach langem Hin und Her der Erde übergeben wurde«[21]. Am 25. Januar 1994 konnte man in der Moscow Times lesen: »Tochter: Verlegt Stalin – Swetlana Allilujewa, Stalins Tochter, möchte, dass ihr Vater in seiner Geburtsstadt Gori erneut beigesetzt wird. Die jetzige Lana Peters sagte dies in einem Interview in London der Commonwealth Television.« An offizieller Stelle hätte man sich über diesen Wunsch noch keine Gedanken gemacht, wurde gemeldet. Sollte die Kreml-Mauer immer noch nicht die letzte Ruhestätte des am längsten regierenden Führers gewesen sein? Das Grab zeigt sich stets in reichem Blumenschmuck, niedergelegt von den Menschen, die ihn nach wie vor für einen großen Staatsmann halten.
Stalins Tochter hoffte, dass diesem Tod die Befreiung folgen würde – für das Land und für sie selbst. Und sie fügte noch hinzu: »Und sie alle kannten auch mich und wussten, dass ich eine schlechte Tochter und mein Vater ein schlechter Vater gewesen war. Sie wussten aber auch, dass mein Vater mich und dass ich ihn geliebt hatte.«[22]
Anmerkungen
[1] Das erste Jahr, S. 131
[2]Zwanzig Briefe, S. 24
[3]Nikolaj Aleksandrowitsch Bulganin (1895–1975), arbeitete 1918–1922 für die Tscheka. Seit 1948 Mitglied des Politbüros der KPdSU, 1947–1949 und 1952–1955 Verteidigungsminister, 1955–1958 Ministerpräsident. Am 27. März 1958 erklärte er seinen Rücktritt. Als »Parteifeind« wurde er aller seiner Ämter enthoben.
[4] Georgij Maksimilianowitsch Malenkow (1902–1988), ab 1938 persönlicher Sekretär Stalins, ab 1946 Mitglied des Politbüros und stellvertretender Ministerpräsident. Nach Stalins Tod 1953 Erster Sekretär des ZK und Ministerpräsident. Im selben Jahr noch von Chruschtschow von der Parteispitze verdrängt, 1955 als Regierungschef abgelöst, 1957 aller Ämter enthoben.
[5] Nikita Sergejewitsch Chruschtschow (1894–1971); ursprünglich Schlosser, später Ingenieur; 1934–1966 Mitglied des ZK, 1939–1964 des Politbüros; nach Stalins Tod ab Herbst 1953 Erster Sekretär der KPdSU, leitete auf dem XX. Parteitag 1956 die Entstalinisierung ein; ab 1958 Ministerpräsident; 1964 des Amtes enthoben und zur »Unperson« erklärt.
[6] Zwanzig Briefe, S. 24
[7] Zwanzig Briefe, S. 25
[8] Siehe dazu auch: Wassiljewa: Die Kreml-Kinder, S. 86f.
[9] Lawrentij Berija (1899–1953), ein Hochbauingenieur aus Georgien, war seit Jugendjahren mit Stalin befreundet; während des Krieges stellvertretender Ministerpräsident, nach dem Krieg Mitglied des Politbüros und mächtigster Mann neben Stalin, nach dessen Tod er die Macht mit Malenkow und Chruschtschow teilte; im Juli 1953 gestürzt, im Dezember desselben Jahres hingerichtet.
[10] Zwanzig Briefe, S. 22
[11] Löwe: Stalin, S. 391
[12] Wolkogonow: Stalin, S. 772
[13] Wjatscheslaw Michajlowitsch Molotow (1890–1986), eigentlicher Name Skrjabin; Parteimitglied seit 1906, 1917 führend an der Oktoberrevolution und am Aufbau der UdSSR beteiligt; schloss 1939 den Nichtangriffspakt mit Hitler. 1921–1956 Mitglied des ZK, 1926–1957 Mitglied des Politbüros. 1956 als Außenminister abgesetzt, 1957 sämtlicher Ämter enthoben.
[14] Lasar Moissejewitsch Kaganowitsch (1893–1991), ein Mitorganisator der »Säuberungen« der 1930er-Jahre; seit 1944 Mitglied des ZK, während des Krieges Minister für Brennstoff- und Erdölindustrie; wurde 1957 zusammen mit Molotow aus dem ZK ausgeschlossen und aller seiner Ämter enthoben.
[15] Stalins Hirn, das ähnlich sklerotisch deformiert ist wie das Lenins, wurde zum Präparieren entnommen.
[16] Biagi: Svetlana: The Inside Story, S. 82
[17] Siehe dazu: Payne: Stalin, S. 626ff.
[18] Narodnyj Komissariat Wnutrennych Del – Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten, 1934 geschaffen unter Einbeziehung der GPU, wurde es das Instrument des stalinistischen Terrors vor der Zeit der Großen Tschistka. 1941 wurde aus dem NKWD die politische Geheimpolizei als NKGB (=Narodnyj Komissariat Gossudarstwennoj Besopastnosti – Volkskommissariat für Staatssicherheit) herausgelöst und 1946 umbenannt in MGB (Ministerstwo Gossudarstwennoj Besopastnosti – Ministerium für Staatssicherheit). Das NKWD selbst wurde 1946 in das MWD (Ministerstwo Wnutrennich Del – Ministerium für Innere Angelegenheiten) umgewandelt. Das MGB ging 1954 in das KGB über.
[19] Das erste Jahr, S. 375
[20] Das erste Jahr, S. 346
[21] Das erste Jahr, S. 375. Siehe dazu auch: Richardson: The Long Shadow, S. 255
[22] Zwanzig Briefe, S. 30
Swetlanas Mutter Nadeschda
Nur meine ersten sechseinhalb Lebensjahre waren von der Liebe einer Mutter umgeben.[23]
Der junge Stalin und die Familie Allilujew
In Moskau heiratete am 24. März 1919, völlig unbeachtet von den hohen Funktionären, ein Revolutionär eine Revolutionärin. Der Bräutigam war der verwitwete[24] 37-jährige Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, die Braut die erst 18-jährige Nadeschda Allilujewa. Die aus Georgien stammende Familie Allilujew kannte den Bräutigam seit dessen Jugendzeit. Denn die politische Laufbahn des Josef Dschugaschwili, der sich ab 1913 »Stalin«, der »Stählerne«, nannte, begann im Frühjahr 1898.
Der Vater der Braut, Sergej Jakowlewitsch Allilujew, stammte aus einer Bauernfamilie im südrussischen Gouvernement Woronesch. Durch seine Großmutter hatte er einen starken Einschlag von Zigeunerblut: Er war groß gewachsen, mit schwarzen Augen, blendend weißen Zähnen und einer dunklen Haut, was sich besonders auf seinen ältesten Sohn Pawel und seine jüngste Tochter Nadeschda vererbte. Da er technisch sehr geschickt war, blieb er nicht Bauer wie sein Vater, sondern wurde Schlosser und fand Arbeit in den Eisenbahnwerkstätten von Transkaukasien. Dort begegnete er den Sozialdemokraten Michail Iwanowitsch Kalinin[25] und Iwan Fioletow. 1898 wurde er Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR). Allilujew führte Josef Dschugaschwili, den künftigen Herrn Russlands, in die »Kunst des revolutionären Kampfes« ein und überzeugte ihn, ebenfalls der SDAPR beizutreten.
Josef Dschugaschwili, am 21. Dezember 1879 (6. Dezember 1878 nach dem damals gültigen julianischen Kalender) in Gori in Georgien geboren, verlor mit fünf Jahren seinen oft betrunkenen und ihn prügelnden Vater, einen Schuhmacher. Seine Mutter Jekaterina Georgjewna Dschugaschwili, eine streng religiöse Frau, die als Dienstbotin arbeitete und ihren Sohn ein Leben lang »Sosso« nannte, hatte den inständigen Wunsch, er möge Geistlicher werden. So trat dieser in das Theologische Seminar im georgischen Tbilisi (russ. Tiflis)[26] ein.
Doch es kam anders. Dieses Seminar galt als Brutstätte für Rebellen. Stalin, im September 1894 aufgenommen, wurde am 27. Mai 1899 zusammen mit weiteren 87 Theologiestudenten wegen »politischer Unzuverlässigkeit« hinausgeworfen. Er war allzu oft des Nachts mit anderen Seminaristen in ein kleines Haus am Abhang des Mtazminda-Berges geschlichen, das dem Eisenbahner Allilujew gehörte, der einmal sein Schwiegervater werden sollte. Zusammen mit Studenten und Arbeitern plante dieser die ersten sozialistischen Streiks. Allilujew war aufgefallen, dass der Student Josef äußerst methodisch agierte. Gemeinsam mit Allilujew nahm dieser Ende April 1901 in Tbilisi an der »Majowka«, der Maidemonstration, teil und wurde von der zaristischen Polizei niedergeknüppelt.
Doch wann auch immer nach dem jungen und sehr ehrgeizigen Untergrundkämpfer Stalin von der Ochranka, des Zaren gefürchteter Geheimpolizei, gefahndet wurde, Allilujew versteckte ihn bei Freunden oder in seiner eigenen Wohnung in Bakı (russ. Baku). Seine Frau Olga Jewgenjewna kümmerte sich stets um den untergetauchten Josef. Sie stammte ebenfalls aus Georgien, einem Land, das sie sehr liebte. Schon ihr Vater Jewgenij Fedorenko war dort aufgewachsen, ihre Mutter war eine Deutsche, die evangelische Magdalena Eichholz, die im Jahr 1816 von Wolfsölden (heute Kreis Backnang) ausgewandert war, und deren Wurzeln in einer Kolonistenfamilie aus der Zeit Katharinas II. lagen.[27]
Magdalena Eichholz führte eine Bierschenke, bekam neun Kinder und sprach Deutsch und Georgisch. Russisch lernte Olga erst sehr viel später, und es mischten sich dabei deutsche Ausrufe wie »Jesus Maria« und das unvermeidliche »Mein Gott« hinein. Sie war noch keine 14 Jahre alt, als sie ihre Habseligkeiten zusammenpackte und mit Sergej Allilujew verschwand. Als die bildschöne Olga 16 Jahre alt war, heirateten sie. Sie war so verführerisch, dass sie sich ihrer Verehrer kaum zu erwehren vermochte, und sie stürzte sich nicht nur einmal in Liebesbeziehungen. Erst war es ein Pole, dann ein Ungar, ein Türke und ein Bulgare. »Sie liebte die Menschen des Südens und behauptete manchmal im Ärger, ›die russischen Männer sind Gesindel‹.«[28]
Dem aus dem Seminar verwiesenen Josef Dschugaschwili genügten die Erkenntnisse seines bisherigen Lebens, um sich der kaukasischen Untergrundbewegung anzuschließen. Dort wählte er den Decknamen »Koba«, nach der Hauptfigur eines Abenteuerromans aus dem 19. Jahrhundert. Weil er im georgischen Batumi[29] eine Arbeiterdemonstration organisiert hatte, wurde er 1902 erstmals verhaftet. Als sich die SDAPR 1903 spaltete, trat er während eines anschließenden Gefängnisaufenthaltes dem bolschewistischen Flügel unter Wladimir Iljitsch Lenin[30] bei, den er 1905 als Delegierter auf einer Allrussischen Konferenz der Bolschewiki im finnischen Tammerfors kennenlernte.
Ab 1907 erfolgten mehrere Verurteilungen, sechs Gefängnisaufenthalte und eine Verbannung nach Sibirien wegen Raubüberfällen, die er zur Geldbeschaffung für die Bolschewiki beging. Stalin gelang es fast jedes Mal, nach kurzer Zeit freizukommen oder zu fliehen.
Und immer wieder tauchte Stalin bei den Allilujews auf, die zunächst in Tbilisi, dann in Bakı[31] und Batumi wohnten und schließlich 1914 nach Petrograd[32] übersiedelten in das Elendsviertel auf der Wyborger Seite. Olga kümmerte sich aber nicht nur um »Koba«, sondern auch um Lenin und Grigori Jewsejewitsch Sinowjew[33]. Stalin bat seinen Freund Allilujew, ihn in einem Zimmerchen seiner Wohnung aufzunehmen. So konnte er seine Aktivitäten von der kaukasischen Parteiorganisation in die KP-Zentrale in Petersburg verlagern. In der Allilujew-Wohnung tagte nicht selten das Zentralkomitee der Bolschewiki, dem auch Stalin seit 1912 angehörte. Als den Bolschewisten im Juli 1917 der erste Griff nach der Macht misslang, flüchtete sich Lenin zu den Allilujews. Der dortige Untermieter Stalin kümmerte sich um ihn und trichterte ihm ein, sich nur nicht der Polizei zu stellen. Dann verhalf er Lenin zur Flucht. Doch vorher rasierte er dem steckbrieflich Gesuchten noch den Bart ab, zusammen mit Allilujew schmuggelte er ihn zum Petrograder Primorski-Bahnhof, von wo ihn ein Zug nach Finnland brachte.
Zur Jahreswende 1916/17 wurde Stalin sogleich zur Armee einberufen, doch von der Einberufungskommission als für den Kriegsdienst untauglich freigestellt. Stalin zog wieder bei den Allilujews ein. Die 1901 geborene Nadeschda (Hoffnung), die jüngste Tochter des Hauses, die er als Zweijährige beim Baden am Strand vor dem Ertrinken gerettet hatte, gefiel ihm.
Aus dieser Zeit sind noch einige Briefe des Schulmädchens Nadeschda erhalten, die sie an Alissa Iwanowna Radtschenkowa, die Ehefrau von Iwan Iwanowitsch Radtschenko, über Prüfungen und Benotungen in der Schule geschrieben hat. Deutsch nannte sie ihr »schwerstes Fach«. Am Vorabend der Revolution, am 25. Februar 1917, berichtete Nadeschda von einer äußerst gespannten Situation in Petrograd, und sieben Monate später, am 19. Oktober 1917, schrieb sie: »In Piter [Petrograd] geht das Gerücht um, dass am 20. Oktober eine Aktion der Bolschewiki erwartet wird, aber mir scheint, das ist Unsinn.«[34]
In ihrem Brief vom 11. Dezember 1917 an die gleiche Empfängerin erzählte Nadja, sie habe in der Schule kein Geld für Beamte gespendet und werde nun als »Bolschewikin« bezeichnet, aber eher freundschaftlich als bösartig. Im Februar 1918 schrieb Nadeschda sehr traurig an Alissa, dass ihre Mutter aus Überdruss das Haus verlassen habe und sie nun allein die ganze Hauswirtschaft versorgen müsse. Außerdem herrsche eine schreckliche Hungersnot in Piter, pro Tag bekäme man pro Person nur 50 Gramm Brot. Sie habe schon zwanzig Pfund abgenommen, alle Kleider seien ihr zu weit geworden. »Man neckt mich sogar, ob ich mich etwa verliebt hätte, weil ich so abgemagert sei.«[35] Und Nadeschda hatte sich wirklich verliebt.
In der kleinen Wohnung in Petrograd spielte sich die alte Geschichte ab: Othello, längst nicht mehr jung, erzählte der jugendlichen Desdemona Geschichten von seinen Heldentaten. Und die junge Nadeschda war fasziniert. Sie verliebte sich in den schnauzbärtigen Agitator, der mit seiner schwarzen Haarmähne, der zerzausten Stirnlocke und den brennenden Augen etwas Mephistophelisches ausstrahlte. Nadeschda, klein und wohlgeformt, sah mit ihrem dunklen Teint und ihren weichen braunen Augen georgisch aus. Der erfahrene Mann machte ihr einen Heiratsantrag und sie war glücklich darüber. Doch es würde sich zeigen, dass Nadja sich das Leben an der Seite ihres Mannes anders vorgestellt hatte. »She wanted a career of her own, felt offended by his bad manners, and was definitely against his philandering.«[36]
Die Eheschließung von Swetlanas Eltern
Da es im März 1918[37] so aussah, als würden die Deutschen Petrograd einnehmen, wurde nach 200-jähriger Unterbrechung Moskau wieder zur Hauptstadt Russlands. Am 6. Juni 1918 verließ die Regierung deshalb die Stadt an der Newa. Stalin traf mit einer Leibgarde von 400 Rotarmisten und Nadeschda als seiner Sekretärin in Zarizyn[38] ein, dem heutigen Wolgograd, das von 1925 bis 1961 Stalingrad hieß. Er ließ sich immer mehr Vollmachten vom Rat der Volkskommissare geben. Diese betrafen vor allem die Bereitstellung von Lebensmitteln. Stalin »reinigte« mithilfe des Tscheka-Vertreters[39] Tschewrjakow die Kommandoebene der Roten Armee. Er verhaftete fast den gesamten Stab des Militärkreises Zarizyn und hielt ihn auf einem Schleppkahn gefangen, der dann »zufällig« sank. Und mitten in diesem revolutionären Geschehen die 17-jährige verliebte Nadja. Sie hatte zwar den Bolschewismus mit der Muttermilch eingesogen, doch die politischen Ideen in ihrem Elternhaus und die grausame Realität des Sommers 1918 waren keineswegs identisch.
Zurückgekehrt nach Moskau, wurde Nadeschda Stalins Ehefrau. Das Fest fand am 24. März 1919 statt, einen Tag nach Beendigung des VIII. Parteitages der Kommunistischen Partei. Stalins Trauzeuge war sein bester Freund Awel Jenukidse[40], damals Sekretär des Zentralen Exekutivkomitees. Der Trauzeuge der Braut war ihr Schwager Stanislaw Redens[41], der Ehemann ihrer Schwester Anna Allilujewa, ein Mitglied der Tscheka. Das Brautpaar betrat im Kreml eine dieser kleinen leicht baufälligen Dienstgebäude. Dort fand in einer kurzen Zeremonie die Unterzeichnung des Heiratsdokuments statt.[42] Nadja war damals im vierten Monat schwanger. Das dürfte der Grund für die standesamtliche Eintragung gewesen sein. Ansonsten spielte eine solche Formalität in den ersten Jahren beziehungsweise Jahrzehnten nach der Oktoberrevolution bei den Bolschewiki wie auch bei deren Führern keine große Rolle. Die Eintragung im Standesamt wurde als kleinbürgerlich, spießig und als Überbleibsel der Bourgeoisie abgetan. Die Idee der »freien Liebe« galt als zeitgemäß, ohne freilich zur allgemeinen Norm zu werden.
Von der Familie Allilujew hatte wie gesagt lediglich Nadeschdas Schwester Anna an der Trauung teilgenommen. Sie war es, die später behauptete, dass Nadja lange nicht einverstanden gewesen sei, den »ungeliebten« Mann zu heiraten. Mehrere Familienmitglieder hätten die junge Frau vor dem wilden Temperament Stalins gewarnt. Und Nadjas Mutter Olga Allilujewa? Sie mochte Stalin zwar sehr, aber diese Eheschließung hatte sie sich nicht gewünscht. Swetlana bemerkt in späteren Jahren dazu: »Doch über die Ehe ihrer Tochter zeigte sie sich dann nicht sehr erfreut. Sie versuchte lange, meiner Mutter davon abzuraten, und schalt sie deswegen einen Dummkopf. Olga Jewgenjewna hatte schon genügend Erfahrung mit dem Familienleben der Revolutionäre und betrachtete ihr eigenes Leben als ›zerstört‹. Sie konnte sich innerlich nie mit Mamas Ehe zufriedengeben, betrachtete Mama immer als tief unglücklich und sah ihren Selbstmord als Resultat dieser ganzen Dummheit.«[43]
Fünf Monate nach der Heirat kam das erste Kind zur Welt, der Sohn Wassilij Jossifowitsch. Ein Sohn als Erstgeborenen, das ließ Stalins Herz höher schlagen!
Die junge Familie wohnte im Kreml. Das Senatsgebäude mitten im Moskauer Kreml ist ein Kleinod der Architektur. Zwar wurde es viel später erbaut als die berühmten Kathedralen mit ihren Glockentürmen, jedoch von Matwej Kasakow, dem großen Meister des frühen 19. Jahrhunderts. Zu der Zeit, da Moskau nicht mehr Hauptstadt war, sondern nur noch als die »Zarin-Witwe« des Russischen Reiches galt, befand sich hier der Sitz des Senats, verschiedener Gerichtsinstanzen und weiterer Behörden. Als die junge Sowjetregierung unter Wladimir Lenin im Frühsommer 1918 aus dem bedrohten Petrograd überstürzt nach Moskau umzog, musste man für sie rasch Arbeitsräume und für ihre Mitglieder Wohnungen finden. Der Kreml bot sich dafür an. In den früheren Poteschny dwor, ein Lustschloss, zog Lenin ein. Später wechselte er ins Senatsgebäude, in dem der Rat der Volkskommissare seinen Sitz hatte.
In den anderen Gebäuden wohnten die Volkskommissare (Minister), darunter auch der von Lenin als Mitglied der ersten Sowjetregierung an 15. und letzter Stelle ernannte Volkskommissar für Nationalitätenfragen, Josef Stalin, mit seiner Familie. Sie bezogen mehrere Zimmer im sogenannten Offiziersblock.[44] Als Stalin seinen Dienst antrat, hatte er grade mal fünf Rubel in der Tasche, besaß lediglich einen Tisch und zwei Stühle. Doch nun bekam er ein Büro mit dem Glanz vergangener Tage und einem wunderbaren großen Wandspiegel. Da er der Meinung war, dass die Parteimitglieder ein solch feudales Büro missbilligen würden, stieß er mit dem Fuß gegen den teuren Spiegel, und dieser zerbarst in tausend Scherben.
Seiner Frau verschaffte Stalin eine Stellung bei der Rewolutsia i Kultura, einer Zeitschrift des von ihm mitgegründeten Parteiorgans Prawda. Als der Machtkampf zwischen Lenin und Stalin tobte, war Nadja Stalina eine Art Halbtagssekretärin bei Lenin. Man hat von jeher angenommen, dass Stalin in Lenins Sekretariat einen Spitzel sitzen hatte. Es erschien völlig unerklärlich, dass Stalin in der Lage war, jede Bewegung des damals schon kranken Lenin erfolgreich zu durchkreuzen. Im Jahr 1964 wurde erstmals Lenins Tagebuch mit Eintragungen vom 21. November 1922 bis 6. März 1923 veröffentlicht, und nun erfuhr man endlich den Namen der geheimnisvollen Agentin. »Stalins Spitzel war niemand anders als Nadeschda Allilujewa, seine eigene Frau.«[45]
Im Jahr 1921, während einer der Säuberungsaktionen, wurde Nadja als »totes Gewicht mit keinerlei Interesse an der Partei« aus der KPR (B)[46] ausgeschlossen. Wie dies geschehen konnte, ohne dass es als persönlicher Angriff auf Stalin verstanden wurde, ist rätselhaft. Es war schließlich Lenin, der es mit Hinweis auf die Verdienste der Familie Allilujew für die Partei fertigbrachte, Nadja als Kandidatin für eine Mitgliedschaft zu rehabilitieren. Der eigentliche Grund für ihren Ausschluss wurde erst 1989 bekannt: Man hatte Nadeschda Passivität, also mangelnde Parteiaktivität vorgeworfen. Die Kommission scheint von ihrer Ehe mit Stalin nichts gewusst zu haben und hatte sich wohl auch über Nadeschdas Jugend gewundert.
Lenins Sekretärin Lidija Fotijewa bezeichnete die junge Frau als »recht nett, aber manchmal ziemlich langweilig«[47]. Andere sahen in Nadeschda »eine bemerkenswerte Persönlichkeit«, die sich besonders durch ihr bescheidenes Auftreten auszeichnete, ganz im Gegensatz zu anderen Frauen der aufstrebenden neuen Klasse. Eine Intellektuelle war sie sicher nicht. Stalin bezeichnete solche Frauen höhnisch als »Heringe mit Ideen«, eine Vorstellung, die sehr an das Klischee der dürren, altjüngferlichen Suffragetten erinnert.
Ein anderer Zeitzeuge nannte Nadeschda schön zu manchen Zeiten und sehr hässlich zu anderen Zeiten – es hänge ganz von ihrer Stimmung ab. Baschanow, Stalins damaliger Sekretär, empfand die junge Frau nicht als Schönheit, »aber sie hatte ein süßes und attraktives Gesicht«[48].
Am Anfang ihrer Ehe war Nadeschda völlig von ihrem Ehemann dominiert, sie merkte allerdings bald, dass sie doch wesentlich unabhängiger sein wollte. Die junge Frau musste sich in Moskau schnell an jene Atmosphäre der endlosen Beratungen, Treffen, Kämpfe und Reisen gewöhnen, in der ihr Mann lebte. Es fiel ihr schwer zu begreifen, wie wenig Platz er ihr in seinem Leben einräumte. In gewissem Maße kompensierte Nadja daher die fehlende Beziehung zu ihrem Mann mit Arbeit, Studium und häufigen Treffen mit den Frauen der Mitarbeiter ihres Mannes: mit Polina Semjonowna Schemtschuschinaja (Molotows Frau), Dara Moisejewna Chasan (Andrejews[49] Frau), Maria Markowna Kaganowitsch und mit Esfirija Issajewna Gurwitsch (Bucharins[50] zweiter Frau).
Zu Hause entpuppte sich Stalin als rechter Tyrann. Manchmal sprach er drei Tage lang nicht mit seiner Frau, aber auch mit niemand anderem. Dann wiederum hatte er Freude am Familiendasein, denn sein Vagabundenleben hatte er viel zu viele Jahre ertragen müssen. Zum ersten Mal besaß er ein schönes eigenes Heim. »Ein fröhliches, sonniges, erfüllt von Kinderstimmen, von lebenslustigen, freundlichen Menschen, ein Haus voll Leben«, so sah Swetlana ihr Elternhaus in ihrer 1963 geschriebenen Autobiografie.[51]
Während die Karriere ihres Mannes große Fortschritte machte, lebte Nadeschda mit ihrem kleinen Sohn wie in einer Einsiedelei. Ihren Mann sah sie selten. Er kam meist sehr spät nach Hause, trank dann noch Tee und ging zu Bett. Untertags lebte er in einer Männerwelt. Seine junge Frau fing wieder an, als Sekretärin zu arbeiten, dieses Mal im Büro von Grigorij Ordschonikidse[52], mit dessen Ehefrau Sinaida Gawrilowna sie eng befreundet war.
Am 2. April 1924 schaffte Stalin den Sprung in eine der Schlüsselpositionen. Im Zuge des XI. Parteitages wurde er auf Lenins Empfehlung hin in Nachfolge Molotows zum Generalsekretär des Zentralkomitees ernannt, einen Posten, den er 30 Jahre lang bis 1952 innehatte.
Die Machtkonzentration Stalins war in den 1920er-Jahren mit einer radikalen Veränderung der Partei verbunden, deren Mitglieder nicht länger den leninistischen Idealen ergeben waren, sondern sich einer (das heißt seiner, Stalins) Person unterwarfen. Im Jahr 1924 kämpfte Lenin einen einsamen Kampf, den schwersten und hoffnungslosesten, den er jemals gekämpft hatte. Durch mehrere Schlaganfälle ans Bett gebunden, konnte er sich gegen Stalins Willen zur Macht nicht mehr wehren. Obwohl Lenin und Trotzki[53] einen mächtigen Bund gegen ihn geschlossen hatten, ging Stalins Weg weiter steil nach oben, was allerdings mit dem frühen Tod Lenins am 21. Januar 1924 zusammenhing.
1924 gab es in der Partei noch zwei Generationen – Revolutionäre der ersten Stunde und Sowjetfunktionäre. Bis 1938 gelang es Stalin, die alten Bolschewiki völlig zu beseitigen und sich eine Partei getreuer Gefolgsleute aufzubauen. Der Kampf gegen die »linke Opposition«, also Trotzki, Sinowjew und Kamenew[54], hatte zwar bereits 1925 begonnen, fand aber erst 1927 mit dem Ausschluss dieser drei aus dem Zentralkomitee der KPdSU seinen Höhepunkt.
Swetlana erblickt das Licht der Welt
Nadeschda hatte am 11. Januar 1926 ihrer Tante Marusja Swanidse[55] geschrieben, dass sie sich erneut familiäre Sorgen aufgeladen habe. »In unserer Zeit ist das beschwerlich, denn es gibt schrecklich viele neue Vorurteile in dieser Hinsicht. Wenn man nicht arbeitet, dann ist man eben einfach nur ein ›Frauenzimmer‹. Aber eine unqualifizierte Arbeit ist wenig attraktiv. Ich fühle mich wohl, obwohl die Entbindung kurz bevorsteht. Ich warte ungeduldig darauf, denn mir fällt schon jede Bewegung schwer, und ich kann mich nicht mehr ansehen. Ich teile Ihnen bestimmt mit, was es geworden ist. Ich hoffe, dass alles glücklich verläuft.«[56]
Es verlief alles gut, und am 28. Februar 1926 kam die Tochter Swetlana – »die Lichtgestalt« – zur Welt. Das war damals ein seltener Name, der von einem russischen romantischen Gedicht herrührte und Inbegriff für ein einsames, träumerisch veranlagtes Mädchen war, das still umherging, eine Art Ophelia. Es ist kein Name, der im Verzeichnis der russischen christlichen Taufnamen vorkam; er ist eher von dem griechischen Namen Photini beziehungsweise Photina abgeleitet, und bei der poetischen Übersetzung von Photina ins Russische wurde daraus »Swetlana«. Es hatte schon Verwunderung erregt, dass das kleine Mädchen einen altslawischen Märchennamen erhielt. Damals hießen die sowjetischen Funktionärskinder »Oktjabr« nach der Oktoberrevolution, »Maja« nach dem 1. Mai oder gar »Mael« nach den Anfangsbuchstaben der KP-Heiligen Marx, Engels, Lenin.
Swetlana hatte rote Haare wie Stalins Mutter. Stalin selbst fand, dass das Kind später beim Heranwachsen seiner Mutter immer ähnlicher wurde. Er liebte seine Tochter sehr! Es klingt traurig, wenn Swetlana in ihren Erinnerungen schreibt, dass sie als kleines Mädchen nicht ihrer Mutter, sondern ihrem Vater am nächsten gestanden habe. Selbst in der Zeit, als Swetlana noch gestillt wurde, überließ Nadeschda den Säugling der Kinderfrau und »der Milch der Ziege Njuska«. Denn: Die Mutter hatte erfahren, dass der Vater, der damals in Sotschi weilte, leicht erkrankt war, und so fuhr sie zu ihm.
Ganz allgemein hatten Kinderfrauen in Russland einen anderen, viel höheren Stellenwert als im übrigen Europa. In ihrem Buch »Zwanzig Briefe an einen Freund« setzte Swetlana ihrer Kinderfrau ein literarisches Denkmal. Sie hieß Aleksandra Andrejewna und war 30 Jahre an ihrer Seite. In liebevollen Worten fasste Swetlana die Bedeutung dieser Frau für ihr Leben zusammen: »Hätte mich dieser mächtige, warme, gute Ofen nicht mit seiner gleichmäßigen beständigen Wärme erwärmt, ich weiß nicht, ob ich nicht längst in irgendeinem Krankenhaus an Neurasthenie zugrunde gegangen wäre.«[57] Die Kinderfrau kam, nach Swetlanas Darstellung, aus dem Gouvernement Rjasan, wo sie als 13-Jährige bei einer Gutsbesitzerin in Dienst trat. Aus dem Stubenmädchen wurde eine Köchin, dann eine Haushälterin und schließlich eine Kinderfrau. Sie war klug, bildhübsch und ließ sich von ihren »Herrinnen« zeigen, wie man sich anständig kleidete, gut frisierte und sich höflich benahm.
Aleksandra war 1926 zu Swetlanas Geburt in die Familie Stalin gekommen. Nadeschda war damals 25, die Kinderfrau bereits 41 Jahre alt. Aleksandra oder Babusja (»Großmütterchen«), wie sie später liebevoll genannt wurde, avancierte schnell zur Vertrauten von Swetlanas Mutter, und diese ermunterte sie, in ihrer kargen Freizeit mit dem Lesen von guten Büchern zu beginnen. So las Aleksandra »Die armen Leute«, den ersten Roman von Fjodor J. Dostojewskij aus dem Jahr 1846. Und sie lebte förmlich mit diesen für sie realen Romanfiguren. Als Aleksej Maksimowitsch Gorkij 1930 zu Stalin und dessen Frau nach Subalowo kam, wünschte sie sich sehr, ihn zu sehen. Lawrentij Berija holte sie ins Zimmer. Gorkij fragte sie interessiert, welche Bücher von ihm sie schon gelesen habe. Da zählte sie ihm fast alle auf. Nach ihrem Lieblingsbuch befragt, antwortete sie, das wäre Gorkijs Erzählung »Die Geburt des Menschen«. Gorkij war von ihr sehr beeindruckt und schüttelte ihr die Hand, was sie natürlich immer wieder gerne erzählte.
Nach dem tragischen Selbstmord von Swetlanas Mutter durfte vom gesamten Personal einzig und allein Babusja bleiben. Ohne sie wäre das Leben für die damals gerade sechs Jahre alte Swetlana eine Katastrophe geworden. Es war Babusja, die mit ihrer Liebe weiterhin dem kleinen Mädchen Lieder vorsang, Märchen erzählte und sie tröstete. Die Kinderfrau sprach ein sehr gepflegtes Russisch, wurde Swetlanas erste Grammatiklehrerin und später auch die von Swetlanas Kindern Katja und Osja. Babusja brachte Swetlana die Grundbegriffe im Rechnen bei und wollte, dass sie auch in die »Rhythmikschule«, eine private Vorbereitungsschule im Hause der Lomow, gehe.
1 Swetlana als kleines Mädchen mit ihrer Mutter Nadeschda, 1931
Sie weckte Swetlana am Morgen, bereitete das Frühstück und brachte sie zur Schule. Wenn das Schulkind nach Hause kam, kümmerte sie sich um die Schulaufgaben. Am Abend bekam das »Goldkindchen« oder »Vögelchen« von ihr einen Gutenachtkuss, und so war der Verlust der Mutter nicht zugleich der Verlust jeglicher liebevoller Zuwendung.
Babusja war sogar sportlich, sie schwamm gern und ging zum Fischen. Sie fuhr mit der heranwachsenden Swetlana ins Theater nach Sotschi. Sie sahen sich zusammen Operetten, Filme und den Zirkus an. Wenn sie zusammen zum Essen ausgingen, entpuppte sich die Kinderfrau als wahrer Gourmet. Kochbücher las sie wie einen Roman und probierte immer wieder köstliche Rezepte aus.
Ihre Eltern warfen Nadeschda vor, dass sie eine ausgesprochene Vorliebe für Kinderfrauen habe, die angeblich die Kinder plagten und sie nicht in Freiheit aufwachsen ließen. Doch das kümmerte die junge Frau wenig. Sie war zwar sehr um ihre Kinder besorgt, das hieß aber nicht, dass sie den ganzen Tag mit ihnen zusammen sein wollte. Es galt für eine Frau als ungehörig, ihre Zeit ausschließlich mit den Kindern zu verbringen. Ihr war wichtig, dass Wassilij und Swetlana von klein an mit der Natur vertraut waren. Swetlana hatte ein eigenes Gärtchen, in der Nähe der Datscha wurden Fasane, Perlhühner und Truthähne gezüchtet, es gab Anpflanzungen von Obstbäumen und Beerensträuchern. Die Kinder durften Pilze sammeln, aus ihren Bienenhäusern den »eigenen« Honig holen. Auch das Geistige kam in Swetlanas ersten Lebensjahren nicht zu kurz, denn mit sechs Jahren schrieb und las sie bereits Russisch und Deutsch, zeichnete, modellierte, machte Flecht- und Klebearbeiten und schrieb Noten nach Diktat.
Die Sommer verbrachte die ganze Familie Stalin in dem ehemaligen Landhaus der Familie Subalow; daher nannten sie das Ferienhaus »Subalowo«. Die Vorbesitzer waren reiche Herren von Ölraffinerien in Bakı, der Stadt, in der einst Stalin zu Streiks aufgerufen hatte. Die Revolutionäre – neben Stalin auch Mikojan[58] – hatten nun die Häuser der Ölbarone übernommen. Die Familie Subalow war emigriert und hatte alles für die neuen »Besitzer« zurückgelassen – Gobelins, Marmorstatuen, einen Park, einen Tennisplatz und einen Wintergarten. Nadeschda gestaltete dort ein Familienleben wie aus einem bürgerlichen Bilderbuch. Es kamen sowohl viele Verwandte wie auch befreundete Familien wie die Kirows[59], Bucharins und Molotows zu Besuch.
Manchmal wimmelte es nur so von Ammen, Kinderfrauen und Privatlehrern für die Kinder, Picknicks und Ausflüge wurden organisiert, es gab Musikabende und Feste. Dabei floss stets reichlich Alkohol. Stalin gelang es trotz großer Mengen davon, nie betrunken zu wirken. Wer dachte schon in dieser Idylle darüber nach, was auf Anweisung des Hausherrn täglich geschah: Liquidierung des Kulakentums[60], Zwangskollektivierung, Industrialisierung, GULAG[61], »Säuberungen«, Terror.[62]
Die Jahre 1927 bis 1935 waren in der Sowjetunion in innenpolitischer Hinsicht geprägt von der Konzentration der Macht in der Hand einer kleinen Führungsgruppe, an deren Spitze der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Josef Stalin stand. Der Protest gegen Stalin am 7. November 1927, dem 10. Jahrestag der Revolution, war absolut wirkungslos.
Die Eltern leben sich auseinander
Während die politische Erfolgskurve des erfolgreichen Diktators nach oben zeigte, gestaltete sich das Eheleben konfliktreich. Nach einem heftigen Streit nahm Nadeschda sogar einmal ihre Kinder und verließ ihren Mann, um wieder bei ihrer Familie in Leningrad zu leben. Doch dann schlossen die Eheleute von Neuem Frieden, und die junge Frau bemühte sich, ihr Leben zu ändern. Von nun an wollte sie nicht mehr länger nur eine »baba« sein – das war Stalins verächtlicher Ausdruck für Hausfrauen und Mütter. Sie schrieb sich unter Pseudonym an der Industrie-Akademie in der Nowaja Bassmannaja ein und studierte an der Fakultät für Kunstfaser.
In der Zeit, als Nadeschda 1929 ihre Aufnahmeprüfung für die Akademie zu schreiben hatte, verbrachte Stalin wie häufig die Herbstferien im Kaukasus. Ende September bat sie ihn eindringlich, bald zu ihr und den Kindern nach Hause zu kommen. Sie fühle sich sehr einsam, studiere fleißig unter der Woche und am Wochenende besuche sie ihre Kinder auf der Datscha, wo die Kleine immer nach dem Verbleib des »Papi« frage. Zwischendurch musste sie ihren Mann um Geld bitten. Sie wünschte sich 50 Rubel, er sandte ihr 120 Rubel.
1930 begab sich Nadeschda von Juni bis August auf Reisen. Sie unterzog sich einer Kur in Karlsbad und besuchte ihren Bruder Pawel[63] in Berlin. Dort konsultierte sie auch einen Neurologen, da es in ihrer Familie eine erbliche Veranlagung für Depressionen gab.
Stalin schrieb ihr nach Berlin am 21. Juni 1930 einen rührenden Brief:
»Tatka! Schreibe mir. Schreibe mir unbedingt und schicke die Post mit dem Kurierdienst des NKWD an Towstucha (im ZK)[64]. Wie bist du angekommen, was hast du gesehen, warst du bereits bei Ärzten, welcher Meinung sind die Ärzte über deinen Gesundheitszustand usw., alles das möchte ich wissen. Der Parteitag wird am 25. eröffnet[65]. Bei uns ist alles in Ordnung. Hier ist es langweilig, Tatotschka. Ich sitze allein zu Hause wie ein Kauz. (…) Ich will morgen oder übermorgen zu den Kindern auf die Datscha fahren.
Bis zum Wiedersehen! Halte dich nicht zu lange auf und komme möglichst bald wieder.
Ich küsse dich. Dein Josef.«[66]
Am 2. Juli 1930 bestätigte Stalin seiner Frau den Erhalt von drei Briefen. In seiner Antwort berichtete er von den Kindern, denen es gut gehe und die auf der Datscha seien. Nur die Lehrerin gefalle ihm nicht besonders. Er sei sicher, dass Wassja bei ihr nichts lerne. Besonders in der deutschen Sprache habe er keinerlei Fortschritte gemacht. Stalin nannte sie eine seltsame Frau; es war die Erzieherin Natalija Konstantinowna, die Swetlana besonders gern hatte.