Suchbild Liebe - Margit Koemeda - E-Book

Suchbild Liebe E-Book

Margit Koemeda

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Beschreibung

»Suchbild Liebe« spielt in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Junge Menschen bewegen sich zwischen Unsicherheit und Ambition, zwischen Liebessehnsucht und Einsamkeit. Das Politische jener Zeit schimmert hier und da zwischen den Selbstverbesserungsideen und Revolutionierungsbedürfnissen des eigenen Liebeslebens durch, ohne direkt zum Thema zu werden. Hinter kühlen Fassaden brennen die Notwendigkeit, den eigenen Lebensentwurf zu gestalten und eine sexuelle Energie, der nur scheinbar alle Freiheit zusteht. »Den kühlen Lack spüren, die nach innen gebogenen, trotzdem scharfen Kanten einer Autotür abfahren, bis bald vielleicht sagen und die Tür zuschlagen... Carla hat sich im Griff.«

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Inhalt

Carla: Papphasen

Carla: Loslassen

Ute: Das Monster

Ute: Probleme

Martin: Lichtblick

Gesa: Eine persönliche Schwäche

Klaus: Bei mir bin ich schejn

Gesa: Ein Helikopter in Alaska

Gesa: Leben ganz nah

Carla: Faîtes vos jeux

Carla: Fast ein Traum

Carla: Aus den Fugen

Gesa: Im Aquarium

Klaus: Ablandiger Wind

Carla: Gewogen und für zu leicht befunden

Gesa: Zurück auf Feld Eins

Martin: Die Macht der Abwesenden

Carla: Recovery

Klaus: Auf Messers Schneide

Gesa: Harmonia Mundi

Klaus: Alles unter Kontrolle

Martin: Aus alter Gewohnheit

Gesa: Stadtbummel

CARLA

Papphasen

»Ich hab’ eine Anzeige aufgegeben.« Carlas Kniekehlen umspielen den Rand ihres Korbsessels. Ein dünnbeiniges Stahlrohr-Ufo, Überbleibsel aus den fünfziger Jahren. Carla sitzt quer. Ihre Unterschenkel baumeln unruhig über dem gesprenkelten Steinfußboden.

»Was?« brummt Martin und verzieht den Mund.

»Appetitliche Sie, Anfang 30«, zitiert Carla, »sucht kahlrasiertes Scheusal, Gefühlsduseleien unerwünscht. Melde Dich! Chiffre.«

»Spinnst du?«, empört sich Martins Freundin Ute, ein Handtuch als Turban um den Kopf gewickelt. »Das hast du nicht gemacht.«

»Doch«, beteuert Carla und grinst herausfordernd zu Christian hinüber, der im Kulturteil der Zeitung blättert und nicht reagiert.

Auf dem Gasherd sprotzelt die Espressokanne letzten Dampf durchs Sieb. Gesa steht auf und dreht ab. Sie ist knochendürr. Und glücklich, wenn sie sich bewegen kann.

»Ich würde eher Teilnehmer für eine Expedition zum Nordpol suchen«, meint Klaus, der sich einhändig eine Zigarette zu drehen versucht.

»Bullshit!« brummt Christian. Jetzt mischt er sich doch ein und zündet eine Gauloise Bleue an.

»Gib uns mal die Mokkatassen rüber!« sagt er zu Gesa und fügt noch hinzu: »Ich brauch’ übrigens bald ein Bier. Kommt jemand mit?«

Martin schaut auf die Uhr.

»Muss morgen früh raus. Mein Kurs beginnt um neun.« Und mit Blick auf Ute: »Was meinst du, gehen wir?«

Ute ist noch mit Carlas Idee beschäftigt.

»Ich wünschte mir einen, der Zeit hat.« Sie unterbricht sich, als wäre es ihr peinlich, was ihr da gerade herausgerutscht ist. »Kahlrasiert?« fügt sie schließlich hinzu. »Was findest du denn daran gut?«

»So einer wäre etwas gegen die Langeweile«, erklärt Carla. »Schau, wie wir leben: Martin kommt von der Uni, guckt bei Christian rein. Ute hat eingekauft und vermutet, dass sie Martin hier trifft. Sie hat Recht. Anschließend hokken wir alle zwei Stunden lang vor der Glotze. Vorwand: ›Der aktuelle Brennpunkt‹. Aber wir bleiben hängen. Irgend so ein Spielfilm hindert uns daran, abzuschalten. Und weil uns dieser Streifen spätestens nach zehn Minuten anödet, fängt Christian an herumzuzappen. Eine Reportage über Marokko hält uns für weitere zehn Minuten gefangen, dann ein Krimi; bei dem findet ihr die Musik zu blöd. Wir landen bei einer Talkshow über Homosexualität. Die beleidigt offensichtlich weder eure intellektuellen noch eure ästhetischen Ansprüche, denn wir bleiben eine geschlagene Stunde dabei und hören zu. Ich sitze bei euch, weil ich warte. Das Fernseh-Programm ist mir egal. Ich warte darauf, dass Christian mir einen einzigen Krümel Aufmerksamkeit schenkt – vergeblich, wie ihr seht. Ich warte darauf, dass Gesa vorbeikommt, weil ich mit jemandem reden will. Sie kommt, hat aber Klaus im Schlepptau. Und dann sitzen wir in dieser gottverdammten WG-Küche, die vor Dreck starrt, und warten darauf, dass jemand das Signal für den Aufbruch zum Schlummertrunk gibt, auswärts, versteht sich. Im Herzen unserer provinziellen Jammerlappenstadt. Wir trinken Bier und rauchen.

Deshalb: Ein Kahlrasierter muss her, ein Bosheit sprühendes Scheusal!«

Die letzten hundert Meter bis zur Fußgängerzone fährt Richard im Schritttempo. Geübte Ruhe. Kein Wort wird gewechselt. Durch leicht verstaubte Fensterscheiben beobachtet Carla, wie sich die Autoschlange in eine Gasse zwischen zwei Häuserzeilen zwängt. Rechts und links strömen Fußgänger vorbei. Immer tanzen ein paar Eilige aus der Reihe, um einen Kinderwagen oder eine alte Frau zu überholen, springen vom Trottoir und krümmen blitzschnell ihre Oberkörper zurück, um nicht von einem Auto erfasst zu werden.

»Ich möchte …«, sagt er plötzlich, und seine Stimme klingt unnatürlich laut: »Wann sehen wir uns wieder?«

Carla dreht den Kopf und sieht ihn von der Seite an. Sie bleibt an seinen blonden, buschigen Augenbrauen hängen, will sich zu ihm hinüberbeugen und ihm – trotz allem – einen Kuss an den Hals drücken. Gerade noch rechtzeitig kühlt sie sich aber an seiner geraden, etwas zu kurzen Nase und seinem glattrasierten Kinn ab.

Es geht nur noch um Wagenlängen. Sie könnte sofort aussteigen. Vielleicht würde er das missverstehen, überlegt Carla. Vielleicht missversteht er es aber auch, wenn sie jetzt immer noch sitzen bleibt. Vielleicht bereut er überhaupt schon sein Angebot, sie in die Stadt zu fahren.

»Versuch doch, gleich hier zu wenden«, sagt sie, »diese letzten paar Meter gehe ich zu Fuß.« Carla spürt, dass die Zeit genau jetzt reif ist für den Absprung. Darin liegt ihre Stärke, dass sie anderen zuvorkommt, immer von sich aus und scheinbar freiwillig die Ausstiegsluke ansteuert, bevor sie dazu gedrängt wird.

Sie muss den Türgriff nicht suchen. In diesem Augenblick beginnt das Herzklopfen. Sie kennt den Verlauf. Der Höhepunkt ist noch nicht erreicht. Das Herzklopfen wird noch ein paar Sekunden lang zunehmen.

»Bis bald vielleicht«, sagt sie dann und nimmt beruhigt zur Kenntnis, dass Richard ihr entgegenkommt, sich zu ihr herüberbeugt. Der Abschiedskuss.

»Ja«, sagt er, »vielleicht.«

Mit den Füßen voran, das Gesicht schon den Passanten zugewandt, den Absprung wagen. Das Zuschlagen der Wagentür gehört bereits zur Fallübung. Die Rundungen des Tür blechs und der vom Stadtruß stumpf gewordene Lack wirken beruhigend. Carla hört das Schloss dumpf zuschnappen. Sie zieht den Gürtel ihres Regenmantels enger und geht davon.

Sie hat das Gefühl, ohne Verletzungen davongekommen zu sein. Wind fällt ihr ins Gesicht und wirbelt ihr Haar auf. Sie spürt das Prickeln des leisen Nieselregens auf der Haut.

Carla schlägt keine bestimmte Richtung ein. Vor dem Kaufhaus, dem einzigen in Plenzburg, bleibt sie stehen. Ein Warmluftschwall nimmt ihr den Atem. Sie lässt sich einsaugen, an Strümpfen vorbei, an Kosmetikartikeln. Zitronencreme sticht ihr in die Nase, künstliche Aromen, der Geruch von alternder oder einfach billiger Schokolade. Carla zwängt sich durch Menschen, an den Schreibwaren vorbei. Von der Decke baumeln feixende Papphasen, rote, gelbe, violette Riesenschleifen, die sich träge in der abgestandenen Luft drehen und frohe Ostern wünschen. Carla steht jetzt mitten drin im Süßigkeiten-Paradies, zwischen Osterkörbchen und -tüten, Rieseneiern, einem mit Federn beklebten Schokoladenschwan, Hennen, denen man Zuckereier um Brust, Lenden und Bürzel gelegt hat, Zuckereiern, die man einem Hasen ins Maul gestopft hat oder einer Ente unter den Flügeln herausquellen lässt. Carla fühlt Zufriedenheit in sich aufsteigen. Der Geruch von billigen Pralinen, diese geballte Geschmacksbeleidigung, kommt ihrem persönlichen Zustand bestätigend, ja fast umarmend entgegen. Diese ungeduldig vorwärtsdrängenden Leute, die in allem Möglichen ramschen, sich gegenseitig anstoßen, auf etwas aufmerksam machen, Belanglosigkeiten zurufen. Übelkeit von innen und außen vermengen sich in Carla zu einem zähflüssigen Ekel. Ein Gefühl von Stimmigkeit stellt sich ein.

Carla sucht die Schmuckabteilung, wo sie einen ganz bestimmten Kamm kaufen möchte; einen wie den, den sie vor einigen Tagen verloren hat: schwarz mit Elfenbein, etwas Gefärbtes, und sicher kein echtes Elfenbein. Trotz der missbilligenden Blicke der Verkäuferin lässt sie Perlen, Goldund Silberketten durch ihre Hände gleiten. Imitate. Alle fühlen sich gleichbleibend warm an.

Sie findet die Kämme nicht. Schon ausverkauft? Richard haben sie gefallen. Gestern, wie weit das schon zurückliegt. Carla reagiert nicht, als eine kleine, dicke Frau sich bei ihr entschuldigt, weil sie mit ihren Plastiktüten bei ihr angestoßen ist. Tatsächlich wird sie diese Kämme, falls sie sie findet, Richard zuliebe noch einmal kaufen. Carla verzieht den Mund. Unsinn, sie will, dass die Geschichte mit Richard vorbei ist.

Gestern: Carla hatte sich den ganzen Tag über nicht besonders wohl gefühlt. Im Tanztraining war sie mit ihren Leistungen unzufrieden gewesen. Die anschließende Dusche hatte sie nicht richtig erfrischt. Glücklicherweise fand sich in ihrer Tasche ein ungetragenes Paar Strümpfe. Und da sie es nicht eilig hatte, wusch sie ihr Haar, nahm sich Zeit zum Föhnen. Dann fielen ihr die dunkelroten Bänder ein, die sie einflechten könnte. Ihre schwarzen Locken würde sie zu Mohnblüten zusammenknüpfen und ihren Hals ganz freilegen. Schließlich war sie überrascht, als sie in den Spiegel schaute. Sie sah besser aus, als sie sich fühlte. Zufrieden betrachtete sie ihre schlanken Beine und drehte sich einmal um sich selbst. Dann nahm Carla den schwarzen Mantel von der Garderobe und schlüpfte hinein. Bei jedem Schritt sprang er auf und zeigte sein dunkelrotes, zu den Bändern passendes Futter.

Etwas besser gelaunt war sie dann ins Sprachlehrinstitut gefahren. Sie erinnert sich nicht mehr, in welcher Stimmung sie das Klassenzimmer betreten hatte, weiß aber noch, dass es ihr unglaublich warm vorgekommen war, obwohl schon sechs Uhr abends, Anfang März. Sie öffnete die Fenster und hörte, während sie Sätze im Subjonctif présent bilden ließ, die Amseln singen. Insgeheim protestierte sie, weil Amseln doch erst im Sommer singen, nicht? Sie malte sich ein Leben aus, in dem sie verheiratet wäre. Nach der Arbeit würde sie nach Hause fahren und das Garagentor mit einer Fernbedienung öffnen. Eine Nanny hätte den Abendbrottisch bereits gedeckt. Ein oder zwei Kinder würden ihr vom Garten her entgegenlaufen. Jedenfalls säße sie in der Falle.

Carla möchte anders leben.

Die Amseln sangen immer noch unbeirrt von den Häuserdächern herab. Nein, sie wollte in keinem Vorstadthaus wohnen. Allerdings hätte sie gerne in diesem Moment das Üben der Subjonctif-Sätze abgebrochen. An die Tafel schrieb sie: Je veux que tu sois sage. Ihr Zustand hatte etwas mit Fliegenwollen zu tun. Sie stellte sich vor, mit ihrer ganzen Klasse aus dem Zimmer zu laufen, die Treppen hinunter, auf die Straße hinaus und immer stadtauswärts, der untergehenden Abendsonne nach, laufen bis ans Ufer und in den See hinein, bis der Boden unter den Füßen wegtauchte, die Dämmerung das Licht auffräße und Dunkelheit vom Himmel fiele.

»Nein: Je ne veux pas que tu es là. Kein Subjonctif bei Verneinung.« Sie musste sich zurückholen und ihre Schüler korrigieren. In diesem Augenblick mochte sie ihre Klasse. Alle, wie sie da saßen: die Professorengattin (Carla fand diese Bezeichnung passend, obwohl Ute nicht verheiratet und ihr Partner erst Oberassistent war), den Treuhänder, den EDV-Prokuristen, den Chilenen (Carla verstand nicht, warum er sich mit Französisch abplagte, er konnte noch nicht einmal richtig Deutsch), die zwei Schülerinnen vom humanistischen Gymnasium und den Forscher, wie Carla ihn spöttisch nannte (er war Psychologe und hatte der Klasse weder auf Französisch noch auf Deutsch erklären können, worin seine Arbeit an der Universität eigentlich bestand). Carla liebte in diesem Moment alle und hätte jedem und jeder um den Hals fallen können. Stattdessen schlug sie vor, zum Abschluss noch eine Leseübung zu machen.

Die Erinnerung an das gemeinsame Waschen im Bad würde sie jetzt im Nachhinein gerne wegwischen. Richard muss etwas an ihren Brüsten nicht gefallen haben. Nachdem Carla vor vier Jahren ihr regelmäßiges Tanztraining wieder aufgenommen hat, sind ihre Brüste kleiner geworden. Überhaupt hat sie abgenommen, worüber sie sich freut. Sie friert leichter. Und heute früh ist ihr besonders kalt gewesen. »Mein Gott« – Carla versucht die unangenehme Erinnerung nun endgültig wegzuschieben – »wenn er dich we gen deiner Gänsehaut nicht mag … ist es doch sein Problem.«

Das mit Richard war ohnehin nur ein Spiel gewesen. Sie kriegt Lust, mit Ostereiern zu werfen. Ein misslungener Versuch, mit Christian gleichzuziehen, der schon die dritte Nacht nicht nach Hause gekommen ist. Er hätte wenigstens anrufen können, was er sonst immer tut. Carla überlegt, ob sie nicht lieber auf einen Wäschetisch springen, Kunden und Verkäuferinnen mit Damenslips bewerfen und den Osterhasen mit Unterhosen das Maul stopfen sollte. Die Geschichte mit Richard hat nichts eingebracht. Okay. Und Carla muss jetzt in die Lebensmittelabteilung, weil sie mit dem Einkauf dran ist.

Richard ist ein Schüler von ihr. Französisch Stufe II, dienstags und freitags. Normalerweise verbietet sie es sich, mit Schülern aus dem Spracheninstitut etwas anzufangen. Sie möchte ihren Job nicht aufs Spiel setzen. Sie ist überzeugt, dass es mit Richard keine Probleme geben wird. Er gehört zu der nüchternen Sorte Mann, die sehr schnell erkennen, wenn sie in eine Sackgasse geraten sind, augenblicklich kehrtmachen und schon nach kurzer Zeit keine Erinnerung mehr haben. Es gibt nichts fortzusetzen zwischen ihnen. Das wissen beide.

Aber gestern war noch alles ganz anders gewesen. Richard war etwas füllig und älter als sie, kaufmännischer Leiter bei einer Computerfirma, Pferdeliebhaber, soviel sie weiß. Mehr als einmal hatte er sie zum Schmunzeln gebracht, weil er cheveux und chevaux verwechselte. Dass er sie manchmal unverhohlen anschaute, nahm sie geschmeichelt zur Kenntnis. Und sie genoss es, mit dem Eindruck, den sie auf ihn machte, zu spielen.

Sie erinnert sich daran, dass sie sich eines Nachmittags schon beim Anziehen vorgenommen hatte, ihn während der ganzen Stunde mit ihrer Erscheinung zu beschäftigen. Sie steckte sich in ein grau-rosa Strickkostüm, das die Konturen ihres Körpers ziemlich genau nachzeichnete. Vom Hals flatterte ihr ein langer rosa Seidenschal. Die hochhackigen Wildlederstiefel sollten sie größer erscheinen lassen. Die Art, wie sie ihren überdimensionalen Regenschirm an jenem Nach mittag beim Betreten des Raumes in den Papierkorb pflanzte, galt ausschließlich ihm. Dabei war er nicht einmal ihr Typ.

Ein anderes Mal waren es die schwarz-weißen Kämme gewesen. Und gestern Abend hatte sie sich diese roten Bänder ins Haar geflochten. Am Ende der Stunde kamen wie üblich einige Schüler an ihr Pult. Ute als erste. Carla fiel auf, wie unvorteilhaft sie gekleidet war. Dreiviertellange Jerseyröcke, die unten eng zusammenliefen. Damit betonte sie ihren Hüftspeck. Ute hatte die Zahlen nicht verstanden. Woher nahm sie diesen Eifer, wunderte sich Carla, bei einer im Grunde nur mittelmäßigen Sprachbegabung. Jedenfalls hatte Carla, als Ute es auch beim dritten Erklärungsversuch nicht begriff, dass es soixante-dix und quatre-vingt-onze heiße, dass es neuvante nicht gebe und septante sowie huitante nur in Belgien und in der Schweiz gebräuchlich seien, mit gespielter Verzweiflung in die Runde geschaut und war in den Augen des kaufmännischen Leiters hängengeblieben. Er hielt sie fest, hatte sie das Gefühl, und es war ihr in diesem Moment sehr angenehm.

Der nächste Schüler wollte Carla ein neues Lehrbuch zeigen. Ob sie es schon kenne? Nein, sie kannte es nicht. Carla fragte, ob er mit dem, das sie verwendeten, nicht zufrieden sei.

Es ging noch eine ganze Weile lang so weiter.

Jedenfalls war klar, dass der kaufmännische Leiter als letzter an Carlas Pult stehen, aber nichts fragen würde, dass sie betont langsam zu ihrem Mantel gehen und sich hineinhelfen lassen würde, dass sie kein Wort sagen, sondern einfach hinausgehen und die Treppen hinuntersteigen würde. Unten beim Schultor angelangt, würde sie sich umdrehen und sagen: Okay, wir können zusammen essen gehen.

Er war einverstanden und wunderte sich nicht, dass er eine Antwort auf eine nicht gestellte Frage bekam.

»Unterrichten Sie gerne?«

Carla zuckte die Schultern.

»Ich meine, geht es Ihnen nicht auf die Nerven, wenn Ihre Schüler immer wieder die gleichen Fragen stellen?«

Sie bereute schon ihren Entschluss, mit ihm essen zu gehen. Er schien einfallsärmer zu sein, als sie befürchtet hatte.

»Wohin gehen wir eigentlich?« fragte sie.

»Das wollte ich gerade Sie fragen«, gab er zurück.

Sie einigten sich auf das chinesische Restaurant in der Fußgängerzone. Carla bohrte ihre Fingerspitzen in die Manteltaschen, während sie schweigend nebeneinander hergingen.

Obwohl ihr das schweigende Nebeneinander-Hergehen nicht eigentlich etwas ausmachte und sich ihre Gedanken nur träge um Fragen wie »Warum meldet sich Christian … vielleicht doch eine Frau gefunden … endgültige Trennung … könnte wenigstens Bescheid sagen …« drehten, konnte sie ein Gefühl, diese Art Leben satt zu haben, auf Dauer nicht unterdrücken. Jetzt aber hatte sie Hunger, und sie freute sich auf das Essen.

Carla war zu träge, um von sich aus ein Gespräch anzufangen. Der kaufmännische Leiter kam, sobald sie an einem hübsch gedeckten Tisch Platz genommen hatten, von selbst ins Reden. Er sprach über den revolutionären Vormarsch von Mikroprozessoren. Früher hätte sie den Drang verspürt, ihm ihrerseits mitzuteilen, wie sehr ihr das unerklärliche, bereits seit drei Tagen anhaltende Schweigen ihres Freundes zu schaffen mache und hätte damit zum Ausdruck gebracht, wie sehr sie beide in diesem Augenblick aneinander vorbeiredeten, -dachten, -fühlten. Heute rechnete sie sich nur aus, dass der Mann, der ihr da gegenübersaß, misstrauisch werden könnte, falls sie auf Christian zu sprechen käme, dass er sich möglicherweise vorzeitig zurückziehen würde, was sie unter keinen Umständen riskieren wollte.

Sie wollte getröstet werden, ohne über ihre Traurigkeit reden, möglichst ohne sie überhaupt empfinden zu müssen. Carla hatte sich Essstäbchen bestellt, klemmte Reis, Pilze und Bambussprossen geschickt dazwischen und stellte fest, dass sie damit erneut seine Aufmerksamkeit auf sich zog, was ihre Stimmung sofort zu heben begann. Er war inzwischen in seiner Rede bei der restlosen Ersetzung von Regierungen durch Computer angelangt, fragte aber plötzlich und unvermittelt: »Wo haben Sie denn das gelernt?« Er wollte sich von Carla beibringen lassen, wie man mit Stäbchen isst. Und bestellte zwei weitere Portionen Reiswein.

Carla nahm sich zusammen, schlüpfte wieder in die Rolle der Lehrerin, diesmal für Esstechniken, wobei sie nun auch, allerdings nur nebenbei, auf die infolge rasender technischer Fortentwicklungen drastisch schrumpfenden Arbeitsmöglichkeiten für Menschen Bezug nahm und die daraus folgende Notwendigkeit einer nachhaltigen Neuorientierung unterstrich. Der kaufmännische Leiter schien das Interesse an dem von ihm angeschnittenen Thema inzwischen verloren zu haben. Er steigerte vielmehr seine auf die Handhabung der Holzstäbchen gerichtete Aufmerksamkeit, versuchte die Strecke zwischen Essschale und Mund immer weiter zu vergrößern, wobei die Menge der aufgeladenen Speisebrocken ebenfalls zunahm. Carla hüstelte und musste schließlich lachen. Als er erschrocken aufschaute, erklärte sie, dass es zu komisch aussehe, welche Falten er vor lauter Bemühung, nichts fallenzulassen, ziehe. Im Übrigen gehöre es, soviel sie wisse, in asiatischen Ländern durchaus zum guten Ton, wenn man die Essschale nahe zum Mund führe. Er lachte auch und bestellte eine vierte Portion Reiswein.

Carla hatte nichts dagegen, als er nach dem erneuten Füllen der Reisweinschalen ihre Hand berührte.

»Lebst du alleine?« fragte sie ihn.

»Seit zwei Jahren«, sagte er. »Ich bin geschieden. Und du?«

»Ich lebe in einer Wohngemeinschaft. Mein Freund und ich«, fuhr Carla fort, »sind nur locker zusammen. Verheiratet-Sein, weißt du, stellen wir uns tödlich vor. Ein Gefängnis, und jeder der Wächter des anderen. Sicherheit, klar. Aber was hat man davon, wenn man innerlich langsam abstirbt?« Einen Augenblick lang spürte sie ihre alte Überzeugung wieder wach werden. Sie glaubte, sich in die Begeisterung des Anfangs noch einmal hineinreden zu können.

»Liebe kann man nicht einsperren. Sie gehört allen.« Kleinkariertheit und Illusion sei das doch, wenn man meine, seine sexuellen Bedürfnisse größtenteils unterdrücken und dann ausschließlich im ehelichen Schlafzimmer freisetzen zu können! Das sei ein Grundsatzentscheid, ob man sich der allgemeinen bürgerlichen Verklemmung anschließen wolle oder den Mut zu einem dynamischen, allen Begegnungen gegenüber offenen Leben finde, zu dem natürlich auch Trauer, Verlassenheitsgefühle und Einsamkeit gehörten. Je tiefer die Täler, desto höher die Höhen, desto lebendiger die Liebe!

Jetzt spürte sie den kühlen Lack und fuhr mit den Fingerkuppen die nach innen gebogenen, aber trotzdem scharfen Kanten seiner Autotür ab. »Bis bald vielleicht« sagte sie und schlug die Tür zu. Mein ist die Liebe, und ich verschließe mich, wann immer es mir passt.

Sie trug den schwarzen Mantel mit dem dunkelroten Futter, dessen Gürtel sie vor wenigen Minuten fest zusammengezogen hatte. Dann ging sie davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Wie gut sie diese Szene beherrschte. Wie oft sie sie schon geprobt hatte.

Den Einkauf hat sie wie im Traum erledigt. Zu Hause angekommen, stellt Carla die Tüten nur schnell neben den Kühlschrank. Falls es einer ihrer Wohngenossen eilig hat, soll er selbst auspacken. Sie schließt sich erst einmal ins Bad ein. Jetzt bloß mit niemandem reden müssen. Sie bleibt im Spiegel hängen und stockt. Sie lässt die Haarbürste auf halbem Wege stecken. Plötzlich löst sich ihr Gesicht, das sie doch kennt, das sie mit Sorgfalt täglich schminkt, in Flekken auf, helle und dunkle. Ein außergewöhnlich hübsches Gesicht, wie man ihr sagt, Mandelaugen; eines, das sich, ohne aufzufallen, zwischen die Fotos besserer Modejournale mischen ließe. Von weitem betrachtet oder bei flüchtigem Hinsehen ist dieses Gesicht schön. Aber jetzt sind hier nur Tupfen, rosa, rote, gelbe, schwarze und braune Punkte, unterschiedlich dicht gesät, ungleichmäßig verteilte Fleischpolster mit groben, wulstigen Poren und schlaffe Hautsäcke. Carla spürt, wie sich ihre Stirn über der Nasenwurzel zusammenzieht, die Augen ein winziges Stück weit absacken. Sie schüttelt den Kopf, versucht, sich zu wehren.

Dann fällt ihr Blick auf einen Zettel, den sie kürzlich aus der Post gefischt und hinter den Badezimmerspiegel gesteckt hat. Sie muss ihn nicht lesen, weiß den Wortlaut ganz genau: Dance Theatre. Dream Tales. Drei Gastspiele in Wien. Anschließender Workshop. Vierzehntägig. Die Künstler erteilen Unterricht.

Carla ist zu alt, um sich Illusionen zu machen. Sie hat sich in einem Leben ohne Träume eingerichtet. Trotzdem nistet sich jetzt das Wort Workshop in ihrem Kopf ein. Werkstatt. Neue Erfahrungen auf Kleiderbügeln. Körpertraining. Improvisationsversuche, Phantasiespiele, Sonderangebote, Preisschlager. Und die Künstler als einfühlsame Verkaufsberater, Überzeugungsartisten, Menschenkenner, Seelenkosmetiker. Nichts wie hin. Wien ist weit weg. Zahlungsmittel in fremder Währung.

Für vierzehn Tage verreisen. In fremde Lebensarten schlüpfen. Weder Freunde noch Bekannte mitnehmen. Sich auf dünne Äste hinauswagen, dann abspringen, untertauchen, sich treiben lassen.

Mit einer viel zu kleinen Nagelschere schnippelt Carla entlang der gestrichelten Linie, adressiert einen Umschlag mit »postlagernd Wien«, setzt ihre Unterschrift unter »Hiermit melde ich mich verbindlich …«, steckt den Zettel sowie einen Haufen Neugier und Erwartungen in den Briefumschlag, klebt ihn befriedigt und mit Nachdruck zu.

Plötzlich federleicht geworden, geht sie in die Küche, mixt sich einen Gin Tonic, freut sich an dem Plopp-pflopp der unter- und wieder auftauchenden Eiswürfel und ihrem Geknister. Die Vorbereitungen für den nächsten Französischkurs gehen ihr spielend von der Hand.

Das ist es! Genau das. Sie muss weg von hier. Weg von dem mickrigen Rest, der von der ursprünglichen Wohngemeinschaft noch geblieben ist, weg von Plenzburg, und sie muss Christian eine Weile nicht sehen. Genauer gesagt: Sie muss die Möglichkeit ausschließen, dass Christian sie sieht.

Er ist wie üblich um diese Zeit nicht zu Hause, obwohl seine Vorlesungen längst zu Ende sind. Christian treibt sich, vermutet sie, bei Freunden in der Stadt herum oder macht Sport; meistens kommt er gegen sieben nach Hause, schnappt sich das Brot aus dem Kasten, Käse und eine Flasche Cola aus dem Kühlschrank und löffelt, Zeitung lesend, fetten Fleischsalat aus einer Plastikdose. Zehn Minuten später verschwindet er wieder, geht zu einer Versammlung, einer Arbeitsgruppe, einem Elternabend.

Carla überlegt, seit wann es sie gleichgültig lässt, ob Christian nachts nach Hause kommt oder nicht. Vielleicht ist »gleichgültig« nicht ganz das richtige Wort. Aber Carla fühlt sich neuerdings nicht mehr abhängig. Sie kann sich vorstellen, ohne Christian zu leben. Sie kann es sich gut gehen lassen ohne ihn. Sich selbst im Griff zu haben, gibt ihr ein gutes Gefühl.

Carla

Loslassen

Zweiundzwanzig Grad. Heiter bis wolkig. Carla ist früh aufgestanden. Ihr Zug wartet abfahrbereit auf Gleis 2. Mäßige Winde aus Südost bis Südwest. Drehend. Für die Jahreszeit ungewöhnlich warm.

Carla trägt helle, weit geschnittene Hosen; halbhohe Schuhe, vorne offen mit spitzen Absätzen. Die malvenfarbene Bluse bauscht sich über einem eng geschnallten Gürtel. Zufrieden löst sie ihren Blick von einer letzten Schaufensterscheibe, stöckelt auf ihren Bahnsteig und besteigt den Kurswagen nach Wien.

Der Wagen ist leer. Carla besetzt einen Fensterplatz und garniert die übrigen Sitze mit Reisetasche, Blazer, Büchern und Zeitschriften. Dann lehnt sie sich in die gepolsterte Rückwand.

Tschüss, Christian, leb wohl, lass mich in Ruhe, verpiss dich!

Klar, sprudelt es weiter in Carlas Kopf, vor meiner Abreise bist du nachts wieder ein paar Mal zu Hause gewesen. Hast sogar wissen wollen, wohin ich fahre.

»Eine Fortbildung«, hab’ ich dir geantwortet. Ausweichend.

»Was für eine?« wolltest du wissen.

»Tanz«, hab’ ich gesagt.

»Ein neues Hobby von dir?«

»Ein eher altes«.

Damit war unser Gespräch beendet.

Täusche ich mich? Oder plagte dich tatsächlich ein schlechtes Gewissen? Die Frau, deretwegen du dich tagelang nicht bei mir blicken ließest, hat dich offensichtlich nicht glücklich gemacht. Ich verschwieg dir meine Geschichte mit Richard.

Weißt du noch, wie wir uns früher gekitzelt haben, wenn du mir von B.s vollfleischigen Oberschenkeln erzähltest? Ich stellte mir dann dein Zupacken vor, ungeniert grob. Oder wenn du den spitzen Po von W. erwähntest, wie süß du den fändest. Ich konnte nicht anders, als mir zarte Lustschreie dazu zu phantasieren. Ich erzählte dir von K.s Schweißgeruch, und du wusstest, dass mich das wild machte. Und dass ich G.s Zärtlichkeiten einsog wie Zigarettenrauch. So ritzten wir mutwillig die dünne Haut, die uns trennte und verband. Fügten einander scharfe Schnittwunden zu.

Der Zug rollt allmählich an. Keine weiteren Fahrgäste sind zugestiegen. Der Schmutzfilm auf den Fensterscheiben ist an manchen Stellen von Kinderfingern und Wassertropfenrinnen zerfurcht. Die Metallräder quietschen auf den Schienen, während der Zug einen langgezogenen Bogen durch die Vororte von Plenzburg fährt.

Carla erinnert sich an den schalen Geschmack, der sich schon kurz nach ihrem Einzug in Christians Wohngemeinschaft bei ihr eingestellt hatte.

Es ist eine Weile her, seit ein geliehener VW-Bus ihre Matratze und die Bücherkisten, ein paar Kleidersäcke und den Schreibtisch vor dieses Altstadthaus brachte. In kürzester Zeit war sie mit dem Einräumen fertig gewesen. Beim Montieren der Stützen für ihr Bücherregal schaute Christian zu, anerkennend, ein bisschen belustigt. Ihr Lebensgefühl steigt. Carla hatte sich eine Nähmaschine ausgeliehen und nähte nachtblaue Vorhänge. Eines Tages kam Christian, um in ihren Büchern zu stöbern, dann schaute er manchmal herein, wenn sie Musik hörte.

Wie füreinander geschaffen, jubilierte sie kurz darauf und glaubte tatsächlich, dass Christian sie glücklich machen würde. Seine Bodenständigkeit gefiel ihr, seine coole Art. Sie lagen auf seinem Bett und hörten Jazz. Man konnte anflattern gegen ihn. Tränen. Gedankenstürme. Er blieb undurchdringlich, sein Körper hielt stand. Er hatte sein Zimmer, Carla ihres. Rückzüge waren jederzeit möglich.

Sie hatten den Tod der Kleinfamilie proklamiert und sich die Überwindung von Besitzansprüchen auf die Fahnen geschrieben.

Nicht lange nach diesen Höhenflügen kam Christian eines Abends nicht nach Hause. Ohne Vorankündigung. Ohne Kommentar. Carla war beunruhigt, Christians Abwesenheit tat weh. Sie hätte gerne mit jemandem darüber geredet. Sie hielt es für ihr Problem, dass sie von gewissen Fixierungen nicht loskam und, im Gegensatz zu Christian, nicht gleichzeitig für mehrere Menschen gefühlsmäßig und sexuell offen sein konnte.

Carla versuchte, ihren Entwicklungsrückstand aufzuholen. Sie übte, auf Christians Eskapaden nicht zu reagieren. Trotzdem machte er ihr Vorwürfe. Er fühle sich eingeengt, auch wenn sie nichts sagte. Er warf ihr vor, dass sie klammerte. Ob sie denn gar nichts alleine unternehmen wolle? Eine kränkende Unterstellung.