Sündengrab - Michael Katz Krefeld - E-Book

Sündengrab E-Book

Michael Katz Krefeld

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Beschreibung

Der ehemalige Detective Ravn wird von dem renommierten Unternehmensberater Ferdinand Mesmer engagiert, um seinen Sohn Jakob zu finden. Dieser hat sich vor zehn Jahren von der Familie und der Firma losgesagt und eine Sekte gegründet. Seither ist er abgetaucht. Und nicht nur er ist verschwunden, auch von Ravns Vorgänger in dieser Angelegenheit verläuft jede Spur im Sande, nachdem der Privatdetektiv offenbar Zeuge einer brutalen Dämonenaustreibung wurde. Und als Ravn seine Ermittlungen aufnimmt, muss er am eigenen Leib erfahren, wozu die Sekte fähig ist ...

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Buch

Der ehemalige Detective Ravn, der sich, seit er die Polizei verlassen hat, hin und wieder als Detektiv verdingt, wird von dem renommierten Unternehmensberater Ferdinand Mesmer engagiert, um seinen Sohn zu finden. Jakob Mesmer hat vor gut zehn Jahren seinen Job in der Firma gekündigt, die er mit seinem Vater aufgebaut hat, sich von der Familie losgesagt und eine Sekte gegründet – Gottes Auserwählte –, die in den Medien immer wieder im Zusammenhang mit Gehirnwäsche und Korruption für Aufsehen gesorgt hat. Mesmer hat schon einmal einen Detektiv, Benjamin Clausen, beauftragt, seinen Sohn zu finden. Er übergibt Ravn die Aufzeichnungen von dem nicht erfolgreich vollendeten Auftrag, unter denen sich auch eine CD-Rom befindet, eine Art Tagebuch, das Benjamin geführt hat, während er sich undercover bei der Sekte aufgehalten hat. Dieses ist Zeugnis seiner Wandlung vom nüchternen Beobachter zum überzeugten Anhänger, der sich schließlich jedoch in einem letzten Hilfeschrei an seinen früheren Auftraggeber wendet, als er begreift, wozu die Sekte fähig ist – bevor jede Spur von ihm im Sande verläuft …

Weitere Informationen zu Michael Katz Krefeld

sowie zu lieferbaren Titeln des Autors

finden Sie am Ende des Buches.

Michael

Katz Krefeld

Sündengrab

Thriller

Aus dem Dänischen

von Knut Krüger

Die dänische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Sekten« bei Lindhardt og Ringhof Forlag, Kopenhagen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Januar 2018

Copyright © der Originalausgabe 2015 by Michael Katz Krefeld &

Lindhardt og Ringhof Forlag

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Published by agreement with Salomonsson Agency

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: arcangel/Colleen Farrell

Redaktion: Hanne Hammer

AG · Herstellung: kw

Satz: omnisatz GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-641-21698-6V001

www.goldmann-verlag.de

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Und ob ich auch wanderte im finsteren Tal,

fürchte ich kein Unglück,

denn du bist bei mir,

dein Stecken und Stab trösten mich.

BUCHDERPSALMEN

Für die Liebe meines Lebens,

meine ewige Flamme, Lis.

1

Er betrachtete seinen Sohn, der mit ihm am Esstisch in der offenen Küche saß. Es war Mitte Oktober, und hinter dem großen Fenster senkte sich allmählich die Dämmerung über den Garten, dessen niedrige Obstbäume sich als dunkle Silhouetten vor dem Abendhimmel abzeichneten. Die Hand des Jungen, der gerade sechs Jahre alt geworden war, schloss sich fest um die Gabel, als er versuchte, seine Pommes frites aufzuspießen. In der anderen Hand hielt er ein kleines blaues Spielzeugauto, dessen Farbe ein wenig abgeschabt war. In den Gesichtszügen des Sohnes erkannte er seine eigenen: die Nase, die nach unten gezogenen Mundwinkel und die eng zusammenstehenden Augen, die ihnen beiden eine nachdenkliche Miene verliehen. Er strich ihm über das Haar, und der Junge ließ es geschehen. Das runde Gesicht und die Sommersprossen hatte er von seiner Mutter, die mit dem Rücken zu ihnen am Herd stand und den Frittierkorb aus der Fritteuse hob, in dem sich weitere Pommes frites befanden. Sie schüttete die Pommes auf die Teller neben die knusprigen Wiener Schnitzel, die sie ebenfalls in der Fritteuse zubereitet hatte.

»Möchtest du Erbsen dazu?«, fragte sie, ohne sich umzudrehen.

»Ja, eine kleine Portion, danke.« Er nahm die Serviette und breitete sie über seine dunkle Hose. Seit er aus dem Büro zurück war, hatte er sich noch nicht umgezogen, trug immer noch sein hellblaues Hemd und den Anzug. Nur seine Halbschuhe hatte er gegen ein altes und ausgetretenes Paar Filzpantoffeln getauscht. »Und du, möchtest du keine Erbsen haben?« Sie lächelte ihren Sohn an.

Der Junge schüttelte energisch den Kopf.

»Aber du magst doch Erbsen?«

Der Junge nickte und kaute. »Ja, aber die sind so schwer zu essen.«

»Man spricht nicht mit vollem Mund!«

Er blickte zu seiner Frau auf, die in diesem Moment seinen Teller vor ihn hinstellte und sich mit ihrem eigenen in der Hand setzte. Dann verteilte sie Ketchup auf ihren Pommes und dem panierten Fleisch. Ihre Tränensäcke und rissigen Lippen ließen sie erschöpft und weitaus älter aussehen als ihre zweiunddreißig Jahre. Damals, als sie sich kennengelernt hatten, war er ihrem Lächeln erlegen, das inzwischen nur noch selten zu sehen war. Da sie nicht arbeitete und sich ausschließlich um den Haushalt kümmerte, wusste er nicht, was sie so auslaugte. Er schenkte ihr ein Glas Saft aus der Karaffe ein. Zum Dank nickte sie ihm kurz zu.

Sein Sohn hatte die Gabel hingelegt und konzentrierte sich ganz darauf, sein Spielzeugauto im Slalom über die Tischdecke fahren zu lassen, immer schneller und schneller, ehe er einen hohen Laut ausstieß und es in einem Bogen um sein Saftglas herumführte.

»Man spielt nicht bei Tisch!«, ermahnte sie ihn.

»Lass ihn doch.« Er bemerkte ihr Erstaunen, weil normalerweise er es war, der darauf achtete, dass die Regeln im Haus eingehalten wurden, auch die bei Tisch. »Trink deinen Saft«, sagte er lächelnd zu seinem Sohn, der rasch sein Glas leerte.

»Wie … war dein Tag?«, fragte sie mit vollem Mund.

»Ausgezeichnet, danke.«

»War irgendwas Besonderes?«

»Nein, nein, alles wie immer.«

»Wirklich?«, insistierte sie.

Er legte sein Besteck ab, nahm die Serviette von seinem Schoß und trocknete sich die Mundwinkel. »Versteh mich nicht falsch, ich finde es nett von dir, nach meiner Arbeit zu fragen, aber warum sollte ich dir irgendwelche Details erzählen, von denen du ja doch nichts verstehst? Deshalb hat dieses Gespräch einfach keinen Sinn, tut mir leid.«

Sie blinzelte und schluckte alles auf einmal herunter, wobei ihr ein halb erstickter Laut entwich.

»Ich wollte ja nur … wir können auch über was anderes reden.«

»Ich versteh dich schon, aber wollen wir nicht lieber die Stille genießen?«

Statt zu antworten, schlang sie jetzt alles so hastig hinunter, als wollte sie das Abendessen nur noch rasch hinter sich bringen. Er machte ihr deshalb keine Vorwürfe. Auch ihre mangelnden Tischmanieren wollte er heute nicht kommentieren. Er aß in Ruhe weiter und blickte erneut aus dem großen Fenster in den Garten. Er betrachtete die Obstbäume, die ihn ebenfalls anzusehen schienen. Diese Bäume hatten etwas Vorwurfsvolles. Obwohl es draußen absolut windstill war, hatte er den Eindruck, als wiegten sie hin und her, als schüttelten sie gleichsam ihre Köpfe über ihn. Als er gerade aufstehen und die Gardine vorziehen wollte, ließ seine Frau klirrend ihr Besteck auf den Teller fallen. Er wandte ihr seinen Blick zu. Sie schwankte auf ihrem Stuhl vor und zurück, führte eine Hand an ihren Kopf und atmete schwer. Sie schluckte ein paar Mal und stieß ihr Glas um, als sie danach griff. Der Inhalt breitete sich auf der Decke aus wie ein dunkler See. »En… Entschuldigung«, stotterte sie. Sie versuchte, ihren Kopf aufrecht zu halten, und blickte zu ihrem Sohn hinüber. Der Oberkörper des Jungen lag reglos auf der Tischplatte, das blaue Spielzeugauto hielt er immer noch in seiner Hand.

Sie stieß einen unartikulierten Laut aus und blickte zu ihrem Mann hinüber. Der erwiderte ihren Blick, während er ruhig kaute. »Es ist alles in Ordnung. Leg dich ruhig schlafen.«

Sie starrte ihn erschrocken an, den Mund halb geöffnet. Ihr Blick wanderte zu seinem Glas, das er nicht angerührt hatte. »Was … was hast du getan?« In dem Versuch, ihr Gleichgewicht zu halten, schlug sie mit einem Arm aus, doch im nächsten Moment rutschte sie von ihrem Stuhl, sank auf dem Linoleumboden in sich zusammen und blieb liegen.

Er beugte sich zur Seite, um sie zu betrachten, während er in Ruhe weiterkaute. Sie hatte einen Arm nach vorne gestreckt, als würde sie kraulen. Doch besonders sportlich war seine Frau nie gewesen, und er zweifelte daran, dass sie, die auf dem Land aufgewachsen war, je schwimmen gelernt hatte.

Nachdem er fertig gegessen hatte, stand er auf und trat ans Fenster. Obwohl die nackten Zweige im Dunkeln nicht mehr zu erkennen waren, zog er die langen Gardinen vor. Er deckte den Tisch ab und leerte die Essensreste in den Mülleimer. Ein paar Erbsen landeten dabei auf dem Fußboden. Er bückte sich, um sie aufzuheben. Sein Sohn hatte recht, Erbsen machten wirklich, was sie wollten. Er hätte sich gewünscht, etwas mehr Zeit mit seinem Sohn gehabt zu haben. Dann hätte er ihm beigebracht, die Erbsen zu zerquetschen, um sie unter Kontrolle zu kriegen. Aber dafür war es jetzt zu spät. Er räumte das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine und stellte die Fritteuse auf maximale Hitze. Dann drehte er sich um, ging an den Tisch zurück und nahm den Jungen auf den Arm. Der Junge stöhnte leise, war aber von dem Morphium völlig betäubt. Er trug ihn durch Küche und Wohnzimmer bis ins Schlafzimmer. Für einen Moment überlegte er, den Jungen in sein eigenes Bett zu legen, entschied sich jedoch, ihn in dieser speziellen Situation neben seiner Mutter schlafen zu lassen. Nachdem er seinen Sohn auf das Doppelbett gelegt hatte, kehrte er in die Küche zurück. Von der rauchenden Fritteuse stieg ein beißender Gestank auf. Im nächsten Augenblick entzündete sich das überhitzte Öl. Hohe Stichflammen schossen an der Wand hoch. Mit Mühe schaffte er es, seine Frau vom Boden aufzuheben. Sie war schwerer, als er gedacht hatte. Während die Flammen die Küchenschränke in Besitz nahmen und sich mit rasender Geschwindigkeit ausbreiteten, trug er sie ins Schlafzimmer und legte sie neben ihren Sohn. Er zog ihnen die Schuhe aus, nicht jedoch die Kleider. Dann faltete er ihre Hände auf der Brust, als würde er sie in einem Sarg herrichten. Er setzte sich auf das Bett, zog Schuhe und Strümpfe aus. Dann warf er sein Sakko auf den Boden und legte sich neben seine Frau und seinen Sohn. Er schloss die Augen und versuchte, ein wenig Ruhe zu finden, doch es gelang ihm nicht so richtig. Er erwog, aufzustehen und ebenfalls ein Glas von dem betäubenden Saft zu trinken, aber das wäre nur ein Ausdruck von Feigheit gewesen. Er verdiente es, die Angst vor den Flammen zu spüren. Verdiente es, schon bald bei lebendigem Leib zu verbrennen. Als schwarzer Rauch in das Schlafzimmer quoll, begann er zu husten. Er hörte das Prasseln der Flammen, die sich nach und nach im ganzen Haus ausbreiteten. Fauchend bahnten sie sich ihren Weg durch das Wohnzimmer, verzehrten das Parkett und nährten sich von der Holzbalkendecke. Bestimmt hatten sie auch schon die Gemälde an der Wand vernichtet, eines davon ein kostbarer Heerup, und den Konzertflügel von Hornung & Møller in einen Haufen Brennholz verwandelt. Er hörte, wie sich die Flammen wie ein heiseres Raspeln ausbreiteten. Er spürte die Hitze hinter den dünnen Wänden, die bald in einem glühenden Inferno einstürzen würden. Der beißende Rauch brannte in seinen Augen, obwohl er sie geschlossen hielt. Er drängte in seine Kehle und versuchte, ihn zu ersticken. Nur eines bereute er jetzt: dass er einen Abschiedsbrief an seinem Arbeitsplatz hinterlassen hatte. Doch in dem Moment war es ihm als das einzig Richtige erschienen. Als etwas, das man einfach tat, wenn man einen so schwerwiegenden Entschluss fällte. So ähnlich wie Tischmanieren oder dass er jetzt neben den Seinen lag. Für alles gab es Regeln und Methoden, auch für die Handhabung widerspenstiger Erbsen. Er wusste besser als jeder andere, dass die Welt vorgegebenen Systemen gehorchte.

2

Gegenwart, Christianshavn, August 2014

Der Radiomoderator, der sich Teddy K. nannte, gab bekannt, dass der heutige Tag den Meteorologen zufolge der wärmste des Jahres werden könnte. Und obwohl es erst halb elf Uhr vormittags war und Teddy K. mit seiner schrillen Stimme nicht gerade sehr vertrauenerweckend wirkte, war Ravn dieses eine Mal geneigt, ihm Glauben zu schenken. Ravn hatte alle Fenster des alten Audis heruntergefahren, trotzdem war sein T-Shirt schweißnass. Als die Moderatorenstimme von Werbespots abgelöst wurde, drehte er automatisch die Lautstärke herunter. Am liebsten hätte er das Radio ganz ausgestellt, doch obwohl er sich das Auto bereits vor einer Woche von seinem neuen Arbeitgeber geliehen hatte, wusste er immer noch nicht, wie das funktionierte.

Mit zwei Fahrzeugen Abstand folgte er dem schwarzen Porsche Cayenne, der sich durch den Verkehr schlängelte. Auch der Porschefahrer hatte sämtliche Fenster geöffnet, aus denen Hiphop-Beats dröhnten. Als der Porsche mit den breiten Felgen die Uplandsgade hinunterfuhr und auf den Parkplatz des SuperBest-Markts abbog, blinkte Ravn und tat es ihm gleich.

Der große Parkplatz vor dem Supermarkt war weitgehend leer, und der Porsche parkte nahe am Eingang. Ravn hielt ein paar Reihen weiter hinten, den Kühler in Richtung des Porsches. Er sah sich im Auto nach dem Camcorder um, den er irgendwo hingelegt hatte, konnte ihn aber nirgends entdecken. »Rutsch mal, Møffe«, sagte er und versuchte, die Englische Bulldogge, die auf dem Passagiersitz schlief, ein Stück zur Seite zu drücken. Ravn erblickte die Kamera unter Møffes behaartem Bauch und schob seine Finger zwischen Fell und Sitz.

Der Hund brummte missmutig.

»Jetzt stell dich nicht so an, sonst bleibst du nächstes Mal zu Hause«, sagte Ravn, während er den Bildschirm der Kamera zur Seite klappte. Sie schaltete sich automatisch ein, und er hob sie so weit hoch, dass sie soeben über das Armaturenbrett schaute. Der Autofocus des Objektivs summte leise, während er den Porsche heranzoomte und den Aufnahmeknopf drückte. Ein korpulenter Glatzkopf in den Vierzigern stieg auf der Beifahrerseite aus dem Wagen. Der Mann, der eine Shorts aus Jeansstoff sowie eine Lederweste mit Rückenabzeichen trug, hatte eine weiße Halskrause, die seinen Kopf aufrecht hielt. Die Fahrertür wurde geöffnet, und eine kräftige Frau mit langen platinblonden Haaren und genauso vielen Tattoos wie ihr Mann stieg aus. Zuerst glaubte Ravn, sie wäre auch im Gesicht tätowiert, doch dann erkannte er, dass sie ein blaues Auge hatte. Der Mann rief ihr etwas zu, das Ravn nicht verstand, doch im nächsten Moment öffnete sie die Tür zur Rückbank und zerrte einen Jungen heraus. Der Junge, der seinen Eltern extrem ähnlich sah, war ganz und gar auf sein Tablet konzentriert. Sein Vater drückte ihm eine Münze in die Hand und zeigte auf die Einkaufswagen, die ein Stück entfernt unter einem gewölbten Dach standen. Der Junge setzte sich missmutig in Bewegung, um einen Wagen zu holen, doch als er offenbar zu sehr trödelte, griff seine Mutter nach dem Wagen und machte eine ungehaltene Bemerkung in Richtung ihres Mannes. Der zuckte bloß mit den Schultern und deutete auf seine Halskrause. Ravn filmte weiter, während die Familie zum Eingang schlenderte und im Inneren des Supermarkts verschwand.

»Es ist jetzt …«, Ravn warf einen raschen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett, »…10.38 Uhr. Die überwachte Person ist mit ihrer Familie im SuperBest-Markt in Amager. Weiterhin keine Anzeichen, dass Nielsen seine Verletzungen nur vortäuscht.«

Als Ravn die Kamera abschaltete und aus dem Wagen stieg, sah Møffe ihn fragend an.

»Du bleibst hier. Wenn du Glück hast, bring ich dir irgendein Leckerli mit.«

Der Hund schnaubte und legte seinen Kopf wieder auf den Sitz.

Als Ravn den Supermarkt betrat, versteckte er den Camcorder unter seinem Kapuzenpullover, den er über dem Arm trug. Er rechnete zwar nicht damit, dass Carsten so dumm sein würde, in aller Öffentlichkeit zu enthüllen, dass die Halsverletzung, die er seiner Versicherung gemeldet hatte, reiner Schwindel war, aber man konnte ja nie wissen. Carsten versuchte schließlich, sich seine Unfallversicherung mit einem Satz von 25 Prozent unter allen Umständen auszahlen zu lassen, was konkret bedeutete, dass er knapp zwei Millionen Kronen einstreichen würde. Die Versicherungspolice hatte er drei Wochen vor dem angeblichen Verkehrsunfall unterzeichnet, dessen einziger Zeuge der Autofahrer war, der Carsten Nielsen angefahren hatte – seltsamerweise einer seiner »Brüder« aus dem Motorradclub. Ein Mann, der vor ein paar Jahren unter identischen Umständen eine hohe Entschädigungssumme von seiner Versicherung kassiert hatte. Ravn war seit über einer Woche an der Sache dran, und wenn es ihm heute nicht gelang, Carsten Nielsen Betrug nachzuweisen, dann würde der Rocker, der von seinen Brüdern Die Ratte genannt wurde, einen ordentlichen Reibach machen.

In dem fast menschenleeren Supermarkt war es angenehm kühl. Er nahm sich einen Korb, den er mit ein paar beliebigen Waren füllte. Als er zu den langen Kühlregalen kam, traf er auf die Familie, in deren Wagen sich die Einkäufe stapelten. Ravn folgte ihnen in angemessenem Abstand. Die Frau schob den inzwischen ziemlich schweren Einkaufswagen, während Carsten in seinen Flipflops hinterherschlurfte. Er hatte einen roten Kopf und zerrte an seiner Halskrause. Wenn er in eine andere Richtung sehen wollte, musste er jedes Mal seinen ganzen Körper drehen, was seinen Bewegungen etwas Breakdance- und Roboterhaftes verlieh. Als die Familie die Spirituosenabteilung erreichte, gab Carsten seinem Sohn einen Klaps und bat ihn, eine Kiste »Elefant-Bier« zu holen.

»Mach doch selber«, gab der Sohn zurück, ohne von seinem Computerspiel aufzublicken.

Carsten riss ihm das Tablet aus der Hand und bückte sich, sodass sein Gesicht nur Millimeter von dem seines Sohnes entfernt war.

»Soll ich das Ding auf den Müll werfen, hä? Soll ich das?«, rief er mit knallrotem Kopf.

Der Sohn schaute angstvoll auf sein Tablet, das jetzt für ihn außer Reichweite war. Dann drehte er sich um und ging zu der ersten Reihe der Bierkästen. Mit einem Stöhnen zerrte er an dem obersten. »Der ist total schwer, Papa!«

»Ich hab Elefant-Bier« gesagt!«, meckerte Carsten und zeigte auf einen anderen Kasten. Der Junge schlurfte hin, schleppte den Kasten mithilfe seiner Mutter zum Einkaufswagen und hievte ihn hinein.

Ravn stand ein Stück entfernt und beobachtete, wie die Familie den Gang hinunterschlurfte. Inzwischen war ihm klar, dass Carsten, der vermutlich nicht einmal im Kreise der Motorradrocker zu den hellsten Lichtern gehörte, offenbar doch klug genug war, seine Entschädigungssumme nicht zu riskieren. Ravn ging es nicht so sehr darum, ob irgendeine Versicherungsgesellschaft zur Kasse gebeten wurde oder ob er selbst eine Bonuszahlung von dem Rechtsanwalt bekam, für den er arbeitete, sofern er einen Beweis gegen Carsten vorlegte – nein, er wollte sich vor allem von so einem Typen nicht auf der Nase herumtanzen lassen. Nicht zuletzt, weil er eine eingefleischte Abneigung gegen Rückenabzeichen hatte. In seiner Zeit bei der Spezialeinheit der Polizei hatte er allzu viele dieser Arschlöcher kennengelernt und so manchen von ihnen hinter Schloss und Riegel gebracht. Nie im Leben würde er es zulassen, dass sich Carsten alias Die Ratte alias Ihr-könnt-mich-alle-am-Arsch-lecken auch nur fünf Öre ergaunerte. Er musste sich schnell etwas einfallen lassen, das den Verdacht gegen den Rocker erhärtete oder ein für alle Mal aus der Welt räumte.

Ravn stellte den Einkaufskorb ab und hastete Richtung Ausgang. Als er auf den Parkplatz kam, zog er eine Münze aus der Tasche und eilte zu dem gewölbten Dach, unter dem zwei Reihen mit je sechs Einkaufswagen standen. Camcorder und Kapuzenpullover legte er auf dem Boden ab und quetschte sich zwischen den beiden Wagenreihen hindurch. Nachdem er den hintersten Wagen erreicht hatte, steckte er eine Münze in den Schlitz und löste die Kette des Wagens. Er stemmte einen Fuß gegen die Rückwand des Unterstands und schob mit aller Kraft. Quietschend setzte sich die ganze Wagenreihe in Bewegung und rollte unter dem Dach hervor. Mit größter Anstrengung gelang es ihm, sie dem Heck des Porsches entgegenzuschieben.

In diesem Moment kam Carsten mitsamt seiner Familie aus dem Supermarkt. Carsten trieb seine Frau, die sich mit dem schweren Einkaufswagen abmühte, zur Eile an. Ravn hatte den Eingang im Blick. Es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis Carsten um die Ecke biegen und sehen würde, was er im Schilde führte. Er mobilisierte all seine Kräfte und schob die Wagenreihe Richtung Porsche, sodass dieser am Ausparken gehindert wurde. Hastig hob er Camcorder und Kapuzenpullover vom Boden auf und eilte zu seinem Wagen.

»Hej, Møffe«, sagte er, während er sich auf den Fahrersitz schob.

Der Hund legte sich gähnend auf die Seite, um sich den Bauch kraulen zu lassen, aber dazu hatte Ravn jetzt keine Zeit. Von draußen drangen schon Carstens Flüche zu ihm herüber. Ravn drückte sich in den Sitz und schaltete die Kamera ein. Er zoomte Carsten heran und begann zu filmen.

Carsten stampfte hin und her wie ein wütender Stier, während seine Familie ihm hilflos zusah. Die Wagenreihe reichte vom Heck des Porsches bis zu dem gewölbten Dach des Unterstands. Als wäre einer der Supermarktassistenten beim Einsammeln der Wagen unterbrochen worden und hätte sie mitten auf dem Parkplatz stehen gelassen. Die Wagenreihe hinderte Carsten auch am Einsteigen, sodass er sein Auto nicht einmal als Rammbock benutzen konnte, sollte er so etwas im Sinn haben.

Carsten wies seine Frau und seinen Sohn an, die Einkaufswagen zur Seite zu schieben, aber die waren nicht in der Lage dazu, sosehr er auch fluchte und schimpfte. Carsten ließ seinen Blick rasch über den Parkplatz schweifen, und als er feststellte, dass sie niemand beobachtete, versuchte er, mit einer Hand ein wenig zu helfen. Aber auch das reichte nicht. Die Wagenreihe bewegte sich keinen Millimeter. Seine Frau verdrehte die Augen und schaute ungeduldig auf die Uhr. Durch das geöffnete Seitenfenster konnte Ravn hören, dass sie etwas von einer Maniküre sagte, die sie nicht verpassen wollte. Während die beiden miteinander in Streit gerieten, ließ der Junge sein Tablet auf den Asphalt fallen. Als er sah, dass das Display zersplittert war, brach er lauthals in Tränen aus. Carsten, dessen Kopf vor Wut knallrot angelaufen war, riss an seiner Halskrause, die ihn offenbar zu ersticken drohte. »Ach, zum Teufel mit euch!«, rief er und packte den Griff des vordersten Einkaufswagens mit beiden Händen.

Ravn filmte weiter, während er Møffe mit der anderen Hand den Bauch tätschelte. Dieser Film würde ihm vermutlich keinen Oscar, aber mit Sicherheit einen Bonus einbringen.

3

Ravns Aufnahmen vom Vormittag flimmerten über den Monitor. Trotz der Grobkörnigkeit und der falsch eingestellten Kontrastwerte war Carsten Nielsen einwandfrei zu identifizieren. Die lose Halskrause hing ihm wie ein Lätzchen auf der Brust, während er wütend an der Einkaufswagenschlange zerrte.

»Was für eine wundersame Spontanheilung des Bewegungsapparates«, kommentierte Anwalt Lohman ironisch. Er faltete die Hände über seinem Spitzbauch, der seine gelbe Strickjacke bis zum Zerreißen spannte. Lohman, der die Siebzig bereits hinter sich hatte, saß hinter dem wuchtigen Schreibtisch seines kleinen nikotingelben Büros und betrachtete die Videosequenz.

»Ja, Carstens Entschädigungsanspruch dürfte soeben auf null Prozent gesunken sein«, entgegnete Ravn, der neben ihm stand. »Damit wird Ihr Mandant sicher nicht unzufrieden sein.«

»Nein, ganz bestimmt nicht. Was für ein Glück, dass die Wagenschlange zufällig das Auto blockiert hat.« Er deutete auf den Bildschirm, auf dem Carsten die Einkaufswagen gerade unter Kontrolle bekam. Er schob sie an seinem eigenen Auto vorbei und gab ihnen einen Stoß in Richtung Unterstand, ohne sich darum zu kümmern, dass sie nun anderen Fahrzeugen die Ausfahrt versperrten.

»Manchmal hat man eben Glück«, erwiderte Ravn lächelnd und rieb an seinem verbundenen rechten Unterarm.

Lohman wandte seinen Blick vom Bildschirm ab, er schien die Bandage erst jetzt zu bemerken. »Was haben Sie denn mit Ihrem Arm gemacht?«

»Nur ein kleiner Unfall, ich hab ihn etwas zu lange aus dem Fenster gehalten.«

»Aus dem Fenster?«

Ravn nickte in Richtung Bildschirm. »Das kommt noch«, sagte er, ging um den Schreibtisch herum und setzte sich in den verschlissenen Ledersessel.

Lohman starrte wie gebannt auf den Bildschirm, während Carsten zu seiner Frau und seinem Sohn zurückstampfte und ihnen etwas zurief. Er versuchte, die lose Halskrause wieder an ihren Platz zu schieben, doch vor lauter Aufregung gelang es ihm nicht. Schließlich kam ihm seine Frau zu Hilfe, was Carsten widerwillig zuließ. In diesem Moment wanderte sein Blick zu dem Audi, in dem Ravn mit der Kamera saß. Carsten zeigte direkt auf das Objektiv. »Scheiße!«, hörte man Ravn fluchen. Den verwackelten Aufnahmen nach zu urteilen, warf er den Camcorder weg, der mit der Seite auf dem Armaturenbrett landete. Die Kamera filmte, wie Carsten auf den Audi zustürmte. Im Hintergrund hörte man Ravn am Autoschlüssel herumfingern, um die Zentralverriegelung bedienen zu können. Als der Motor endlich startete, nahm Carsten seinen einen Clog und schleuderte ihn gegen die Windschutzscheibe, die in tausend Stücke zersplitterte. Die Kupplung knarrte, als Ravn den Rückwärtsgang suchte.

»Mein … mein Auto«, stotterte Lohman, den Blick starr auf den Bildschirm gerichtet. »Ist der wahnsinnig geworden?«

»Hätte ich gewusst, wie gut er werfen kann, hätte ich weiter weg geparkt«, murmelte Ravn. »Ich ersetze Ihnen natürlich die Scheibe.«

Lohman warf ihm einen raschen Blick zu. »Und was ist jetzt mit Ihrem Arm?«

»Warten Sie’s ab«, entgegnete Ravn und machte eine vielsagende Handbewegung.

Lohman wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Ravn hatte den Rückwärtsgang eingelegt und gab Gas, sodass Carstens Gestalt auf dem Bildschirm immer kleiner wurde. Aus der Ferne schrie er: »Django! Lass Django frei, verdammt!« Im nächsten Moment öffnete der Sohn die Heckklappe des Porsches, worauf ein weißer Pitbull heraussprang. Carsten rief dem Hund einen Befehl zu und zeigte auf Ravns Auto. Der Hund jagte auf Ravns Audi zu, der eine scharfe Rückwärtskurve fuhr. Die Kamera rutschte über das Armaturenbrett und filmte, wie Ravn mit dem ersten Gang kämpfte. Er lehnte sich ganz nach links und schaute durch das offene Fenster, weil durch die zersplitterte Windschutzscheibe nichts mehr zu erkennen war. In diesem Moment zeigte sich der Pitbull im Fenster. Mit gefletschten Zähnen sprang er hoch und schlug sie in Ravns Unterarm. Ravn schrie vor Schmerz auf und versuchte, den Arm zu sich zu ziehen, während das Auto ins Schlingern geriet. Vom Beifahrersitz aus gab Møffe ein paar asthmatische Kläffer in Richtung des Kampfhunds ab. Als der Pitbull Møffe erblickte, gab er Ravns Arm frei und versuchte, die Englische Bulldogge anzugreifen, rutschte jedoch an der Tür des Wagens ab. Ravn gab Gas, woraufhin die Kamera über das Armaturenbrett schlitterte und auf dem Boden landete. Der Bildschirm wurde schwarz, doch Ravns Flüche waren immer noch zu hören. Lohman schaltete den Computer aus und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.

»Waren Sie damit beim Arzt? Sie brauchen eine Tetanus-Spritze.«

»Ist nicht so schlimm«, entgegnete Ravn.

»Wir könnten auf Schadensersatz klagen. Sie haben ja an einem öffentlichen Ort gefilmt, was vollkommen legal ist.«

Ravn schüttelte den Kopf. »Ach, lassen wir das. Ich persönlich wäre auch nicht gerade begeistert, wenn mich jemand heimlich filmen würde. Noch dazu, wenn mir dadurch eine riesige Summe durch die Lappen geht.«

»Sie machen mir Spaß«, entgegnete Lohman. »Wie gut, dass Møffe bei Ihnen war, sonst hätten Sie den anderen Köter wohl immer noch am Arm hängen.«

Ravn betrachtete Møffe, der auf dem schäbigen Perserteppich lag und döste. »Ja, trotz seines Alters steckt immer noch ein Wachhund in ihm. Wie gesagt, die Scheibe ersetze ich Ihnen.«

»Die gehört zu den Auslagen. Bei der Summe, die die Versicherungsgesellschaft durch uns spart, kriege ich das locker durch. Sherry?« Er stand auf und ging zu dem runden Mahagonitisch in der Ecke, auf dem mehrere Flaschen standen.

»Nein danke.«

Lohman schenkte sich selbst ein Glas ein. »Man sollte sich auch im Alltag ein paar Privilegien gönnen.«

»Wann, glauben Sie, könnte ich mein Honorar bekommen?«

»Wenden Sie sich einfach an Frau Malling«, antwortete er und nickte in Richtung des Vorraums, in dem seine Sekretärin arbeitete. »Die stellt Ihnen sofort einen Scheck aus.«

Frau Malling war von Anfang an Lohmans Sekretärin gewesen. Beide waren unverheiratet geblieben, und es war nicht zu sagen, ob ihre Beziehung rein beruflicher Natur war; jedenfalls gingen sie miteinander um wie ein altes Ehepaar.

»Danke«, entgegnete Ravn, der das Geld dringend brauchte, da er total abgebrannt war. Er wollte gerade aufstehen, doch Lohman hielt ihn mit einer Geste zurück.

»Warum denn so eilig? Bleiben Sie doch sitzen, wir sind noch nicht fertig.«

Ravn atmete tief durch. Seit er nicht mehr für das Amtsgericht, sondern nur noch auf eigene Kosten arbeitete, hatte Lohman ein unstillbares Redebedürfnis entwickelt, was bedeutete, dass er jedem das Ohr abkaute, der seine Kanzlei betrat. Im Laufe des Sommers, der allmählich zur Neige ging, hatte er Ravn mit einer Reihe von Überwachungsaufträgen betraut und ihm ein ums andere Mal die Geschichte all seiner gewonnenen Prozesse erzählt. »Ich hatte einmal einen Klienten, der steif und fest behauptet hat, zum Tatzeitpunkt nicht bei Sinnen gewesen zu sein. Es handelte sich um einen Bankraub.«

»Das Problem bestand darin«, fuhr Ravn fort, »dass er zuvor bereits achtundzwanzig Banken ausgeraubt hatte.«

»Ach, habe ich das schon mal erzählt?«, fragte Lohman und nippte an seinem Sherry, offensichtlich enttäuscht von Ravns mangelndem Interesse. »Wie bin ich eigentlich darauf gekommen?« Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl.

»Mein Honorar«, erinnerte ihn Ravn und lächelte versöhnlich. Im Grunde hatte er nichts gegen Lohman, er hatte nur keine Lust, ihm noch länger Gesellschaft zu leisten. Außerdem hatte er selbst Durst bekommen, allerdings auf ein Bier.

»Nein, nein, die Sache mit dem Honorar war ja geklärt, es geht um einen neuen Fall, und auch da brauche ich wieder jemanden … wie soll ich sagen … mit Biss.« Er deutete auf Ravns Bandage, um sicherzugehen, dass dieser die Pointe verstand. »Das wären mindestens vierzehn Tage Arbeit, die finanziell sehr lohnend sein könnten.«

»Danke für das Angebot, aber ich habe kein Interesse.«

»Wie können Sie da so sicher sein? Ich habe Ihnen ja noch gar nichts erzählt.«

»Weil ich …«

»Es geht um einen großen renommierten Elektronikkonzern, in dessen externem Lager immer wieder Produkte verschwinden. Ich kann den Namen des Unternehmens natürlich erst verraten, nachdem Sie zugesagt haben.«

»Ich bin an solchen Aufträgen wirklich nicht mehr interessiert, Herr Lohman. Ich möchte nicht undankbar sein, mich aber lieber wieder anderen Dingen zuwenden.«

»Hat es möglicherweise mit Ihrer kleinen Verletzung zu tun?« Er zeigte auf Ravns Bandage.

»Glauben Sie mir, ich hab schon Schlimmeres erlebt.«

»Aber wovor haben Sie dann Angst?« Das klang wie die größte Provokation, die Lohman sich vorstellen konnte, um Ravn aus der Reserve zu locken.

Ravn lächelte. »Ich hab keine Angst. Der Job ist einfach nichts für mich.«

»Er unterscheidet sich doch wohl nicht sehr von dem, was Sie bei der Polizei getan haben, abgesehen von der Tatsache, dass Sie hier ordentlich bezahlt werden.«

»Polizeiliche Ermittlungen und Privatschnüffeleien sind zwei Paar Schuhe. Und ich habe keine Lust mehr, im Privatleben anderer Leute herumzuschnüffeln.«

»Sie machen das aber ganz ausgezeichnet. Besser als jeder andere, den ich bisher hatte. Als Johnson Sie mir empfohlen hat, hatte ich schon meine Zweifel. Hoffentlich kränkt es Sie nicht, dass ich das sage.«

»Ganz und gar nicht. Bei Johnson wäre ich auch skeptisch, vor allem, wenn es um mich geht.«

Lohman hob sein Glas und prostete Ravn zu.

»Wie dem auch sei, es bleibt dabei.« Ravn stand auf.

»Denken Sie in Ruhe darüber nach. Ihr jungen Leute seid immer so ungeduldig.«

»Nachgedacht habe ich schon, und so jung bin ich auch nicht mehr. Leben Sie wohl, Herr Lohman«, sagte er und ging zur Tür.

»Dann bin ich wohl gezwungen, Ihnen den Namen meines Mandanten zu verraten, damit Sie wissen, welche exklusive Sache Ihnen hier durch die Lappen geht.« Er machte eine rhetorische Pause, während er das Sherryglas in der Hand drehte. »Die Sache, die Sie da ablehnen wollen, betrifft tatsächlich Bang & Olufsen.«

»Das habe ich mir schon gedacht, die werden sehr gut ohne mich klarkommen.« Ravn verabschiedete sich und ging.

4

Durch das Stimmengewirr im Café Havodderen drang Joe Cockers heisere Stimme, weil jemand die Wurlitzer-Jukebox auf Unchain My Heart programmiert hatte. Die jüngeren Gäste drängten sich an der Theke zusammen, während die älteren Stammgäste an den Tischen ihr Bier tranken und ihren Zigarettenrauch in die Luft bliesen, der als graublaue Wolke über dem Wirtshaus hing.

Ravn hatte sich schon früh im Havodderen eingefunden und einen Platz am Ende der Theke ergattert. Was wiederum bedeutete, dass er inzwischen mehr als die meisten anderen Gäste getrunken hatte, was er eigentlich nicht beabsichtigt hatte.

Ravn blickte die Theke entlang und bemerkte, dass die beiden Barkeeper, die Johnson zur Unterstützung eingestellt hatte, kaum mit dem Zapfen und Einschenken nachkamen.

»Sind eigentlich alle anderen Kneipen geschlossen, oder warum hängen die alle hier rum?«, fragte Ravn, den Blick zu Johnson gewandt.

Johnson, der vor lauter Gläser-Trocknen gar nicht dazu kam, die Gäste zu bedienen, warf ihm einen kurzen Blick zu. »Liest du eigentlich nie die Lokalpresse, Ravn?« Er legte das Küchentuch beiseite, ehe sich seine breite Hand um die kleine Kaffeetasse schloss.

Ravn schüttelte den Kopf. »Die reißt Møffe immer in Fetzen, ehe ich zum Lesen komme.«

Johnson leerte seine Tasse und schenkte sich nach. »Im Christianshavneren war ein großer Artikel über die hiesige Kneipenszene. Die kleinen, originellen Pinten sind wieder schwer in Mode.«

»Aber der Havodderen ist weder klein noch originell.«

Johnson runzelte die Brauen. »Wenn ich derjenige wäre, der hier anschreiben lässt, würde ich mir ein paar bessere Witze einfallen lassen.«

Ravn trank die Flasche aus und stellte sie auf die Theke. »Gib mir noch eins.«

Johnson nahm ein Hof aus dem Kasten und öffnete es.

»Lohman hat erzählt, dass du bei ihm aufgehört hast.«

»Lohman kann einfach den Schnabel nicht halten.«

»Er hat es mir in aller Verschwiegenheit anvertraut, als er hier mit Victoria Karambolage gespielt hat, wie üblich.«

»Dann hätte er sich besser aufs Spielen konzentrieren sollen.« Ravn trank einen Schluck. »Außerdem war ich nie bei ihm angestellt. Ich habe ein paar Aufträge für ihn erledigt, das ist alles.«

»Aber man schmeißt doch nicht grundlos hin.«

»Hat er das so dargestellt?«, fragte Ravn und schlug mit den Armen aus. »Ich hab gerade mein Leben riskiert, um seinem Mandanten zwei Millionen zu sparen.« Er zeigte auf seinen Verband.

»Nein, nein, Lohman war wirklich dankbar für deinen Einsatz.« Johnson lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht über den Tresen. »Aber das wäre doch ein Riesengeschäft für dich. Außerdem meinte Lohman, du wärst für den Job perfekt geeignet.«

Ravn zuckte die Schultern. »Das war ein Sommerjob, und der Sommer ist fast vorbei.«

»Hast du was anderes?«

Ravn schüttelte den Kopf.

»Siehst du, genau das meine ich. Du hättest noch länger bleiben und mehr dazulernen sollen.«

»Da gab es nicht viel zu lernen. Das war reine Schnüffelei. Ein Affe mit einer Kamera hätte das auch hingekriegt.«

Johnson zuckte die Schultern. »Es sieht aber nicht so aus, als hättest du viele Alternativen.«

»Ich komm schon zurecht.« Ravn fragte sich, ob Johnson um ihn oder um Lohman besorgt war oder ob es was mit seinem eigenen Stolz zu tun hatte. Er hatte die Verbindung ja schließlich hergestellt. Über das Verhältnis dieser beiden Einzelgänger wusste Ravn nichts anderes, als dass Lohman, abgesehen von seinen wöchentlichen Kneipenbesuchen, Johnson bei der Übernahme des Havodderen juristisch wie finanziell beraten hatte. Lohman besaß einen bescheidenen Anteil an dem Wirtshaus, weshalb er und Johnson von den Alteingesessenen quasi als Blutsbrüder betrachtet wurden. In diesem Moment quetschte sich eine junge Frau in einem weißen Top neben Ravn an die Theke. Sie lächelte Johnson strahlend an, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen, und bestellte eine Runde Bier. Dann schob sie ihre Unterlippe nach vorne und pustete ihren Pony ein wenig nach oben. Ravn versuchte, ihr nicht auf die Brüste zu starren, die sich überdeutlich unter dem engen Top abzeichneten, doch ehe er seinen Blick abwenden konnte, hatte sie ihn schon durchschaut.

»Camilla«, stellte sie sich vor und streckte die Hand aus.

Als Ravn ihre Hand nahm, bemerkte er, wie jung sie war.

»Willst du mit uns Kniffel spielen?«

»Kniffel? Vielen Dank, Carina, aber dafür hab ich zu viel getrunken.«

»Camilla«, korrigierte sie und klopfte ihm auf die Schulter.

»Entschuldige, aber war doch nah dran.«

»Angst zu verlieren?«, fragte sie mit einem flirtenden Unterton und bezahlte die Biere, die Johnson auf die Theke gestellt hatte.

»Nein, eher davor, etwas richtig Dummes zu machen.«

Sie lächelte und fasste mit beiden Händen um die fünf Flaschen Bier.

»Komm rüber zu uns, wenn du es dir anders überlegt hast.« Im nächsten Moment war sie in der Menschenmenge verschwunden, tauchte aber rasch an einem der Tische nahe der Jukebox wieder auf.

»Da siehst du mal, wie angesagt mein Laden bei den jungen Leuten ist«, sagte Johnson. »Und selbst du scheinst bei denen ja noch Chancen zu haben. Sah doch süß aus, die Kleine.«

»Jung, meinst du wohl. Willst du mich etwa auch loswerden?«

»Nein, nein, mach dir keine Sorgen.« Johnson entdeckte ein weiteres Bierglas, das er polieren konnte, und ignorierte vollkommen all die durstigen Gäste, die versuchten, mit ihm Blickkontakt aufzunehmen. »Kennst du eigentlich Robert?«

Ravn schüttelte den Kopf. »Sagt mir nichts.«

»Ich meine den ehemaligen Boxer vom AIK, der ab und zu hier vorbeikommt. Vor ewigen Zeiten war ich mal sein Sparringpartner. Der hatte wirklich einen knallharten Schlag, jedenfalls damals.«

»Was ist mit ihm?«

»Der hat eine eigene Sicherheitsfirma mit mehreren Angestellten gegründet. Ich könnte ihn mal fragen, ob bei ihm noch eine Stelle frei ist. Einen Ex-Bullen wie dich kann er bestimmt gut gebrauchen.«

Ravn stellte die Flasche auf die Theke und warf Johnson einen mürrischen Blick zu.

»Glaubst du etwa, ich will als Wachmann durch die Straßen von Amager patrouillieren und so ein lächerliches Abzeichen am Hemd tragen?«

»Dagegen ist doch wohl nichts einzuwenden. Robert arbeitet auch noch als Wachmann. Und Nachtschichten sind doch genau das Richtige für dich.«

Ravn senkte den Blick und schüttelte den Kopf. »Johnson, lass uns ein für alle Mal eine Abmachung treffen: Von heute an verschonst du mich mit irgendwelchen Jobangeboten. Ich komme glänzend ohne deine Einmischung zurecht.« Ravn griff in die Tasche, fischte einen Fünfhundertkronenschein heraus und legte ihn auf die Theke.

»Du kannst auch morgen bezahlen.«

»Lass gut sein.«

Johnson zuckte die Schultern und nahm den Schein. Kurz darauf kehrte er mit dem Wechselgeld zurück. »Sieh zu, dass du bald nach Hause kommst.«

»Wir werden sehen.«

5

Ravn zog Møffe über den Rathausplatz Richtung Vesterbro. Obwohl es schon fast 0.30 Uhr und mitten in der Woche war, waren hier noch jede Menge Leute unterwegs, die sich wünschten, dass diese helle Sommernacht kein Ende nehmen würde. Er passierte den Strom von Touristen, die aus dem Haupteingang des Tivoli strömten. Auf dem Weg nach Christianshavn hatte er das Mitternachtsfeuerwerk gesehen, das den Himmel über der Großstadt in allen Farben hatte erstrahlen lassen. Der Spaziergang tat ihm gut, und er fühlte sich auch nicht mehr betrunken, was natürlich ein Trugschluss war, doch der Rausch bewegte sich jetzt sozusagen in gewohnten Bahnen. Er versuchte sich einzureden, dass er vor dem Schlafengehen nur noch eine kleine Runde drehte, doch im Grunde wusste er genau, dass nicht die Vernunft, sondern der Alkohol längst die Regie übernommen hatte. Er war auf dem Weg in sein altes Viertel, wo sich sein ehemaliger Arbeitsplatz, die Station City, befand – eine Bastion inmitten des feindlichen Territoriums. Zurück in eine Zeit, als er noch Vizechef der Spezialeinheit gewesen war und jeden Winkel, jedes Bordell, jeden Hinterhof und jedes Drogennest gekannt hatte. Mit allen Dealern und Prostituierten war er per du gewesen – zumindest mit denen, die es schafften, lange genug am Leben zu bleiben, um in dieser Gegend ein bekanntes Gesicht zu werden. Es waren keine nostalgischen Gefühle, die ihn hierherzogen, nein, es war etwas viel Gefährlicheres, etwas, das tief in seiner Seele saß. Es war die alte Sache mit Eva, die ihm keine Ruhe ließ; vor allem dann nicht, wenn er zu viel getrunken hatte. Der unaufgeklärte Fall, der ihn nie loslassen würde.

Mit Møffe stand er im dunklen Hauseingang, wo sie das entlarvende Licht der Straßenlaternen nicht mehr erreichte. Die Colbjørnsensgade lag verlassen vor ihnen. In der halben Stunde, in der sie sich nicht vom Fleck bewegt hatten, waren nur ein paar afrikanische Prostituierte mit ihren Freiern vorbeigekommen. Eins der Mädchen hatte heute wirklich viel zu tun, sie schleppte bereits den zweiten Kerl ab. Ravn beobachtete den ehemaligen Friseursalon auf der anderen Straßenseite. Hinter den verstaubten Scheiben mit den ausgebleichten Gardinen brannte ein trübes Licht und mischte sich mit dem Schein eines laufenden Fernsehers. Ravn wusste, dass hier schon lange niemandem mehr die Haare geschnitten wurden. Seit über einem Jahrzehnt war hier so etwas wie ein ethnischer Kulturverein für Menschen der ehemaligen Sowjetrepubliken zu Hause. Gegründet, um das gemeinsame kulturelle Erbe zu bewahren und für einige wenige dieses Viertels bessere Lebensbedingungen zu schaffen. Sogar ein bescheidener Mietzuschuss aus dem Kulturetat der Gemeinde kam diesem Verein zuteil. In Wahrheit war der Verein jedoch vom ersten Tag an ein illegaler Spielklub für Angehörige verschiedener Nationen gewesen. Ein Gangster namens Andrei Kaminskij hatte vor knapp zehn Jahren die Leitung des Klubs übernommen, ihn richtig in Fahrt gebracht und die ganz großen internationalen Glücksspieler angezogen, die in Kaminskijs Klub ihr Blutgeld verzockten. Sie alle kamen hierher, weil Kaminskij der Ruf vorauseilte, alles unter Kontrolle zu haben und von den Behörden nicht behelligt zu werden. Darüber hinaus wusste Kaminskij besser als jeder andere, wie man mit schlechten Verlierern umging. Bei Kaminskij floss kein Blut, dafür aber seine berüchtigte Rote-Bete-Suppe, die er allen kredenzte, die beim Spiel die Segel hatten streichen müssen. Bezahlen ließ er sich das Ganze mit zwei Prozent aus dem Pot.

Die Tür auf der anderen Straßenseite öffnete sich, und zwei jüngere, slawisch aussehende Männer traten auf die Straße. Ravn hörte ein paar russische Worte, während sich die Männer, denen Zigarettenqualm aus den Mündern dampfte, in Bewegung setzten. Seiner Erfahrung nach handelte es sich um kleine Fische. Denn je lautstarker sie sich benahmen und je mehr sie sich aufspielten, desto weiter unten in der Hierarchie standen sie für gewöhnlich. Und ganz gleich, ob es sich um Mitglieder von Einwandererbanden handelte, um Rocker oder Leute der Russenmafia, er irrte sich nie. Es waren die anderen, die Lautlosen und Verschlagenen, vor denen man sich in Acht nehmen musste.

Die beiden Männer hatten die Tür nicht richtig hinter sich geschlossen, sodass ein Lichtkeil auf den Bürgersteig fiel. Doch Ravn konnte nicht erkennen, was drinnen vor sich ging, wie viele sie waren oder ob Kaminskij überhaupt anwesend war. Dennoch zog die offene Tür ihn an. Die Situation erinnerte ihn an seine Zeit bei der Spezialeinheit, wenn sie nach tagelanger Überwachung endlich den Einsatzbefehl bekommen hatten. Das war jedes Mal wie eine Befreiung gewesen, eine Art Rausch, den man psychisch und körperlich spürte. Man fühlte sich eins mit seinem Team, war Teil einer gemeinsamen Kraft, die das Gebäude stürmte und die Banditen festnahm, ehe diese Widerstand leisten oder Beweismaterial vernichten konnten. Sie hatten sich wie die Könige der Straße gefühlt, wenn die schweren tätowierten Jungs mit den Gesichtern im Dreck auf dem Boden lagen, die Handgelenke gefesselt, und sie bei ihnen ein Kilo Dope nach dem anderen entdeckten. Und je mehr sie fanden, desto länger wanderten diese Typen hinter Schloss und Riegel. Auch Kaminskij hätte er zu gern einmal eine solche Behandlung angedeihen lassen, denn wer, wenn nicht er, wusste etwas über den alten Fall.

Der Alkohol in seinem Körper lenkte ihn zu der geöffneten Tür, doch er hatte gerade erst die Bürgersteigkante erreicht, als ihn jemand zurückzog und an die Mauer drückte. Møffe bellte wütend, als sich seine Leine straffte.

»Halt deinen Hund zurück, Ravn, sonst verpass ich ihm einen Fußtritt.«

Ravn zog Møffe zu sich heran und beruhigte ihn. Der Hund gab ein tiefes Brummen von sich.

»Was hast du hier zu suchen?«, fragte Dennis Melby und starrte ihn böse an.

»Kleiner Abendspaziergang. Und selber?«

Melby schüttelte verständnislos den Kopf. »Du mischst dich in die Arbeit der Polizei ein. So was ist strafbar.«

»Das hier ist eine öffentliche Straße«, entgegnete Ravn und maß sein Gegenüber von Kopf bis Fuß. Dennis Melby schien ihm breiter und größer als je zuvor und sah aus wie ein aufgeblasener Frosch. Ravn hatte ihn noch nie ausstehen können. »Wie ich sehe, nimmst du immer noch deine ›Vitamine‹.«

»Geht dich nichts an.«

»Du solltest dich lieber um die Junkies an der Mariakirche kümmern.«

Melby legte eine Hand um seinen Hals und drückte zu. »Du bist ein Versager, Ravn, bist es immer gewesen, selbst damals bei uns.«

»Lass los … ehe du es bereust.«

Melby grinste breit. »Verpiss dich zu den anderen Versagern auf deiner Scheißinsel!«

Ravn bekam einen Arm frei und packte sich Melbys Eier. »Loslassen, hab ich gesagt!«

Als er zudrückte, verzog Melby vor Schmerz das Gesicht, ließ Ravns Hals jedoch nicht los, sondern drückte seinen Daumen gegen den Kehlkopf. Ravn wurde schwarz vor Augen. »Ich kann … deine Eier … auch meinem Hund überlassen …«

Melby schielte zu Møffe hinüber, der an der Leine zerrte.

»Sofort aufhören!«, kam es vom anderen Ende des Hauseingangs.

Sie drehten sich beide zu der Gestalt um, die sich ihnen näherte.

»Lasst den Blödsinn!«, hörten sie Mikkels breiten jütländischen Dialekt.

Beide ließen voneinander ab. Ravn schnappte nach Luft. »Du siehst echt scheiße aus«, keuchte Ravn in Richtung seines früheren Kompagnons.

Die schweren Tränensäcke unter Mikkels Augen zeugten von viel zu langen Nächten mit viel zu wenig Schlaf. »Was soll das, verdammt? Wollt ihr mit euren Hahnenkämpfen eine Operation gefährden, die seit über einem Jahr läuft?«

Dennis zog seine Hose nach unten, die in seinem Schritt festklemmte. »Ich hab diesen ›Zivilisten‹ gebeten, den Weg freizumachen, aber er hat sich geweigert.«

»Vergiss es, Dennis, und setz dich ins Auto«, sagte Mikkel.

Dennis warf Ravn einen drohenden Blick zu. »Wir sehen uns … Versager!«

Ravn sah ihm nach, während er die Colbjørnsensgade hinunterstiefelte.

»Die Steroide gehen ihm auf die Birne.«

»Und bei dir ist alles klar?«

Ravn zuckte die Schultern.

»Ich komm zurecht. Was willst du?«

»Die Frage ist eher, was du hier zu suchen hast.«

»Wie ich dieser Steroid-Bombe schon gesagt habe, hab ich einen Abendspaziergang gemacht.«

»Du stehst hier schon seit über einer Stunde.«

»Seit einer halben Stunde, weil ich mich ausruhen wollte.«

Mikkel sah ihn geduldig an. »Wir sind ganz knapp davor, Kaminskij dranzukriegen.«

»Du wolltest mich auf dem Laufenden halten, Mikkel, hast du das vergessen?«

Mikkel hielt die Hand über das Mikrofon seines Headsets, das ihm am linken Ohr hing und den Kontakt zur Einsatzleitung herstellte. »Nicht so laut.« Er dämpfte selbst seine Stimme. »Die Abhörmaßnahmen der letzten Wochen haben unseren Verdacht bestätigt, dass Kaminskij unerlaubtes Glücksspiel betreibt und in Drogenkriminalität, Menschenhandel und Hehlerei verwickelt ist.«

»Interessiert mich nicht. Du hast mir versprochen, mich vor allen anderen zu informieren, wenn ihr irgendeine Verbindung zu Evas Fall herstellen könnt.«

Mikkel schaute weg. »Dazu stehe ich auch. Aber es gibt bisher keine neuen Erkenntnisse. Und bei allem Respekt ist dieser Fall, verglichen mit all dem anderen, was Kaminskij auf dem Kerbholz hat, auch nicht der allerwichtigste. Ehrlich gesagt deutet nichts darauf hin, dass Kaminskij damals in die Sache mit Eva verwickelt war.«

»Wir können ihn ja gleich mal danach fragen …«, Ravn wollte sich an Mikkel vorbeidrängen, aber der stieß ihn sanft vor die Brust.

»Hör jetzt auf, Ravn, du bist betrunken. Ich habe versprochen, dir zu helfen, und dabei bleibt es auch, aber die Dinge brauchen nun mal Zeit. Das weißt du doch selbst.«

Ravn blickte zu Boden. Es kam ihm so vor, als wäre sämtliche Energie aus ihm entwichen, und auch der Kater begann sich zu melden.«

»Bist du okay? Brauchst du Geld?« Mikkel kramte in seinen Taschen.

»Spar dir die Mühe«, knurrte Ravn. »Bring Kaminskij zum Reden. Das ist alles, was du mir schuldig bist.« Er zeigte mit ausgestrecktem Finger auf ihn.

Mikkel nickte. »Falls er auspackt, bist du der Erste, der’s erfährt.«

Ravn zog an Møffes Leine, und der Hund stand vom Asphalt auf. Es war an der Zeit, nach Hause zu gehen.

»Ravn«, sagte Mikkel in seinem Rücken.

Er drehte sich halb um.

»Wenn du einen guten Rat willst, dann sieh nach vorne.«

»Ich hab dich nicht um Rat gebeten.«

»Trotzdem …«

»Weißt du, was morgen für ein Tag ist?«

Mikkel schüttelte den Kopf.

»Vor genau drei Jahren wurde Eva ermordet.«

6

Was du auch tust, geh nicht ins Wohnzimmer …

Eva schloss die Wohnungstür auf. Sie sprach immer noch in ihr Handy, das sie sich mit der Schulter ans Ohr drückte, während sie mit dem Ellbogen die Tür aufschob. Voll beladen, Aktentasche und Mantel in einer Hand, Einkaufstüte und einen Strauß Tulpen in der anderen, durchquerte sie den Flur und ging in die Küche. »Ich bin’s, Liebling«, sprach sie auf Ravns Anrufbeantworter. »Bin gerade zur Tür reingekommen und hoffe, wir können heute Abend zusammen essen. Hab auch Wein besorgt. Kuss, Schatz, pass auf dich auf.«

Sie stellte die Einkäufe auf dem Küchentisch ab, schaltete das Handy aus und legte es daneben. Dann ging sie zurück in den Flur und schloss die Wohnungstür.

Was du auch tust, geh nicht ins Wohnzimmer …

Eva betrachtete sich in dem großen Wandspiegel. Glänzender Schweiß stand ihr auf der Stirn, und die dunklen Flecken unter den Achseln zeugten von dem hektischen Tag, der hinter ihr lag. Sie öffnete die obersten Knöpfe ihrer weißen Bluse und zog sie aus dem Bund ihres Rocks heraus. Die Louboutin-Schuhe mit den halbhohen Absätzen warf sie auf den Boden und ging barfuß in die Küche, wo sie die Einkäufe auspackte. Danach schenkte sie sich ein Glas Rosé ein und sah rasch die Post durch. Zwischen den Fensterumschlägen fand sie eine Einladung ihrer Freundin Lillian zur Taufe ihres Kindes. Auf der Vorderseite der Karte ein breites Babygrinsen. Eva musste lächeln. Sie nahm einen der Magnete von der Kühlschranktür und heftete die Einladung zwischen die Speisekarte des Era Ora, die sie nach ihrem Geburtstagsessen mitgenommen hatte, sowie dem Foto von Ravn und ihr an Bord der Bianca.

Was du auch tust, geh nicht ins Wohnzimmer …

Eva nahm ihren Mantel vom Küchentisch, ging ins Schlafzimmer und hängte ihn in den Kleiderschrank. Dann machte sie das Bett. Sie schnupperte an Ravns blauem T-Shirt, in dem er, manchmal auch sie, schlief, ehe sie es zusammenfaltete und auf seine Decke legte. Mit einem Gähnen schlenderte sie in die Küche zurück, nippte an ihrem Wein und stellte die Tulpen in eine Vase. Eine einzelne Tulpe ließ bereits den Kopf hängen. Sie zog sie heraus und warf sie in den Mülleimer unter der Spüle.

Was du auch tust, geh nicht ins Wohnzimmer …

Eva nahm die Vase und ging in den Flur. In diesem Moment brummte ihr Handy, das auf dem Küchentisch lag. Sie kehrte in die Küche zurück und sah, dass Ravn eine Nachricht hinterlassen hatte.

Viel zu tun. Versuche bald nach Hause zu kommen. Fang ruhig schon mit dem Essen an!

Als Antwort schickte sie ihm ein Herz-Smiley, legte ihr Handy wieder auf den Tisch und ging ins Wohnzimmer.

Was du auch tust, geh nicht ins Wohnzimmer … Was du auch tust, geh nicht ins Wohnzimmer …

Was du auch tust, geh nicht ins Wohnzimmer … Was du auch tust, geh nicht ins Wohnzimmer …

Das Sonnenlicht, das immer noch ungehindert durch die Scheiben fiel, hatte das Zimmer extrem aufgeheizt. Sie ging an dem Glastisch vorbei, der vor der Couch stand, und stellte die Blumenvase auf das Fensterbrett neben die beiden Kerzenleuchter. Sie rückte alles so lange zurecht, bis sie mit ihrem Arrangement zufrieden war. Dann öffnete sie das Fenster und fixierte den Haken. Eva genoss die frische Brise, die hereinwehte, während sie den Blick über die Wallanlagen schweifen ließ, deren Bäume sich im Wind wiegten. Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Als das Parkett hinter ihr knarrte, öffnete sie die Augen und drehte sich halb herum.

Was du auch tust …

Der Kerzenleuchter wurde mit gewaltiger Kraft geschwungen und zerschmetterte ihren Schädel mit einem knirschenden Geräusch. Evas Beine knickten ein. Ihr schlaffer Körper stürzte auf den Glastisch, der unter ihrem Gewicht in Scherben ging. Die Sonne brach sich in den funkelnden Glassplittern. Aus der klaffenden Wunde an ihrem Hinterkopf strömte das Blut und bildete eine dunkle Lache auf dem Parkett. Evas Augen blickten starr an die Decke, während die Finger ihrer linken Hand zitterten, als spielten sie auf einem unsichtbaren Klavier. Im Speichel, der aus ihrem Mundwinkel quoll, bildeten sich ein paar Blasen, während sie ihren letzten Atemzug tat. Dann lag sie ganz still.

Die dunkle Gestalt mit der Baseballkappe warf den klobigen Kerzenleuchter neben Eva auf den Boden. Der Mann bückte sich und legte zwei Finger seiner Hand, die in einem engen schwarzen Gummihandschuh steckte, an ihren Hals. Als er keinen Puls feststellen konnte, zog er die Rolex mit dem Jubilee-Armband von ihrem Handgelenk und ließ sie in seiner Tasche verschwinden. Der Mann richtete sich auf und ging ruhig in die Küche. Dort legte er ihre Aktentasche auf den Tisch und öffnete sie. Er nahm den Laptop und ihr Portemonnaie heraus und verstaute beides in der leeren Einkaufstasche, die Eva auf dem Tisch hatte liegen lassen. Er drehte sich um und ging zur Wohnungstür. Für einen Augenblick blieb er vor dem großen Spiegel im Flur stehen.

Zeig mir dein Gesicht … nur ganz kurz … nur eine Sekunde … zeig es mir … zeig es mir …

Der Mann zog sich seine Kappe tiefer in die Stirn und verschwand aus der Tür.

»Zeig mir, wer du bist!«, rief Ravn und wurde von seiner eigenen Stimme geweckt. Er setzte sich im Bett auf und brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er sich an Bord der Bianca befand.

»Bist du okay, Ravn?«, fragte Eduardo, sein Bootsnachbar, dessen Ketsch vor Ravns Boot am Kai lag.

Ravn blickte zu der Luke über seinem Bett hoch. »Ja, ja«, antwortete er Richtung Sternenhimmel. »Leg dich ruhig wieder schlafen.«

Eduardo murmelte ein Gute-Nacht-und-schlaf-gut zurück.

Ravn warf einen Blick auf die Zeitanzeige seines Handys. Erst halb fünf. Er hatte also höchstens ein bis zwei Stunden geschlafen, wusste aber trotzdem, dass er jetzt keinen Schlaf mehr finden würde. Er stand auf und zog die Decke mit sich, während er durch die Kajüte schlurfte, in der Møffe lag und schlief. Stieß die Tür zum Achterdeck auf, zog einen der weißen Plastikstühle an die Reling und setzte sich hin. Der Kanal lag still im Dunkeln. Nur ein einzelner Müllwagen rollte am Marktplatz von Christianshavn über die Brücke. Das war die Zeit, in der sämtliche Kneipen geschlossen hatten und der Rest dieses Stadtviertels noch nicht erwacht war. Die Zeit, in der man alles für sich allein hatte. Die alte Grand Banks schaukelte sanft auf dem Wasser. Er dachte an seinen Traum, der immer gleich war. Im Traum versuchte er vergeblich, sie vor dem Unabwendbaren zu warnen. Der Traum enthielt die Details, die bei den polizeilichen Ermittlungen zutage getreten waren – angefangen damit, was Eva vor ihrem Tod getan hatte, bis hin zu den Gegenständen, die der Täter gestohlen hatte. Den Tatort sowie den Zustand der Leiche hatte er mit eigenen Augen gesehen, als er mit Møffe nach Hause gekommen war.

Wenn er träumte, erhaschte er manchmal einen Blick auf das Gesicht des Mörders, doch es war stets sein eigenes. Man musste kein Psychologe sein, um die Zusammenhänge zu verstehen, und er wusste sehr genau, dass seine Schuldgefühle, die er bis heute nicht losgeworden war, eine entscheidende Rolle dabei spielten. Er fühlte sich schuldig, weil er ihren Tod nicht verhindert und ihren Mörder nicht gefunden hatte. Einen Mann, der allem Anschein nach ein vom Pech verfolgter Einbrecher gewesen war, den sie überrascht hatte. Vermutlich gehörte er zu einer der Diebesbanden aus Osteuropa, die Christianshavn zu jener Zeit heimgesucht hatten, und höchstwahrscheinlich war er längst außer Landes geflohen. Auf der Grundlage dieser spärlichen Erkenntnisse waren Mikkel und er stets davon ausgegangen, dass Kaminskij Näheres über die osteuropäischen Diebesbanden von damals wissen musste. Doch als Ravn jetzt auf das stille Wasser blickte, sah er ein, auf welch tönernen Füßen auch diese Annahme stand und wie lange er sich schon an die verzweifelte Hoffnung klammerte, den Fall eines Tages doch noch aufklären zu können. Es war wirklich zum Heulen. Und genau das tat er jetzt auch.

7

Die Sonne brannte auf den Friedhof der Erlöserkirche, die Luft innerhalb der roten Steinmauern stand still, und die langen Kieswege flimmerten in der sommerlichen Hitze. In der Ferne hörte man das monotone Rauschen des Verkehrs auf der Amagerbrogade, die parallel zur Südseite des Friedhofs verlief. Der Friedhof gehörte zu Ravns Kirchengemeinde Christianshavn und war während der großen Choleraepidemie angelegt worden. Es waren solche Details der Lokalgeschichte, die Eva ihm stets erzählt hatte, wenn sie spazieren gegangen waren, und zu denen er nur ja, ja gesagt hatte. Zu sehr in Anspruch genommen von seiner Arbeit und den aktuellen Fällen, um ihr richtig zuzuhören.

Ravn bückte sich vor dem schwarzen Grabstein, entfernte den verdorrten Blumenstrauß und die Reste der Teelichter, die er bei seinem letzten Besuch aufgestellt hatte. Sein schlechtes Gewissen erinnerte ihn daran, dass es um die Weihnachtszeit gewesen war. Er wäre gern öfter gekommen, aber er hasste den Friedhof, der für ihn für all das stand, was nichts mit der lebenden Eva zu tun hatte. Dieser Ort erinnerte ihn bloß daran, wie ungerecht es war, dass sie hier liegen musste, statt über die Amagerbrogade zu spazieren und Teil seines Lebens zu sein.

»Wusstest du, dass sie diesen Friedhof wegen der großen Choleraepidemie gegründet haben?«, fragte Victoria, die sich über ihn beugte. Ihre ungebändigten grauen Haare standen ihr vom Kopf ab, als stünde sie unter Strom.

»Ach, wirklich?«, antwortete er und warf die Abfälle in eine mitgebrachte Plastiktüte.

Victoria zog an ihrer selbst gedrehten Petterøes-Zigarette und schickte eine Rauchwolke in den blauen Himmel. »Ja, seit 1853 war es verboten, die Toten innerhalb der Mauern zu begraben, und das ist ein Glück.«

»Warum?«

»Weil mein Antiquariat heute sonst nicht neben der Kirche liegen würde.«

Ravn nickte. Victorias Antiquariat lag nur einen Katzensprung von der Erlöserkirche entfernt, in der auch die Trauerfeier für Eva stattgefunden hatte.

Er betrachtete Victoria, die wie immer untadelig gekleidet war und mit ihrem Tweedjackett und dem offenen Hemdkragen wie ein Mitglied eines unbekannten Christianshavner Adelsgeschlechts aussah. »Sag mal, ist dir nicht unheimlich warm in dem Aufzug?«

»Es gibt keine Entschuldigung, schlecht gekleidet zu sein.«

»Du bist wirklich einzigartig, Victoria.«

»Wollen wir’s hoffen. Ich mache mir nämlich nichts aus Kopien. Deshalb war ich auch so gern mit Eva zusammen.«

Er richtete sich auf und wischte die schmutzigen Hände an seiner Jeans ab. »Nett von dir, dass du mich mitgenommen hast. Das wäre nicht nötig gewesen.«

»Keine Ursache, obwohl mir dieser Ort an die Nieren geht. Du hättest ihre Asche lieber in den Öresund streuen sollen.«

»Darf man das?«

Victoria zuckte die Schultern. »Hättest es trotzdem tun sollen.«

Schweigend betrachteten sie das Grab. Ravn bereute es, Stiefmütterchen gekauft zu haben, und hätte sie am liebsten gleich wieder entfernt. Victorias Strauß hingegen war schlicht und schön, einfach und diskret, wie Eva es gemocht hätte. »So viele Dinge, die wir noch hatten tun wollen …«, murmelte er.

»Hast du dich nicht langsam genug gequält?«

Er zuckte die Schultern. »Ich hätte es ahnen müssen.«

»Nein, und du musst nach vorne blicken. Das hätte Eva auch gesagt.«

»Soll ich die Scheißblumen nicht wieder wegnehmen? Die sehen doch scheußlich aus.« Er zeigte auf die Stiefmütterchen.

»Tja, war vielleicht nicht die allerbeste Idee.« Victoria nickte.