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Der Kopenhagener Detective Ravn ist vom Dienst suspendiert, seit er nach der Ermordung seiner Freundin Eva einen Zusammenbruch erlitt. Voller Selbstvorwürfe lebt Ravn nun auf einem alten Boot im Christianshavn-Kanal und ertränkt seinen Kummer im Alkohol. Erst als ihn ein Freund bittet, eine junge Frau zu suchen, die vor Jahren spurlos verschwand, kehrt Ravn durch die Ermittlungen langsam ins Leben zurück. Diese führen ihn von der Unterwelt Kopenhagens ins dunkelste Rotlichtmilieu Stockholms, wo mehrere tote Prostituierte gefunden wurden – kunstvoll präpariert und weiß bemalt ...
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Seitenzahl: 518
Buch
Der ehemalige Detective Thomas Ravnsholdt, bekannt als Ravn, wurde vom Dienst suspendiert, als er nach der Ermordung seiner Freundin Eva einen Zusammenbrauch hatte. Seither lebt er auf seinem alten Boot im Christianshavn-Kanal in Kopenhagen und ertränkt seinen Kummer im Alkohol. Erst als ihn ein Freund bittet, eine junge Frau zu finden, die seit ein paar Jahren spurlos verschwunden ist, kehrt Ravn durch die privaten Ermittlungen langsam ins Leben zurück. Und diese führen ihn von der Unterwelt Kopenhagens ins abgründigste Rotlichtmilieu Stockholms. Dort geht ein Serienmörder um, der es auf Prostituierte abgesehen hat – und der sich offenbar als Künstler versteht. Sein Fachgebiet: Tierpräparation …
Autor
Michael Katz Krefeld, 1966 geboren, lebt und arbeitet in Kopenhagen. Er hat bereits mehrere Drehbücher für namhafte dänische TV-Serien sowie erfolgreiche Spannungsromane geschrieben. 2012 wurde er als bester dänischer Thrillerautor ausgezeichnet. Seine neue Serie um den Ermittler Ravn wurde in 18 Länder verkauft.
MICHAEL KATZ KREFELD
Totenbleich
Thriller
Aus dem Dänischen
von Knut Krüger
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel
»Afsporet« bei Lindhardt og Ringhof, Kopenhagen.
1. Auflage
Taschenbuchausgabe September 2015
Copyright © der Originalausgabe 2013
by Michael Katz Krefeld & Lindhardt og Ringhof Forlag
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Published by agreement with Salomansson Agency
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München
Umschlagmotiv: © Gettyimages/Photographer’s Choice; Don Farrall
Redaktion: Hanne Hammer
AG · Herstellung: Str.
Satz: omnisatz GmbH, Berlin
ISBN 978-3-641-15337-3
www.goldmann-verlag.de
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»Always the same theme
Can’t you see
We’ve got everything going on.
Every time you go away
you take a piece of me with you.«
DARYL HALL
Prolog
Stockholm 2013
Im Licht der aufgehenden Sonne segelten schreiende Möwen über den Schrottplatz bei Hjulsta. Am Ende des Platzes kämpfte sich eine alte Planierraupe voran und schickte eine schwarze Rauchwolke in den frostklaren Himmel. Im Fahrerhaus saß Anton in einer Daunenjacke mit dem Schrottplatzlogo auf der Brust und einer speckigen Ohrenklappmütze aus Leder, die er weit nach unten gezogen hatte. In der Hand hielt er eine mit Kaffee gefüllte Thermoskanne. Er blickte müde aus dem Fenster, während er der Popmusik lauschte, die aus dem Transistorradio schepperte. Dort, wo sich verschrottete Motorblöcke und ausrangierte Autoteile zu einem kleinen Hügel stapelten, sah er etwas, das seine Aufmerksamkeit erregte. Er nahm den Fuß vom Gas und stellte seinen Becher auf dem Armaturenbrett ab. Dann stieg er aus der Kabine und ging zu dem Hügel. Sein Blick wanderte zum höchsten Punkt hinauf, wo eine dürre nackte Frau mit dem Rücken zu ihm stand und über den Schrottplatz blickte. Anton zog einen Fausthandschuh aus und fischte sein Handy aus der Brusttasche. Rasch tippte er eine Nummer ein.
Die anorektische Gestalt steckte bis zu den Knien im Schrott, um nicht weggeweht zu werden. Die Haut spannte sich über den vorstehenden Knochen. Ihr Körper war mit weißer Farbe beschmiert, sodass sie einer Marmorstatue glich. Selbst ihre Augäpfel waren weiß.
»Hey, hier ist Anton«, sagte er. »Ich hab schon wieder eine gefunden …«
»Was hast du gefunden?«, fragte sein Chef mürrisch.
»Einen der weißen Engel.«
»Bist du sicher?«
»Ja, ich stehe genau davor. Sie sieht aus wie die anderen vier … was soll ich tun?«
Er hörte ein tiefes Seufzen am anderen Ende. »Da müssen wir wohl wieder die Polizei rufen.«
1
Kopenhagen, 16. Oktober 2010
Die heruntergekommene Wartungshalle lag im Dunkeln. Nur das Brummen des Generators durchdrang die drückende Stille. Aus der schmalen Schmiergrube in der Mitte der Halle schimmerte schwaches bläuliches Licht. Eine Inspektionslampe lag unten auf dem Boden. Neben der Lampe krümmte sich eine nackte Frau auf dem dreckigen Zementboden. Ihr Körper war übel zugerichtet, Arme und Beine waren mit großen Blutergüssen übersät. Getrocknetes Blut klebte in ihren langen blonden Haaren. Über Po und Rücken zogen sich lange schlangenförmige Wunden, als wäre sie kürzlich ausgepeitscht worden.
Masja riss die Augen auf und starrte in das fluoreszierende Licht der Lampe. Sie schnappte nach Luft. Spürte die Angst und das Adrenalin, das durch ihren Körper gepumpt wurde. Jeder Muskel war angespannt, ihr Hals vom Durst wie zugeschnürt. Langsam versuchte sie sich aufzurichten, doch die Schmerzen in ihrem Unterleib waren zu stark. Sie wusste nicht, wie sie in diesem stinkenden Loch gelandet war. Ihr ganzer Körper tat weh, und sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Schließlich gelang es ihr halbwegs, auf die Beine zu kommen. Sie stützte sich an der feuchtkalten Betonmauer ab. Die Temperatur in der Halle näherte sich dem Gefrierpunkt, und sie zitterte vor Kälte. Ein Stück von ihr entfernt erblickte sie einen Kleiderhaufen. Ein rotes Seidenkleid, einen Tanga und hellbraune Wildlederstiefel. Sie erkannte die Sachen sofort. Es waren ihre. Jemand musste sie ihr vom Leib gerissen haben. Doch sie konnte sich immer noch nicht an die Umstände erinnern. In diesem Moment hörte sie das Knarren einer Tür, die am anderen Ende der Halle aufging. Masja richtete sich langsam auf. Nachtluft drang durch die offene Tür und verdrängte für einen Moment den ekelhaften Gestank des Schmieröls. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, sodass sie soeben über den Rand der Schmiergrube spähen konnte. Mehrere Gestalten näherten sich ihr. Sie wurden in ihre Richtung geschoben. Drei kleine und zwei breite. Den kleinen wurde bedeutet, die Treppe in die Schmiergrube hinunterzusteigen. Masja bückte sich nach ihren Sachen, um sich mit ihrem Seidenkleid zu bedecken. Sie betrachtete die drei Mädchen, die zu ihr in die Grube kamen. Sie mochten achtzehn bis zwanzig Jahre alt sein, Mädchen in ihrem Alter. Dürre slawische Mädchen. Die Letzte von ihnen hielt sich nur schwankend auf den Beinen, sie stand offenbar unter Drogen. Die beiden anderen legten beschützend die Arme um sie, während sie schluchzten und beteten. Masja kannte ihre Gebete. Es waren dieselben orthodoxen Strophen, mit denen sie selbst aufgewachsen war. Sie verstand etwas von dem geflüsterten Wortwechsel der Mädchen. Sie sprachen russisch.
»Wir kommen hier nie wieder raus … nie wieder«, schluchzte die Jüngste.
Masja wollte etwas sagen, doch sie hatte ihre Stimme verloren. Es kratzte im Hals, als sie einen Versuch machte. »Wer … seid … ihr?«, krächzte sie. »Wo … sind wir hier?«
Die Mädchen antworteten nicht, sondern klammerten sich stumm aneinander. Masja spähte erneut über die Kante, sah die beiden Männer jedoch nicht mehr, die die Mädchen hierhergebracht hatten. Rasch zog sie ihr Kleid an, das mit Öl und Blut beschmiert war. Dann drückte sie sich an den Mädchen vorbei und ging zu der Treppe, die aus der Grube herausführte. Sie musste von hier verschwinden! Sofort!
Im selben Moment öffnete sich erneut die Tür, und fünf Männer betraten die Halle. Die Neonröhren, die an der Schmiergrube entlangliefen, flammten auf. Masja erstarrte wie ein wildes Tier im Lichtkegel eines Autos. Sie versuchte, sich mit der Hand vor dem grellen Licht zu schützen, doch es kam jetzt von allen Seiten, und sie kroch instinktiv zu den anderen Mädchen zurück. Die fünf Männer thronten jetzt über ihnen. In der eiskalten Halle dampfte der Atem aus ihren Mündern, als wären sie Drachen. Masja hörte, dass einer von ihnen russisch sprach. Die anderen Sprachen kannte sie nicht. Sie tippte auf Serbisch, Albanisch oder etwas Ähnliches. »Die da!«, dröhnte eine Stimme aus dem Dunkel. »Die haben wir schon zugeritten!«
Masja erkannte die Stimme wieder. Ihren rauen Klang, der an ein Stöhnen erinnerte. Dieser Mann hatte den anderen Befehle erteilt – hatte die Vergewaltigung gesteuert. Hatte den Gürtel geschwungen. Ihre Beine begannen zu zittern. Sie bekam keine Luft mehr. »Hilf mir«, murmelte sie. »Hilf mir, Igor …« Dann stürzte sie auf den Zementboden des tiefen, dunklen Grabens.
2
2 Tage zuvor
Ragnar Bertelsen saß auf dem Hotelbett und schaute auf den kleinen Fernseher, der ihm gegenüber an der Wand hing. Er war Mitte fünfzig, und je dünner die Haare auf seinem Kopf wurden, desto stärker sprossen sie auf Brust und Rücken. Um die Hüften hatte er sich ein Handtuch mit dem Logo des Hotels geschlungen und es in dem Versuch, seinen beträchtlichen Bauch zu kaschieren, ziemlich straff gebunden. Ragnar nippte an seinem Glas Prosecco. »Wirklich beeindruckend«, sagte er in seinem melodiösen Norwegisch, während sich seine Augen an der Mattscheibe festsaugten. »Echt unglaublich«, murmelte er vor sich hin.
Masja kam aus dem Badezimmer. Auf ihrem nackten Körper mit den schmalen Hüften und den festen kleinen Brüsten glänzte noch die Feuchtigkeitscreme, mit der sie sich eingecremt hatte, nachdem sie aus der Wanne gestiegen war. Ragnar riss sich für einen Augenblick von dem Bildschirm los und betrachtete ihren Po, während sie ihren schwarzen Tanga vom Boden aufhob. »Das ist wirklich fantastisch.«
Masja drehte sich um, und Ragnar wandte rasch seinen Blick ab.
»Was?«, fragte sie und zog ihren Slip an.
»Die Grubenarbeiter in Chile! Die waren mehr als zwei Monate in der Mine eingeschlossen, und jetzt ist es der Rettungsmannschaft gelungen, sie da rauszuholen. Ist das nicht unglaublich?«
Er wies mit seinem Glas auf den Fernseher. CNN strahlte grobkörnige Bilder aus, auf denen die befreiten Minenarbeiter gemeinsam mit der Rettungsmannschaft und dem Präsidenten des Landes für die Kameras posierten.
»Und die waren alle zusammen eingesperrt, sagst du?«
Ragnar runzelte die Stirn. »Also nur die, die jetzt eine Sonnenbrille tragen. Darüber wurde doch seit Wochen ständig berichtet. Hast du das gar nicht mitbekommen?«
»Ich lese eben lieber Bücher, statt fernzusehen.«
»Ach, wirklich?« Ragnar warf ihr einen skeptischen Blick zu. »Hätte ich nicht gedacht.«
Masja zuckte die Schultern und schlüpfte in ihr kurzes dunkelrotes Kleid. »Und warum tragen sie Sonnenbrillen?«
»Weil sie sich nach den vielen Wochen im Dunkeln erst wieder an das Tageslicht gewöhnen müssen. Ohne die Sonnenbrillen würden ihre Augen Schaden nehmen.«
»Mein Freund hat genau dieselbe Brille. Der steht da total drauf. Das ist das Radar-Modell von Oakleys. Früher musste es unbedingt ›M-frame‹ oder ›Jawbone‹ sein – alle sauteuer, aber er meint, sie sind es wert.«
Ragnar wusste nicht genau, wovon sie redete, doch er nickte freundlich, ehe er sich wieder dem Bildschirm zuwandte.
Sie nahm ihre schmale Handtasche von dem runden Tisch vor dem Panoramafenster, blieb kurz stehen und genoss die Aussicht aus dem sechzehnten Stock. Der Verkehr über die Langebro zum Rathausplatz hatte zugenommen. Drüben in Christianshavn funkelte der goldene Turm der Erlöserkirche in der Mittagssonne. In den hatte Igor sie bei ihrem ersten Treffen vor drei Monaten eingeladen, doch der Turm war an diesem Tag geschlossen gewesen, und seitdem hatte er seine Einladung nicht wiederholt. Es war ohnehin schon lange her, dass sie gemeinsam etwas unternommen hatten, doch heute Abend, das hatte er versprochen, wollten sie Sushi essen gehen. Das war wie ein kleines Fest. »Bis bald, Liebling«, sagte sie und drehte sich um.
Ragnar stand höflich vom Bett auf. »Kann ich dich mit einem Glas Champagner vielleicht noch zum Bleiben überreden?«
»Nein, danke. Vielleicht das nächste Mal.«
Sie war bereits an der Tür.
»Ich darf dich also wieder anrufen?«
»Aber natürlich«, antwortete sie. »Du warst total süß!«
Ragnar eilte zu Masja und öffnete ihr die Tür. Sie trat auf den Flur hinaus. »Und du warst … fantastisch«, erwiderte er mit einem Lächeln, dem man ansah, dass er es ernst meinte. »Ein kleiner Abschiedskuss?«
»Auf die Wange«, antwortete sie und drehte den Kopf zur Seite.
Ragnar küsste sie sanft. »Dann bis bald, Karina.«
Masja schlenderte zum Aufzug und drückte auf den Knopf. Ehe sie eintrat, warf sie Ragnar ein schwaches Lächeln zu. Auf dem Weg nach unten zählte sie das Geld, das er »Karina« für die Reitstunde bezahlt hatte.
Karina war der Name, den sie beruflich benutzte. Er hörte sich dänisch genug an, um ihre litauische Herkunft zu verbergen. Den Kunden war es sowieso egal, woher sie kam; Hauptsache, sie erbrachte den vereinbarten Service. Und das tat Karina. Allen gegenüber, die bereit waren, 1700 Kronen und mehr für eine Stunde Escort-Service zu berappen. All die »Teddybären«, die sich in den Hotels der Gegend aufhielten. Bei Masja war das etwas anderes. Masja hatte einen Freund, der Igor hieß und unten in der Lobby auf sie wartete.
3
Masja und Igor überquerten den halb leeren Parkplatz vor dem Radisson Hotel. In ihren hochhackigen Schuhen versuchte sie, mit ihm Schritt zu halten. Igor bewegte sich wie ein Gangsta-Rapper, obwohl er aus St. Peterburg kam. Er wiegte sich in den Hüften, seine Muskeln waren gespannt, und die Sonnenbrille saß ihm stets auf der Stirn – ein Stil, der nicht aus dem Ghetto kam, aus dem er stammte, sondern der direkt von MTV importiert war. »Fuck, mein Hals ist ganz trocken«. Er warf ihr über die Schulter hinweg einen kurzen Blick zu, während er sein Handy ans Ohr presste und darauf wartete, dass die Verbindung zustande kam. »Da drin gab’s nichts anderes als Erdnüsse.« Er zeigte zurück in Richtung Hotelbar, in der er auf sie gewartet hatte.
»Schatz, ich hab doch gesagt, dass du mich nicht fahren musst«, entgegnete sie.
»Und wer soll dann auf dich aufpassen?«
»Ich kann auf mich selbst aufpassen, die alten Teddys sind doch harmlos.«
»Ich hasse sie«, murmelte er. »Du bist viel zu gut für sie.« In diesem Moment hörte er eine Stimme am anderen Ende, die augenblicklich seine ganze Konzentration beanspruchte. Er stellte sich auf Russisch vor, sagte, er sei bereit, und dankte für das Vertrauen, das sie ihm entgegenbrachten. Er wiederholte, wie dankbar er sei, mit im Boot zu sitzen. Masja bemerkte, wie demütig er klang, was so gar nicht zu Igor passte.
Er zog den Autoschlüssel aus der Tasche seiner Lederjacke und drückte auf den Knopf. Der schwarze BMW 320i mit Heckspoiler und glänzenden 18-Zoll-Felgen gab ein paar hohe Pieptöne von sich. Igor beendete das Gespräch und setzte sich hinter das Steuer.
»Wer war das?«, fragte sie und zog die Tür hinter sich zu.
»Niemand, war was Geschäftliches«, murmelte er, lehnte sich über sie und öffnete das Handschuhfach, in dem mehrere Wunderbaum-Packungen lagen. Er riss eine von ihnen auf und ersetzte den Baum, der am Rückspiegel baumelte, durch einen neuen. Masja hasste den ekelhaften synthetischen Geruch nach »Grüner Apfel« und hielt sich die Nase zu. »Ich habe über etwas nachgedacht …«, begann sie, »was das Geschäftliche angeht.«
»Ja, Baby?«, antwortete er geistesabwesend. Er tippte eine neue Nummer in sein Handy ein und ließ den Motor an.
»Ich will aufhören. Ich hab keine Lust mehr. Ich will etwas anderes machen.«
»Echt? Warum?«
Sie sah ihn enttäuscht an. »Ich dachte, du würdest dich freuen. Aber dir … dir ist wohl ziemlich egal, was ich mache.«
Er zuckte die Schultern und hielt sich das Handy ans andere Ohr, während er darauf wartete, dass die Verbindung zustandekam. »Ich misch mich da nicht ein«, sagte er zu ihr. »Aber ich kann dich verstehen. Ich meine, dass du Geld verdienen willst. Ich hab keine Vorurteile, das weißt du. Das ist dein Ding.«
»Geld ist nicht alles. Wir kommen auch mit weniger zurecht.«
Er lachte höhnisch. »Geld ist alles auf dieser Welt. Wenn du kein Geld hast, bist du ein Nichts, dann pissen dir die Leute ins Gesicht. Glaub mir … Hey, Janusz, was geht ab?«, rief er in sein Handy. »Du wirst es nicht glauben, aber ich bin drin! Der Alte lässt mich mitspielen, ist das nicht krass?«
Während sie den Amager Boulevard in Richtung Christianshavns Torv entlangrollten, erzählte Igor seinem Kumpel Janusz von der Pokerrunde, die am selben Abend bei Kaminskij steigen sollte. Das Hinterzimmer wurde von jeher als »Königssuite« bezeichnet, wo nur die Privilegiertesten mit am Tisch sitzen durften. Das war der Ort, an dem sich die wirklich dicken Fische trafen. Nicht all die kleinen Scheißer, die mit ihren Online-Turnieren angaben. Hier kam echtes Balkanvolk zusammen. Leute mit dicken Brieftaschen und noch dickeren Eiern, aber wenig Pokerface. Igor erzählte, wie er monatelang daran gearbeitet hatte, in diesen erlauchten Kreis aufgenommen zu werden, wie er Kaminskij gezeigt hatte, dass er in der Lage war zu gewinnen, damit der Alte seine 28 Prozent vom Gewinn einstreichen konnte. »Kannst einen drauf lassen, dass ich ein Player bin«, sagte er und lachte ins Handy.
Masja sah ihn fragend an, nachdem er aufgelegt hatte. Er lächelte selig.
»Du willst heute Abend Poker spielen?«, fragte sie spitz.
»Ja, Baby. Eine super Chance.«
»Wir wollten doch Sushi essen gehen.«
Er holte tief Luft.
»Das ist eine Wahnsinnsgelegenheit.«
»Aber du hast es versprochen.«
Die Ampel vor ihnen schaltete auf Rot. Igor bremste. Dann drehte er sich zu ihr um und nahm seine Oakleys ab. Er schaute sie mit seinen sanften braunen Augen an. Es war derselbe bewundernde Blick wie damals vor drei Monaten, als sie sich das erste Mal begegnet waren. Der Blick, der sie hatte dahinschmelzen lassen. »Du weißt doch, dass du das Wichtigste auf der Welt für mich bist …«
»Wir hatten eine Abmachung«, maulte sie mit Schmollmund.
»Ich werde es wiedergutmachen, ganz bestimmt, aber die heutige Chance darf ich mir echt nicht entgehen lassen.«
»Aber ich hab uns zuliebe schon was anderes abgesagt.«
»Ich mach das alles nur für uns beide, Baby. Das ist ein superwichtiges Game. Da sind haufenweise alte Teddybären, die bloß darauf warten, richtig ausgenommen zu werden.« Er knipste sein Lächeln an, drehte seinen Charme auf.
»Morgen feiern wir richtig, das verspreche ich dir.«
»Ich will nicht feiern, sondern einfach mit dir zusammen sein.«
»Das will ich doch auch, Baby. Das will ich doch auch. Er nahm ihr Kinn, schob es sanft nach oben und küsste sie auf die Lippen. Sein exakt rasiertes Bärtchen, das seinen Mund einrahmte wie ein dünner Strich, kitzelte sie sanft. Hinter ihnen hupte ein Auto, um zu signalisieren, dass die Ampel wieder auf Grün gesprungen war. Doch Igor küsste sie weiter und strich mit den Fingern zärtlich über ihre Wange. Sie rochen nach »Grüner Apfel«, aber das störte Masja nicht.
4
Es war 03.30 Uhr, und die vier Männer im Hinterzimmer von Kaminskij spielten seit über fünf Stunden Texas Hold’em. Die Verteilung der Chips war bis jetzt ziemlich gleichmäßig gewesen, doch allmählich zeichnete sich eine deutliche Tendenz ab. Die höchsten Chipstapel lagen vor Igor und Lucian, einem schwergewichtigen Serben mittleren Alters, der eine Hose in Tarnfarben und ein Hawaiihemd trug. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die beiden anderen Spieler, Milan und Rastko, am Ende sein würden. In dem kleinen Raum roch es nach Schweiß und Zigarettenqualm sowie nach der Rote-Bete-Suppe, die in der Teeküche auf dem Herd stand und in der Kaminskij behutsam rührte. Wer ausschied, bekam als schwachen Trost für seine Verluste einen Teller Suppe – so war das bei Kaminskij.
Aus dem vorderen Zimmer hörte man Gäste rufen, die vor dem Fernseher saßen und das Fußballspiel irgendeiner osteuropäischen Liga ansahen. Zu Kaminskij kam man, um Sport zu gucken, Karten zu spielen, zu trinken und Geschäfte zu machen – Geschäfte, die in der Regel das Tageslicht scheuten. Die meisten Gäste stammten aus den Ländern um den Kaukasus, aus Weißrussland, der Ukraine und den Baltischen Staaten. Allesamt ehemalige Sowjetrepubliken, was dem ehemaligen Friseursalon in der Colbjørnsensgate den Spitznamen »Little Soviet« eingebracht hatte. Wohl auch deshalb, weil Kaminskij mit seinem buschigen Schnurrbart und der unberechenbaren Laune bedenklich an den alten Stalin erinnerte.
Milan wischte sich die schweißnassen Hände an seinem Hemd ab, ehe er seine letzten Chips in den Pot schob. Er warf einen verstohlenen Blick auf die Suppe, als ahnte er bereits, dass diese Runde seine letzte werden würde. »Wahnsinnsgeschichte, das mit diesen Minenarbeitern, die sie da rausgeholt haben …«
Rastko, der ihm gegenübersaß, kratzte sich gähnend seinen graumelierten Vollbart. »Wenn das nicht alles Homos sind, die es da unten miteinander getrieben haben, dürften die nach zwei Monaten ganz schön spitz sein.«
Milan lehnte sich grinsend zurück. »Gehst du mit, Igor?«
Igor nickte und erhöhte den Einsatz um 500 Euro. Er bemerkte das leichte Zucken von Lucians Auge. Diese Runde war seine, ganz gleich, wie sehr Lucian den Einsatz erhöhen würde. Verdammt, es lief noch viel besser als erwartet. Je höher sein Chipstapel geworden war, desto mehr war er versucht gewesen, sich zu Kaminskij umzudrehen, um einen anerkennenden Bick einzuheimsen, doch er hatte der Versuchung widerstanden.
»Ich hab gehört, dass einer der Bergleute von seiner Frau und seiner Geliebten erwartet wurde, als er aus dem Schacht rauskam – das dürfte ziemlichen Ärger gegeben haben«, sagte Milan und lachte so sehr, dass sein ganzer Körper bebte.
»Wahrscheinlich wäre er am liebsten gleich wieder in den Schacht gesprungen«, entgegnete Rastko.
Lucian warf wütend seine Karten weg. »Wird hier gespielt oder über Weiber gequatscht?«
Igor drehte das Blatt und zeigte seine beiden Neunen, die zusammen mit den Karten, die auf dem Tisch lagen, sowie den Gemeinschaftskarten mehr als ausreichten, um ihm den Einsatz zu sichern. Er schaufelte die Chips zu sich hin. Da Rastko und Milan sich nun ihrer Suppe widmeten, saßen nur noch Igor und Lucian am Tisch.
Sie spielten eine weitere Stunde, ohne dass Chips in größerer Zahl den Besitzer wechselten. Igor hatte vor Lucian nur 1000 Euro Vorsprung – zu wenig, um eine Entscheidung zu erzwingen. Obwohl er bis jetzt reichlich Gewinn gemacht hatte, strapazierte die Situation seine Nerven. Lucian war erschöpft, ausgelaugt von den vielen Stunden am Spieltisch, ein wenig zu betrunken vom Sliwowitz, zu rotäugig von den Drina-Zigaretten, die er ohne Unterlass rauchte. Eigentlich wirkte er wie ein leichtes Opfer, doch bis jetzt hatte er es vermieden, in die Fallen zu tappen, die Igor immer wieder für ihn auslegte.
Als die nächste Runde begonnen hatte, sah Igor sofort, dass Lucian ein mehr als brauchbares Blatt hatte. Mit den beiden Buben auf dem Tisch konnte er sich leicht ausrechnen, dass er einen König in der Hand hielt. Lucian erhöhte den Einsatz und schob die Hälfte seines Stapels in den Pot. 10.000 Euro. Igor pfiff auf Lucians Buben, er hatte zwei Damen, Herz und Pik. »Ich gehe mit und erhöhe um zehntausend. Igor nahm seine Chips und ließ sie mit ausgestrecktem Arm auf die anderen regnen, sodass sie sich über den ganzen Tisch verteilten.
»Hör auf, mit den Chips rumzuschmeißen«, fauchte Lucian.
»Mit meinen Chips mache ich, was ich will«, gab Igor ungerührt zurück, um Lucian zu provozieren. Das Ergebnis ließ nicht lange auf sich warten. Als Igor die River Card legte, einen Kreuz König, schob Lucian all seine Chips in den Pot. Er zog sein Portemonnaie aus der Tasche und riss ein paar Scheine heraus. »Ich erhöhe weiter, damit der Welpe hier endlich seinen Schwanz einzieht!«
Im Raum wurde es totenstill. Igor drehte sich zu Kaminskij um, der aufgehört hatte, in der Suppe zu rühren. Alle wussten, dass man kein Bargeld bei sich trug und dieses schon gar nicht auf den Tisch legte. Man brachte Kaminskij nicht derart in Verlegenheit, falls zufällig die Bullen auftauchen sollten. Kaminskij strich sich über seinen Schnurrbart. Betrachtete Igor, der siegesgewiss lächelte. »Seht zu, dass ihr fertig werdet«, sagte er. Dann rührte er weiter in der blutroten Suppe.
Igor drehte sich wieder zu Lucian um, der die Arme verschränkt hatte. »Spiel nur mit deinen Chips, solange du noch welche hast«, sagte er siegessicher.
Igor schob all seine Chips in den Pot. Lucian konnte ihn nicht bluffen. Der hatte keine Könige. Der sammelte Buben. Deshalb hatte er gleich zu Beginn den Einsatz erhöht. Aber gegen Igors Damen hatte er keine Chance. Das Ganze war fast zu einfach gewesen. Selbst nachdem er Kaminskij ausgezahlt haben würde, wäre sein Gewinn größer, als er sich das je erträumt hatte. Genug für ein neues Auto plus einem Flachbildschirm für zu Hause. Ach, was soll’s, er würde lieber gleich in eine neue Wohnung ziehen.
»Deine Chips sind gerade mal die Hälfte wert«, brummte Lucian.
»Ein Telefonanruf reicht für die andere Hälfte«, entgegnete Igor und beugte sich über den Tisch. »Jedenfalls schmeiße ich hier nicht mit Bargeld um mich wie irgendein Kanake. Aber ich gehe mit allem mit, was du da in deiner dicken Brieftasche hast.« Er nickte zu Lucians verschlissenem Lederportemonnaie hin.
Lucian sah ihn mit glasigen Augen an, ehe er zu Kaminskij hinüberschaute, dessen Miene sich verfinstert hatte. »Ich glaube dir«, brummte er. »Lass sehen.«
Igor lächelte. »Dieser König hier«, er tippte auf die Karte, die zwischen ihnen auf dem Tisch lag, »hilft dir nicht. Schon gar nicht, wenn du Buben sammelst. Darf ich dir meine Damen vorstellen?« Er drehte sein Blatt um. »Mit ihrer Schwester auf dem Tisch keine schlechte Verbindung, oder?«
Lucian starrte auf die Karten und nickte anerkennend. Dann rieb er sich mit dem Handrücken über seine schwitzige Stirn und widmete sich seinem eigenen Blatt. »Was den Buben betrifft, hast du recht. Der hat nicht geschadet. Er zeigte einen Kreuz-Buben. »Zusammen mit seinem Vater, dem Kreuz-König, der Kreuz-Zehn und der Neun auf dem Tisch hätte er wahre Wunder vollbringen können.« Er lächelte wehmütig. »Weißt du, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass ich seine Mutter, die Kreuz-Dame, hier in der Hand halte? Kennst du die Wahrscheinlichkeit für einen Royal Flush?«
»Natürlich«, antwortete Igor mit einem Lächeln. »Eins zu sechshunderttausend oder so. Nicht gerade sehr wahrscheinlich.«
Lucian nickte und nahm seine Karten auf. »Dann wäre ich der größte Glückspilz auf der ganzen Welt, oder? Dann hätte ich mehr Glück als diese chilenischen Grubenarbeiter, von denen alle reden, stimmt’s?«
Igor zuckte die Schultern. »Wir werden sehen.«
»Ja, das werden wir.« Lucian drehte sein Blatt um.
Igors Welt brach zusammen. Alles um ihn her verschwand, zurück blieb nur eine Kreuz-Dame, die ihn förmlich blendete. Mit offenem Mund starrte er sie an. Er bekam keine Luft mehr, spürte, wie sich alles in ihm zusammenschnürte. Er glaubte, sterben zu müssen. Vielleicht hoffte er es auch. In dieser Situation wäre es eine Erlösung gewesen.
»Gut, dass dein Mund schon offen steht, mein Junge, denn jetzt ist es Zeit für die Suppe«, sagte Lucian.
Die beiden anderen Serben traten an den Tisch und betrachteten die Karten, die darauf lagen. »Ach, du Scheiße«, murmelte Milan. »Was für ein Blatt. Was für ein Spiel. Das wird in die Geschichte eingehen. Wie viel liegt da auf dem Tisch?« Er überschlug rasch die Stapel an Chips sowie die vielen Geldscheine, die sich auf der Tischplatte häuften. Dann lächelte er Lucian an. »Respekt! Du hast gerade 30.000 Euro gewonnen. Und du, mein Freund …«, er klopfte Igor auf die Schulter, »musst jetzt wohl den teuersten Anruf deines Lebens tätigen.«
»Ich … ich …«, stotterte Igor. Er versuchte zu lächeln, doch er hatte nicht einmal genug Luft zum Atmen. »Ich … ich war wohl etwas voreilig.«
»Was soll das heißen?«
»Natürlich habe ich einen Teil … ganz klar, aber …« Igor ließ eine Hand nervös durch die Chips gleiten und blickte Lucian flehentlich an.
Die drei Serben richteten eiskalte Blicke auf ihn. »Heißt das, dass du nicht zahlen kannst?«
»Das meiste schon, aber …«
»Das meiste reicht nicht«, sagte Milan.
»Ganz und gar nicht«, ergänzte Rastko.
»Vielleicht ziehst du eine serbische Maniküre vor?« Lucian steckte die Hand in seine Jackentasche, zog eine kleine rostige Heckenschere heraus und ließ sie auf den Tisch fallen. »Ohne Finger lässt sich allerdings schlecht spielen.«
Igor starrte die Heckenschere panisch an. Er schob seinen Stuhl zurück und wollte aufstehen, doch Milan war bereits über ihm und drückte ihn zurück auf seinen Platz. »Nicht so schnell.«
»Leg das Ding weg!«, kommandierte Kaminskij, der hinter ihnen stand. Er ließ die Suppenkelle los und drehte das Gas ab. Dann trat er in aller Ruhe an den Tisch. »Und zwar sofort.«
Lucian blickte zu Kaminskij hoch, der ihn durchdringend ansah. Zögernd ließ er die Heckenschere wieder in seiner Tasche verschwinden. »Ich will nur mein Geld, sonst nichts.«
»Igor besorgt dir das Geld. Du kannst ihm vertrauen, sonst säße er ja wohl nicht hier mit am Tisch. Verstanden?«
»Natürlich, Kaminskij«, antwortete Lucian, ohne den Blick zu heben. Er verschränkte die Arme. »Entschuldige mein Temperament. Es war nicht respektlos gemeint, das weißt du. Wie viel hast du, Junge?«
Igor blickte zu Boden. »Ungefähr 40.000 … dänische Kronen.«
Lucian warf Milan einen fragenden Blick zu, der den Kopf schüttelte. »Das reicht nicht … längst nicht.«
»Du hast vierundzwanzig Stunden Zeit, sonst …« Lucian hob seine rechte Hand und bewegte zwei Finger wie eine Schere. »Schnipp, schnapp.«
5
Christianshavn, 2013
»Everytime you go away«, drang aus der Jukebox im Café Havodderen. Es war Freitagabend, und die Traditionskneipe, direkt am Kanal gelegen und inzwischen wieder ein angesagter Treffpunkt, war zum Bersten voll. Im Havodderen konnte man für zwanzig Kronen ein Bier trinken, den alten Hits aus der Jukebox lauschen, die nächste Runde auswürfeln oder ungestört in einer Ecke herumknutschen.
Nachdem die letzten Zeilen von Daryl Hall verklungen waren, stand Thomas von seinem Barhocker auf. Er schwankte kurz, bevor er das Gleichgewicht wiederfand. Dann signalisierte er Johnson hinter der Theke, dass er noch ein »Set« haben wollte. Thomas trank Jim Beam aus dem Shotglas und Hof aus der Flasche.
»Hast du nicht schon genug, Ravn?«, fragte Johnson.
»Hab noch nicht mal richtig angefangen.«
Johnson hob die Brauen und nahm die Bestellung entgegen. Er war gerade sechzig geworden und breit wie ein Ochse, die Arme voller Tattoos. Man konnte nicht erkennen, was sie darstellen sollten, da sie noch aus seiner Wehrpflichtzeit bei der dänischen Marine stammten.
Thomas schlängelte sich an ein paar Gästen vorbei und ging zu der alten Wurlitzer-Jukebox, die dort gestanden hatte, solange er denken konnte. Er suchte in seiner Jackentasche nach ein paar Münzen, während er die Fotos betrachtete, die an der Wand hingen. Es waren alles signierte Schwarz-Weiß-Porträts von Künstlern und Musikern, die im Laufe der Zeit hier zu Gast gewesen waren. Gasolin’, Lone Kellermann, Clausen und Petersen, Kim Larsen und Thomas’ persönlicher Favorit: Mr. D. T. mit schwarzlackierten Fingernägeln, Filzhut und weißem Smoking. Thomas steckte ein Fünfkronenstück in den Musikautomaten. Er brauchte nicht einmal auf die Tasten zu blicken, um genau zu wissen, was er hören wollte. F-5. Take it away, Daryl. Das charakteristische Ticken des Metronoms und die Klänge der Hammondorgel setzten den alten Schlager in Gang. Hinter ihm erklangen Buh-Rufe einiger Gäste, die ihn aufforderten, etwas anderes aufzulegen. Thomas ignorierte sie und schlenderte zu seinem Barhocker zurück.
»Hey, Matrose!«, rief jemand, als er sich gerade setzen wollte.
Thomas drehte sich halb um und blickte zu einem der Tische hinüber. Ein muskelbepackter Rocker in einem viel zu engen T-Shirt sah ihn durch seine gelbgetönte Sonnenbrille an. »Das Lied haben wir jetzt oft genug gehört, verstanden?«
»Das ist ein Klassiker«, nuschelte Thomas.
»Das macht ihn nicht besser. Ist immer noch Schwulenmusik.«
Seine beiden Begleiter grinsten. Beide trugen Lederwesten mit Rückenaufnähern und hatten Würfelbecher in der Hand.
»Dann nenn mich eben schwul, eine bessere Nummer ist nie geschrieben worden.«
»Also ich mag die Originalversion lieber«, meldete sich eine Frau mittleren Alters am anderen Ende der Theke zu Wort. Sie trug ein kariertes Tweedjackett und hatte graue Haare, die in alle Richtungen von ihrem Kopf abstanden, als hätte sie gerade einen elektrischen Schlag bekommen.
Thomas drehte sich lächelnd zu ihr um. »Das ist die Originalversion, liebe Victoria. »Daryl Hall hat den Song 1980 geschrieben und eingespielt – fünf Jahre bevor Paul Young ihn berühmt gemacht hat. Bei allem Respekt, aber Paul kann Daryl nicht das Wasser reichen.« Mit diesen Worten nahm Thomas seinen Barhocker wieder ein. Victoria schickte unbeeindruckt eine Rauchwolke zur Decke. »Wie auch immer, ich mag die andere Version lieber.«
»Nichts dagegen einzuwenden«, entgegnete Thomas mit einem Schulterzucken. »Wir leben in einem freien Land.«
Johnson blickte zu den Rockern hinüber, während er eine Flasche Bier vor Thomas auf den Tresen stellte und das Shotglas mit Bourbon füllte.
»Ravn, meinst du nicht, dass du langsam nach Hause gehen solltest?«
Thomas schüttelte den Kopf und griff nach dem Shotglas. »Nur über meine Leiche, wie es so schön heißt.« Er leerte es in einem Zug und spülte mit Bier nach. Fünf Minuten später war Daryl Hall zum Ende des Lieds gekommen, und Thomas glitt abermals von seinem Barhocker. In seiner Tasche waren noch ein paar Münzen.
Der Rocker mit der gelben Sonnenbrille schaute von seinem Würfelbecher auf und erblickte Thomas vor der Jukebox. »Das darf doch wohl nicht …«, rief er und stand auf. Er schob sich um den Tisch herum und bahnte sich unsanft seinen Weg durch die anderen Gäste, bis er bei Thomas war. »Ich glaube, du hast dein letztes Lied für heute Abend gespielt«, sagte er und stieß Thomas weg. Dann warf er selbst eine Münze in die Jukebox. Im nächsten Moment dröhnte AC/DCs »Highway to Hell« durch die Kneipe. Der Rocker drehte sich um, streckte die Arme in die Höhe und stampfte zu seinen Freunden zurück, die im Takt der Musik mit den Köpfen wippten.
Thomas schwankte, während er versuchte, den Blick scharfzustellen. Dann leerte er seine Taschen in der Hoffnung, noch ein paar passende Münzen zu finden, die er oben auf die Jukebox legte. Nachdem er auf diese Weise sämtliche Kleidungsstücke durchforstet hatte, lagen einige Fünf- und Zehnkronenstücke neben einem altmodischen Handy und seinem zusammengeknüllten laminierten Polizeiausweis. Er stopfte Ausweis und Handy zurück in die Tasche, ehe er begann, die Maschine mit Münzen zu füttern. Er hatte noch Geld für fünfzehn Titel. Fünfzehn Mal »Everytime you go away«. Es versprach ein schöner Abend zu werden. Er ging zu seinem Barhocker zurück, bestellte ein weiteres »Set« für sich und einen Wermut für Victoria, die ihn einen Engel nannte.
Im nächsten Moment setzte die Hammondorgel wieder ein, und Daryl hob zu singen an. Hinter Thomas brach ein Tumult los. »Jetzt reicht’s aber endgültig!« Der Rocker mit der gelben Sonnenbrille war mit wenigen Schritten an der Jukebox. Er ging leicht in die Knie und mobilisierte all seine Kräfte, sodass die Muskeln unter seinem T-Shirt anschwollen. Dann hob er den Wurlitzer an und ließ ihn hart auf den Boden krachen. Die Musik erstarb. Die Jukebox hatte ihren Geist aufgegeben. In der Kneipe herrschte so ein Trubel, dass nur diejenigen, die ganz in der Nähe standen, die Episode mitbekommen hatten. Johnson beobachtete, wie der Rocker an seinen Platz zurückstapfen wollte. Doch als er an Thomas vorbeikam, sprang dieser von seinem Hocker. Er blickte dem keuchenden Mann, der anderthalb Köpfe größer war als er, in die Augen. »Du schuldest mir 75 Kronen«, sagte er.
»Was?«, fauchte der Rocker.
In diesem Moment kam Victoria und legte Thomas eine Hand auf die Schulter. »Lass gut sein, Ravn.« Sie lächelte den Rocker kühl an. »Jedem das seine.«
»Nie im Leben.« Thomas schüttelte den Kopf. »Ich hab 75 Kronen in die Jukebox geworfen, die du kaputt gemacht hast, also schuldest du mir 75 Kronen.«
Der Rocker musterte Victoria von Kopf bis Fuß, ehe er den Blick auf Thomas richtete. »Vielleicht solltest du auf deine lesbische Freundin hören, ehe hier noch was passiert.«
»Sie ist nicht lesbisch, sie trägt nur gerne Tweed«, murmelte Thomas.
»Sieht trotzdem wie ’ne Lesbe aus.«
Victoria kniff die Augen zusammen. »Komisch, dass ein Mann mit Hängetitten so an der Sexualität anderer Leute interessiert ist.«
Dem Rocker fiel die Kinnlade herunter, während er perplex zwischen Thomas und Victoria hin und her schaute.
Thomas verschränkte die Arme vor der Brust. »Wenn ich näher darüber nachdenke, schuldest du auch Victoria eine Entschuldigung für deine Bemerkung und nicht zuletzt Daryl Hall, weil du sein Lied unterbrochen hast. Das war wirklich nicht nett von dir. Welche Entschuldigung willst du zuerst loswerden?«
»Hat dir jemand ins Hirn geschissen?«
»Kann schon sein, aber du schuldest mir immer noch 75 Kronen sowie eine Entschuldigung für Daryl und eine für Victoria.«
»Niller?«, rief einer der Kumpel des Rockers.
»Was ist?«, bellte er und fuhr herum.
Der Mann warf ihm einen bekümmerten Blick zu. »Der Typ ist ’n Bulle«, sagte er und machte eine Kopfbewegung in Thomas’ Richtung. »Lass ihn lieber in Ruhe.«
Niller schob seine Brille herunter und spähte ausdruckslos über die Kante. »Der Penner da?«. Er zeigte auf Thomas.
Der Mann nickte. »Der hat mich und Rune letzten Sommer wegen einer Platte Marokkaner drangekriegt.«
Niller drehte sich zu Thomas um und verschränkte die Arme. »Echt, du bist ’n Bulle?«
»Völlig egal, was ich bin. Du schuldest mir immer noch 75 Kronen und zwei Entschuldigungen, eine an Victoria und eine an Daryl.«
»Sag schon!« Niller stob der Speichel aus dem Mund, während er die Hände sinken ließ und die Fäuste ballte.
»Hast Glück, dass er im Urlaub ist. Somit brauchst du heute nicht in die Ausnüchterungszelle«, sagte Victoria und leerte ihr Glas.
»Du hast Urlaub? Wirklich?« Nillers Mund verzog sich zu einem boshaften Lächeln, ehe er seinen rechten Arm in Thomas’ Richtung schwang.
Thomas wich blitzschnell in Richtung Theke zurück und entging Nillers Schwinger. Niller schickte sofort einen linken Haken hinterher, den Thomas abwehrte und seinen Ellbogen gegen Nillers Schläfe rammte. Normalerweise hätte dieser Schlag ausgereicht, wen auch immer auf die Bretter zu schicken, doch in seinem angetrunkenen Zustand zielte Thomas nicht ganz exakt und streifte nur Nillers Kopf. Die gelbe Sonnenbrille flog in einem hohen Bogen über die Köpfe der Gäste hinweg, die an der Theke saßen. Er musste unwillkürlich lächeln, ehe ein harter Schlag in seiner Magengrube landete, gefolgt von einer wuchtigen Geraden, die sein Kinn traf und ihn zu Boden streckte. Er hörte ein paar Rufe und nahm wahr, dass sich mehrere Leute in den Kampf stürzten, um Niller von ihm wegzuzerren. Dann verlor er das Bewusstsein.
Zehn Minuten später saß Thomas vor dem Havodderen auf dem Bürgersteig und drückte ein Geschirrhandtuch mit Eiswürfeln gegen sein geschwollenes Kinn. Er hörte, wie die Rocker ein Stück die Straße hinunter Johnson und ein paar Stammgästen, die neben der Tür Aufstellung genommen hatten, etwas zuriefen.
Eduardo beugte sich zu ihm hinunter und betrachtete ihn durch seine dicken Brillengläser. »Mensch, Ravn, was sollte das denn?«, fragte er mit dem leichten Akzent, der seine spanische Herkunft verriet. »Eres stupida?«
Thomas schüttelte den Kopf. Es schmerzte so heftig, dass er die Bewegung bereits bereute. »Hat er sich entschuldigt?«
»Ja, natürlich, mit seiner Faust. Fünf Mal hat er sich entschuldigt«, antwortete Eduardo und strich sich durch seine lockigen Haare.
Thomas zuckte die Schultern. »Das war das Einzige, worum ich gebeten habe«, murmelte er. »Außerdem schuldet er mir immer noch 75 Kronen.«
Ein blondes Mädchen tippte Eduardo auf die Schulter und sagte, sie wolle wieder hinein ins Warme. »Kommst du klar?«, fragte Eduardo.
Thomas nickte mit schmerzverzerrtem Gesicht.
Kurz darauf hörte er, wie die meisten Gäste wieder in die Kneipe zurückkehrten. Vorsichtig rappelte er sich auf. »Ich schmeiße eine Runde«, sagte er und taumelte zur Tür.
Johnson hielt ihm die Hand vor die Brust und nahm ihm das Geschirrtuch mit den Eiswürfeln ab. »Geh nach Hause, Ravn.«
»Ach, komm schon. Einen letzten Drink.«
Johnson sah ihn schweigend an, während der letzte Gast hinter ihm in der Kneipe verschwand.
Mit beträchtlichem Abstand zum Kanal schwankte Thomas an der Kaimauer entlang. Er blieb auf dem Bürgersteig und mied bewusst die holprigen Pflastersteine, die im Laufe der Zeit schon viele Betrunkene ins Meer geschickt hatten. Die Kneipen am Kai schlossen eine nach der anderen, und am Kanal herrschte ein reges Treiben. Am Christianshavns Torv kämpften die Leute darum, Taxis zu ergattern, die sie über die Brücke zu den Nachtclubs in der City bringen sollten. Er selbst musste nur die Straße überqueren, doch er war zu betrunken, um den Abstand zu den vorbeifahrenden Autos richtig einzuschätzen. Eine wütende Hupe machte ihm klar, dass er fast überfahren worden wäre. Er hastete über die Fahrbahn. Als er auf der anderen Straßenseite war, spazierte er die Dronningensgade entlang, bis er die alte Verteidigungsanlage erreichte, neben der seine Wohnung lag. Er suchte nach dem Schlüsselbund und blickte zur obersten Etage hinauf. Beide Fenster waren erleuchtet. Er stieg die Stufen zur Haustür hoch und blickte auf das Klingelbrett. Thomas Ravnsholdt und Eva Kilde stand auf dem kleinen Schild. Es war unverkennbar Evas Handschrift. Er wollte gerade den Schlüssel ins Schloss stecken, als er es sich anders überlegte und auf dem Absatz kehrtmachte.
Er schlenderte die Sofiegade entlang, die zum Kanal zurückführte. In der Dunkelheit konnte er soeben die Boote erkennen, die am Ende der Straße vertäut lagen, darunter sein eigenes mit dem kurzen Mast und der Radaranlage am Toppsegel. Das Radar funktionierte zwar nicht, und er hatte das kleine Segel des Trawlers auch nie gehisst, aber der Mast unterschied ihn von allen anderen Booten, und wenn er einen über den Durst getrunken hatte, was ständig vorkam, benutzte er ihn als Peilmarke.
Von der Kaimauer ließ er sich behutsam auf das alte Grand-Banks-Achterdeck gleiten. Eine Ladeluke fehlte. Er ging vorsichtig um das Loch herum und weiter zu der Kajüte. Fluchend zog er die Tür auf, die schief an ihren Scharnieren hing. Eines Tages würde er sie reparieren lassen, dachte er, ehe er eintrat. In der Kajüte stank es nach Schimmel und den Überresten in den Pizzakartons, die sich auf dem stockfleckigen Sofa türmten. Er torkelte an der Küche vorbei und stieg die schmale Treppe nach unten, wo sein Wohnzimmer mit dem eingebauten Bett war. Er warf sich auf die Matratze und schloss die Augen. Lauschte dem Regen, der gerade begonnen hatte, auf die Luke über seinem Kopf zu trommeln. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es durch die Ritzen des undichten Dachs tropfen würde, und er wusste, dass er einen Eimer holen und ans Fußende stellen sollte. Doch er brachte die Energie dazu nicht mehr auf, und nasse Zehen waren noch das Geringste seiner Probleme.
6
15. Oktober, 2010
Masja saß mit einer Decke auf dem schwarzen Ledersofa, während es sich Lajka, der Chihuahua, auf ihrem Schoß bequem machte. Sie versuchte sich auf den neuesten Band von »Die Tochter der Drachenhexe« – eine Fantasyserie, der sie gewissenhaft folgte – zu konzentrieren, aber da es schon zehn Uhr vormittags war und sie immer noch nichts von Igor gehört hatte, schweiften ihre Gedanken kontinuierlich ab.
In diesem Moment wurde die Wohnungstür aufgeschlossen, und sie hörte Igors Stimme in der Diele. Lajka sprang auf und begann laut zu kläffen. Sie beruhigte den Hund, um besser verstehen zu können, mit wem Igor telefonierte. Es klang so, als wollte er sein Auto verkaufen, was ihr sehr seltsam vorkam, denn Igor liebte sein Auto, er hatte ihm sogar einen Namen gegeben.
Igor kam ins Wohnzimmer, ohne sie anzusehen. Er schälte sich aus seiner Lederjacke, das Handy ans Ohr gepresst. »Vergiss es, Janusz, wir wissen beide, dass Lola mehr wert ist, du nutzt doch nur die Situation aus …«
Igor beendete das Gespräch und warf das Handy auf den weißen Marmortisch. Er war kreidebleich, hatte dunkle Schatten unter den Augen und stank so penetrant nach Schnaps und altem Schweiß, dass sich Masja an ihre schlimmsten Kunden erinnert fühlte. Lajka bellte immer noch, obwohl Masja alles versuchte, sie zu beruhigen. »Wo warst du die ganze Nacht?«
Igor machte eine abwehrende Handbewegung. »Nicht jetzt, Masja«, sagte er und warf ihr einen gehetzten Blick zu. »Wie viel Bargeld haben wir?« Ehe sie antworten konnte, hatte er den schwarzen Ledersessel auf die Seite gekippt.
»Was machst du da?«, rief sie.
Ohne zu antworten, zog er den dicken weißen Umschlag heraus, der zwischen dem Boden und den Sprungfedern klemmte.
»Das ist mein Geld, das rührst du nicht an!«
Er riss den Umschlag auf. »Ich muss es mir leihen, geht nicht anders.«
»Und die fünftausend, die du mir bereits schuldest?«
Er warf ihr einen raschen Blick zu. »Du wohnst hier immerhin umsonst.«
»Oh, vielen Dank, Igor«, entgegnete sie ironisch.
Er nahm die Scheine heraus und zählte sie hektisch. »Neunzehntausend, hast du echt nicht mehr?«
Ihr Körper zitterte vor Wut. »Du bleibst die ganze Nacht weg, ohne irgendwas zu sagen, und dann kommst du nach Hause und willst mir mein Geld wegnehmen, sag mal, geht’s noch?«
»Ist doch nur geliehen. Ist das wirklich alles?« Er ließ den Umschlag fallen und steckte sich das Geld in die Hosentasche.
»Ja! Du hast alles genommen! Bist du jetzt zufrieden?«, rief sie.
Lajka sah sie erschrocken an. Der Hund sprang vom Sofa und verzog sich unter den Tisch.
Igor rieb sich das Gesicht. »Was ist mit deiner Mutter? Kann sie uns was leihen?«, fragte er durch die Finger hindurch.
Masja setzte sich auf. »Meine Mutter?«
»Ja, verdammt. Wie viel kann sie uns leihen?«
Sie lachte höhnisch auf. »Du musst ja echt verzweifelt sein. Meine Mutter arbeitet als Putzfrau und leidet unter chronischem Geldmangel. Ich bin es, die ihr jeden Monat was dazugibt.«
»Okay«, sagte er. »Hast du heute Termine? Irgendwelche Kunden?«
»Warum fragst du mich das jetzt, du Arschloch?«
»Entschuldige, aber ich bin wirklich verzweifelt.« Er schaute sie aufrichtig an. »Hast du?«
Sie war den Tränen nahe. Was war er nur für ein Vollidiot! »Weißt du nicht mehr, was ich gestern gesagt habe? Ich hab keine Lust mehr. Versteh das endlich.«
Er setzte sich neben sie auf das Sofa. »Okay, okay, aber das sind doch langfristige Pläne. Mir geht es um jetzt.«
»Wie viel hast du verloren?«
»Viel zu viel«, antwortete er und senkte den Kopf. »Viel, viel zu viel …«
Sie wollte ihm über den Kopf streichen, doch er stand rasch auf, schnappte sich sein Handy vom Marmortisch und rief erneut Janusz an. »Für vierzig kannst du Lola haben, aber ich will die Kohle noch heute.« Dann legte er auf und wandte sich an Masja.
Sie hatte Mitleid mit ihm. Wie er da stand, sah er aus wie ein begossener Pudel oder wie Lajka, wenn sie im Regen gewesen war. »Komm mal her, mein Schatz.«
»Später, ich muss telefonieren.« Er marschierte ins Schlafzimmer und zog die Tür hinter sich zu.
Masja lehnte sich auf dem Sofa zurück und rief Lajka zu sich. Der Hund sprang wieder auf ihren Schoß und rollte sich dort mit einem zufriedenen Knurren zusammen. Er begann, ihr die Finger abzulecken, bis sie ihm einen Klaps auf die Schnauze gab. Ihr gefiel diese Angewohnheit nicht, die sich Lajka in letzter Zeit zugelegt hatte. Armer Igor. Er war ein Narr, der glaubte, es gäbe in jeder Situation einen einfachen Ausweg. Sie mussten das alles hinter sich lassen, sich etwas anderes überlegen, selbst wenn das Geld knapp werden würde. Selbst wenn sie riskierte, so zu enden wie ihre Mutter, die bei den reichen dänischen Vorstadttussis, die sich für was Besseres hielten, putzte. Doch was konnte sie sonst machen? Und was konnte Igor anderes, als gestohlene Autos nach Polen zu verkaufen und sein Geld zu verspielen?
Igor kam ins Wohnzimmer zurück und setzte sich neben sie.
»Und, hast du’s geklärt?«
Er atmete tief durch. »Ich muss dich um einen riesigen Gefallen bitten.«
»Um was für einen Gefallen?«, fragte sie und war sofort auf der Hut.
»Der Typ, dem ich Geld schulde, hat einen Vorschlag gemacht«, sagte er, den Blick auf den Boden gerichtet.
»Was für einen Vorschlag?«
»Dreimal darfst du raten?«
Sie kniff die Augen zusammen. »Hältst du wirklich so wenig von mir? Tust du das, Igor?«
»Nein, Baby, natürlich nicht«, antwortete er mit erstickter Stimme.
»Das ist dein Problem, Igor, nicht meins. Fick ihn doch selber.«
»Du hast keine Ahnung, wie sehr ich am Arsch bin.« Er blickte zu ihr auf, während ihm Tränen über die Wangen liefen. »Die schneiden mir die Finger ab, wenn ich nicht zahle.«
»Wirklich?«, fragte sie misstrauisch und schaute auf ihre frisch lackierten Nägel. »Dann kannst du jedenfalls nicht mehr spielen.«
Masja registrierte zu spät, dass er ausholte, und konnte die schallende Ohrfeige nicht mehr abwehren. Sie schrie auf und fasste sich an die Wange. Lajka verkroch sich winselnd unter dem Tisch.
»Entschuldige, entschuldige, entschuldige«, schluchzte Igor und brach auf dem Sofa zusammen.
Sie schrie ihn an und trommelte mit den Fäusten auf seinen Rücken, Nacken und Hinterkopf. Igor tat nichts, um sich zu schützen. Schluchzend ließ er ihre Schläge über sich ergehen. Schließlich hatte sie keine Kraft mehr und begann selbst zu weinen.
7
Es war 19.30 Uhr. Masja stand vor dem Badezimmerspiegel und zeichnete mit einem dünnen Strich ihre Lippen nach. Sie trug ihr dunkelrotes Seidenkleid und die hellbraunen Wildlederstiefel. Igor stand im Türrahmen und rauchte eine Zigarette. »Tut mir echt leid, Baby, wirklich.«
Schweigend sprühte sie noch einmal ihre Haare ein und vergewisserte sich, dass auf ihren Vorderzähnen kein Lippenstift war. Dann drehte sie sich zu Igor um. »Wollen wir dann?«
Sie fuhren die Torvegade hinunter, vorbei an den historischen Wallanlagen, bis zur Vermlandsgade. Es war inzwischen dunkel geworden, und außer ein paar Taxis, die auf dem Weg zum Flughafen waren, waren kaum andere Fahrzeuge auf den Straßen. »Ich verspreche dir, dass alles gut wird«, sagte Igor und schaute sie von der Seite an. »Ehrlich, Baby, ich hör mit dem Spielen auf und mit all dem anderen Scheiß. Wir werden es schön haben zusammen, du und ich.« Er legte seine Hand auf ihren Oberschenkel. Masja schob sie weg. »Ich versteh ja, dass du sauer auf mich bist«, fuhr Igor fort. »Ich bin ein Schwein, ein Stück Scheiße …«
»Kannst du nicht endlich mal die Klappe halten?«
»Natürlich, Schatz, ich wollte nur, dass du das weißt …« Sie wich seinem Blick aus und sah aus dem Seitenfenster. »Von jetzt an machen wir alles so, wie du es willst. Wir werden eine richtige kleine Familie. Wir beide und ein Baby und so … Ich such mir eine Arbeit, was Ordentliches, ich kann eine Menge, du wirst sehen.«
»Sei jetzt mal ruhig«, sagte sie, doch weniger aggressiv als zuvor.
Sie rollten die Amagerbane entlang und bogen auf den Yderlandsvej ab, wo es jede Menge Taxi- und Busunternehmen gab. Masja entdeckte ein paar farbenfrohe Doppeldecker, mit denen die Touristen im Sommer auf Sightseeingtour gingen. Nun standen sie einsam und verlassen unter einem Schutzdach. Vor vielen Jahren, als sie und ihre Mutter in dieses Land gekommen waren, hatten sie auch in so einem Bus gesessen. Ihre Mutter war so ausgelassen gewesen, und sie hatte die ganze Zeit aufs Klo gemusst. Masja blickte durch die Windschutzscheibe. Hier waren sie weit weg von den Fünf-Sterne-Restaurants, die sie gewohnt war, hier waren sie weit weg von allem, und allmählich bereute sie, sich auf diese Tour eingelassen zu haben.
»Da sind wir«, sagte Igor und schwenkte auf einen dunklen Parkplatz ein. Vor ihnen lag eine stillgelegte Kfz-Werkstatt. Mehrere Fenster waren eingeschlagen und die Wände mit Graffiti beschmiert.
»Er bekommt eine halbe Stunde und keine Sekunde mehr«, sagte sie, als sie aus dem Auto stieg. Sie überquerten den matschigen Vorplatz, bis sie vor der großen blauen Eingangstür standen. Als sie die alte Wartungshalle betraten, schlug ihnen der Gestank nach altem Schmieröl entgegen. Masja hielt sich unwillkürlich die Nase zu und atmete durch den Mund. Am Ende der Halle saßen vier Männer mittleren Alters an einem kleinen Tisch, der in eine Tabakwolke gehüllt war.
Masja und Igor gingen an der langen Schmiergrube entlang, die sich durch die Halle zog. Die Männer tranken Wodka und Dosenbier. Igor hatte den Eindruck, dass sie seit dem Morgen, als er sie bei Kaminskij verlassen hatte, weitergetrunken hatten.
Lucian drehte sich halb zu ihm um und warf Igor einen kühlen Blick zu, ehe sich seine Augen auf Masja richteten. Er wischte sich mit der Hand den Mund ab. »Hast du mir also deine Freundin mitgebracht«, sagte Lucian und blies den Rauch in die Luft. »Wir werden sehen, ob das genügt.«
Die anderen Männer musterten sie eingehend. Tauschten anzügliche Bemerkungen aus und lachten.
Lucian stand unsicher von seinem Hocker auf. »Ist ’ne hübsche Nutte, das muss ich zugeben, Igor. Da hast du wenigstens mal Glück gehabt.«
Masja kniff die Augen zusammen. »Deine Ausdrucksweise gefällt mir nicht.«
»Warum?«, fragte Lucian und erwiderte ihren Blick. »Du bist doch eine Nutte, oder etwa nicht? Du lebst vom Ficken. Die entscheidende Frage ist nur, ob du auch gut darin bist.« Er ließ seinen Unterleib kreisen.
Die Männer am Tisch lachten.
»Darauf hab ich keinen Bock«, sagte sie und wandte sich an Igor. »Wir gehen, sofort!«
»Wo willst du denn hin?« Lucian war sofort bei ihr und riss sie an den Haaren zurück.
Masja schrie auf und versuchte, sich loszureißen. Sie warf Igor einen hilfesuchenden Blick zu, doch zu ihrem Erstaunen hatte er sich bereits ein Stück weit entfernt.
»Jetzt zieh schon deine Klamotten aus, oder brauchst du Hilfe dabei?« Lucian zerrte an ihrem Kleid. Masja trat nach hinten aus, traf ihn jedoch nicht. Sie starrte panisch zu Igor hinüber, der schon fast an der Tür war. »Jetzt hilf mir doch, Igor, verdammt! Hilf mir!«
Er schüttelte verzweifelt den Kopf. »Tut mir leid, Baby … es geht nicht anders … hab keine Wahl … sorry …«
Lucians große Pranke schloss sich so fest um Masjas Hals, dass sie fast keine Luft mehr bekam. Er riss ihr das Kleid herunter. Sie konnte ihn riechen. Spürte sein klebriges Hemd an ihrer nackten Haut, als er sich von hinten an sie drängte. Spürte die harte Beule in seiner Hose. »Ich kenne nichts Besseres, als junge Schlampen abzurichten«, sagte er mit seiner Reibeisenstimme.
Masja schrie nach Igor, der die Tür hinter sich schloss.
* * *
Igor entfernte sich schwankend von der Wartungshalle, taumelte zu seinem BMW. Er stützte sich auf die Kühlerhaube und erbrach sich über den Kotflügel auf seine neuen weißen Adidas-Schuhe. Hinter sich hörte er Schritte. Er trocknete sich den Mund ab und drehte sich um.
Kaminskij sah ihn kühl an. »Du konntest nichts anderes tun. Die eigene Ehre ist das Wichtigste. Wer Schulden hat, muss sie bezahlen.«
»Das weiß ich.«
»Es wundert mich allerdings, dass du sie hierhergekriegt hast.« Er musterte das abbruchreife Gebäude. »Sie muss dir sehr vertrauen. Dich wirklich lieben.«
Igor öffnete die Tür und setzte sich hinter das Steuer.
Kaminskij beugte sich zu ihm hinab. »Jedenfalls war Lucian großzügig genug, dir das Auto zu lassen. Fahr vorsichtig«, sagte er und schloss die Tür.
8
Christianshavn, 2013
Das ständige Kläffen traf Thomas wie ein Vorschlaghammer. Es war unmöglich, den Lärm zu ignorieren. Er öffnete die Augen. Tageslicht fiel durch die Luke über seinem Kopf und schmerzte bis in die Augenhöhlen. »Halt die Schnauze«, murmelte er. In diesem Moment kroch Møffe zu ihm aufs Bett. Vergeblich versuchte er, die betagte englische Bulldogge wegzuschieben, die ihm hingebungsvoll das Gesicht abschleckte.
»Dein Hund hat bei mir übernachtet«, rief Eduardo aus der Kajüte.
Thomas wollte aufstehen, doch sein Kater zwang ihn umgehend wieder in die Horizontale, was Møffe offenbar als Einladung betrachtete, ihm erneut mit der Zunge durchs Gesicht zu fahren. Thomas wehrte Møffe ab und kraulte ihn hinter dem Ohr, bis sich der Hund mit einem behaglichen Brummen neben seinem Herrchen niederließ.
»Und einen großen Haufen in meinem Cockpit hinterlassen«, fuhr Eduardo fort.
»Besser bei dir als bei mir«, murmelte Thomas.
»Was hast du gesagt?« Eduardo steckte den Kopf zu ihm herein.
»Dass es mir leidtut.«
»Hast du Kaffee?«
Thomas zeigte in der Luft in eine undefinierbare Richtung. Eduardo fing an, Schubladen und Schränke zu durchforsten. Das Knallen der Türen trieb Thomas aus dem Bett. Sofort stieg die Übelkeit wieder hoch. Nichts konnte mehr verhindern, dass er sich erbrach. Er riss die Tür zum Bad auf, ehe ihm einfiel, dass die Toilette verstopft war. Sein Magen zog sich zusammen und wartete nur darauf, sich explosionsartig zu entleeren. Es war nur noch eine Frage von Sekunden. Thomas sprang an Eduardo vorbei in die Küche und stürzte durch die offene Kajütentür nach draußen. Er hatte gerade die Reling erreicht, als sich alles, was er während der gestrigen Sauftour in sich hineingeschüttet hatte, in einem großen Schwall von ihm verabschiedete. Das Deck schwankte unter ihm, und er hatte das Gefühl, sein Schädel würde zerspringen. Ein Blitzlicht erfasste ihn, gefolgt von weiteren. Vom Kanal schallten Stimmen zu ihm herüber. Träge blickte er auf. In diesem Moment glitt eines der Touristenboote auf seiner Rundfahrt durch den Hafen an ihm vorbei. Mit einer Horde von Japanern, die sein Elend dokumentierten. Er kehrte ihnen den Rücken zu und sank auf das Deck. Eduardo erschien in der Tür.
»Wusste gar nicht, dass die schon wieder Saison haben.« Er zeigte mit dem Daumen auf das vorbeifahrende Boot.
»Ich glaube, die haben immer Saison, Ravn.«
»Wirklich?« Thomas griff sich an den Kopf und spürte, dass seine Wange schmerzte und geschwollen war. »Ach, du Scheiße. Ich muss gestern gefallen sein.«
Eduardo nickte stumm.
»Bis bald, Eduardo!«, erklang eine helle Stimme von Eduardos Ketsch, die neben Thomas’ Boot vertäut lag. Eduardo drehte sich um und warf der winkenden blonden Frau einen Handkuss zu. »Ich ruf dich an!«, rief Eduardo. Die Blondine sprang ans Ufer und schloss ihr Fahrrad auf.
»Marlene? … Maria? … Anna!«, sagte Eduardo lächelnd. »Hab sie gestern im Havodderen kennengelernt.« Er winkte Anna zu, die in diesem Moment an ihnen vorbeirollte.
»Marlene-Maria-Anna, was für ein außergewöhnlicher Name«, bemerkte Thomas ironisch.
»Ist ja auch eine außergewöhnliche Frau.«
Zehn Minuten später fand Thomas das Glas mit dem Pulverkaffee und kochte Wasser für zwei Tassen Kaffee. Sie nahmen den Kaffee mit auf die kleine Brücke über der Kajüte und blickten nun ihrerseits auf die knipsenden Touristen hinab. Eduardo nippte an dem Kaffee und verzog das Gesicht. »Etwas mehr Wasser hätte nicht geschadet.«
»Ist die schnellste Methode, wieder zu sich zu kommen«, entgegnete Thomas und trank einen Schluck. Selbst für ihn war das Gebräu am Rande des Zumutbaren.
Eduardo betrachtete kurz den Atem, der ihm aus dem Mund dampfte. »Ich mache mir Sorgen um dich, Ravn.«
»Nicht nötig«, sagte Thomas rasch und wandte den Kopf ab. »Bin schon wieder auf dem Damm.«
»Ich denke mehr an deinen allgemeinen Zustand.«
»Der war nie besser.«
Eduardo zog die Brauen hoch und blickte ihn zweifelnd an.
»Wann fängst du wieder an?«
»Wo? Auf dem Innenstadtrevier?«
Eduardo nickte.
»Keine Ahnung. Ich denke auch nicht ständig darüber nach.«
»Aber die können dich doch nicht dauerhaft suspendieren. Du hast doch auch Rechte.«
Thomas lehnte sich zurück und legte die Beine auf den Stuhl gegenüber. »Ich bin ja auch nicht suspendiert, sondern beurlaubt. Sozusagen krankgeschrieben.«
»Und wie lange noch?«
»Bis ich finde, dass ich wieder gesund bin«, antwortete er mit einem Lächeln.
»Sie wollen dich doch schon zurückhaben?«
Thomas runzelte die Stirn. »Was ist das hier, ein Verhör? Kannst du nicht mit der Arbeit warten, bis du wieder bei deiner linken Scheißzeitung bist?«
»Tut mir leid, ich wollte dich nicht ausfragen.«
Thomas zitterte leicht. Er wusste selbst nicht, ob das an seinem Kater oder an der kühlen Morgenbrise lag.
Eduardo lächelte. »Ich glaube nur, dass es dir guttun würde, wieder zu arbeiten. Schließlich warst du … bist du ein guter Bulle. Lass dir das von einem Linken gesagt sein.« Er kippte den Rest des Kaffees über die Reling.
»Hilft nur nicht viel, wenn einem von ganz oben Knüppel zwischen die Beine geworfen werden.«
»Wie meinst du das?«
Thomas zuckte die Schultern. »Jedenfalls haben sie mich nie an den Fall rangelassen. Haben mich von ihm ferngehalten, solange sie konnten. Und als sie es nicht mehr konnten, haben sie mich beurlaubt.« Er lachte bitter auf.
»Wie lange ist das jetzt her?«
»Dass ich freigestellt worden bin?«
»Nein, ich meine … das andere.«
»Bald ein Jahr.«
»Ein Scheißjahr.«
»Ja, ein echtes Scheißjahr.«
Eduardo stand von der Bank auf und ging zur Treppe, die hinunter aufs Deck führte. Er nahm ein paar Stufen, ehe er sich zu Thomas umdrehte. »Das ist ein Scheißfall, Ravn, einer der sich nicht lösen lässt.«
»Das weiß ich«, sagte er.
»Vielleicht sollte man das alles hinter sich lassen.«
»Das weiß ich«, wiederholte er.
9
Strängnäs, Oktober 1979
Die trockenen schwarzen Äcker lagen verlassen da. Die ersten Sonnenstrahlen kämpften sich mühsam durch den Morgendunst, der die angrenzenden Bäume einhüllte. Erik saß zusammen mit seinem Vater und Johan Edel – einem seiner Jagdfreunde – auf dem grünen Hochsitz. Erik war gerade zehn Jahre alt geworden, und es war das erste Mal, dass sein Vater ihn mit auf die Jagd nahm. Seit über zwei Stunden warteten sie schon dort oben in ihrem Versteck, dass die Treiber mit ihren Hunden das Wild an ihnen und den anderen Jägern vorbeihetzten. Eriks Hände zitterten vor Kälte und hatten Mühe, das schwere Fernglas zu halten, mit dem er nach den Tieren Ausschau hielt.
»Frierst du, Erik?«, fragte sein Vater Bertil mit leiser Stimme. Er war Ende fünfzig, hatte schwere Tränensäcke und eine rotgeäderte Nase, die davon zeugte, dass er mehr trank, als gut für ihn war.
»Nein, alles … in Ordnung«, stotterte Erik und umklammerte das Fernglas noch fester, damit es ihm nicht aus den zittrigen Händen rutschte.
Der Vater ließ sein Gewehr – eine edle Winchester Magnum mit einem Schaft aus Walnussholz – sinken und tätschelte Erik den Kopf. »Du solltest dich ein bisschen warmklopfen. Das tue ich immer, wenn ich friere.« Er demonstrierte mit beiden Armen, was er meinte. Johan Edel schaute ihn mit seinen eisblauen Augen verärgert an. »Hört sofort auf!«, meckerte er mit nasaler Stimme. »Ihr verjagt noch das Wild.« Johan war ein athletischer Mann in den Dreißigern, dessen blonde, zurückgekämmte Haare an einen englischen Lord erinnerten.
Bertil machte eine entschuldigende Geste. In diesem Moment hörten sie, wie die Hunde am anderen Ende des Feldes anschlugen.
»Siehst du was?«, fragte Bertil seinen Sohn.