Tamora - Im Sumpf des Lasters - Thomas Riedel - E-Book

Tamora - Im Sumpf des Lasters E-Book

Thomas Riedel

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Nur in ihren Büchern - und in heißen Träumen - gibt sich die erfolgreiche Schriftstellerin Tamora Donovan ihren geheimen Sehnsüchten nach Unterwerfung und lesbischer Liebe hin. Als sie zu Recherchezwecken Kontakt mit der Prostituierten Chloe aufnimmt, eröffnen sich Tamora ungeahnte Möglichkeiten. Doch die vermeintlich günstige Gelegenheit entpuppt sich schnell als tödliche Gefahr, denn ein hinterhältiger Attentäter hat es auf Tamoras Leben abgesehen ...

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Seitenzahl: 433

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Tamora

Im Sumpf des Lasters

Tamora

Im Sumpf des Lasters

von

Thomas Riedel

Bibliografische Information durch

die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnd.d-nb.de abrufbar

1. Auflage

Covergestaltung:

© 2018 Thomas Riedel

Coverfoto:

© 2018 Sakkmesterke

Depositphotos.com, ID: 73770759

Impressum

Copyright: © 2018 Thomas RiedelDruck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.deISBN siehe letzte Seite des Buchblocks

»In dieser Welt

mit ihrer schmutzigen Phantasie

ist man entweder jemandes Frau

oder jemandes Hure – oder

auf dem besten Wege, das eine

oder das andere zu werden.«

 

John Irving

 

 

 

 

Kapitel 1

 

Es war wieder einmal Flurwoche. Das Säubern des Treppenhauses gehörte nicht gerade zu ihren liebsten Beschäftigungen, aber der aushängende Reinigungsplan ließ ihr keine andere Wahl. Sie kam nicht umhin: Diese Woche war sie dran. Um ihr die leidige Angelegenheit ein bisschen zu versüßen und interessanter zu gestalten, hatte sich ihr dominanter Freund etwas Besonderes für sie einfallen lassen.

Mit einem wissenden und zugleich erwartungsfreudigen Lächeln tauchte Tamora den Feudel ins warme Wischwasser und wartete, bis er sich ordentlich vollgesogen hatte. Dann zog sie ihn aus dem Putzeimer, wrang ihn kurz aus und begann die Treppe zu wischen. Stufe um Stufe bewegte sie sich langsam rückwärts.

Ihr Freund hatte darauf bestanden, dass sie sich für ihn zurechtmachte und sie angewiesen, sich während der Reinigung des Treppenhauses auf gar keinen Fall umzudrehen – gleichgültig dessen, was immer auch passieren würde.

Tamora hielt sich an die Abmachung. Auch als sie Schritte im Hausflur vernahm, wendete sie nicht ihren Kopf, um nachzusehen, wer da kam. Schließlich gehörte es zum Spiel, dass er sie beim Putzen überraschte. Still hoffte sie, dass es auch tatsächlich ihr Freund war, der da gemächlich die Treppe hinaufschritt. Anderenfalls hätte sie jetzt ganz rasch das Weite gesucht. So, wie sie im Augenblick gekleidet war, wollte sie sich nur ungern von ihren Mitbewohnern erwischen lassen.

Bevor sie ihre Wohnung verließ, hatte sie sich für ihn aufgestylt – entsprechend seiner Haftnotiz, die immer noch am Badezimmerspiegel klebte. Sie war in eine schwarz-rote Lederkorsage geschlüpft und hatte ihre hauchzarten schwarzen Nahtstrümpfe an den sechs Strapsen befestigt. Wie gefordert hatte sie auf den dazugehörenden Slip verzichtet. Um nicht völlig entblößt zu sein, war sie nicht umhingekommen, das Outfit um einen kurzen Lederrock zu ergänzen, bevor sie in ihre High Heels geschlüpft war. Sie wusste, dass es nicht seiner gewünschten ›Kleiderordnung‹ entsprach, und dass sie deswegen Strafe zu erwarten hatte – aber da musste sie notfalls durch. Ihr Aufzug im Hausflur war ohnehin schon peinlich genug und in gewisser Weise reizte sie der Gedanke bestraft zu werden sogar.

Auf das Spiel war sie auch nur eingegangen, weil sie sich um diese Zeit allein im Haus wähnte. Die alleinstehenden Eigentümer der übrigen drei Wohnungen waren um diese frühe morgendliche Stunde bereits alle auf dem Weg zu ihren Arbeitsstellen.

Da war jedenfalls jemand im Treppenhaus. Deutlich vernahm sie die immer näher kommenden Schritte. Ihre innere Anspannung wuchs.

Es fiel ihr schwer sich nicht umzudrehen, aber sie hielt sich an die ihr gestellte Aufgabe. Auch als die Person hinter ihr stehenblieb, verhielt sie sich ganz ruhig und gab keinen Laut von sich. Sie tat unbekümmert, so, als sei es das normalste von der Welt, in ihrem Aufzug die Treppen zu wischen.

Für sie stand fest, dass es sich nur um ihren Freund handeln konnte, der in diesem Augenblick fasziniert ihr ungenügend bekleidetes Hinterteil anstarrte, das sich unter dem eng anliegenden Minirock abzeichnete. So, wie sie ihn kannte, ließ er in diesem Moment seinen Blick über ihre bestrumpften Beine auf- und abwandern und geilte sich an dem Anblick auf, den sie ihm bot.

»Na, gefällt dir, was du siehst, mein Herr? … Ich war gehorsam. Entspricht es dem, wie du es von mir erwartet hast?«, erkundigte sich Tamora sanft und wackelte leicht provokant und einladend mit ihrem Gesäß. »Bediene dich, wenn dir danach ist. Du brauchst dich nicht zurückhalten. Es gehört alles dir. Du wirst sehen, wie feucht mich der Gedanke an unser Spiel bereits gemacht hat.«

Das war keineswegs übertrieben. Schon beim Ankleiden war sie so erregt gewesen, dass sie es sich am liebsten selbst gemacht hätte. Nur mit Mühe hatte sie sich zurückhalten können.

Der Unbekannte ließ sich nicht lange bitten.

Ohne ein Wort zu sagen, streckte er seine Hand aus und begann damit hingebungsvoll ihren knackigen Hintern zu streicheln. Nach einer Weile widmete er sich ihren langen Beinen. Immer wieder strich er sanft über ihre Strümpfe. Dabei ließ er seine Fingerspitzen langsam an der Außenseite ihrer Beine hinabgleiten, nur um sich gleich darauf, behutsam und ebenso langsam, über die Innenseite hinauf ihrer Scham zu nähern.

Erwartungsvoll verharrte Tamora in ihrer gebückten Haltung auf den mittleren Treppenstufen. Sie hielt ihre Augen geschlossen und genoss die Liebkosungen in vollen Zügen.

Plötzlich trat der Unbekannte näher an sie heran. Sie registrierte, wie er seinen Unterleib gegen ihr Gesäß drückte, empfand den Griff seiner kräftigen Hände an ihren Brüsten und fühlte das zarte Kneten.

Tamora spürte, wie ihre Erregung zunahm und sie sich nichts sehnlicher wünschte als jeden Augenblick von ihm brutal genommen zu werden. Sie wollte ihn in sich fühlen, hart und ausdauernd.

Als der schweigsame Mann an seiner Hose zu nesteln begann, kam ihr ein fürchterlicher Gedanke.

Was, wenn er gar nicht mein Freund ist? Vielleicht ist ja einer meiner Nachbarn überraschend zurückgekehrt?

Sie dachte kurz darüber nach, ob sie sich nicht besser umdrehen und vergewissern sollte, mit wem sie es da zu tun hatte – entschied sich aber dagegen. Damit würde sie alles kaputt machen und die berauschende Magie des Augenblicks zerstören.

Im Haus gab es vier kleine Wohnungen. Tamora kannte jeden der Eigentümer.

Ich frage mich, wer von ihnen wohl über genügend Dreistigkeit verfügt, meine Situation derart schamlos auszunutzen? Wer sich da hinterrücks an mir zu schaffen macht ohne mich über den Irrtum aufzuklären?

»Bist du es, Schatz?«, erkundigte sie sich, bekam aber nach wie vor keine Antwort.

Trotz ihrer Unsicherheit rührte sie sich nicht vom Fleck und ließ es geschehen, dass der Unbekannte mit sanftem Druck ihre Schenkel zu öffnen begann. Gleich darauf presste er ihren Körper fest an sich heran und ließ seine Hände forsch in ihren Schritt gleiten. Ohne lange Umschweife schritt er direkt zur Tat.

Tamora wurde von einer Woge erotischer Erregung mitgerissen. Noch immer wusste sie nicht, mit wem sie es zu tun hatte, aber das war ihr in diesem Augenblick völlig egal. Jetzt wollte sie nur eines: seine Männlichkeit in sich spüren und die Wogen der Ekstase genießen.

Den unmittelbaren Eigentümer der Nachbarwohnung klammerte sie von vornherein aus. Mr. Chapman war ein 55-jähriger, verwitweter Beamter – viel zu penibel und korrekt, als dass er spontan eine derart verlockende Gelegenheit ausgenutzt hätte.

Obwohl, dachte sie, haben es nicht gerade diese stillen Typen faustdick hinter den Ohren?

Die Räume unterhalb ihrer Wohnung hatte ein katholischer Priester bezogen, und zwar einer von der modernen Sorte. In seiner Freizeit ging er ab und zu mal in Szenekneipen. Sie hatte ihn dort schon mehrfach gesehen. Natürlich war ihr bewusst, dass er als Geistlicher moralisch verpflichtet war, gewisse Bedürfnisse zu unterdrücken. Und dennoch waren derartige Begierden sicher auch bei einem Mann der katholischen Kirche vorhanden. Es lag also durchaus im Bereich des Möglichen, dass er es war, der in diesem Moment mit ihr ›sündigte‹.

Neben dem Pfarrer wohnte der 30-jährige Friseur Roger Dixon. Tamora hatte ihn noch nie zusammen mit einem Mädchen gesehen, doch sie war ihm schon des Öfteren in Begleitung eines jungen, gutaussehenden Mannes im Flur begegnet. Die unmittelbaren Nachbarn erzählten sich, die beiden hätten ein Verhältnis miteinander. Sie wusste nicht, ob dies dem Vorurteil geschuldet war, dass Männer jener Berufsgruppe grundsätzlich vom anderen Ufer waren. Letztlich war ihr das völlig egal. Sie empfand es keineswegs als anstößig, wenn jemand homosexuell war.

Aber kann ich ihn deswegen automatisch aus dem ›Kreis der Verdächtigen‹ ausschließen? Immerhin ist es nicht völlig auszuschließen, dass mein reizvoller Anblick in ihm plötzlich die wundersame Vorliebe für das weibliche Geschlecht erweckt hat, oder?

Sie lachte in sich hinein.

Denk nicht immerzu darüber nach, sagte sie sich, sonst bringst du dich noch um den größten Genuss deines Lebens. Wer immer es sein mag, er versteht es eine Frau glücklich zu machen.

Während sie noch ihre Vermutungen darüber anstellte, wer sich da an ihr zu schaffen machte, war der Mann dazu übergangen ihren Kitzler mit den Fingern zu stimulieren – und ihr lustvolles Stöhnen reflektierte im halbhoch gefliesten Hausflur. Nach und nach wurde sie lauter und sie dachte nicht mehr darüber nach, dass man es inzwischen wohl auch in den Kellerräumen hören konnte.

»Fick mich endlich!«, forderte sie ihn keuchend auf. Sie spürte wie es ihr bereits feucht an den Innenschenkeln hinunterlief. »Ich will deinen Schwanz in mir spüren!«

Der Mann drückte sein Becken jetzt noch fester gegen ihren Po. Sie fühlte den Druck, ehe sein Schwanz bis zum Anschlag in sie eindrang. Langsam näherten sie sich im Rhythmus an. Er nahm sie hart und fest, wie sie es mochte, mal schneller, mal langsamer und umspielte mit seinen Händen ihre Brüste.

»Los mach schneller, fester, härter!«, feuerte sie den Unbekannten an. »Ich brauche das! Besorge es mir, so als wäre es das letzte Mal! Fick mich! … Komm schon! … Schneller!«

Schon kurz darauf brachte er sie an den äußersten Rand körperlicher Lust.

Tamora stand kurz vor ihrem Orgasmus und auch ihr unbekannter Liebhaber schien es nicht mehr länger auszuhalten. Sie spürte ganz deutlich das heftige Pulsieren seines Schwanzes und wusste, dass er gleich abspritzen würde.

»Lass es kommen!«, flüsterte er ihr ganz leise ins Ohr. »Jetzt! Gemeinsam mit mir!«

Tamora machte sich nicht mehr die Mühe, zu versuchen, seine Stimme zu identifizieren. Stattdessen ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf …

Aber genau in der Sekunde, als sie einen Aufschrei der Lust in den Hausflur schreien wollte, wurde sie plötzlich und völlig unerwartet vom schrillen Läuten des Telefons aus dem Schlaf gerissen.

»Verdammte Scheiße!«, fluchte sie erwachend und jede gute Erziehung vergessend. »Muss das Telefon immer im schönsten Augenblick klingeln? Eine Minute noch, … und dieser Kerl hätte mich zur Explosion gebracht!« Sie seufzte. »Der war so ganz anders als mein Freund, mit dem schon lange nichts mehr läuft.«

 

***

 

 

Kapitel 2

 

Tamora nahm das Mobilteil ihres Telefons zur Hand und drückte auf das grüne Hörersymbol für die Gesprächsannahme. »Jaaaa …?«, sagte sie und suchte ein Gähnen zu unterdrücken.

»Du klingst ja noch ganz schlaftrunken. Jetzt sag nur nicht, dass ich dich geweckt habe«, entschuldigte sich die Anruferin. »Ich bin wirklich davon ausgegangen, du wärst schon längst aufgestanden.«

»Heute wollte ich mal ein, bis zwei Stunden länger liegen bleiben … Du hast mich gerade aus einem irre schönen Traum gerissen, May«, stellte Tamora leicht verärgert fest. Sie hatte die Stimme ihrer Freundin direkt erkannt, auch ohne dass May ihren Namen nannte. »Was hast du denn auf dem Herzen?«

»Ich wollte eigentlich nur wissen, ob du Zeit hast? Du hast mir doch aufgetragen, dass ich dich anrufen soll, wenn ›Sie‹ wieder da ist.«

Tamora überlegte kurz, aber ihr fiel nicht ein, worauf May gerade hinauswollte. »Was meinst du, May. Hilf mir mal auf die Sprünge.«

»Na, ich meine die Prostituierte, an der du Interesse hattest ... Du hast heute Morgen aber eine echt lange Leitung«, erwiderte May lachend.

»Ach, richtig! Stimmt ja, darüber haben wir gesprochen.«

»Ich war vor einigen Minuten mal kurz unten im Salon und da kam sie gerade herein … Also, ich meine, wenn du willst, dann kannst du ja hereinschauen. Ich habe ihr davon aber noch nichts gesagt. Weißt du, … sie ist etwas merkwürdig.«

»Mit einem Wort, du und deine Angestellten, ihr meidet sie, wenn es geht, oder?«

»Na, so kann man das nun aber auch nicht sehen. Immerhin verdienen wir ja gut an ihr. Dennoch hat sie es nicht gern«, stellte May fest.

»Was?«

»Dass man sich viel mit ihr unterhält. Ob du das jetzt immer noch machen willst, musst du selbst wissen. Ich habe mein Versprechen jedenfalls eingehalten und dich verständigt.«

»Weiß dein Mann eigentlich davon?«, erkundigte sich Tamora.

»Er hat nichts dagegen einzuwenden. Er meint, es sei ausschließlich deine Sache.«

Tamora dachte kurz nach. Zeit hätte ich ja, das wäre kein Hinderungsgrund. Soll ich wirklich hingehen oder es lassen?

»Sag mal, bist du noch da?«, meldete sich May nach einer Minute des Schweigens.

»Natürlich.«

»Und … was meinst du? Hast du es dir überlegt?«, erkundigte sich May voller Neugierde.

»Ja, einverstanden«, erwiderte Tamora entschlossen. »Ich werde gleich bei dir vorbeischauen.«

May lachte. »Du musst dich wohl erst überwinden?«

»Na ja, so ganz alltäglich ist das nicht.«

»Nun, wie auch immer … dann sag ich mal: bis gleich.«

»Ja, bis gleich.« Tamora beendete das Gespräch. Eine Weile starrte sie nachdenklich aus dem Fenster auf die Straße hinunter. Soll ich es wirklich machen? Hm, … Aber irgendwie bin ich mir selbst gegenüber dazu verpflichtet. Ist schon ein komisches Gefühl. »Ach, alles Quatsch!«, schimpfte sie sich plötzlich laut. »Jetzt sollte ich nicht mehr groß überlegen. Es ist doch letztlich ganz einfach. Mehr als Nein sagen, kann sie ja nicht … Also, … nur zu!«

 

*

Schnell hatte sie sich frisch gemacht, angezogen und etwas aufgehübscht. Mit ihrem Wagen fuhr sie in die Londoner Innenstadt. Schon seit einigen Jahren wohnte sie etwas außerhalb in ›Twickenham‹. Das hatte zwar den Nachteil eines etwa zehn Meilen längeren Anfahrtsweges, wenn sie in die City wollte, doch hatte sie dort die ständige lästige Parkplatzsuche, der Lärm und letztlich die wahnsinnig hohe Miete gestört. Als sie die hübsche Eigentumswohnung im Vier-Familien-Haus in der ›Pope’s Avenue‹ gefunden hatte, im Ortsteil ›Strawberry Hill‹, nahe dem Golf Club, war sie vor Freude in die Luft gesprungen.

Sie war ein eher naturverbundener Mensch und wäre es nach ihr gegangen, so hätte sie sich am liebsten irgendwo in der Wildnis, fernab jeder Zivilisation, vergraben. Sie träumte von einem kleinen Haus, guter Musik und ihrer Arbeit. Damit wäre sie schon glücklich gewesen, aber im Augenblick war all das nicht drin. Später einmal, in einigen Jahren, wenn es ihr finanziell besser ging, ja, dann wollte sie ihre Pläne verwirklichen.

Auch an diesem Morgen war sie beruflich unterwegs. Aber das verstanden die wenigsten aus ihrem Bekanntenkreis. Sie waren mehrheitlich der Ansicht, dass Tamora ihr Geld im Schlaf verdiente oder sich danach auf der Straße nur zu bücken brauchte. Dabei ging sie einem harten Job nach, nur wollte davon kaum einer etwas wissen:

»Du bist doch immer zu Hause und hast keinen Chef. Du kannst tun und lassen was du willst.«

»Ihr seid mir gut«, antwortete sie dann jedes Mal. »Na, eines Tages stelle ich ihn euch vor, dann werdet ihr staunen, weil auch ich einen Boss habe.« Nein, sie nahmen es ihr nicht ab. »Also ist eurer Meinung nach, nur derjenige ein schwer arbeitender Mensch, der morgens aus dem Haus geht und in einem Büro seine Brötchen verdient?«

»Ja.«

»Gut, was hindert mich daran anderswo, außerhalb meiner eigenen vier Wände, ein Büro einzurichten? Das wird sogar vom Fiskus anerkannt. Dann würde auch ich aus dem Haus gehen, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen.« Tamora amüsierte sich köstlich. Damit hatte sie alle in die Enge getrieben.

»Das ist noch immer ein Unterschied«, gaben einige zu bedenken.

»Seht ihr«, riefen andere fröhlich, »jetzt gibt sie endlich zu, dass sie es besser hat als wir.«

»In Manchem habe ich es tatsächlich besser. Ich bin keine Angestellte und in die korsetthaften Abläufe eines Betriebes eingeschnürt. Allerdings bekomme ich auch kein Weihnachts- oder Urlaubsgeld. Bei mir ist wirklich einiges anders. Bezahlter Urlaub? … Wenn ich Ferien machen will, dann verdiene ich nichts.« Warum muss ich nur gerade jetzt wieder daran denken?, fragte sie sich und grübelte darüber nach. Ach ja, richtig, ich bin beruflich unterwegs: in diesem Augenblick.

Eigentlich gab ihr Beruf sie niemals frei. Er war immer da. Andere Leute schlossen abends im Büro die Schubladen ab und hatten für viele Stunden ihre Ruhe – sogar geregelte Freizeit an den Wochenenden – und sie? Ich hätte niemals Schriftstellerin werden sollen, dachte sie spontan und fragte sich: Wie bin ich eigentlich dazu gekommen?

Sie wollte sich gerade weiter den Kopf darüber zerbrechen, als sie im letzten Augenblick Mays Einfahrt bemerkte. Gedankenversunken wäre sie beinahe an ihr vorbeigefahren. »Noch mal gut gegangen«, murmelte sie halblaut vor sich hin. »Ich sollte während der Fahrt nicht meinen Gedanken nachhängen.« Sie nahm ihre Handtasche vom Beifahrersitz, schloss den Wagen ab und schritt über die Stufen zum Haus hinauf.

May musste sie vom Fenster aus schon gesehen haben, denn noch bevor sie an der Tür läuten konnte, wurde ihr bereits geöffnet.

»Komm rein! Es ist wirklich eine Seltenheit, dich zu sehen. Du machst dich ganz schön rar«, begrüßte ihre Freundin sie mit einem strahlenden Lächeln.

»Weißt du …«, begann Tamora zögernd, »ich bin mir nicht wirklich sicher, ob es richtig ist, dass ich hergekommen bin.«

May war einer der wenigen Menschen, der sie verstand. »Verstehe mich nicht falsch. Ich klage ja gar nicht und bin schon mit den Brotkrümeln zufrieden, die ich von dir bekomme. Es ist einfach jammerschade, dass wir uns nur so selten sehen. Aber du weißt ja, ich habe auch immer sehr viel um die Ohren. Manchmal denke ich, ich muss meine Prioritäten ändern.«

»Du ahnst nicht, wie oft ich mir das auch schon gesagt habe«, nickte Tamora lächelnd. »Meinst du nicht, wir sollten lieber gleich nach unten gehen? Sonst ist sie am Ende noch weg und alles war vergeblich?«

»Da mach dir mal keine Sorgen«, meinte May schmunzelnd, legte Tamora einen Arm auf die Schulter und zog sie in den Flur. »Sie lässt sich gerade eine Dauerwelle legen und du weißt ja selbst, wieviel Zeit das in Anspruch nimmt. Weißt du was? Jetzt kommst du erstmal mit und ich mache uns einen ordentlichen Kaffee. Du kannst bestimmt einen brauchen, nachdem ich dich aus dem Schlaf gerissen habe. Du hattest sicher noch keinen, oder?«

»Stimmt, eine gute Idee«, erwiderte Tamora und folgte ihrer Freundin in die Küche.

»Sag mal, wann hast du denn das letzte Mal mit einer Prostituierten gesprochen?«, erkundigte sich May, während sie einen Kaffeepad in die Maschine einlegte und einen Becher auf die Tassenfläche stellte.

»Weißt du, das überlasse ich für gewöhnlich anderen, ich bleibe gern im Hintergrund. Zumeist recherchiere ich im Stillen von zu Hause aus. Das Internet ist eine echte Fundgrube. Außerdem habe ich eine umfassende Bibliothek, wie du ja weißt.«

»Ich verstehe, du willst unerkannt bleiben«, erwiderte May.

»Du weißt doch selbst, wie schnell sich die Leute das Maul zerreißen … Erst neulich habe ich wieder einen neuen Verehrer bekommen«, verriet Tamora ihr.

»Echt? Schon wieder?«, May lachte herzlich.

»Ja, tatsächlich! Diesmal ist es mein Postbote. Er wunderte sich, weil ich immer so viele Briefe von meinem Verleger bekomme. Da fragte er mich. Das Verlagshaus war ihm durch seine Frau bekannt, die wohl viel liest und deshalb wurde er aufmerksam.«

»Und was hast du gemacht?«

»Ach, ich habe ihm welche geschenkt, … Romane meine ich. Von den Freiexemplaren, die ich immer bekomme«, erwiderte Tamora.

»Auch von deiner ganz speziellen Serie?«, hakte May mit einem frechen Grinsen nach.

»Nein, natürlich nicht!«, gab Tamora lachend zurück. »Wo denkst du hin?! Ich bin doch nicht verrückt!«

»Warum nicht?«, setzte May herausfordernd nach. »So prüde bist du doch nicht.«

»Hat ja auch nichts mit Prüde sein zu tun«, entgegnete Tamora. »Ich will einfach nicht bekannt sein wie ein bunter Hund. Ich finde es schon schlimm genug, dass es dieser und jener weiß.« Sie sah ihre Freundin offen an. »Du weißt sehr genau, dass ich das nicht wirklich mag.«

»Warum eigentlich?« May erwiderte ihren Blick neugierig. »Ich glaube, wenn ich so schreiben könnte: Ich fände das schon ziemlich cool.«

»Ich schätze die blöde Fragerei nicht. Die Leute sollen mich schlicht in Ruhe lassen. Ich will einfach nicht über meine Arbeit erzählen. Es sind eh immer dieselben Fragen … und wenn ich es dann ausnahmsweise doch einmal mache, nimmt mir keiner die Schriftstellerin ab. Dieses wissende Lächeln nach dem Motto: du kannst ja viel erzählen! … Ach May, diesbezüglich hat sich nichts geändert.«

»Tja, wie man sich bettet, so liegt man, Süße!«

»Ich frage mich, was sie daran reizt?«, reagierte Tamora ein wenig verletzt, während May zwei große Pötte mit frischem Kaffee auf den Küchentisch stellte.

»Du, das kann ich dir erklären«, meinte sie dabei unbefangen.

»Ach, tatsächlich?« Tamora hob ihre Augenbrauen.

»Schau mal, … jeder Beruf lässt sich erlernen. Man macht entweder eine Lehre, so wie Liam und ich, oder studiert, wie dein Freund. Das ist es, was ich meine.«

»Soweit schon klar …«

»Und deine Schriftstellerei, die ist nicht wirklich erlernbar, oder etwa doch?«

Tamora überlegte, während sie leicht in den Kaffeepott pustete, um anschließend daran zu nippen. »Na ja, … dieses Talent hat man wohl einfach, oder auch nicht. Warum ich es habe, kann ich dir nicht sagen. Obwohl, natürlich kann man das grundlegende Handwerkszeug erlernen.«

»Betrachte es doch mal anders und sage dir, da ist eine Menge Neid im Spiel, und dass sie es dir deshalb madig machen wollen.«

Tamora dachte über Mays Worte nach. »Das mag vielleicht stimmen, aber wir sollten uns daran jetzt nicht festquatschen, sonst vergesse ich noch, warum ich eigentlich hier bin. Ich habe auch gar nicht so viel Zeit.«

»Das kenne ich von dir ja nicht anders. Aber ich muss mich auch sputen, gleich kommen die Kinder von der Schule zurück. Na komm, ich bringe dich nach unten.«

 

*

May betrieb mit ihrem Mann einen größeren, gutgehenden Friseur- und Kosmetiksalon Zu ihren Kunden gehörte auch eine Dame des horizontalen Gewerbes, die seit langem regelmäßig zu ihnen kam. Als May ihrer Freundin einmal beiläufig davon erzählt hatte, war Tamora direkt darauf angesprungen und hatte verlauten lassen, dass sie die Frau gern irgendwann einmal kennenlernen würde. May hatte ihr daraufhin zugesichert, anzurufen, wenn sie wieder im Laden wäre – und heute war es nun soweit.

Als sie ins Geschäft hinunterkamen wurde Tamora von Mays Mann Liam begrüßt. »Na, bist du mal wieder auf der Suche nach neuem Material?«, erkundigte er sich lächelnd.

»Ganz recht, Liam, bin ich«, erwiderte sie augenzwinkernd.

»Dann wünsche ich dir viel Erfolg.«

»Wo sitzt sie denn?«, mischte sich jetzt May fragend ein.

Liam deutete mit einer Handbewegung auf eine der hinteren Kabinen.

May und Liam Reynolds Geschäft war ein schicker, sehr modern eingerichteter Salon, aber dennoch hatten sie ein paar der alten Kabinen aus früheren Tagen beibehalten. Einerseits aus Sentimentalität, andererseits kamen sie damit dem Wunsch einiger Kundinnen entgegen, die es vorzogen etwas abgeschieden und für sich allein zu sein. Auf Nachfrage hatte eine ältere Dame einmal lächelnd geantwortet, dass es ihr unangenehm sei, wenn sie sich die Haare färben ließ und es alle wüssten. Schließlich müsse es ja nicht gleich von jedem in der Nachbarschaft breitgetreten werden.

Vor der besagten Kabine stand ein eleganter Paravent.

»Den macht sie immer zur Bedingung«, erklärte May.

»Und ich dachte, ihr macht das von euch aus«, bemerkte Tamora.

»Warum sollten wir?«, hakte May nach und sah ihre Freundin überrascht an.

»Na, zum Schutz der anderen Damen!«, reagierte sie mit einem breiten Grinsen. »Obwohl die ja nicht wirklich wissen können, was sie beruflich treibt.«

Alle Kundinnen saßen im Augenblick unter den Hauben. Sie konnten nicht hören, was gesprochen wurde.

May schob den Wandschirm etwas zur Seite. Ihr Mann hatte der Frau gerade eine Tinktur aufgetragen, die nun für einige Zeit einziehen musste.

Als sie May und Tamora in ihrer Kabine sah, setzte sie ein abweisendes und mürrisches Gesicht auf. Zwar kannte sie May, musste sich aber fragen, wer denn das andere Weibsbild sei und starrte sie entsprechend an.

In diesem Augenblick fühlte sich Tamora nicht recht wohl in ihrer Haut. Nicht, weil sie wusste, auf welche Weise diese Frau ihren Unterhalt bestritt, sondern aus einem ganz anderen Grund: Sie versetzte die Frau in eine peinliche Lage und brach in ihre Welt ein – eine Welt, die sie nichts anging.

May hatte den ungehaltenen, ja fast schon verärgerten Blick ihrer Kundin sofort bemerkt und reagierte schnell: »Chloe, ich möchte Ihnen meine Freundin Tamora vorstellen.«

»Und warum? Will sie mich wie ein Tier im Zoo begaffen?«, reagierte die Frau abweisend und warf May einen zornigen Blick zu. »Wenn das jetzt hier zu einer neuen Gepflogenheit wird, bin ich das letzte Mal hier gewesen.«

May war rot angelaufen. Jetzt wechselte ihre Gesichtsfarbe und sie wurde blass. »Nein, nein!«, erwiderte sie hastig. »So ist das doch gar nicht gemeint, Chloe! Darf ich es bitte erklären?«

Tamora hielt sich schweigend im Hintergrund. Chloe sah sie boshaft an. »Da bin ich aber gespannt!«, grollte sie. »Will sie vielleicht ein Autogramm von mir?« Dabei lachte sie abfällig. »Nackfotos zum signieren habe ich leider nicht zur Hand!«

»Nein, … meine Freundin ist Schriftstellerin, und würde Sie gern kennenlernen.«

»Ach, nein!« Für einen kurzen Augenblick trat auf Chloes Gesicht ein Ausdruck der Verblüffung. Dann sah sie Tamora mit einem spöttischen Blick von der Seite an.

»May, ich glaube, ich komme jetzt ganz gut allein zurecht«, schaltete sich Tamora ein. »Wenn du nur noch so lieb wärst, mir einen Stuhl zu bringen?«

»Ja, sicher.« May wandte sich ab und verschwand.

Chloe sah Tamora immer noch abweisend an. »Ich kann mich nicht erinnern schon Ja gesagt zu haben«, knurrte sie bissig. »Ich habe echt kein Interesse!«

»Das kann ich durchaus verstehen«, antwortete Tamora ruhig, »aber vielleicht geben Sie mir dennoch eine Chance?«

May war mit einem Stuhl zurück, schob ihn ihrer Freundin zurecht und zog sich zurück, nicht ohne die spanische Wand direkt wieder an ihren vorherigen Platz zu schieben.

»Jetzt werden die Ehehuren da hinten aber ihre Ohren weit aufsperren!«, meinte Chloe verächtlich.

»Das denke ich nicht«, erwiderte Tamora lächelnd. »Die sitzen doch alle unter ihren Hauben und können nichts von dem hören, was hier gesprochen wird. Abgesehen davon sieht man Ihnen doch gar nicht an, was Sie beruflich machen.«

»Was willst du eigentlich von mir? Brauchst du vielleicht Ratschläge, weil du selbst auf den Strich gehen willst?«, reagierte sie mit scharfem Unterton, ohne auf Tamoras Einwand einzugehen. »Soll ich dir ein paar Tipps geben?«

Tamora musterte die junge Frau eingehend, aber nicht aufdringlich. Sie mochte kaum älter als fünfundzwanzig sein, vielleicht sogar gleich alt – war modisch elegant gekleidet und hatte eine beneidenswerte Figur. Sie selbst hielt sich nicht für unattraktiv, aber sie beneidete Chloe um ihre Silhouette. Auch wenn sie nicht unzufrieden mit sich sein musste. Dazu gab es keine Veranlassung, denn alle bescheinigten ihr, eine äußerst attraktive Figur zu haben. Tamora schätzte sie auf etwas über fünfeinhalb Fuß. Sie hatte wohlgeformte, lange schlanke Beine, mittelgroße Brüste, eine schmale Taille und eine mittelbreite Hüfte. Alles an ihr war in sich stimmig und wirkte äußerst harmonisch. Ganz sicher kam sie in der Männerwelt gut an.

»Ich schreibe erotische Romane. Recht erfolgreich, … zumindest bescheinigt mir das mein Verleger, wohl aufgrund der Absatzzahlen ...«, begann Tamora und lächelte gewinnend.

»Das soll jetzt wohl ein Scherz sein, oder?«

»Weshalb?«, reagierte Tamora und sah sie irritiert an.

»Na, komm schon, Kleine … Wo habt ihr die Kamera versteckt?«

»Aber es stimmt wirklich«, beteuerte Tamora.

Chloes Lachen verstummte auf der Stelle. Aufmerksam sah sie Tamora an. »Dann betreibst du wohl gerade eine Recherche für ein neues Buch, oder wie habe ich das zu verstehen?«

»Wenn Sie so wollen: Ja! Ich suche nach einem neuen Ansatz. Irgendwie ist die Geschichte schon in meinem Kopf, aber nachdem ich mich bisher immer auf Angaben Dritter verlassen habe … Ich denke, es wird Zeit einmal direkt an die Quelle zu gehen.«

Chloe wirkte noch immer ein wenig überrascht. »Und was glaubst du, kann ich dir Besonderes erzählen, was du dir in deinem hübschen Köpfchen nicht selbst zusammenreimen könntest?«, erkundigte sie sich mit einem spöttischen Unterton. »Gibt es nicht eh schon genug Bücher über das Milieu? Soweit ich mich erinnere, lief vor einiger Zeit sogar eine Dokumentation im ›Discovery Channel‹ … ist noch gar nicht lange her.«

»Um diese Art Informationen geht es mir nicht«, widersprach Tamora.

»Um welche geht es dann?«

Tamora schluckte, bevor sie ihre Frage stellte. »Wäre es indiskret, wenn ich Sie bitten würde, mir ein wenig aus Ihrem Leben zu berichten? … Ich meine, darüber wie alles angefangen hat.«

»Und dann willst du darüber schreiben?«

»Vielleicht«, meinte Tamora und lächelte. »Ich bin mir noch nicht sicher, was ich damit anfangen werde. Aber vermutlich: ja.«

Jetzt schenkte ihr Chloe ein gutmütiges Lachen. »Auf den Romanen steht aber sicher nicht dein richtiger Name, oder?«

»Sie meinen ein Pseudonym? … Nein, so etwas verwende ich nicht. Alles was ich schreibe, kann ich auch vertreten. Haben Sie denn hier im Salon Ihren richtigen Namen angegeben?«

»Nein, wie käme ich auch dazu«, entgegnete Chloe. Wieder glitzerte es in ihren Augen. »Hör mal, Mädchen, du bist anscheinend nicht auf den Mund gefallen. Das gefällt mir. … Du bist erfrischend anders. Wenn ich die anderen Frauen hier sehe, die bekommen doch sofort Stielaugen, wenn ich den Salon betrete. Ich kann an ihren Gesichtern gleich ablesen, was in ihren Köpfen vorgeht. Sie kommen fast um vor Neugierde. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie säuerlich sie reagieren, wenn ich mir den Wandschirm aufstellen lasse.« Für einen kurzen Augenblick huschte ein verächtlicher Ausdruck über ihr Gesicht. »Wenn sie käufliche Ware sehen wollen, dann sollen sie sich doch einfach den Straßenstrich anschauen. Aber dafür reicht ihr Mut dann wohl am Ende nicht aus … Vielleicht ist es ja auch ihre heimliche Angst, den eigenen Göttergatten dort anzutreffen.« Chloe ließ ein angenehmes, aber herablassendes Lachen hören.

Tamora wollte etwas erwidern, wurde aber schon im Ansatz unterbrochen, denn in diesem Augenblick betrat eine von Mays Angestellten die Kabine. »Ich müsste jetzt die Haare ausspülen«, stellte die Mitarbeiterin freundlich fest.

»Nur zu«, entgegnete Chloe knapp.

Tamora erhob sich, schob ihren Stuhl ein wenig beiseite und blieb in der Nähe stehen. Sie ließ Chloe nicht aus den Augen und überlegte, was so Seltsames, so Anziehendes an ihr war. Wenn Sie nicht gewusst hätte, dass hier eine Prostituierte vor ihr saß, sie würde Chloe für eine moderne, erfolgreiche und aufgeschlossene junge Frau gehalten haben. Da war etwas an ihr, das sie im Augenblick nicht zu beschreiben verstand. Verwundert darüber fragte sich Tamora, ob das einfach an ihrem Wissen lag, dass sie dem horizontalen Gewerbe nachging.

Aber auch Chloe betrachtete sie neugierig.

Tamora war völlig in ihre Gedanken versunken. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass Mays Angestellte mit dem Auswaschen der Haare schon fertig geworden war. Chloe musste sie schon eine Weile beobachtet haben.

»Wie lange dauert das denn noch?«, pflaumte sie die rothaarige Friseurin an.

»Eine knappe Stunde. Sie wissen das doch.«

Unzufrieden über die Antwort rümpfte sie die Nase.

Tamora wusste, dass Chloe gleich unter die Trockenhaube kommen würde, was eine vernünftige Unterhaltung ziemlich unmöglich machte.

Dasselbe schien auch ihr Gegenüber gedacht zu haben. »Du interessierst mich«, sagte sie plötzlich frei heraus.

Tamora war aufgefallen, dass Chloe alle sehr vertraulich anredete, aber es störte sie nicht im Mindesten. »Ja? … Das freut mich.«

»Wir sollten uns einmal näher über dein Projekt unterhalten. Vielleicht kann ich ja tatsächlich etwas dazu beitragen.«

Tamora lachte unwillkürlich. Du scheinst den Spieß umdrehen zu wollen, dachte sie. So habe ich mir das aber nicht vorgestellt.

Chloe warf einen beiläufigen Blick auf die kostbare Armbanduhr, die ihr zartes Handgelenk schmückte.

»Hör mal: wenn ich hier fertig bin, dann setzen wir uns zusammen. Einverstanden?«

Tamora überlegte kurz.

»Ah, du traust dich anscheinend nicht so recht, wie?«, schmunzelte Chloe, als sie nicht direkt zustimmte.

»Das ist es nicht. Ich bin gerade gedanklich meinen Terminplan durchgegangen und habe überlegt, ob ich heute noch so viel Zeit habe. Der Anruf meiner Freundin kam sehr überraschend.«

»Na, dann überlege du mal in aller Ruhe. Ich bin ja noch ein gutes Weilchen hier.«

 

*

Tamora verließ die Kabine und lief im Salon ein wenig auf und ab, bis May wieder zum Vorschein kam.

»Und? … Hast du schon etwas in Erfahrung bringen können?«, erkundigte sich May bei ihrer Freundin und sah sie neugierig an.

»Nein, noch nichts. Dafür ist es auch viel zu früh. Es braucht schlicht mehr Zeit, … auch um miteinander warm zu werden.«

»Ach, wie schade«, seufzte May. »Dann hast du dir den Weg also ganz umsonst gemacht?«

»Nein. Chloe will nachher noch mit mir reden.«

»Hier im Salon?«, fragte ihre Freundin erstaunt.

»Ganz bestimmt nicht«, lachte Tamora. »Da wird es schon eine andere Möglichkeit geben. Es interessiert mich ja wirklich, was sie zu sagen hat. Bestimmt hat sie eine Menge zu erzählen und ich habe natürlich irre viele Fragen. Wann hat man schon einmal die Möglichkeit alles aus erster Hand zu erfahren?«

»Meinst du? Ich dachte immer, darüber sei alles im Internet nachzulesen. Inzwischen haben einige der Mädchen doch sogar schon ihre Lebensbeichten veröffentlicht.«

»Stimmt, … aber direkt von der Quelle ist das eben doch was anderes«, beharrte Tamora.

»Hast du denn überhaupt soviel Zeit?«, wollte May wissen.

»Zeit oder nicht Zeit, ja, das ist die Frage«, verulkte Tamora ein Shakespeare-Zitat und schmunzelte. »In diesem Fall muss ich mir die Zeit einfach nehmen und ich nehme sie mir gern. Eine Chance wie diese kommt nicht so schnell wieder. Außerdem scheint mir unter ihrer rauen Schale eine ganz sensible Frau zu stecken, die es nicht leicht im Leben hatte.«

»Na, dann trinken wir oben solange noch einen Kaffee und quatschen etwas«, meinte May und legte Tamora freundschaftlich einen Arm um die Hüfte.

»Okay. Ich sage ihr nur schnell Bescheid.« Sie löste sich aus der Umarmung und huschte am Sichtschutz vorbei in die Kabine zurück.

Chloe hatte jetzt einen feuchten Wuschelkopf und sah irgendwie lustig aus. »Sieht irre gut aus, oder? Echt der letzte Schrei! Da braucht es gar nicht mehr viel, … nur noch etwas schneiden«, grinste die Prostituierte sie an.

»Mir würde das sicher nicht stehen«, meinte Tamora lachend.

»Und warum nicht? Du hast doch schönes langes Haar … Man muss schließlich alles Mal ausprobieren. Und, … wie sieht es mit dir aus?«

»Ich habe Zeit und bin pünktlich zur Stelle«, bestätigte sie lächelnd.

»Na, also! Das nenne ich ein Wort!«

Tamora lächelte ihr noch einmal zu und verschwand dann mit May wieder eine Etage höher.

Als eine halbe Stunde später Mays Kinder nach Hause kamen, konnte sie mit ihrer Freundin kein offenes Gespräch mehr führen. Ihr war das sogar recht, denn sie wollte noch einmal gründlich die Fragen durchgehen, die sie Chloe zu stellen gedachte.

So verging die Zeit viel schneller, als sie erwartet hatte.

 

***

 

 

Kapitel 3

 

Der hausinterne Anschluss klingelte. May nahm den Anruf an. Gleich darauf drehte sie sich zu Tamora um und sagte: »Chloe ist fertig. «

»Na, dann will ich mal zur ihr hinuntergehen.« Sie griff nach ihrer Handtasche und verabschiedete sich noch von den Kindern.

»Ich wünsche dir viel Spaß«, grinste May.

»Danke. Werde ich haben.«

 

*

Tamora fand Chloe wartend vor dem Friseursalon. Sie betrachtete sie und musste sich eingestehen, dass sie umwerfend aussah. Sie trug ein dunkelblaues tailliertes Kleid von Armani in Minilänge. Es war schlicht, dafür aber äußerst elegant und schien wie für sie gemacht. Hinzu kam ein kurzes passendes Jäckchen und Pumps in gleicher Farbe. Ihr Make-Up war ebenso dezent, wie die schlichte Halskette und die Ohrringe. Alles in allem machte sie mit ihrer unauffälligen Handtasche den Eindruck einer erfolgreichen Geschäftsfrau.

»Ist May deine Freundin?«, erkundigte Chloe sich wie beiläufig.

»Ja. Wir kennen uns schon eine gefühlte Ewigkeit«, erwiderte sie und erblickte das knallrote Mercedes-Cabriolet.

»Na, dann fahr mal mit deinem Wagen hinterher«, meinte Chloe und sah sie grinsend an.

Tamora nickte sprachlos.

 

*

Etwa zwanzig Minuten später hielten sie vor einer vierstöckigen Wohnanlage. Rundherum war ein völlig neues Viertel entstanden und Tamora musste sich eingestehen, noch nie in dieser Gegend gewesen zu sein. Neugierig sah sie sich um.

»Wenn ich dich jetzt mitnehme, gehe ich davon aus, dass du schweigen wirst«, stellte Chloe fest.

»Wohin soll ich mitgehen?«, fragte sie verunsichert.

»In meine Wohnung selbstverständlich«, lächelte Chloe. »Was hast du denn gedacht?«

»Keine Ahnung«, gestand sie. »Ich bin wohl eher davon ausgegangen, wir gehen in ein Café.«

»Ach, wozu denn«, meinte Chloe mit einer abwinkenden Geste. »Tee oder Kaffee kann ich selbst machen. Außerdem ist es viel ungezwungener, … man kann besser frei sprechen, ohne lästige Zuhörer.«

Tamora fühlte sich jetzt nicht mehr ganz wohl in ihrer Haut. Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit. Doch sie hatte zugesagt und konnte nicht mehr zurück. Inzwischen hatte Chloe sie in den Hausflur gezogen und den Knopf am Fahrstuhl gedrückt.

»Im Haus hat keiner eine Ahnung, von dem was ich beruflich mache und das ist auch gut so. Hier lebt jeder für sich und kaum einer kennt den anderen. So etwas kann von Vor-, aber auch von Nachteil sein«, erklärte sie. »Und weil du es auf dem Türschild eh lesen kannst … Mein richtiger Name ist Violett.«

 

*

Wie sich herausstellte, hatte Violett ihre Wohnung in der vierten Etage – Räumlichkeiten, die es in sich hatten.

Die junge Prostituierte hatte ihr den Vortritt gelassen, war hinter ihr im Türrahmen stehen geblieben und musterte sie eindringlich. »Ja, das hast du wohl nicht erwartet, wie?«, schmunzelte sie.

Tamora drehte sich einmal langsam um ihre Achse und besah sich alles sehr genau. »Nachdem ich schon den Sportwagen bewundern durfte, habe ich mit einigem gerechnet … Ich muss gestehen, Sie haben einen ausgezeichneten Geschmack«, bemerkte sie lächelnd. »Farblich alles Ton in Ton und dazu diese wundervollen weißen Möbel. Es ist alles so hell. Besonders der farbenfrohe Klecks mit der Sitzgarnitur ist ein fabelhafter Akzent … Gefällt mir, … sehr schön, wirklich!«

»Davon habe ich immer geträumt«, erklärte Violett nicht ohne einen gewissen Stolz.

»Aber das will auch jeden Tag geputzt werden«, warf Tamora ein.

»Hast du keine Reinigungskraft?«, erwiderte sie mit einem verschmitzten Zug um den Lippen.

»Kann ich mir nicht leisten«, gestand Tamora, die, noch immer zögernd, inmitten des Salons stand.

»Du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Hier gibt es keinen Zuhälter oder dergleichen, der zuschlägt und dich rauswirft. Falls du davor Angst haben solltest.«

»Nein«, erwiderte sie hastig, auch wenn ihr dergleichen gerade durch den Kopf gegangen war.

Violett schien sich köstlich zu amüsieren. »Wenn mir das mal einer gesagt hätte, dass ich freiwillig eine anständige Frau einlade, also ehrlich, den hätte ich schallend ausgelacht.«

Violetts Lachen wirkte ansteckend und sorgte auf angenehme Weise dafür, dass Tamoras Anspannung nachließ. Diese Prostituierte ist schon eine komische Nudel, dachte sie. In einem Augenblick macht sie auf vornehm und im nächsten hat sie ein loses Mundwerk.

Violett war aus ihren hochhackigen Pumps geschlüpft und hatte sie lässig mit den Zehen in eine Ecke des Raumes befördert. Dann hatte sie sich in einen, der zum rotem ›Big Sofa‹ gehörenden Sessel gesetzt, die Beine angezogen und es sich bequem gemacht.

Wieder einmal betrachtete Tamora Violett eingehend, wie sie sich da so vor ihr räkelte. Sie ist ein bezauberndes Wesen. Alles an ihr ist perfekt. So wie sie, will wohl jede von uns sein, ging es ihr durch den Kopf. Sie ist eine wahrhaft außergewöhnlich schöne Frau. Sie wollte schon eine erste Frage loswerden, die ihr fertig auf der Zunge lag, als sie diese wieder herunterschluckte. Vermutlich wird sie es hassen, wenn ich sie danach frage, wie alles angefangen hat, dachte sie. Ich möchte ja schließlich auch nicht laufend gefragt werden, wie ich das mit dem Romane schreiben mache oder woher ich die Inspiration hernehme und ob ich einmal genau das erleben möchte, was meine weiblichen Figuren in den Geschichten an Sex ausleben.

»Ich werde uns beiden jetzt einen Tee machen … oder möchtest du etwas anderes?« Violett hatte sich erhoben und sah sie lächelnd an.

»Tee wäre nicht schlecht. Kaffee habe ich eben schon bei May bekommen.«

Mit den gleitenden Bewegungen einer Katze verschwand Violett in einem angrenzenden Raum, von dem Tamora vermutete, dass sich dort die Küche befand. Es ist einfach eine Freude, ihr zuzusehen, dachte sie. Sie weiß genau um ihre Reize. Es besteht kein Zweifel, dass sie Männer wie ein Magnet förmlich nur so anzieht. »Darf ich mir alles ansehen?«, erkundigte sich Tamora bei ihrer Gastgeberin.

»Ja, mach du mal«, kam es fröhlich aus dem Nebenzimmer zurück.

Der ungewöhnlich große Flachbildschirm fiel Tamora sofort ins Auge und auch der wundervolle Sekretär im ›Vintage-Look‹. Was sie aber weitaus mehr faszinierte, war das wertvolle Porzellan in einer Anrichte im Landhausstil. Sie kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sicher, ich habe auch schon über recht erfolgreiche Huren geschrieben, doch kennengelernt habe ich noch keine. Dann entdeckte sie Bücher und ihre Augen flogen über die Rücken. Neben Lyrik von Elizabeth Browning, Gerard Hopkins, Christina Rossetti und Alfred Tennyson, standen Dramen von Henry Jones, Arthur Pinero und Oscar Wilde. Es folgte Epik von Thomas Hardy, den Bronte-Schwestern, Charles Dickens, Elizabeth Gaskell und William Thakeray. Eine komplette Shakespeare-Ausgabe fand sich neben Bänden von Tolstois ›Anna Karenina› und ›Krieg und Frieden‹. Es war eine Auswahl, wie sie Tamora bei einer Frau wie Violett niemals erwartet hätte. Behutsam hatte sie eine Erstausgabe von Edgar Allan Poes ›Aventures d’Arthur Gordon Pym‹ in französischer Übersetzung von Charles Baudelaire in die Hand genommen und blätterte in Gedanken versunken darin.

»Ja, man mag es kaum glauben, aber ich kann sogar lesen und habe es auch getan«, bemerkte Violett fast trotzig. Ohne dass es Tamora bemerkt hatte, war sie in den Salon zurückgekehrt, »sogar auf Französisch.« Sie kam auf Tamora zu und nahm ihr das Buch aus den Händen. »Ah, der Albatros. Das mag ich ganz besonders … Souvent, pour s'amuser, les homme d'equipage prennent des albatros, vastes oiseaux des mers, qui suivent, indolents compagnons de voyage, le navire glissant sur les goufres amers.« Sie klappte das Buch zu und stellte es zurück. »Oft zum Zeitvertreib fangen die Seeleute sich Albatrosse ein, jene mächtigen Meervögel, die als lässige Reisegefährten dem Schiffe folgen, wie es auf bitteren Abgründen seine Bahn zieht.«

»Du musst mir nichts beweisen«, meinte Tamora betreten. »Ich habe das nie behauptet. Ich staune halt nur über die ungewöhnliche Zusammenstellung.«

»Und dennoch hast du mir das alles nicht zugetraut, weil ich aus ganz einfachem Hause komme! … Ist doch so, oder?«

»Es ist eben sehr ungewöhnlich«, gestand Tamora und nickte. »In einem Roman würden es meine Leser als überzogen betrachten … völlig an ihrer vermeintlichen Realität vorbei.«

»Ich bin dir nicht böse«, erwiderte Violett. »Auf den überwiegenden Teil von uns, trifft es ja auch zu … Aber so wie die, wollte ich nie sein.« In ihren Augen funkelte es. »Wenn meine alten Herrschaften das alles jetzt sehen könnten, sie würden es nicht für möglich halten. Ich habe es geschafft, … bin ganz oben. Alles ist bar bezahlt, auch die Wohnung, der Sportwagen … und Bildung habe ich mir auch beigebracht. Du glaubst gar nicht, wie oft ich dadurch lukrative Aufträge bekomme … Escort-Service für hohe Tiere, wenn sie in London verweilen.«

»Ihre Eltern sind tot?«, erkundigte sich Tamora zögernd.

»Wir sollten nicht so förmlich sein, meinst du nicht auch? Das machen sogar die Beamten von der ›Metro Police‹«, schlug Violett vor, ohne die Frage zu beantworten.

»Gern. Ich wollte nur nicht unhöflich sein«, entschuldigte sich Tamora.

»Du bist schon recht eigenartig«, schmunzelte die junge Prostituierte. Dann huschte sie barfüßig in die Küche zurück, holte Geschirr und brachte den Tee. »Also …«, begann sie, während sie einschenkte, »du bist gekommen, um mich auszuquetschen. Nun, … dann lass uns doch gleich damit anfangen.« Sie lächelte Tamora herausfordernd an. »Aber … ich will im Gegenzug auch etwas von dir wissen, klar?«

Tamora erwiderte ihr Lächeln und setzte sich in den freien Sessel.

»Ich mache es dir leicht«, fing Violett an und nippte einmal kurz an dem noch sehr heißen Tee. »Um mal mit meinen Eltern anzufangen: Nein, die sind noch nicht tot. Das wäre mir wohl kaum entgangen. Allerdings bin ich nicht so blond ihnen meine Adresse zu geben. Die würden wie Schmarotzer meine Wohnung belagern. Mein Vater ist Alkoholiker, … laufend betrunken, und das Milieu, in dem er lebt, kannst du dir ja ausmalen.« Sie warf Tamora einen forschenden Blick zu. »Das passt vermutlich genau in dein Bild, oder?«

Tamora zuckte unbeholfen die Achseln.

»Wie auch immer«, fuhr Violett direkt fort. »Es ist ja nicht nur mein Vater, der säuft, meine Mutter tut es ihm gleich. Und natürlich gehen beide auch nicht arbeiten. Sie lassen sich von der Fürsorge aushalten.« Sie strich sich mit einer Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »So wollte ich nicht leben und deshalb habe ich mich zeitig auf die Socken gemacht. Kannst du das verstehen?«

Tamora nickte. »Waren deine Eltern denn schon immer so?«, wollte sie wissen.

Violett schüttelte ihre langes rotes Engelshaar. Sie hatte ihre wohlgeformten Beine jetzt auf dem Sofa ausgestreckt und lehnte sich entspannt gegen das Polster. Offensichtlich machte es ihr nichts aus, dass ihr teures Kleid dabei zerknautschte und Tamora einen recht freizügigen Einblick gewährte.

»Nein. Sie haben nicht immer in einer Absteige am Rande der Gesellschaft gelebt. Inzwischen ist die Wohngegend zu einem echten Getto verkommen, wo keiner mehr rauskommt und erst recht keiner hinwill. Wer dort einmal gelandet ist, wird von der Allgemeinheit vergessen. Und verdammt, niemand sollte jemanden vergessen … keiner sollte das!«, wiederholte sie mit Nachdruck. »Im Leben kann jeder abstürzen, aus welchem Grund auch immer, und viele schaffen es eben nicht aus eigener Kraft wieder auf die Füße zu kommen!« Violett hatte sich so darüber erregt, dass sie eine Weile kein Wort mehr herausbrachte. Sie erhob sich, ging zur Anrichte, holte Zigaretten aus einer Schublade hervor und bot Tamora eine an, die dankend ablehnte. »Meine Eltern waren einfach zu schwach. Mein Vater ist gelernter Schlosser und meine Mutter, … die wollte immer hoch hinaus. War schon ein echter Spleen bei ihr. Ich kann das vielleicht schlecht erklären, aber sie strebte einfach nach mehr, … mehr als eben erreichbar für sie war«, erzählte Violett. »Ihr ging es immer darum mehr als die Nachbarn, Freunde und Verwandten zu haben. Mein Vater muss sich dafür tot geschuftet haben, um all ihre Wünsche zu befriedigen. Vielleicht wäre ja auch alles gut gegangen, aber plötzlich kamen sie nicht mehr klar, und dann passte auch so einiges Anderes nicht mehr in den Rahmen.« Sie nahm einen Zug von ihrer Zigarette und klopfte etwas Asche ab. »Sie konnten nämlich den Kindersegen nicht verhindern.«

Tamora schaffte es nicht sich ein leichtes Schmunzeln zu verkneifen.

»Ja, da schmunzelst du, aber das stimmt wirklich. Das Thema Verhütung haben die beiden anscheinend nie richtig verstanden, dafür waren sie offensichtlich zu doof. Keine Ahnung, was daran so kompliziert ist.« Sie nahm einen weiteren Zug von ihrer Zigarette und versuchte den Rauch zu einem Kringel zu formen. »Als sie dann vier von uns hatten, reichte das Geld vorn und hinten nicht mehr. Sie begannen auf Raten zu kaufen, kamen ihren Verpflichtungen nicht mehr nach und nahmen Nebenjobs an. Hat aber alles nichts gebracht. Mein Vater zog sich von der Familie zurück, reagierte ansonsten recht aggressiv und wir Kinder hatten nie einen Penny Taschengeld. Wer Geld von ihm zu bekommen hatte, ließ direkt pfänden. Das hat ihn fix und fertig gemacht. Tja, … und dann fing er eines Tages mit dem Trinken an. In gewisser Weise kann ich ihn sogar verstehen. Er hat sich sein Leben ganz sicher auch anders vorgestellt.« Violett drückte ihre Zigarette aus und nahm einen Schluck Tee. Dann fuhr sie fort und erzählte Tamora, wie sich die Trinkerei ihres Vater zunehmend verschlimmert hatte und von den immer häufigeren, handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen ihm und ihrer Mutter. Erst noch im Haus, vor den Blicken der Nachbarschaft verborgen, später dann sogar in aller Öffentlichkeit auf der Straße. Irgendwann war es zur Kündigung der Wohnung gekommen, weil sich die Mietrückstände zu einer beachtlichen Summe aufgetürmt hatten. Niemand hatte Mitgefühl für die abgewirtschaftete Familie mit vier Kindern gezeigt, deren Mutter zu diesem Zeitpunkt obendrein in anderen Umständen war. Ihre Stimme hatte einen traurigen und verbitterten Klang angenommen. »Man hat uns daraufhin irgendwo untergebracht. Damit hatte der endgültige Abstieg begonnen, in eine Sackgasse, aus der es keine Rückkehr mehr gab, weil sich niemand wirklich die Mühe machte, die Ärmel hochzukrempeln, um bei einer Schuldensanierung oder Ähnlichem zu helfen.« Sie griff erneut zu den Zigaretten. »Vielleicht hätten es meine Eltern noch schaffen können«, sagte sie leise, »aber nichts passierte … Mir selbst wurde die Kindheit gestohlen. Ich musste die Verantwortung für meine jüngeren Geschwister übernehmen. Zeit für Schule und Hausaufgaben hat es kaum gegeben. Mit dem Abstieg musste ich auch die Schule wechseln. Glaube nur nicht, dass ich dort Anschluss gefunden hätte. Ganz im Gegenteil … ich war den Übergriffen meiner Mitschüler ausgesetzt.« Ihre Stimme bebte ein wenig, als sie eingestand, dass sie insbesondere die psychische Gewalt als extrem schlimm empfunden hatte. »All, das kümmert mich schon lange nicht mehr«, erklärte sie und ihre Stimme hatte wieder einen festen Klang. »Ich will dir was sagen: Wenn ich lese, dass man Kinder heute laufend zu Psychologen schleppt, weil sie sonst einen Schaden für das Leben davontragen könnten, dann frage ich mich, warum für mich nie einer dagewesen ist?« Sie nahm einen Schluck Tee. »Bei uns hieß es nur, zeig endlich mal Ellenbogen, fang an dich zu wehren. Nicht gerade einfach für ein Mädchen, meinst du nicht auch? Und wenn man nicht fein mit der Meute heulte, dann war man gleich der Außenseiter. Man wurde förmlich dazu gemacht. … Nur immer schön Pfötchen geben, alles mitmachen, dann war man für die anderen in Ordnung. Dann waren sie stolz auf dich. Aber in Wirklichkeit waren es doch alles nur Schleimscheißer, Drückeberger, die längst ihr Rückgrat verloren hatten.« Inzwischen hatte sie aufgeraucht und drückte den Stummel ihrer Zigarette im Aschenbecher aus. »Es kotzt mich einfach an, wenn ich das höre.«

»Und was hast du gemacht?«, fragte Tamora.

»Ich habe natürlich aufgemuckt! Habe geschrien und gefragt, wie ich das alles unter einen Hut bekommen soll? Das mit meinen Geschwistern, die mich gehasst haben, weil ich Mutter und Vater ersetzen sollte, oder mit meinen Eltern, die mich zum Diebstahl angehalten haben! Meinem damaligen Lehrer ist förmlich die Kinnlade heruntergefallen!« Sie lächelte gequält. »Gleich am nächsten Tag kamen auch schon Beschwerden … Ja, du hörst richtig … man beschwerte sich über mich! Anstatt, dass sich der Lehrer mal Gedanken gemacht hätte, wie er mir helfen könnte, hat er sich an meine Eltern gewandt: ich sei für die Klasse untragbar geworden und würde die Atmosphäre vergiften!« Violett hatte sich aufgesetzt und goss sich etwas Tee nach. »Tja, so ist das eben mit der Chancengleichheit! Ich wurde zum Prinzipal gerufen und es wurde mir nahegelegt die Schule zu verlassen.« Violett lächelte Tamora an, griff ein weiteres Mal zum Päckchen Zigaretten und zündete sich erneut eine an. Ein verbittertes Lachen kam ihr über die Lippen. Es war unverkennbar, wie sehr sie die Erinnerungen an ihre Vergangenheit aufwühlten. »Schulpflicht!«, meinte sie bissig. »Den Gefallen habe ich ihnen aber nicht getan. Ich sollte die Schule abbrechen. Gehustet habe ich denen was! Jeden Tag bin ich brav hingegangen, obwohl mich mein Vater deswegen regelmäßig geprügelt hat, denn der wollte, dass ich arbeiten gehe, um die Familie zu unterstützen. Ich sollte putzen oder als Packerin ans Fließband.«

Tamora nahm einen Schluck von ihrem Tee. Einerseits wollte sie Violett einige Fragen stellen, andererseits aber auch nicht unterbrechen und so hörte sie ihr einfach nur aufmerksam zu.

»Jedenfalls habe ich alle zur Weißglut gebracht, wenngleich ich dabei nicht mehr viel gelernt habe. Ich war allen einen Dorn im Auge, ein echtes Ärgernis, und das bin ich sicher heute noch … Aber zumindest habe Rückgrat. Ich habe gelernt zu kämpfen und mich zur Wehr zu setzen … Wenn mich das Leben in diesem beschissenen Sumpf etwas gelehrt hat, dann das!«

Dann bist du eine der wenigen Huren, die sich das bewahrt haben, dachte Tamora spontan. In der Regel lehnen sie sich ja nicht mehr auf, wenn man ihnen das Rückgrat erst einmal gebrochen hat.

»Na ja«, sinnierte Violett weiter, »ich habe jedenfalls keinen Bock mehr auf meine Eltern und dieses heruntergekommene Viertel. Ich denke, das kannst du nachvollziehen, oder?«

»Ja, natürlich«, erwiderte Tamora. Sie wusste jetzt zwar einiges über Violetts Wurzeln, aber noch lange nichts über deren Leben, das sie als Prostituierte führte. Und schon gar nicht darüber, wie es überhaupt dazu gekommen war.

»Wie ist das mit deinen Geschwistern?«, hakte sie nach.