Taras Augen - Katharina Bendixen - E-Book

Taras Augen E-Book

Katharina Bendixen

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Beschreibung

Alún und die gleichaltrige Tara werden nicht nur durch den Chemieunfall auseinandergerissen; sie erleben Täuschung und Enttäuschung, Eifersucht, Leidenschaft, Hartnäckigkeit, Selbstzweifel, finden sich aber am Ende wieder. Katharina Bendixen nimmt sich die Freiheit, die dystopische Welt, in der das alles spielt, nicht groß zu erklären, sondern sie einfach als gegeben hinzustellen. Jeder muss mit einem lizensierten Tablet ausgestattet sein, das Kommunikation, Zahlungsvorgänge, aber eben auch ständige Überwachung ermöglicht. Kein Wunder, dass viele findige Jugendliche sich »Fakelets« zulegen, mit denen sie die Behörden über ihre wahre Identität täuschen können. Leider gelingt es aber auch einem anderen Mädchen, sich gegenüber Alún als Tara auszugeben.

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Seitenzahl: 387

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Die Sache ging so schnell, dass ich nicht mehr sagen kann, wo genau wir waren. Unser Bus war auf der Strecke zwischen Rekan und Nipad, das weiß ich noch. Und ich erinnere mich an den Knall. Eigentlich war es kein Knall. Es war eher das laute Stottern, das Mamas Motorsäge von sich gibt, wenn der Akku ausgeht. Mama steht dann immer ganz still vor der Figur, an der sie gerade arbeitet. Sie klammert sich an der Säge fest und kann es nicht fassen, dass sie ihre Arbeit schon wieder unterbrechen muss.

Bei diesem Stottern stand aber nichts still. Bei diesem Stottern ging alles weiter.

»Siehst du das auch?«, fragte Tulip auf dem Sitz neben mir.

Ich löste den Blick von meinem SigPhone und drehte mich um. Hinter uns am Himmel stand eine kleine schwarze Wolke.

»Wird das ein Gewitter?«, fragte ich.

Ein Mann schräg vor uns zog sich sein T-Shirt über die Nase und eine Frau holte ihr SigPhone raus und fing an zu fotografieren. Sie hatte dieses Klicken eingestellt, das nur die absolut antiken Kameras von sich geben. Es klickte und klickte, und obwohl sich der Bus von der schwarzen Wolke entfernte, wurde sie größer.

»Das ist doch keine Gewitterwolke«, sagte Tulip.

»Schau dir lieber das an.« Ich hielt ihm mein SigPhone unter die Nase.

Letzte Woche hatte eine Schwimmerin aus der A-Jugend über fünfzig Meter Kraul einen neuen Rekord aufgestellt und ich hatte aus dem Clip eine Wende rausgeschnitten und in Endlosschleife montiert. Es war nicht zu fassen, wie schnell diese Schwimmerin von der Rolle in die Drehung kam. Auch nach der fünfzigsten Wiederholung hatte ich den Trick noch nicht durchschaut und dann hielten wir am ersten Busstopp von Nipad. Es war der Industrial Park, an dem immer sehr viele sehr müde Erwachsene zustiegen. Meistens dauerte es eine halbe Ewigkeit, bis der Bus sich wieder in den Verkehr einfädeln konnte.

Heute dauerte es noch länger. Eine Frau stand in der Tür und redete auf ihren Mann ein, weil der nicht einsteigen wollte. Die Frau wurde immer lauter und ich drehte mich noch mal um. Die Wolke war mittlerweile ziemlich groß und sie war ziemlich schwarz. Aber weder ihre Form noch ihre Farbe konnten etwas daran ändern, dass am Wochenende dieser wichtige Wettkampf stattfand. Sowohl Tulip als auch ich hatten gute Chancen auf eine Medaille, und wenn das da vorn noch lange dauerte, hatten wir ein Problem. Um Punkt drei Uhr mussten wir im Wasser sein. Wir hatten noch sechzehn Minuten und dreißig Sekunden, dann machte Henk uns die Hölle heiß.

Endlich ging es weiter, aber nach ein paar Hundert Metern kam der Bus schon wieder zum Stehen. Neben uns öffneten und schlossen sich die Glastüren des Campo Hospital und vor uns stand ein Geländewagen mit getönten Scheiben und bewegte sich nicht, genau wie alle anderen Autos in Sichtweite. Ich ließ mich gegen die Sitzlehne fallen. Schon klar: Die Wolke war nicht besonders ansehnlich und sie schwebte offenbar über Galapa, wo die Factory 11 stand. Aber selbst wenn es dort einen kleinen Zwischenfall gegeben hatte, musste deshalb doch nicht der gesamte Verkehr zum Erliegen kommen. Wenn die Leute unbedingt was Aufregendes sehen wollten, konnten sie dann nicht einfach auf ihre Monitore glotzen?

Ich ging nach vorn und drückte den Contact-Button.

»District Bus Operator«, meldete sich eine freundliche Stimme aus mehreren Kilometern Entfernung. »Mein Name ist Jul und ich helfe Ihnen gern.«

»Würden Sie mal kurz die Türen entsperren?«, fragte ich.

»Das ist zwischen zwei Stopps nicht möglich«, sagte Jul mit ihrer freundlichen Stimme.

»Wir stecken hier fest und ich muss dringend raus.«

»Ich darf die Türen leider nur an den Stopps öffnen.«

»Das habe ich kapiert«, sagte ich. »Aber meinem Freund ist schlecht. Er kotzt gleich den ganzen Bus voll.«

»Wenn ich die Türen öffne, verliere ich meine Lizenz.« Juls Stimme war jetzt nicht mehr so freundlich.

»Und wenn Sie die Türen nicht entsperren, schreie ich.«

»Wenn jemand schreit, verliere ich nicht meine Lizenz.«

Als ich losschrie, gab Jul ein kleines, erstauntes Geräusch von sich. Sie tat mir leid. Noch mehr taten mir die Leute im Bus leid, aber glücklicherweise wurden sie schnell erlöst: Ein paar Sekunden später standen Tulip und ich auf der Straße.

»Das kannst du nicht bringen, Tara«, sagte er. »In einer Stunde ist Jul ihren Job los und du hast eine Verwarnung.«

»Wolltest du lieber im Bus verschmoren?«

»Vielleicht stecken wir aus gutem Grund fest. Vielleicht ist wirklich was passiert.«

»Ganz genau.« Ich rannte schon die South Street hoch. »Wir werden gerade Augenzeugen der größten Havarie in der Geschichte unseres District. Merk dir alles, damit du davon später deinen Enkeln erzählen kannst.«

Wir sprinteten, auch wenn das unsere Zeiten im Becken nach unten ziehen würde. Nach wenigen Metern kamen wir am unbedeutendsten Auffahrunfall vorbei, den ich je gesehen hatte. Offenbar hatte ein Motorradfahrer etwas mehr auf die schwarze Wolke geachtet und etwas weniger auf die silberne Protzkarre vor sich. Wegen so einem Idioten würde ich ganz sicher nicht meinen Platz im Team aufs Spiel setzen. Wir waren nicht die Einzigen, die rannten. Ein Mann zerrte ein kleines Mädchen hinter sich her. Eine Frau rannte, ohne dabei wirklich schnell zu sein. Es gab aber auch Leute, die seelenruhig ihre Einkäufe nach Hause trugen oder ihre Hunde ausführten und auf den bunten Liegestühlen vor dem Weezie schlürften ein paar Mädchen ihre Frozen Juicys.

Wir erreichten den Swimmingpool um zwei Uhr neunundfünfzig. Im Vorraum war es schon dunkel, aber wir fanden uns darin auch blind zurecht. Am Automaten zogen wir die Chips für die Spinde, dann hielten wir unsere SigPhones ans Drehkreuz. In der Mädchenumkleide brannte wieder Licht. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich hier zuletzt allein gewesen war. Es war wahnsinnig still und ich hielt einen Moment inne, ehe ich mir die Klamotten vom Körper riss und erst in den neuen blauen Badeanzug stieg und danach in die zwei grauen.

Tulip stand schon am Beckenrand und dehnte sich und ein paar Meter neben ihm stand ein Aushilfstrainer. Die roten Fliesen ließen ihn fast freundlich wirken. Er deutete auf die Uhr und ich zeigte nach oben zum Glasdach. Die Wolke war mittlerweile so groß, dass man sie als Entschuldigung einfach durchgehen lassen musste.

»Lass dir was Besseres einfallen«, rief der Aushilfstrainer mir zu.

»Wo ist Henk?«, rief ich zurück.

»Sponsorentermin.« Er tippte irgendwas in sein SigPhone. »Und jetzt ab.«

Es war klar, dass der Aushilfstrainer mich melden würde. Vielleicht textete er Henk genau in diesem Moment. Nein – wie ich den Aushilfstrainer kannte, würde er zehn Minuten warten und mich in seiner Message noch später kommen lassen.

Wir waren heute auf der zweiten Bahn und ich spuckte in meine Schwimmbrille und reihte mich hinter Kira ein. Kira schwamm gewohnt schlampig. Sie dachte immer noch, dass das beim Einschwimmen keine Rolle spielte. Ich überholte sie am Ende der Bahn mit einer Wende, die ich wie in dem Clip zu machen versuchte. Ganz so elegant war ich nicht, das lag aber auch an dem Widerstand, den die drei Badeanzüge erzeugten. Meine linke Schulter tat schon wieder weh, dennoch spürte ich, dass ich heute gute Zeiten machen konnte. Aus dem Augenwinkel bekam ich mit, dass Tulip sich schonte. Ich dagegen drehte noch mehr auf und wahrscheinlich merkte ich deshalb als eine der Letzten, dass das Training unterbrochen worden war.

Die anderen bildeten eine kleine Traube um den mittleren Startblock. Die Wolke war jetzt viel heller, was aber hauptsächlich daran lag, dass sie sich über den ganzen Himmel verteilt hatte. Ich war mir nicht sicher, ob sie inzwischen wirklich eine rötliche Farbe angenommen hatte oder ob das von den neuen Fliesen kam.

»Begeben Sie sich sofort in ein geschlossenes Gebäude.« Der Aushilfstrainer hockte am Beckenrand, er las die Worte von seinem SigPhone ab.

»Sind wir doch.« Ich schwamm zu Tulip. »Was ist überhaupt los?«

»In der Factory 11 hat es einen Unfall gegeben«, sagte Tulip. »Der District hat eine Sammelmessage verschickt.«

»Schließen Sie Türen und Fenster.« Der Aushilfstrainer las weiter. »Schalten Sie Ventilatoren und Klimaanlagen aus. Suchen Sie einen Raum ohne Außenfenster auf.«

»Ich sehe Außenfenster.« Ein Schwimmer aus der B-Jugend schaute nach oben zum Glasdach.

»Gibt’s hier auch eine Klimaanlage?«, fragte eine Schwimmerin, die erst seit ein paar Wochen in unserem Teamwar.

»Die kann ich ausschalten.« Der Aushilfstrainer schob sein SigPhone in die Tasche. »Danach machen wir weiter.«

Er verschwand im Funktionsraum und ich umklammerte die Trennleine. Meine Schulter tat immer noch weh und ich wollte weiterschwimmen. Ich wollte in den Schmerz hineinschwimmen, bis ich ihn nicht mehr spürte.

»Ich muss gucken, ob meine Eltern getextet haben«, sagte Kira. »Meint ihr, das geht?« Sie sprach sehr leise und mir fiel ein, dass sie in Galapa wohnte. Sie war in unserem Team längst nicht die Einzige von dort.

»Bei Henk würde das gehen«, sagte ich.

»Du und dein Henk.«

»Mein Bruder soll heute am Galapa Bus Terminal ankommen«, sagte eine Schwimmerin aus der C-Jugend und ihre beste Freundin nickte: »Ich will auch mein SigPhone checken.«

Neben mir, ungefähr auf der Höhe meines Bauchnabels, schwebte ein Pflaster. Wenn ich meine Beine bewegte, zitterte es, und als die anderen aus dem Wasser zu klettern begannen, schwamm es davon.

Ich verließ das Becken als Letzte. Die drei Badeanzüge waren jetzt sehr eng und auf dem Weg zur Umkleide rollte ich mir die beiden oberen auf die Hüfte.

Die Sammelmessage vom District blinkte auch auf meinem SigPhone und darunter blinkten drei Messages von Mama.

Mama textete mir fast nie, und wenn sie es doch einmal tat, schickte sie die Message immer dreimal los – das erste Mal absichtlich, das zweite Mal zur Sicherheit und das dritte Mal versehentlich.

Diesmal hatte ich jedoch drei verschiedene Messages bekommen.

Lass das Training sausen, mein Stern, und komm nach Hause. Das war die erste Message.

Nimm dir ein Taxi, wenn es nicht anders geht. Beer hat noch etwas Guthaben auf seinem SigPhone. Das war die zweite.

Was ist los bei dir? Bist du beim Training? Unsere Nachbarn sind schon abgehauen, Beer und ich wollen auch weg. Komm nach Hause! Das war die dritte.

Erst da ging mir auf, dass da draußen wirklich etwas passiert war, und erst in diesem Moment dachte ich an Alún.

Tara, wo steckst du?

Das habe ich direkt nach der Explosion gedacht. Ich habe in meinem Zimmer gesessen und irgendwas gezeichnet und plötzlich gab es diesen Knall. Ich setzte den Fineliner ab und schaute zum Fenster. Am Himmel wuchs eine schwarze Wolke und ich habe nicht gleich an die Factory 11 gedacht. Mir war aber schon klar, dass irgendwas passiert sein musste, und ich scannte mit drei Blicken den Nachbargarten. Taras Laube. Ainos Werkstatt. Das Haus. Im Erdgeschoss waren zwei Fensterscheiben geplatzt und Tara konnte ich nirgendwo entdecken.

Natürlich habe ich nicht irgendwas gezeichnet.

Ich checkte mein SigPhone, ob irgendwer getextet hatte – meine Eltern, die Districtverwaltung, wer auch immer. Das Display zeigte nur ein paar Fotos, die Streak mir geschickt hatte. Es waren Aufnahmen vom Itapu Bus Terminal, die er mit einem Filter verfremdet hatte, was ziemlich genial aussah. Genauer konnte ich mir das nicht anschauen. Ich musste jetzt etwas unternehmen. Ausnahmsweise musste ich das Richtige tun. Da draußen brannte es, und wenn es brannte, brauchte man Wasser. Ich rannte ins große Bad, stöpselte die Badewanne zu und drehte den Hahn auf. Das Wasser rauschte in die Wanne und bei diesem Geräusch fiel mir ein, wo sich Tara vermutlich aufhielt: Garantiert stand bei ihr mal wieder ein wichtiger Wettbewerb an und sie absolvierte gerade das obligatorische Intensivtraining in Nipad. Das war zum Glück ein ganzes Stück von der Factory 11 entfernt.

Ich drückte mich hoch und schloss das Badezimmerfenster. Man musste sich vor Rauch schützen, wenn es brannte, und was tat man danach? War das da draußen überhaupt ein Brand? Sonst war ich froh, wenn ich allein in unserem Haus rumhängen konnte, jetzt fand ich das nicht so optimal. Meine Eltern waren noch arbeiten und Liva verbrachte neuerdings fünfundzwanzig Stunden pro Tag mit Jasser. Außer mir war nur Lone hier und Lone war erfahrungsgemäß keine große Hilfe.

Moment mal. Wenn es brannte, sollte man vielleicht seine kleine Schwester in Sicherheit bringen.

Ich rannte nach unten und riss die Haustür auf. Die Wolke war mittlerweile auf die Größe eines Einfamilienhauses angewachsen. Lone schaute aber nicht die Wolke an. Sie stand im Sandkasten und starrte auf unser Küchenfenster. Die Scheibe war geplatzt, im Beet darunter lagen unzählige Glasscherben.

»Ich war das nicht«, sagte sie. »Glaubst du mir das, Alún?«

Ich schnappte sie mir und trug sie nach drinnen und mal wieder wunderte ich mich, wie leicht sie war. Ich platzierte sie auf der Couch und hockte mich neben sie. Noch einmal checkte ich mein SigPhone, aber ich erfuhr nur, dass Frntnrf auf dem Cover seines neuen Albums in Boxershorts abgebildet sein würde. Draußen rannten zwei Jungen über die Main Road, weiter vorn stand Karmiel und hielt sein SigPhone auf die Wolke. Er stand an der denkbar ungünstigsten Stelle. Wenn er nur ein paar Schritte weiterginge, hätte er ein Spitzdach im Vordergrund und das käme garantiert besser als die Bäume.

»Meinst du, Mama und Papa schimpfen?«, fragte Lone neben mir.

»Warum sollen sie schimpfen?«

»Wegen dem Fenster.« Lones Stimme war dünn. »Ich war das wirklich nicht.«

Ich schaltete den Monitor ein, auch dort war Frntnrf in Boxershorts zu sehen. Schnell klickte ich zu einem Zeichentrickfilm. Es war gut, dass Lone erst mal abgelenkt war. Und jetzt? Wieso gellten da draußen keine Sirenen? Wieso war außer den piepsigen Trickfilmstimmen rein gar nichts zu hören?

Ich zuckte zusammen, als die Haustür aufgerissen wurde. Liva warf ihren Rucksack in eine Ecke und zog ihr SigPhone raus.

»Ein Glück, dass du kommst!« Ich sprang auf. »Ich habe keine Ahnung, was ich machen soll.«

»Kannst du dich irgendwo anders abreagieren?«

»Hast du den Knall nicht gehört?«

»Ich will nur mein SigPhone aufladen, dann bin ich wieder weg.« Liva zeigte auf die schwarze Wolke. »Genau dort ist Jasser heute mit seinem Chemiekurs und ich kann ihn nicht erreichen.«

»Also glaubst du auch, dass es was Schlimmes ist?«

»Kommt drauf an, was du unter schlimm verstehst.« Livas Blick ging nach unten. »Das da finde ich zum Beispiel nicht schlimm, aber unsere Eltern rasten garantiert aus.«

Ich schaute auf meine Schuhe. Sie saugten sich gerade mit Wasser voll. Was war eigentlich mit mir los?

Ich rannte nach oben und drehte den Wasserhahn zu. Dann rannte ich wieder runter und schnappte mir den Küchenschwamm, nur um ihn wieder fallen zu lassen und lieber Eimer und Lappen aus dem kleinen Bad zu holen. Vater hasste es, wenn der Geschirrschwamm sich dem Fußboden auch nur näherte. Ich musste das Wasser aufwischen, ehe es das Parkett ruinierte. Ich musste den Teppich einrollen. Ich musste die Staubsaugerroboter retten. In meiner Hosentasche summte das SigPhone. Als ich es mit der freien Hand herauszog, rutschte es mir fast aus den Fingern.

Die Districtverwaltung informiert: Durch einen Unfall in der Factory 11 wurde ein Gefahrstoff freigesetzt.

Solche Messages bekamen wir alle paar Monate zu Testzwecken und mit so etwas hätte ich auch jetzt gerechnet. Das stand dort aber nicht. Die Message war von Vater.

Kommt sofort raus. Nichts einpacken, einfach kommen.

Vaters Wagen stand in der Einfahrt, aber er war gar nicht ausgestiegen. Er saß hinter dem Lenkrad und wedelte mit den Armen, als wäre er mitten auf dem Zigosee und könnte nicht schwimmen.

»Ich habe das Gefühl, dass er uns irgendwas sagen will.« Liva stöpselte ihr SigPhone aus.

»Ich habe doch gewusst, dass etwas passiert ist.« Ich umklammerte den Lappen.

»Könnt ihr leiser reden?«, fragte Lone von der Couch. »Ich verstehe überhaupt nichts mehr.«

Auf dem Monitor kletterte eine Trickfilmkatze einen Wolkenkratzer hinauf und mir fiel Io ein, der durch unseren Garten streifte. Mir fiel die neue Kansaii ein, die ich zum fünfzehnten Geburtstag bekommen hatte und die im Wäschekorb lag. Mir fielen meine Sketchos ein und mir fiel ein, dass es diese praktischen Gegenstände gab, in denen man die Dinge verstauen konnte, die einem wirklich etwas bedeuteten.

Wenn ich auch nur zu einem vernünftigen Gedanken fähig wäre, hätte ich jetzt mit einem Rucksack auf dem Rücken nach draußen gehen können. Stattdessen hielt ich einen Wischlappen in der Hand.

Liva war schon am Wagen. Sie wechselte ein paar Worte mit Vater, ehe sie einstieg. Ich steckte Lone in eine dünne Jacke, zog sie nach draußen und platzierte sie in ihrem Sitz.

Ich weiß noch, dass zwei Jungen am Busstopp saßen und Pink Lemonade tranken, und im Minishop waren Drachenfrüchte und Fensterreiniger im Angebot.

»Wohin fahren wir?«, fragte ich. »Was ist überhaupt passiert?«

»Wir müssen eure Mutter holen«, sagte Vater. »Als ich los bin, hat sie noch operiert.«

»Und danach fahren wir nach Galapa und suchen Jasser.« Liva wischte auf ihrem SigPhone rum. »Du hattest ausnahmsweise recht, in der Factory ist wirklich was passiert.«

»Können wir noch mal umdrehen?« Lone weinte fast. »Ich habe Io sein Futter noch nicht hingestellt.«

Im Spielzeugnetz steckte das Buch über Fap und Fop, die zwei Riesen, und auf der Schmutzfangmatte lag ein Plastikmodell der Sunset. Ich musste beim Einsteigen draufgetreten sein, das Schaufelrad war abgebrochen. Zum Glück hatte Lone das noch nicht bemerkt. Ich schaute nach links. Liva sah nicht so aus, als hätte sie gerade freie Kapazitäten für ihre kleine Schwester. Also schnappte ich mir das Buch und schlug die erste Seite auf.

Der Highway nach Nipad war leer, und dass Vater wesentlich schneller fuhr als erlaubt, machte mich nicht gerade ruhiger. Hatte ich auch den zweiten Staubsaugerroboter auf die Kommode gestellt? Hatte ich den Wasserhahn richtig zugedreht? Ich gab mir Mühe, mich auf die Geschichte zu konzentrieren. Gerade schichteten Fap und Fop ein Lagerfeuer aus Baumstämmen auf. Bevor sie es anzünden konnten, sagte Lone, dass ich alle Geschichten mit Feuer überblättern sollte.

Aus Itapu kam uns ein Drohnenschwarm entgegen. Wahrscheinlich war es ein gutes Zeichen, dass es sich nur um Watcher handelte. Ich wollte es jedenfalls für ein gutes Zeichen halten. Vielleicht war gar nichts Schlimmes passiert. Vielleicht war Vater nur so nach Hause gekommen und jetzt holte er rein zufällig seine Frau von der Arbeit ab.

Mutter wartete auf dem Parkplatz. Sie öffnete die Wagentür nur einen Spalt und zwängte sich hinein. Bevor sie sich anschnallte, beugte sie sich nach vorn und schaltete die Klimaanlage aus.

»Wie wäre es mit Umluft gewesen?«, fragte sie.

»Ich möchte dich mal sehen, wenn du in so einer Situation allein nach Rekan fährst, um drei Kinder einzusammeln«, sagte Vater.

Livas Mundwinkel hob sich um einen Millimeter, was wohl bedeutete, dass sie diese Familie zum ersten Mal seit langer Zeit wieder feierte. Dann senkte sie den Blick wieder auf ihr SigPhone.

Vater wendete den Wagen. Er musste eine Weile warten, bis er den Parkplatz verlassen konnte. Weiter vorn war ein Motorrad in einen silbernen Rennschlitten gekracht, die Autos standen dicht an dicht. Der ganze Himmel war jetzt grau, das Glasdach des Swimmingpools wirkte wie schraffiert.

Am Kreisverkehr nahm Vater die erste Ausfahrt.

»Du bist falsch abgebogen«, sagte Liva. »Wir müssen nach rechts.«

Vater schüttelte den Kopf. »Wir fahren nach Tonfato.«

»Ich denke, ihr müsst nach Galapa.«

»Es sind schon genügend Ärzte zur Factory unterwegs«, sagte Mutter.

»Aber Jasser ist dort.«

»Liva, wir können jetzt nicht nach Galapa.« Vater umklammerte das Lenkrad so fest, dass seine Fingerknöchel ganz weiß waren. »Sie haben alle verfügbaren Ärzte angefordert. Es muss eine Havarie gegeben haben.«

»Das kann nicht euer Ernst sein.« Livas Stimme wackelte. »Ihr nutzt Docwarn, um euch abzusetzen?«

»Es geht um euch.« Vater war ganz ruhig. »Wir bringen euch in Sicherheit.«

»Ich will aussteigen«, sagte Liva. »Halt an.«

»Denkst du, in Tonfato werden keine Ärzte gebraucht?«, fragte Mutter.

»Halt sofort an.«

»Ich will zu Io«, sagte Lone.

»Ich muss auch noch mal zurück«, sagte ich.

Ich musste unbedingt den Wasserhahn im großen Bad kontrollieren, und ehe meine Eltern das Haus betraten, musste ich das Wasser aufwischen. Der Himmel färbte sich langsam rötlich, und als ich mir über die Lippen leckte, schmeckten sie bitter. Tara, dachte ich, hast du auch diesen bitteren Geschmack auf den Lippen? Tarita, wo steckst du? Wenn ich vor einem halben Jahr nicht den größten Fehler meines Lebens begangen hätte, wäre ich jetzt bei dir.

ERSTER TEIL

TARA

Das hier ist der erste Tag von meinem dritten Leben. Er beginnt damit, dass ich warte, und ich würde nicht Tara Rubina Doron heißen, wenn Warten nicht das Schlimmste für mich wäre. Kommt gleich nach zu warmem Wasser im Fünfzig-Meter-Becken und Mamas Lupinenburger. Oder sind ihre getrockneten Fische schlimmer? Immerhin habe ich gerade Zeit, um mir über die großen Rätsel meines kleinen Universums mal so richtig den Kopf zu zerbrechen. Mit Mama und Beer und einer Handvoll anderer Leute stehe ich auf Level C, Plattform 17, Sektor 2 der Tonfato Central Station und unser Zug taucht nicht auf. Bisher haben weder das Scoreboard noch unsere SigPhones einen Kommentar dazu abgegeben. Mama und Beer streiten, ob einer von uns nach oben zum Operator gehen soll oder ob das zu gefährlich ist, weil der Zug genau in diesem Moment eintreffen könnte. Dann streiten sie über die Qualität der Teigbällchen von Mister Better, und bevor uns das zu langweilig wird, werfe ich unser Lieblingsthema ein – ob Mama vor fünf Monaten alle Türen abgeschlossen hat oder nicht. Mama meint ja, ich meine nein und Beer schimpft, dass Mama in dem Chaos nach der Explosion garantiert nur an ihre Werkstatt gedacht hat. Abgesehen von dem leeren Gleis ist also alles in Ordnung: Beer ist mein Opa und wir drei zoffen uns ständig. Erst wenn wir nicht mehr streiten, muss ich anfangen, mir Sorgen zu machen.

Allerdings mache ich mir langsam trotzdem Sorgen, und zwar darüber, ob dieser Zug noch kommt. Ich habe nämlich nicht das geringste Interesse, mein zweites Leben fortzusetzen. Auf keinen Fall bleibe ich eine weitere Nacht im Linden Home, der Notunterkunft, in der wir die letzten fünf Monate verbracht haben. Nie wieder stelle ich mich unter die wechselwarmen Duschen und schon heute Morgen habe ich mich geweigert, mich für das übliche Plastikessen anzustellen. Noch einmal hätte ich es nicht geschafft, meinen Ärger über die notorischen Vordrängler runterzuschlucken.

»Wenn das noch lange dauert, muss ich mir was zu essen besorgen«, sage ich.

Mama runzelt die Stirn. »Was willst du hier holen?«

»Ist doch klar«, sage ich. »Teigbällchen.«

»Zu teuer.« Beer schüttelt den Kopf. »Wer weiß, was wir in Rekan alles neu anschaffen müssen.«

»Du meinst, nachdem die Plünderer unser Haus leergeräumt haben, weil jemand nicht abgeschlossen hat?«

»Ich habe abgeschlossen!«

Beer und ich müssen lachen, auch wenn das alles andere als lustig ist. In den vergangenen fünf Monaten hatte ich jedoch reichlich Gelegenheit zu lernen, dass die traurigen Dinge lustig werden, wenn man sie nur von der richtigen Seite betrachtet. Und wenn sie nicht lustig werden, dann werden sie zumindest absurd oder interessant oder wenigstens schräg. Es gibt natürlich auch traurige Dinge, die traurig bleiben. Von denen rede ich jetzt aber nicht, denn das hier ist der erste Tag von meinem dritten Leben. Ich glaube fest daran, dass dieses Leben genial wird, und deshalb werde ich höchstens minimal wehmütig, als Mama mit dem Kopf auf das Scoreboard deutet. Schwarz auf grau ist dort plötzlich zu lesen: Speedtrain nach Itapu, Einfahrt um 11.02 Uhr. Bitte begeben Sie sich in den vorgesehenen Sektor. Mama greift nach meiner Hand, was sie schon lange nicht mehr getan hat, und zieht mich an sich. Sie riecht genau, wie sie riechen soll, und sie lässt mich erst wieder los, als der Zug vor uns zum Stehen gekommen ist. Ehe ich einsteige, werfe ich einen letzten Blick auf die gläserne Dachkonstruktion, durch die man sogar die Spitze des Tonfato Tower erkennen kann. Ich glaube, diese Silhouette ist so ziemlich das Einzige, was ich vermissen werde.

Es ist seltsam, denselben Weg wie vor fünf Monaten zu nehmen, nur in die entgegengesetzte Richtung. Damals wären die Leute sogar auf den Dächern mitgefahren, wenn die Securities sie nur gelassen hätten. Von den zwei Dutzend Menschen, die bei der Evakuierung gestorben sind, sind allein drei im Zug erstickt. Heute haben wir den Wagen fast für uns allein, es taucht nicht mal ein Controller auf. Langsam verschwindet der Tonfato Tower hinter der überdimensionalen Glaskuppel von Banvío. Danach dünnt das Gleisnetz aus und kurz darauf sind wir schon im Campo District. Mir ist noch nie aufgefallen, wie viele Strommasten hier in den Himmel ragen. Sie glitzern so grell in der Sonne, dass mir das Geblinker von Tonfato nicht mehr ganz so sensationell vorkommt.

»Wenn wir in Rekan sind, streiche ich als Erstes Florazul neu«, sage ich. »Was haltet ihr von Knallrot?«

»Rot passt zu deiner Laube«, sagt Mama. »Ich will zuerst etwas essen, was nicht nach Plastik schmeckt.«

»Genau«, sage ich. »Und zwar von Porzellantellern.«

»Wie wäre es mit Kakisorbet?«, fragt Beer.

»Perfekt«, sage ich. »Und danach schwimme ich im Zigosee.«

Damit hat Mama nicht gerechnet und ich sehe ihr an, dass sie schon den nächsten Streit anfangen will. Seit wir erfahren haben, dass Henk sich zum Zeitpunkt der Explosion in der Factory 11 aufgehalten hat, um mit dem PR-Manager dort den Schriftzug auf unseren neuen Schwimmanzügen zu besprechen, ist sie allerdings vorsichtig geworden. Sie hat mich sogar alle Schwimmclubs von Tonfato abklappern lassen, auch wenn ziemlich schnell klar war, dass man mich sowieso nirgends aufnehmen wird, weil ich zwar unheimlich gut schwimme, möglicherweise aber verstrahlt bin. Und sie hat mir weiterhin die Haare millimeterkurz geschnitten, obwohl sie diese Frisur vom ersten Tag an gehasst hat. Bisher habe ich über Henks Tod nur mit Beer geredet. Er hat mir versprochen, dass der Schmerz nachlassen wird, und jetzt erklärt er mir, dass wir uns vorerst sowieso nicht länger als dreißig Minuten im Freien aufhalten dürfen. Das hat er irgendwo gelesen, damit fällt mein Ausflug zum Zigosee also flach. Am liebsten würde ich ihn fragen, welche Regeln er mir noch verschwiegen hat und ob wir jetzt so was wie Versuchskaninchen sind. Es ist allerdings nicht so, dass wir eine Wahl hätten. Als der Großteil des Campo District wieder geöffnet wurde, war klar, dass wir zurückkehren würden. Den meisten Umsiedlern wurde damit nämlich auch das Entschädigungsgeld gestrichen, und wenn wir zu denen gehört hätten, die sich eine Wohnung in Tonfato leisten können, hätten wir nach fünf Monaten sicher nicht mehr im Linden Home gewohnt. Vermutlich hätten wir dann nach der Explosion auch nicht zwei Tage lang in Itapu ausharren müssen, bis wir endlich in einen Zug steigen konnten.

Auch der Rückweg führt über Itapu, heute sind die Bahnsteige jedoch leer. Ein Security reißt die Zugtüren auf. Er kann nicht viel älter sein als ich, das erkenne ich trotz seiner Atemmaske.

»Brauchen wir so was auch?«, fragt Beer.

»Bitte begeben Sie sich zum Bus Terminal.« Die Stimme des Security ist dumpf unter dem weißen Vlies.

»Uns wurde ein Messgerät versprochen«, sagt Mama. »Kriegen wir das von Ihnen?«

»Sie müssen zum Bus Terminal.« Der Security zeigt zum Ausgang, als wäre es möglich, sich in dieser Bahnhofsminiatur zu verlaufen. »Sie verpassen sonst den Bus.«

Vor fünf Monaten war der President Square noch ein normaler Bahnhofsvorplatz mit zwei Elektrotankstellen und unzähligen Verbotsschildern und diesen unvermeidlichen Blumenkübeln. Jetzt ist dieser Platz so was wie ein Blumenbeet. Die Pflanzen haben die vergangenen Monate genutzt, um ihre Kübel zu verlassen und sich überallhin auszubreiten. Ich zücke mein SigPhone und wische mich zur Kamera. Beim Fotografieren achte ich darauf, dass auf den Bildern wirklich nur die Blumen zu sehen sind und nicht die ineinandergeschobenen Autos oder die vielen zerschlagenen Fensterscheiben. Bevor ich die Bilder an Jenita und Mai schicken kann, hat Mama mich schon weitergezogen. Ganz vorn warten mit laufenden Motoren drei Busse.

Wir sind die Einzigen, die in den Bus nach Rekan steigen, und nach wenigen Minuten beginnt nicht nur der Highway, sondern auch das, was bis vor Kurzem noch als Rote Zone galt und nun die sogenannte Gelbe Zone ist. Die Betonspinnen wurden einfach an den Straßenrand geschoben und es hat sich auch niemand die Mühe gemacht, die Schilder zu entfernen. Entry Forbidden, lese ich, Danger of Life. Ich schaue zu Mama und Beer, ihr Blick ist nicht auf die Schilder gerichtet. Sie betrachten die Kuppel, die in den Weizenfeldern aufgetaucht ist. Früher ragten neben Galapa zwei gedrungene Schornsteine in den Himmel, jetzt schimmert dort Stahl, grau und mächtig wie ein Urzeittier. Während wir den Highway Richtung Rekan fahren, bleibt die Kuppel, mit der TNE die Überreste der Factory 11 gesichert hat, die ganze Zeit in unserem Blick. Erst hinter Nipad gelingt es mir endlich, den Blick abzuwenden.

Am Busstopp von Rekan hüpfe ich buchstäblich auf die Straße. Hinter mir steigen Mama und Beer aus und zuletzt eine alte Frau, die ich vorher nicht gesehen habe, weil sie ganz hinten im Bus gesessen hat: Mit Manar habe ich noch nie ein Wort gewechselt, aber wie alle Leute aus Rekan kenne ich sie. Sie war ständig auf der Dorfstraße zugange, prüfte die Tonnen, ehe der Müllbus kam, und ging fünfmal täglich in den Minishop, um eine Winzigkeit zu kaufen. Dabei wackelte sie immer mit dem Kopf, wie ein kleiner Vogel, der Angst vor dem Habicht hat. Aber es ist mir egal, dass ich gemeinsam mit jemandem wie Manar zurückgekehrt bin. Ab sofort ist mir auch egal, dass mir niemand erklären kann, warum ein Grenzwert erst als unverrückbar gilt und dann von heute auf morgen einfach verzwanzigfacht wird. Oder warum die Zone, die durch dieses Rechenspiel geöffnet werden kann, danach immer noch als gelb bezeichnet werden muss und nicht einfach als grün. Oder warum die Leute, die im Gegensatz zu Mama und Beer vernünftige Jobs und genügend Geld besitzen, lieber in Tonfato bleiben, wenn es in dieser Gelben Zone doch angeblich so ungefährlich ist. Oder was geschehen würde, wenn wir die Rote Zone rund um Galapa betreten, die wir vom Bus aus gesehen haben. Ich strecke den Rücken und drehe die Schultern zurück, wie ich es früher auf dem Startblock gemacht habe. Ich werde die Horrorzeit im Linden Home jetzt vergessen. Ich bin Tara Rubina Doron, in meiner Laube Florazul hängen zwei Gold-, zwei Silber- und drei verdammte Bronzemedaillen und mein Leben beginnt genau – jetzt.

Allerdings ist das, was ich von diesem Leben sehe, erst mal nicht sonderlich genial. Ich sehe das Gestrüpp auf dem TNE Square, ich sehe die aufgebrochene Tür des Minishops. Ich sehe den aufgeklappten Koffer in Vics Garten, dessen Inhalt der Wind oder ein Tier in den letzten fünf Monaten verteilt hat. Ich sehe die Arztkittel auf der Leine und frage mich, warum Vic das Durcheinander in seinem Garten nicht beseitigt. Dann sehe ich, dass die Wäsche steif ist vor Dreck, und mir fällt ein, dass Vic gar nicht hier sein kann, denn Mama, Beer und ich sind mit dem ersten Zug gekommen. Wir sind die ersten, wirklich die allerersten Rückkehrer und Vic hat bestimmt irgendwo anders eine neue Praxis eröffnet.

Mama und Beer haben unser Grundstück schon fast erreicht. Sie laufen schnell über die Main Road und auch ich gehe schneller. Ich sehe, dass unser Haus bis auf die zwei geplatzten Fensterscheiben im Erdgeschoss unversehrt ist, ich sehe Mamas Figuren, für die sich natürlich kein Plünderer interessiert hat. Ich höre, wie Mama und Beer die Stimmung hier als erholsam bezeichnen, dabei ist es in Wirklichkeit unheimlich still. Genauso unheimlich ist, dass Mama und Beer sich gerade jetzt einig sein müssen. Aber ehe ich mich noch mehr gruseln kann, ist mein Blick schon dorthin gewandert, wohin er immer wandert – wohin er wandert, seit ich denken kann. Vor einem Jahr habe ich beschlossen, mir diesen Blick abzugewöhnen, weil mir komplett egal ist, was ich da sehe. Aber schon damals ist mir das nicht gelungen und auch jetzt bleibt mein Blick wieder an einem ganz bestimmten Fenster unseres Nachbarhauses hängen. Es müsste dunkel sein wie die restlichen Fenster in Rekan, denn unsere Nachbarn sind garantiert nicht in einer Notunterkunft gelandet. Unsere Nachbarn haben garantiert längst eine neue Wohnung und neue Jobs gefunden und ihre drei Kinder gehen garantiert auf neue Schulen, die sie an renommierte Colleges führen werden, wo sie sich in dieselben Eisblöcke verwandeln, wie ihre Eltern es sind.

Wie von selbst ist mein Blick zu Alúns Fenster gewandert: In Alúns Zimmer brennt Licht.

ALÚN

Ich renne.

Das Dream Center hinter mir glitzert, die Schaufensterpuppen neben mir glotzen und ich renne. Die Kapuze auf meinem Kopf dämpft die Geräusche, der Rucksack auf meinem Rücken springt auf und ab und ich renne. Ich renne schneller als die Autos auf der Central Ave, aber das heißt gar nichts, die stecken wie immer im Stau. Vor mir rennt ein Mädchen mit raspelkurzen Haaren und einem roten T-Shirt, hinter mir rennen zwei Securities. Dazwischen renne ich.

Was davor geschehen ist: Ich hole die Fliese und den Kleber aus meinem Rucksack. Ich halte die Fliese in der hohlen Hand und verteile den Kleber auf der Rückseite. Ich schaue mich um, dabei klopft mein Herz an einem Ort, an den es eindeutig nicht gehört. Ich ignoriere das Klopfen, so gut es geht, und drücke die Fliese an die glitzernde Haut des Dream Center. Ich trete zurück und denke: Wie genial ist das denn? Dann rutscht die Fliese wie in Zeitlupe runter und ich denke: Wie bescheuert ist das denn? Ich will die Fliese gerade wieder hochschieben, da höre ich die Stimme: »Hau ab!«

Es war das Mädchen mit den raspelkurzen Haaren, das mir diese zwei Wörter zugerufen hat. Zwei Meter vor mir schiebt sie sich geschickt durch den Strom der Passanten. Keine Ahnung, wer sie ist. Ihre Frisur erinnert mich zwar an ein Mädchen, das ich ziemlich gut kenne, aber das ist unmöglich. (Wunsch und Wirklichkeit stimmen in meinem Leben selten überein.) Das Mädchen vor mir nutzt jede Lücke, sieht jedes Zögern, jedes Stehenbleiben voraus. Sie hat noch niemanden angerempelt, während ich wie zugedröhnt durch die Menge torkele. Es geht vorbei an einem dezenten Trenchcoat. Bei dreißig Grad im Schatten ein Trenchcoat? Vorbei an einem Hukji, der mit drei Schlössern gesichert ist. Warum nicht gleich vier? Vorbei an einem schreiend bunten Plakat, das wofür wirbt? Für Sushi-Messer? Brauche ich Sushi-Messer?

»Nach rechts!«, ruft das Mädchen und verschwindet selbst nach links in einer Unterführung.

Es vergehen zwei wertvolle Sekunden, bis ich kapiere, dass das Mädchen nicht an einer Links-rechts-Schwäche leidet. Nein, sie will, dass wir uns trennen, damit wenigstens einer von uns durchkommt. Das war vermutlich die kürzeste Beziehung meines Lebens. Ein Speeddate an einem warmen Apriltag im Zentrum von Tonfato. Ich habe nicht mal ihr Gesicht gesehen, aber im Moment habe ich definitiv andere Probleme. Zum Beispiel die zwei Securities, die nicht mehr weit entfernt sein können. Oder die Straße rechts von mir – eine dieser menschenleeren Gassen. Soll ich meinem Speeddate echt vertrauen? Im Gewühl der Central Ave bin ich doch viel sicherer. Aber gerade wurde ich erwischt, ich selbst bin also nicht gerade der Security-Versteher.

Ich wende mich nach rechts. Mit einem Zipfel meines Bewusstseins nehme ich flache Holzhäuser wahr und eine schwarze Schrift auf gelbem Grund. Freezone. Mein restliches Bewusstsein ist damit beschäftigt, den Sauerstoff aus meiner Lunge in meine Beine zu pumpen. Ich glaube, das Mädchen hat meine Kondition etwas überschätzt. Klar, diese Gasse ist so leer, dass ich aufdrehen könnte. Das Problem ist nur: Ich kann nicht aufdrehen. Trotz meiner langen Beine bin ich die absolute Laufnull. So hat unsere Sportlehrerin in Rekan mich gern genannt. Und im Moment bin ich eine Laufnull, die in eine Sackgasse rennt. Wie dumm bin ich eigentlich? Dieses Mädchen wollte ihre eigene Haut retten und das geht natürlich am besten, indem sie mich den Securities zum Fraß vorwirft.

Ich reiße eine mächtige Holztür auf, stolpere in klamme Luft, lehne mich gegen eine kühle Wand. Für einen Moment bin ich nichts als heftiges Keuchen. Seit wann sind die Häuser in Tonfato unverschlossen und war da draußen eigentlich noch jemand hinter mir, höre ich da schnelle Schritte? Mein Blick wandert durchs Treppenhaus. Schiefe Stufen, ein abgegriffener Handlauf und ein großes Fenster, das zum Hof zeigt. Ich nehme immer zwei Stufen auf einmal – ein Schritt, ein zweiter, ein dritter –, dann reiße ich das Fenster auf und springe. Der Aufprall kommt schnell und ist härter als erwartet.

Einen Moment bleibe ich hocken. Sind da immer noch Schritte oder hämmert in meinen Ohren nur mein Puls? Der Hof steht voller Mülltonnen, dazwischen blüht ein Kirschbaum, als wäre das hier ein Gemälde von Dato Cal. Aus der Baumkrone wächst die Spitze des Tonfato Tower, dahinter öffnet sich ein schmaler Gang. Ich renne durch diesen Gang, meine Schritte knallen wie Schüsse. Securities, habt ihr mich alle gehört? Ich wette, in der Geschichte von Tonfato hat es keine unkoordiniertere Flucht gegeben.

Dann stehe ich plötzlich auf dem Democracy Square, auf dem sich vielleicht hundert Menschen versammelt haben. Ich schiebe mir die Kapuze vom Kopf und drängle mich in die Menge. Oberarme. Funktionsrucksäcke. Sonnenbrillen. Erst jetzt beginnen meine Beine zu zittern, und um nicht in den Knien einzuknicken, klammere ich mich an das nächstbeste T-Shirt. Der Mann, der in diesem T-Shirt steckt, dreht sich erstaunt zu mir um. Er ist so alt wie mein Vater, aber seine Augen blicken freundlich.

»Kann ich irgendwas für dich tun?«, fragt er.

»Alles«, keuche ich. »Nichts.«

»Ein Schluck Wasser?«

Ich nippe an seiner Flasche, danach brennt meine Lunge noch mehr. Immerhin nimmt mein Hirn seine Arbeit wieder auf. Ich scheine jetzt ein Demonstrant zu sein, dem das Thema dieser Demo echt am Herzen liegt. Was ist doch gleich das Thema?

Die meiste Zeit hasse ich meinen Körper dafür, dass er sich auf zwei Meter Länge ausdehnen musste. Hier haben wir einen der seltenen Momente, in dem ich ihm dankbar bin. TNE muss zahlen!, lese ich auf einem Transparent. Auf einem anderen steht: Keine Kinder in die Gelbe Zone! Und: Holm Stepovic vor Gericht!

Keine Kinder in die Gelbe Zone? Kapiere ich nicht. Meinen die damit Rekan und das restliche Gebiet rund um die Factory 11? Vater sagt, dass der Großteil des Campo District auf Jahrzehnte gesperrt bleiben wird. Jeden, der etwas anderes behauptet, bezeichnet er als gedrosselt und merkt nicht, dass es mindestens genauso gedrosselt ist, wie er Tag für Tag vor seinem Rechner hockt und das halbe Netz ausdruckt, bloß weil in Tonfato zufällig kein Chefarztposten für ihn frei ist. Und darunter macht es Doktor Singalov natürlich nicht. Mir erscheinen die Leute auf dem Democracy Square nicht sonderlich gedrosselt. Die meisten wirken sogar echt seriös, eine Kapuzenjacke trägt hier jedenfalls niemand. Vielleicht sollte ich meine Kapuzenjacke besser in meinen Rucksack stopfen und dann sollte ich den Rucksack samt Kleber loswerden. Sollte ihn an Ort und Stelle fallen lassen oder, besser noch, im nächsten Mülleimer versenken. Aber der Kleber hat mich ein Viertel meines Guthabens gekostet, außerdem surrt über uns eine Drohne.

»Und dann hat er mich rausgeschmissen«, sagt eine Frau neben mir.

»Jeden Tag haben sie die gleichen Sandwiches im Angebot«, sagt ein Mann.

»Müssen wir nicht irgendwas rufen?«, fragt ein anderer Mann.

»Mörder! TNE! Mörder! TNE!«, ruft eine Frau, aber niemand macht mit.

Dann setzt sich die kleine Menschenmenge in Bewegung. Ich habe keine Ahnung, ob ich mitlaufen oder mich aus dem Staub machen soll. Beides kommt mir verdächtig vor. Inmitten von hundert Demonstranten gehe ich die Außenspur der sechsspurigen Democracy Avenue entlang. Ungerührt ziehen die Autos an uns vorbei, die Leute darin wischen auf ihren SigPhones rum, telefonieren, texten. Niemand wirft auch nur einen Seitenblick auf diesen kümmerlichen Zug.

Als die National Library in Sicht kommt, lasse ich mich unauffällig ans Ende der Demo fallen. Das ist meine Lieblingsmetrostation, vielleicht sollte ich hier verschwinden. Schon sehe ich die Rolltreppen, dann weht die feuchte Metroluft mich an. Ich halte mein SigPhone an den Sensor und achte darauf, so zielstrebig wie die anderen zur Rolltreppe zu gehen. Unter der Decke ziehen sich neongrüne Röhren entlang. Wie das Wurzelwerk eines Baumes werden sie lichter, je tiefer man in den Boden eindringt. Ganz kurz flackert vor meinem inneren Auge die Fliese auf, die im Schneckentempo die Metallhaut des Dream Center runterrutscht. Das habe ich mal wieder ordentlich verrissen, denke ich. Ohne dieses kurzhaarige Mädchen säße ich jetzt in einer Office. Wer war dieses Mädchen und warum warnt sie mich erst und schickt mich dann in diese verdammte Sackgasse?

Auf der Plattform fährt gerade eine Metro ein. Damit ich den Kameras nicht auffalle, schenke ich dem alten Mann neben mir keinen Millimeter.

TARA

»Was machst du da?«

»Wonach sieht es denn aus?«

»Es sieht aus, als würdest du in einem Garten, der dir nicht gehört, auf einem Holzstuhl sitzen, der dir ebenfalls nicht gehört.«

»Wem gehört er?«

»Und kann es sein, dass du gestern Abend in einem Zimmer gehockt hast, das dir erst recht nicht gehört?«

Meine Stimme ist schrill. Sie ist viel zu schrill dafür, dass dieser rothaarige Junge einfach nur in Singalovs Garten sitzt. Soll er doch früh um sieben seine dünnen Beine in die Sonne halten, soll er doch seine Lippen spitzen und in Alúns Lieblingstasse pusten.

Sein Gesicht kommt mir bekannt vor, aus Rekan kenne ich es aber nicht. Genau wie seine Arme und Beine ist es ungewöhnlich hell und mit Sommersprossen in allen Goldtönen gesprenkelt. Der Typ wirkt durchsichtig, wie aus Glas, und auch seine Stimme klingt hell wie Glas, als er zu mir sagt: »Du musst Tara sein.«

»Wer will das wissen?«

»Ich bin –« Der Junge zögert. »Ich bin Ste.«

Er stellt seine Tasse beiseite und kommt auf mich zu. Offenbar hat er beschlossen, meine Angriffe einfach an sich abprallen zu lassen. Als er den Zaun fast erreicht hat, bemerke ich meinen Irrtum: Ste ist kein Junge, sondern ein Mädchen – ein Mädchen mit einer hellen Stimme, ein Mädchen, das etwas größer ist als ich. Viel älter kann sie jedoch nicht sein und wahrscheinlich sollte ich mich jetzt über die Aussicht freuen, meine Tage nicht ausschließlich mit Mama und Beer zu verbringen, von Manar ganz zu schweigen.

»Ist die Gelbe Zone jetzt offen?«, fragt sie mit ihrer hellen Stimme. »Meinst du, die Singalovs kehren auch zurück?«

»Hoffentlich nicht.« Ich presse die Lippen aufeinander. Das hier ist der Campo District und nicht irgendeine Zone und die Singalovs sollen bleiben, wo sie sind.

»Echt?« Ste wirkt überrascht. Sie hebt ihre rechte Hand und kreuzt Zeige- und Mittelfinger. »Und ich dachte, Alún und du, ihr wärt so.«

»Du kennst Alún?«

»Ich kenne sein Zimmer. Das mir nicht gehört, da hast du recht.« Nervös fährt sie sich durch die Haare. »Habt ihr euch noch vor dem Unfall verstritten oder erst danach?«

»Lange davor.« Eilig suche ich nach einer anderen Frage. »Ist das eine Kansaii aus der Limited Edition?«

»Kann sein.« Ste schaut an sich herab, als würde ihr erst jetzt auffallen, dass sie eine dieser perfekten Shorts trägt. Der Stoff soll unendlich weich sein, aber das weiß ich nur vom Hörensagen.

»Nur bei der Limited Edition ist das Logo in Rot gestickt.«

»Wusste ich nicht.« Ste zuckt mit den Schultern. »Mein Vater hat sie mir geschenkt.«

»Du hast eine Kansaii Limited und weißt nichts davon?«

»Ich glaube, ich habe insgesamt drei.«

»Du hast drei Limiteds? Was ist dein Vater? Der General Manager von Kansaii?«

»Wenn du die so gut findest, schenke ich dir eine.«

»Im Ernst«, sage ich und suche Stes Blick. »Du bist doch nicht aus Rekan. Woher kommst du?«

Ste hebt den Arm und zeigt irgendwohin.

»Aus Tonfato? Und was hast du dort gemacht?«

»Das Übliche«, sagt Ste. »Das ist aber schon eine ganze Weile her.«

»Und was sagen deine Eltern dazu, dass du deine Kansaii-Kollektion eingepackt hast und damit in eine Sperrzone gepilgert bist?«

»Nicht sehr viel.« Ste tritt von einem Fuß auf den anderen. »Verrätst du mir, warum du dich mit Alún verstritten hast?«

»Aus reinem Spaß.« Mit schnellen Schritten gehe ich auf unser Haus zu. Als ich die Klinke runterdrücke, merke ich, dass meine Hände zittern. Ganz kurz drehe ich mich um. »Wie kommst du auf die Idee, dass dich das irgendwas angeht?«

Meine Hände zittern noch, als ich in der Küche ein Schälchen aus dem Schrank nehme und es mit Müsli fülle, und sie zittern, als ich den Kühlschrank öffne, um die Milch rauszuholen. Aber im Kühlschrank steht natürlich keine Milch, und selbst wenn dort Milch stünde, sollte ich sie keinesfalls trinken. Das Müsli aus meinem Schälchen sollte ich auch nicht essen und wieso habe ich mit diesem fremden Mädchen draußen im Garten überhaupt so lange gesprochen? An der Spüle wasche ich mir Hände und Gesicht, dann setze ich mich an den Küchentisch und frage mich, wie viel es bringt, wenn ich mich mit dem Wasser aus der Leitung wasche. Ste steht immer noch in Singalovs Garten, als gäbe es keine Gelbe Zone und keine Grenzwerte. Kann es wirklich sein, dass sie schon länger hier lebt? Mein Blick geht weiter zur Main Road. Dort liegt ein umgekippter Kinderwagen, dahinter erkenne ich das Dach des Southern Campo District Educational Center. Irgendwann haben Alún und ich ausgerechnet, dass wir mit achtzehn Jahren fünfunddreißig Prozent unseres Lebens dort verbracht haben werden, und wir waren uns einig, dass das die deprimierendste Zahl war, die jemals auf unseren SigPhones aufgeleuchtet hat. Mein Prozentsatz wird sich in den kommenden Wochen höchstwahrscheinlich verringern. Wann die Schule weitergeht, steht in den Sternen, und ich habe nicht vor, sonderlich viel Zeit auf die Worksheets zu verwenden, die ab sofort auf meinem SigPhone eintrudeln werden. Gestern habe ich mich noch darauf gefreut, dass ich endlich das machen kann, was ich will. Und klar, ich könnte mich in Florazul legen und Lucifer’s Paradise schauen. Ich könnte zum Haus von Jenitas Eltern gehen und nachschauen, ob im Baumhaus noch unsere Kansaii-Kataloge liegen. Ich könnte die Stille genießen: Auf der Main Road fährt immer noch kein Auto und am Himmel surrt keine Drohne. Ich könnte mich auch freuen, dass wir diese nervigen Teile endlich los sind. Stattdessen finde ich das mindestens so beklemmend wie die Tatsache, dass ich am ersten Morgen meines dritten Lebens in unserer Küche sitze und mich nicht in unseren Garten traue, vom Nordwald oder dem Zigosee ganz zu schweigen.

»Du bist ja schon wach, mein Stern«, sagt Mama, als sie hundert Stunden später die Küche betritt. »Alles klar?«

»Könnte nicht klarer sein«, sage ich.