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Die stillste Zeit des Jahres hat Krimiautorin Edith Kneifl zu spannenden Kurzkrimis verarbeitet – denn am Heiligen Abend kann so einiges passieren. Und so wird so manche Familie und mancher Freundeskreis zum Ort des Bösen. Geschäftige Weihnachtsmärkte, zwielichtige Cafés, Hotels, Tankstellen und andere Orte werden zum Schauplatz mörderischer Machenschaften.
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Seitenzahl: 275
Wenn Kinderaugen um die Wette leuchten, Frauen sich Orgien im Keksebacken hingeben und Männer plötzlich Bäume mit nach Hause bringen, dann kann das nur eines bedeuten: Weihnachten steht vor der Tür.
Die „stillste Zeit des Jahres“ inspirierte die Kriminalschriftstellerin Edith Kneifl zu 13 Kurzkrimis. Denn wenn es nach Lebkuchen duftet, allerorten Weihnachtslieder ertönen, Christkind, Weihnachtsmann und Rentier Hochsaison haben, rumort es im Untergrund nur umso heftiger und manchmal passieren schreckliche Dinge.
So erlebt manche Familie am Heiligen Abend die Hölle auf Erden, lichtet sich so manche Freundesschar durch mörderische Hand, rächt sich die eine oder andere gescheiterte Exixtenz ausgerechnet am Fest der Liebe für die erlittene Schmach.
Edith Kneifl
Tatzeit Weihnachten
13 schaurig-schöne Kriminalgeschichten zum Fest
FALTERVERLAG
© 2019 Falter Verlagsgesellschaft m.b.H.
1011 Wien, Marc-Aurel-Straße 9
T: +43/1/536 60-0, E: [email protected], W: www.falter.at
Alle Rechte vorbehalten. Keine unerlaubte Vervielfältigung!
ISBN ePub: 978-3-85439-658-1
ISBN Kindle: 978-3-85439-651-2
ISBN Printausgabe: 978-3-85439-641-3
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2019
Cover
Titel
Impressum
Treffpunkt Pilgrambrücke
Felix
Reise nach Marrakesch
Lasst uns froh und munter sein
Vater gesucht
Leise rieselt der Schnee
Nachtschwärmer
Ihr Kinderlein kommet
Wiener Christkindl
Der Traummann
Alle Jahre wieder
Montevideo
Hotel Casablanca
Autorin
Die Handlung der folgenden Kurzgeschichten ist frei erfunden. Manche der Krimis sind von wahren Begebenheiten beeinflusst, trotzdem ist jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen rein zufällig.
Isabella war trockene Alkoholikerin. Zeitweise. Wenn sie sich einrauchte, vergaß sie manchmal darauf, dass sie trocken war. Danach suchte sie meist ein Treffen der Anonymen Alkoholiker auf, gestand ihren Rückfall und hielt es, gestärkt durch die Gruppe, wieder einige Monate ohne den Teufel Alkohol aus. Das funktionierte nun schon seit einigen Jahren ganz gut.
Eigentlich hatte sie heuer Weihnachten ignorieren wollen. Diese gesetzlich verordneten Feiertage waren ein einziger Horror für verarmte, alleinstehende Menschen wie sie.
Der Gedanke, drei Tage zuhause vor dem Fernseher zu hocken, bis ihre Augen die Form von Quadraten angenommen hatten, erschien ihr nur wenig verlockend. Zum Glück hatte sie noch eine Wohnung und war nicht in der Gosse gelandet, wie ihr einst ein Psychiater prophezeit hatte.
Die ausbezahlte Eigentumswohnung in einem Gründerzeitbau auf der Linken Wienzeile, Nähe Pilgrambrücke, hatte sie von ihren Eltern geerbt. Die Betriebskosten der Altbauwohnung im dritten Stock ohne Lift hielten sich in Grenzen. Ihre Eltern hatten ein winziges Bad und eine Küche im riesigen Vorzimmer einbauen lassen. Heizen musste sie die beiden großen Zimmer allerdings nach wie vor mit Öl. Den elektrischen Strahler im Bad benützte sie nur, wenn es draußen Minusgrade hatte.
Ihre Mindestpension reichte nicht zum Überleben. Isabella war jedoch, trotz langjährigen Alkohol- und Drogenmissbrauchs, noch klar im Kopf und ziemlich erfindungsreich.
Als junge Frau war sie eine zumindest in Wien sehr bekannte Sängerin gewesen.
Als sie mit Anfang vierzig ihre Stimme verlor, verabschiedete sich auch der Gitarrist und Bandleader von ihr. Sie waren zwanzig Jahre lang miteinander liiert, aber nicht verheiratet gewesen. Heiraten galt damals als spießig und kleinbürgerlich, kam in den Kreisen, in denen sie verkehrte, nicht infrage. Nach ihrer Trennung machte er eine große Solokarriere, heiratete eine viel jüngere Frau und produzierte im zarten Alter von fünfzig noch ein Kind. Die übliche Geschichte, doch es war ihre Geschichte und sie tat bis heute weh.
Anfangs hatte sie sich mit jüngeren Männern getröstet und all die Tantiemen, die noch jahrelang von Schallplatten- und CD-Verkäufen eintrudelten, verkokst. Als sie eines Tages wegen Kokainbesitzes verhaftet worden war, hatte ihr ein Anwalt, ein früherer Fan, aus der Patsche geholfen. Sie war eine kurze Affäre mit ihm eingegangen. Obwohl sie beide miteinander um die Wetter soffen, hatte es mit einer Beziehung nicht so recht klappen wollen. Sie waren jedoch Freunde geblieben.
Heute rauchte Isabella nur mehr Haschisch und dealte ein bisschen damit, um sich den eigenen Konsum zu finanzieren. Ihre Pension reichte gerade für die Wohnungskosten und die Handygebühren. Alle Extras, wie Kleidung, Schuhe oder Luxusgüter wie Bücher und Kosmetika, beschaffte sie sich kostenlos.
Isabella war sehr schlank, fast dünn. Sie sparte vor allem beim Essen. Trotz vieler Falten sah man ihr die vierundsechzig Jahre nicht an. Sie hatte große braune Augen und langes graues Haar, das sie im Nacken zu einem straffen Knoten zusammenband, wenn sie bei ihren Diebeszügen einen seriösen Eindruck machen wollte. Bisher war sie nie erwischt worden, außer einmal beim Schwarzfahren von zwei Kontrolleuren in Zivil. Eine vorgeschürzte, mit akutem Gedächtnisverlust einhergehende Herzattacke hatte sie vor dem Schlimmsten bewahrt. Die Schwarzkappler hatten anstatt die Polizei einen Notarzt gerufen. Das Geld, das ihre Eltern für zwei Jahre Schauspielschule ausgegeben hatten, war also nicht völlig verschwendet gewesen.
Um nicht dem Weihnachtsblues zu verfallen, hatte Isabella ihre beiden einzigen Freunde eingeladen, den Heiligen Abend mit ihr zu verbringen. Brigit und Philip waren ihre »ambulante Familie«, ein Begriff, den die leider längst verstorbene großartige österreichische Schriftstellerin Elfriede Gerstl einst für ihre Freunde geprägt hatte.
Am späten Vormittag, als der Trubel am Naschmarkt am schlimmsten war, brach Isabella zu ihrer Einkaufstour auf. Sie kaufte und bezahlte brav die Zitronen, Paradeiser und ein Basilikumstöckl bei einem Obst- und Gemüsestand. Die Delikatessen in den sauteuren Läden ließ sie einfach in den tiefen Taschen ihres langen Wintermantels verschwinden. Sie wusste nicht genau, was sie eingesteckt hatte, da sie ihre Lesebrille zuhause vergessen hatte. Aber all die Gläser mit Gänseleber, Entenpastete, Wachteleiern oder Trüffeln sahen gleich appetitlich aus.
Alte Frauen sind unsichtbar. Auf dieses Klischee war Verlass. Keine der jungen, schicken Verkäuferinnen hatte ihr auch nur die geringste Beachtung geschenkt, als sie diese Köstlichkeiten mitgehen ließ.
Mehr Schwierigkeiten bereitete ihr die kostenlose Beschaffung von Lachs. Lachs musste leider sein, gehörte zu den Lieblingsfischen ihrer Freundin Birgit, genannt Brigit, nach Brigitte Bardot, der sie in Jugendjahren ein bisschen ähnlich gesehen hatte.
Sollte sie einfach ein großes Stück Lachs aus dem Bett von Eis zerren und in ihre Einkaufstasche werfen? Bei dem Gedanken musste sie lachen. All die gut gekleideten, reichen jungen Leute, die sich um den besten Fischstand am Naschmarkt drängelten, würden ganz schön blöd dreinschauen, dachte sie. Leider konnte sie nicht mehr schnell genug laufen, sonst hätte sie das glatt getan.
Sie wechselte zu einem anderen Fischstand. Hier tummelten sich die weniger Erfolgreichen, Bobos mit Kinderwägen, junge Schnösel mit Sektglas in der Hand und einige intelligenter aussehende Menschen, die halt auch ein Stückchen Fisch für den Heiligen Abend kaufen wollten.
Am Ende der langen Theke erblickte sie eingeschweißten Lachs, einen richtig großen Haufen Räucherlachs. Keiner schien sich dafür zu interessieren. Jeder wollte frischen Fisch. Wieder verjüngte ein Lächeln ihr Gesicht. Frischer Fisch in Wien? Aus dem Donaukanal vielleicht? Mein Gott, sind die Leute blöd! Und schon hatte sie sich eine 250-Gramm-Packung hygienisch verpackten norwegischen Räucherlachs geangelt und in ihrer Tasche verschwinden lassen. Keiner hatte sie gesehen, keiner hatte es bemerkt.
Beschwingt begab sie sich in eine eher ungustiöse Supermarkt-Filiale in der Nähe des Naschmarkts und ließ dort die restlichen Sachen wie Oberskren, Dillsenfsauce und Ersatzkaviar mitgehen, bezahlte nur das Klopapier und den Mozzarella im Sonderangebot.
Zur Feier des Tages nahm sie die U4, obwohl es nur eine Station bis zur Pilgrambrücke war. Doch die vielen Delikatessengläser, die Zitronen, Paradeiser, das Basilikumstöckl und der Lachs in ihrer Tasche hingen sich ordentlich an.
In der Pilgramgasse hatte einer der besten Bäcker Wiens eine Filiale. Zur Feier des Tages kaufte sie köstliches Brot zu Apothekerpreisen. Schließlich hatte sie bisher nicht viel ausgegeben.
Bei der Busstation vor der Bäckerei lungerten kaputte Typen herum. Sie kannte den einen oder anderen vom Sehen. Ihr Freund Philip hatte früher sein Anwaltsbüro im Hochparterre des Nachbarhauses. Heute wohnte er in seinem ehemaligen Büro. Nicht selten hatten Philip und sie sich nächtens in einem dieser schäbigen kleinen Läden mit Bier und Wein versorgt.
Ihr Freund war fünf Jahre älter als sie. Er bezeichnete sich selbst als Winkeladvokaten, seit er aus der Anwaltskammer ausgeschlossen worden war. Seit kurzem war Philip auf einem Auge fast blind.
Er sah dem berühmten Schauspieler Humphrey Bogart ein bisschen ähnlich, hatte ebenso kantige Gesichtszüge und ein ebenso schiefes Lächeln. Außerdem trug er fast immer einen Hut. Allerdings war er mindestens einen Kopf größer als die Schauspielerlegende.
Philip behauptete oft, er fühle sich hier im Fünften wie im New York der späten 1970er-Jahre. Nach Beendigung seines Studiums hatte er ein paar Monate in der Stadt, die niemals schläft, verbracht und war anscheinend in der damals noch schäbigen Lower East Side in solch abgefuckten Bars und Läden wie hier herumgehangen.
Sie überlegte, auf einen Kaffee bei ihm vorbeizuschauen und sich ein bisschen Geld von ihm zu borgen. Ein Blick auf ihre Uhr ließ sie von diesem Plan Abstand nehmen.
Jetzt auch noch mit dem schweren Brot bepackt, schlurfte sie wieder hinüber zur U-Bahn-Station Pilgramgasse.
Sie war pünktlich. Ihr junger Dealer verspätete sich. Während sie überlegte, wie sie ihn überreden könnte, ihr den Stoff auf Pump zu geben, schnorrte sie ein Junkie an. Sie gab ihm einen Euro. Mehr hatte sie nicht dabei. Der Typ spuckte vor ihr aus.
Plötzlich tauchte Caspar aus dem Untergrund auf. Der Junkie machte sich rasch aus dem Staub. Wahrscheinlich hatte er Schulden bei dem Dealer.
Caspar schüttelte ihr freundlich die Hand. »Frohe Weihnachten«, sagte er grinsend. Er war Katholik und nach einem der Heiligen Drei Könige genannt worden, hatte er ihr einmal erzählt.
Kurzerhand lud sie auch ihn für heute Abend ein. Er solle den Stoff sozusagen ins Haus liefern. Sie versprach, bis dahin das Geld aufzutreiben. Wie so oft, verließ sie sich auf ihre beiden Freunde. Obwohl Philip ziemlich heruntergekommen war, schien er für Alkohol und Shit immer genügend Geld zu haben. Und ihre Freundin Brigit bezog als ehemalige Lehrerin an einem Gymnasium sowieso eine gute Pension.
Ihr Dealer ließ sich auf diese ungewöhnliche Verabredung ein. Sie kannten einander schon seit drei Jahren. Bisher hatte Isabella immer gleich bezahlt. Als sie ihm ihre Adresse nannte, winkte er ab. Er schien zu wissen, wo sie wohnte.
Als Isabella ihre Einkäufe im Kühlschrank verstaute, klingelte das Handy.
Brigit – wer sonst?
Ihre Jugendfreundin war eine Nervensäge, eine Besserwisserin und Dauerrednerin. Oft rief sie sechs Mal am Tag an. Andererseits konnte sie auch sehr lieb sein. Sie half Isabella schon seit vielen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, immer wieder finanziell aus der Patsche.
Brigit wohnte nicht weit von ihr, hatte eine hübsche Gemeindebauwohnung mit Balkon im Einstein-Hof. Die ehemalige Frau Professor war immer noch vollbusig und blond. Acht Jahre lang hatte sie mit Isabella das Gymnasium in der Rahlgasse besucht, war ihre Banknachbarin gewesen. Nach der Matura hatte Brigit studiert und war dann Lehrerin an ihrem ehemaligen Gymnasium geworden, hatte Mathematik und Musik unterrichtet. Irgendwann hatte sie einen Lehrerkollegen geheiratet. Mittlerweile war sie schon ewig lange geschieden. Während ihrer Ehe hatten die beiden Schulfreundinnen keinen Kontakt miteinander gehabt. Erst als sich Brigit nach ihrer Scheidung in Bars herumtrieb, immer auf der Suche nach einem neuen Mann, hatten sie sich eines Nachts in einer Spelunke in der Nähe des Naschmarkts wiedergesehen und sich seither nicht mehr aus den Augen verloren.
Brigit war nicht kleinlich. Sie wusste, dass sie das Geld, das sie ihrer Freundin borgte, nie wiedersehen würde. Manchmal erbte Isabella auch schicke Sachen von ihr, obwohl Brigit etwas aus dem Leim gegangen war. Sie waren etwa gleich groß, aber Brigit war mindestens fünfzehn oder sogar zwanzig Kilo schwerer. Isabella sah in den Klamotten ihrer Freundin aus wie ein Kleiderständer, an dem alles flatternd herunterhing. Brigits Pullover waren Minikleider für sie.
Isabella rief ihre Freundin zurück. Schließlich musste sie Brigit heute bei Laune halten.
Nachdem sie sich zum hundertsten Mal angehört hatte, wie rücksichtslos und unverschämt Brigits neue Nachbarn waren – alle mit Migrationshintergrund natürlich –, wollte sie schon auflegen, doch nun begann ihre Freundin zu heulen. Sie halte das Alleinsein nicht mehr aus, sie komme mit dem Altwerden nicht zurecht, könne nicht schlafen, sie wolle so nicht mehr weitermachen, denke andauernd an Selbstmord …
Isabella hörte ihr nicht mehr zu, legte das Handy auf den Tisch, drückte auf die Lautsprechertaste und las inzwischen die Gratiszeitung, die sie sich von einem Ständer bei der U-Bahn-Station mitgenommen hatte. Von Lesen konnte eigentlich nicht die Rede sein. Es gab nur riesige Schlagzeilen und viele Bildchen: Kopftuchverbot für Kindergartenkinder, Einreiseverbot für Krieger aus dem wilden Kurdistan …
Inzwischen war es fast sechzehn Uhr. Isabella wagte es, den Wortschwall ihrer Freundin zu unterbrechen: »Ich würde gerne noch duschen und muss dann schön langsam mit den Vorbereitungen für heute Abend beginnen. Lass uns bitte später weiterreden.«
»Das ist wieder typisch für dich! Wenn ich verzweifelt bin, hast du nie Zeit für mich. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt zu dir kommen werde. Du und Philip, ihr raucht euch doch eh wieder nur ein. Und ich, was soll ich machen? Mich betrinken? Das ist keine Lösung …«
»Ich bitte dich, Brigit, beruhige dich. Du wirst sehen, wir werden einen wunderschönen Heiligen Abend miteinander verbringen. Ich habe ganz tolle Sachen eingekauft, Gänseleber, Kaviar und deinen geliebten Lachs.«
»Woher hast du das Geld?«
»Von Philip«, log Isabella.
»Hoffentlich wird er heute mal halbwegs nüchtern sein.«
»Das wird er. Seit kurzem trinkt er erst ab Sonnenuntergang.«
»Der ist schon eine Weile her.«
»Ach Brigit, jetzt zieh dich schön an und dann kommst du rüber, okay? Und vergiss nicht, den Sekt mitzubringen. Für Sekt hat meine Marie nicht mehr gereicht.«
Um achtzehn Uhr läutete es.
Nicht Brigit, nicht Philip, sondern Caspar stand vor der Tür.
Er kam zu früh. Hatte sie nicht neunzehn Uhr gesagt?
Caspar trug eine schwarze, mit weißem Pelz gefütterte Lederjacke zu seiner eleganten schwarzen Hose und seinem weißen Hemd. Er sah verdammt gut aus.
Mit breitem Grinsen deutete er eine kleine Verbeugung an.
Sie bat ihn herein.
Der Tisch war nur für drei Leute gedeckt.
Isabella bot ihm ein Glas Wein an. Er lehnte ab, wollte schnell zum Geschäft kommen.
»Du bist viel zu früh dran. Ich erwarte noch zwei Freunde. Sie bringen das Geld, verstehst du?«
Plötzlich blickte er sie weniger freundlich an. Sein misstrauischer Blick wanderte über die altmodischen Möbel in ihrer Wohnung.
»Du hast kein Geld!« Es klang mehr wie eine Feststellung als eine Frage.
»Ich bekomme gleich was, du musst nur ein bisschen warten.«
Schon seit Stunden sehnte sie sich nach einem Joint. Der ganze Scheißtag war mehr als anstrengend gewesen. Schön langsam wurde sie zu alt für diese Diebstouren. Das Telefonat mit der lebensüberdrüssigen und krankhaft schwatzsüchtigen Brigit hatte ihr dann noch den Rest gegeben.
»Dreh mir einen Joint, ich mache dir derweil einen Kaffee.«
»Aber den Joint zahlst du mir gleich.«
»Selbstverständlich. Wie viel?«
»Zehn Euro pro Gramm, wie immer. Und ich will den Zehner sofort, sonst lassen wir es bleiben.«
Isabella ging in die Küche, holte den letzten Zehner aus ihrer Zuckerdose und gab ihn Caspar.
»Mach schon«, sagte sie.
Er öffnete seinen Rucksack. Ihr Blick fiel auf unzählige Säckchen in den unterschiedlichsten Größen. Außer dem üblichen Afghanen, den sie meistens kaufte, schien er auch Crack, Koks und sogar Heroin dabeizuhaben. Was für eine Morgengabe!
Sie ging wieder in die Küche, stellte ihre große italienische Espressomaschine – ein Relikt aus guten alten Zeiten, als sie noch in Kaufhäusern klaute, bevor diese videoüberwacht wurden – auf den Gasherd.
In ihrer Wohnung war es saukalt. Philip hatte versprochen, Heizöl von der Tankstelle auf der Rechten Wienzeile mitzubringen. Seit der letzten immensen Preissteigerung hatte sie nur selten Heizöl vorrätig. Meistens lief sie im Winter in ihrer Wohnung in einem warmen, schwarzen Daunenmantel, den ihr Brigit geschenkt hatte, herum.
Als sie die Espressomaschine ins Wohnzimmer brachte, zitterten ihre Hände. Sie hatte das stählerne Gerät mit einem alten Topflappen angefasst. Trotzdem verbrannte sie sich fast die Finger.
Caspar saß, die Stöpsel seines iPhones in den Ohren, mit dem Rücken zu ihr auf dem durchgelegenen Sofa. Auf dem alten Couchtisch lag ein dicker Joint.
Isabella wollte danach greifen, doch plötzlich wurde ihr schwarz vor den Augen. Sie befürchtete umzukippen, klammerte sich an die Lehne des monströsen Fernsehsessels ihres längst verstorbenen Vaters.
»Verzeih, mir ist schwindlig«, murmelte sie.
»Wo bleiben deine reichen Freunde? Ich lasse mich von dir nicht für blöd verkaufen, ich werde gehen«, sagte Caspar und traf Anstalten aufzustehen.
Sie rastete aus. Anstatt dem jungen Afrikaner den Kaffee einzugießen, schlug sie ihm die volle Espressomaschine auf den Hinterkopf. Der brühend heiße Kaffee breitete sich über seine kurzen Haare aus, rann über sein Gesicht.
Ein Schrei, der Tote hätte wecken können, entkam seinem Mund. Sein Körper begann zu zucken. Er sank aufs Sofa.
In diesem Moment läutete es an der Haustür.
»Scheiße!« Isabella erstarrte. Das war bestimmt Brigit. Sie war immer überpünktlich.
Dauerte es ein paar Minuten oder nur Sekunden, bis sie den jungen Schwarzen an den Beinen packte und vom Sofa zerrte? Der Bezug hatte einige Kaffeeflecken und vor allem Blutflecken abbekommen, was aber nicht auffiel, weil er ohnehin total versaut war.
Sie schleppte den leblosen Körper in ihr Schlafzimmer, verstaute ihn unter dem Doppelbett.
Zum Glück war Caspar kein großer Mann. Trotzdem leuchteten seine silberfarbenen Sportschuhe unter dem Bett hervor. Rasch zog sie ihm die Schuhe aus und warf sie in ihren Kleiderschrank.
Penetrantes Läuten. Brigit war eine hartnäckige Person.
Bevor Isabella in die Küche eilte und den Türöffner betätigte, stieg sie auf ihr Bett, drehte die Birne von der Deckenlampe heraus und ließ sie ebenfalls unter dem Bett verschwinden.
Brigit brachte zwei Flaschen Sekt und zwei Flaschen Wein mit, einen weißen und einen roten. Sie wirkte schon leicht beschwipst. Wahrscheinlich hatte sie vorge-glüht.
Wie eine Irre redete Sie auf Isabella ein, sprach nur Unsinn, wiederholte sich permanent, drohte mehrmals, sich umzubringen.
Isabella war mit ihren Gedanken ganz woanders. Sie war eine Mörderin, hatte gerade einen jungen, feschen Afrikaner ins Jenseits befördert! Eine merkwürdige Starre ergriff ihren Körper. Unfähig, sich zu bewegen, starrte sie ihre festlich herausgeputzte Freundin, an der alles glänzte, selbst die hochhackigen Schuhe, entgeistert an.
Plötzlich fiel ihr Blick auf Caspars Rucksack, der halb offen am Sofa lehnte.
Rasch dirigierte sie Brigit in die Küche, bat sie, ihr bei der Vorbereitung des Essens zu helfen. Während Brigit ihr erklärte, wie man den Lachs und den falschen Kaviar am besten drapierte, lief sie zurück ins Wohnzimmer, schnappte sich Caspars Rucksack und zog den Reißverschluss zu. Sie wollte ihn gerade ins Schlafzimmer bugsieren, als ihre Freundin auf der Türschwelle erschien.
»Was ist das für ein Rucksack? Der sieht ja richtig schick aus. Lass mal sehen.«
»Finger weg! Das geht dich nichts an«, fauchte Isabella, warf den prallen Sack ins Schlafzimmer und schloss rasch wieder die Tür.
Sie hätte ihre Freundin besser kennen müssen, denn nun bestand Brigit darauf, sich den Rucksack genauer anzusehen.
Isabella stellte sich mit gespreizten Beinen vor die Tür, streckte ihre Arme aus. Sie kam sich dabei total lächerlich vor.
Brigit begann tatsächlich zu lachen, versuchte, sie beiseitezuschieben: »Sei nicht so kindisch, zeig her.«
Buchstäblich in letzter Sekunde fiel Isabella, trotz ihrer Panik, eine geniale Ausrede ein: »Da sind die Geschenke für euch drin«, sagte sie mit gequältem Lächeln.
Geschafft! Auch Brigit lächelte nun und setzte sich auf das Sofa, genau auf den Platz, an dem Caspar gesessen war.
Isabella wurde übel. Die Blut- und Kaffeeflecken waren frisch, würden sicher Spuren auf dem cremefarbenen Cocktailkleid ihrer Freundin hinterlassen.
Während Brigit eine der mitgebrachten Weinflaschen öffnete und sich ein Gläschen einschenkte, schnappte sich Isabella den Joint vom Couchtisch und ging in die Vorzimmerküche. Nach zwei tiefen Zügen, machte sie sich daran, den geklauten Räucherlachs aufzuschneiden. Selbst dem schwarzen Afghanen gelang es nicht, sie zu beruhigen. Ihre Nerven spielten nicht mehr mit. Ihre Hände zitterten so stark, dass sie sich in den linken Zeigefinger schnitt. Blut tropfte auf den Lachs. Sie unterdrückte einen Schrei, doch wie ein Echo ertönte ein Schrei aus ihrem Wohnzimmer.
»Igittigitt, was ist denn das? Mein Gott, das sieht ja aus wie Blut!«
Isabella stürzte ins Wohnzimmer.
Brigit stand neben dem Sofa, streckte ihr die blutverschmierten Hände entgegen.
»Verfluchte Scheiße«, schrie Isabella.
Verzweifelt suchte sie nach einer Erklärung für das frische Blut.
»Meine Katze ist gerade verreckt.«
»Seit wann hast du eine Katze?«
»Ich habe sie vor kurzem am Naschmarkt aufgelesen. Sie hinkte und tat mir so leid.«
»Du bist echt verrückt. Und was hast du mit dem Kadaver gemacht?«
»Hinunter in den Mistkübel gebracht.«
»Oder in diesen Rucksack gesteckt? Hier stinkt es.«
Brigit machte ein paar Schritte auf das Schlafzimmer zu.
Isabella versuchte sie zurückzuhalten, packte ihre Arme. Brigit war stärker als sie, schließlich besuchte sie zweimal in der Woche ein Fitnessstudio. Geschickt machte sie sich los und griff nach der Türklinke.
»Keinen Schritt weiter!« Isabellas Stimme war nahe am Kippen. »Du willst mir doch nicht den Heiligen Abend versauen.«
»Sehr witzig. Mein Kleid ist bereits total versaut. Du weißt, ich hasse es, wenn du mich belügst. Was ist in dem Rucksack? Woher hast du ihn?«
»Ich hab’s dir doch gesagt, Geschenke für dich und Josef. Sobald er da ist, werden wir essen und nachher machen wir die Bescherung.«
Überraschenderweise begnügte sich Brigit mit dieser Erklärung, ging ins Badezimmer und versuchte, die Flecken aus ihrem Kleid zu entfernen.
»Hast du noch das schwarze Etuikleid, das ich dir letztes Jahr geschenkt habe? Ich muss mich umziehen«, rief sie. »So kann ich deinem Herrn Anwalt nicht gegenübertreten.«
Isabella ging rasch ins Schlafzimmer, öffnete den Kleiderschrank. Die silberfarbenen Turnschuhe fielen heraus. Sie stopfte die monströsen Latschen wieder hinein. Fieberhaft suchte sie das Kleid. Im Dunkeln war es nicht so leicht zu finden, denn fast alle Klamotten in ihrem Schrank waren schwarz.
»Warum hast du kein Licht im Schlafzimmer?« Brigit stand plötzlich knapp hinter ihr.
»Die Birne ist kaputt.«
»Mein Gott, du bist wirklich eine Chaotin! Eine neue Glühbirne wirst du dir wohl noch leisten können.«
»Momentan habe ich andere Sorgen«, murmelte Isabella.
»Was sind denn das für tolle Turnschuhe? Die hast du sicher wieder irgendwo geklaut, oder?«
Die Straßenbeleuchtung und der Lichtschein aus dem Wohnzimmer reichten aus, um die silbern leuchtenden Schuhe unten im Schrank hervorblitzen zu sehen.
»Die sind für Josef, habe ich letztens in einem Outlet-Center mitgehen lassen. – Hier ist dein Kleid. Hoffentlich passt es dir noch.«
Obwohl Isabella am Rande eines Nervenzusammenbruchs stand, konnte sie sich diese boshafte Bemerkung nicht verkneifen.
Brigit ignorierte die Anspielung auf ihr Übergewicht, zog sich mit dem schwarzen Kleid ins Badezimmer zurück.
Als sie wieder ins Wohnzimmer kam, hatte Isabella das Sofa notdürftig gereinigt und eine alte Decke drübergelegt.
Brigit bevorzugte nun verständlicherweise den Vintage-Sessel aus den Fünfzigerjahren, den Isabella erst vor kurzem bei einem Altwarenhändler geklaut hatte, der leichtsinnigerweise einige seiner Möbel auf den Gehsteig gestellt hatte.
In dem schwarzen Cocktailkleid bekam Brigit kaum Luft. Ihr Anblick erinnerte Isabella an eine verbrannte Blutwurst. Sie versuchte, ein Kichern zu unterdrücken.
»Was findest du so lustig?«, fuhr Brigit sie an.
»Nichts, nichts, ich finde, du siehst in deinem Kleid sehr sexy aus, und habe mir gerade vorgestellt, wie Philip dich lüstern anstarren wird.«
»Du weißt, er ist nicht mein Typ«, beteuerte Brigit. Sie wirkte jedoch sogleich etwas entspannter.
Als Isabella den Lachs und die beiden Döschen mit Ersatzkaviar und das Baguette ins Wohnzimmer brachte, läutete es wieder.
»Philip!«
Isabella empfing ihren alten Freund mit einer stürmischen Umarmung. Noch nie war sie so froh gewesen, ihn zu sehen. Er würde Brigit auf andere Gedanken bringen und sie daran hindern, weiter herumzuschnüffeln.
Philip brachte außer dem Heizöl einen Plastikweihnachtsbaum von einem chinesischen Billig-Blumenladen und einen Strauß roter Rosen für sie mit.
Der Anwalt sah trotz seines Alters heute verdammt gut aus, hatte sich für den Heiligen Abend richtig was angetan, war rasiert, beim Friseur gewesen und hatte einen halbwegs passablen dunkelblauen Anzug an. Zu seinem altrosa Hemd trug er eine witzige Donald-Duck-Krawatte. Außerdem war er ausnahmsweise einmal nüchtern. Keine wässrigen Augen, keine unklare Artikulation …
Brigit machte sich sofort an ihn ran, tätschelte seine von Altersflecken übersäten Hände und redete auf ihn ein.
Isabella war überrascht, dass sie plötzlich so etwas wie Eifersucht verspürte.
Sie sehnte sich nach einem zweiten Joint und ging ins Schlafzimmer, während die beiden miteinander schäkerten.
Erschöpft ließ sie sich auf das Ehebett ihrer Eltern fallen, das jetzt ihr Bett war und unter dem sich ein toter Mann befand. Sie nahm ein Sackerl aus Caspars Rucksack, drehte sich noch einen Joint. Nach dem ersten Zug bereits fühlte sie sich ruhiger. Ihre Nervosität, ihre Schuldgefühle und ihre trüben Gedanken verflüchtigten sich mit jedem weiteren Zug. Wie in einem dichten Bühnennebel sah sie die Szene, in der sie Caspar erschlagen hatte, vor ihren Augen. Schemenhaft, ja beinahe unwirklich erschien ihr plötzlich alles. Es war nur ein böser Traum, dachte sie. Die Realität holte sie wieder ein, als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte.
Philip blickte sie verzweifelt an, während Brigit seine Oberschenkel streichelte und ihm etwas ins Ohr flüsterte.
Isabella legte »Born to Be Wild« von den Steppenwolf auf und sang mit. Ihre Stimme war zwar nicht mehr die beste, aber für diesen Song reichte sie.
Philip schaute sie bewundernd an, machte sich von Brigit los, erhob sich und forderte Isabella auf, mit ihm zu tanzen.
Während sich die beiden in immer wilder werdenden Verrenkungen der Musik hingaben, saß Brigit in ihrem Blutwurst-Kleid mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Vintage-Sessel, stopfte Lachs- und Kaviarbrötchen in sich hinein und schaute ihnen missmutig zu. Plötzlich sprang sie auf und ging ins Schlafzimmer.
Isabella hatte beim Tanzen die Augen geschlossen und bemerkte das Verschwinden ihrer Freundin zu spät.
»Was treibst du da?«, schrie sie, als Brigit ihnen den geöffneten Rucksack vor die Füße warf und sich die wertvollen Säckchen am abgetretenen Parkettboden ausbreiteten.
»Du rauschgiftsüchtiges Luder! Mir reicht’s! Ich werde jetzt die Polizei rufen. Du bist eine Gefahr für die ganze Menschheit. Verscherbelst Drogen an Schulkinder, nehme ich an …« Brigits Gesicht war hochrot angelaufen, ihre glasigen Augen funkelten wie die Sterne am weihnachtlichen Himmel.
Isabella und Philip starrten sie sprachlos an.
Isabella erholte sich als Erste von dem Schrecken. »Komm, beruhige dich. Das Zeug ist nur für mich bestimmt. Eigenbedarf, verstehst du?«
»Nein, ich verstehe nicht!«, schrie Brigit und griff nach ihrem Handy.
Die zweite Sektflasche, die Brigit mitgebracht hatte, stand ungeöffnet auf dem Couchtisch.
Lächelnd löste sich Isabella aus Philips Umarmung, griff nach der Flasche und schlug sie ihrer Freundin über den Schädel.
Entsetzt schaute Philip abwechselnd Isabella und Brigit an, der das prickelnde Gesöff übers Gesicht lief, als sie wie in Zeitlupe zu Boden sank.
Sektflaschen sind weniger effektvoll als Espressomaschinen, dachte Isabella beim Anblick ihrer stöhnenden Freundin, die jetzt zappelnd auf ihrem abgetretenen Parkettboden lag.
»Magst du einen Joint«, fragte sie Philip.
Langsam wich das Entsetzen aus seinen Augen. Ein Lächeln erschien auf seinen Lippen.
»Gerne«, sagte er. »Aber sollten wir nicht die Rettung rufen? Sie muss ins Krankenhaus.«
»Am Heiligen Abend? Da sind auch in den Spitälern alle besoffen. Sie wollte ohnehin nicht alt werden, hat andauernd davon geredet, sich umzubringen. Im Grunde habe ich ihr einen Gefallen getan. Lassen wir sie in Schönheit sterben. Obwohl, schön fand ich Brigit noch nie. Oder bist du anderer Meinung?«
Philip beantwortete diese alles entscheidende Frage in ihrem Sinne: »Sie war nie mein Typ, ist viel zu fett.«
»Anscheinend will sie aber noch nicht sterben. Sollen wir ihr eine Überdosis verpassen? Ich habe genügend Stoff …«
»Keine schlechte Idee! Sie bekommt den goldenen Schuss verpasst und dann werfen wir sie in den Wienfluss. Eine einsame alte Frau mehr, die Weihnachten nicht überlebt hat.«
Isabella liebte seinen Sarkasmus.
»Ich habe ihren Wohnungsschlüssel. Wir brauchen nichts zu riskieren, schleppen sie einfach zurück in ihre Wohnung, legen sie auf die Couch und schalten den Fernseher ein. Es wird Tage dauern, bis man sie findet. Ich befürchte, dass sie nicht viel Bargeld zuhause herumliegen hat, aber einige ihrer Antiquitäten oder ihren Schmuck könnten wir sicher verscherbeln.«
»Du bist unglaublich!« Philip nahm sie in die Arme und küsste sie.
Isabella machte sich von ihm los. »Hilf mir lieber, sie in den Sessel zu setzen, damit wir ihren Arm leichter abbinden können …«
»Okay, okay«, unterbrach Philip sie und fasste Brigit unter den Achseln.
»Verdammt, ist die schwer!«
Brigits rechte Hand traf seine Wange. Erschrocken ließ er sie wieder zu Boden gleiten.
»Mach schon, Philip! Ich will nicht, dass sie so lange leiden muss. Schließlich ist sie meine beste Freundin«, feuerte Isabella ihn an.
Er schaute ziemlich unsicher drein und rieb sich seine gerötete Wange.
Isabella blieb nichts anderes übrig, als selbst mitanzufassen. Zu zweit schafften sie es schließlich, die halbtote Brigit in den Vintage-Stuhl zu verfrachten.
»Übrigens werden wir beide demnächst richtig Kohle machen. Ich habe heute wertvolle Gaben von einem der Heiligen Drei Könige bekommen.« Sie deutete auf die Säckchen am Boden.
Philip war es nicht vergönnt, sich lange an dem Anblick all dieser Schätze zu erfreuen. Isabella reichte ihm sogleich ein Päckchen Heroin und warf einen Blick auf Brigit, die leise vor sich hin röchelte. Das enge schwarze Kleid war hochgerutscht, entblößte ihre dicken Schenkel. Ihre Arme hingen schlapp an den Sessellehnen herab.
»Bitte erledige du das, ich kann nicht mehr!«, seufzte Isabella. »Die Spritze und alles andere, was du benötigst, findest du in der untersten Schublade meines Küchenkastls.«
Während Philip ihre Freundin ins Jenseits beförderte, drehte sie sich einen dritten Joint.
Danach zeigte sie ihm den toten Schwarzen unter ihrem Bett.
»Leider müssen wir noch eine zweite Leiche entsorgen, aber das wird dir hoffentlich nichts ausmachen. Am besten wir bringen ihn auch in ihre Wohnung. Damit würden wir den Bullen die Arbeit erleichtern. Eine tödliche Auseinandersetzung zwischen einem Dealer und einer seiner Kundinnen … Die alte Kaffeemaschine und die Scherben von der zweiten Sektflasche müssen wir auch mitnehmen. Wir dürfen jetzt ja keinen Fehler machen«, nuschelte sie. Die Haschzigarette hing lässig in ihrem linken Mundwinkel.
»Don’t bogart that joint my friend«, sagte Philip und griff nach dem dicken Glimmstängel.
»Rums!! – Da geht die Pfeife los
Mit Getöse, schrecklich groß.
Kaffeetopf und Wasserglas,
Tobakdose, Tintenfaß,
Ofen, Tisch und Sorgensitz –
Alles fliegt im Pulverblitz. –«
Wilhelm Busch
Mama ist eine frustrierte alternative Hausfrau, Papa ein arroganter oberflächlicher Werbefuzzi. Sie haben erst spät geheiratet. Mama war schon ziemlich alt, als sie mit mir schwanger wurde, und Felix war dann sowieso ein Unfall in der Menopause.
Meine Oma ist eine dumme, fette, alte Schachtel, mein Opa ein unverbesserlicher Hitlerjunge. Aber das größte Scheusal der Familie ist mein kleiner Bruder Felix. Nicht einmal die schlimmsten meiner Feinde sind auch nur halb so ekelhaft wie er.
Sie nennen mich Joe. Ich bin vor kurzem vierzehn geworden und vom Gesetz her gezwungen, noch ein paar Jährchen in diesem Irrenhaus auszuharren.
Vor einem Jahr sind wir in diese alte Bruchbude im Wienerwald gezogen. »Herrschaftsvilla im Grünen, absolute Ruhelage.« Das Dach war undicht, die Gasheizung defekt. Alle Leitungen und Installationen sind schrottreif. In der Küche behelfen wir uns mit einem »umweltfreundlichen« Kohleofen. Wohn- und Schlafzimmer werden mit weniger umweltfreundlichen elektrischen Radiatoren beheizt. Da es kein ordentliches Badezimmer gegeben hat, haben sie ein Badehäuschen im Garten errichten lassen. Später soll noch ein Pool dazukommen.
Papa findet dieses Chaos sehr romantisch. Er ist fast nie zu Hause. Normalerweise verlässt er uns um sieben Uhr morgens und kehrt erst knapp vor Mitternacht zurück. Gerade vor Weihnachten macht er jede Menge Überstunden, und abends muss er sich dann mit seinen Mitarbeiterinnen in den Bars der Innenstadt entspannen. Zumindest hat Mama das mal behauptet.
Ich vermisse unsere Stadtwohnung. Wir leben hier völlig isoliert. Manchmal komme ich mir wie in einem Gefängnis vor. Die Fenster im Erdgeschoß sind vergittert und das nächste Haus ist kilometerweit entfernt.
Seit wir im Grünen wohnen, hat Mama ihre Liebe zur Natur entdeckt. Sie ist eine sehr anpassungsfähige Frau. Vor allem passt sie sich den Launen meines Herrn Papa an. Vielleicht hat er sie auch deswegen geheiratet.
»Wir sollten endlich naturverbundener leben und unsere Ernährung umstellen …«, hatte Papa gemeint.
Von einem Tag auf den anderen begeisterte sich Mama für gesunde Küche und biologisch-dynamischen Gartenbau.
»Joe, du hast heute Morgen dein Glas frischgepressten Karottensaft schon wieder nicht getrunken!«
Dem Philodendron bekommt das Säftchen viel besser. Ich befürchte nur, dass demnächst süße kleine gelbe Rüben aus der Hydrokultur sprießen werden.
Aber verglichen damit, was sich seit vier Wochen bei uns abspielt, ist ihr Bio-Tick völlig harmlos. Seit Anfang Dezember ist der Teufel los. Nach den Aktivitäten meiner Mama kann man die Uhr richten. Exakt am Ersten begann ihre manische Phase.
Papa hat ihr vor einigen Jahren mit dem Computer einen Weihnachtsvorbereitungs-Fahrplan erstellt. Sie hält sich jedoch nie daran. Jedes Jahr macht sie einen neuen Plan und stößt ihn nach spätestens drei Tagen wieder um. Mit dem Weihnachtsputz ist sie noch immer nicht fertig, obwohl sie täglich mit dem Staubsauger treppauf, treppab rennt. Und die Geschenke wollte sie bereits in der ersten Adventwoche besorgen. Angeblich sind da die Geschäfte nicht so voll, die Verkäuferinnen freundlicher und die Sachen billiger als kurz vor den Feiertagen. Ich verrate kein großes Geheimnis, wenn ich jetzt, am Nachmittag des Heiligen Abend, ganz nüchtern feststelle, dass sie für Papa noch immer kein Geschenk gekauft hat. Ich habe gestern, als sie in ihrer Meditationsstunde war, die Schlafzimmerkästen inspiziert. Sie versteckt die Geschenke jedes Jahr in den Schränken im Schlafzimmer. Eingepackt hat sie auch noch nichts. Vielleicht gibt es heuer Geschenke ohne Verpackung? Die Mülltrennung funktioniert hier draußen ohnehin nicht.
Für mich hat sie einen rosa Skianzug erstanden. Ich hasse Rosa, und Skifahren hasse ich auch. Sport ist Mord! Werde wohl kurz vor dem Schulskikurs an einer schweren Grippe erkranken müssen.
Wozu mache ich mir jetzt schon Sorgen? Der Skikurs ist erst in der letzten Jännerwoche, und bis dahin werde ich hoffentlich alle Sorgen los sein.
Auf ihre Meditationsstunde will Mama selbst im vorweihnachtlichen Totalstress nicht verzichten. Die Feldenkrais-Seminare und die Jazzgymnastik oder den Öko-Kochkurs lässt sie schon mal sausen, aber ohne ihre Meditationsstunde würde sie garantiert zusammenbrechen. Papa macht hin und wieder blöde Bemerkungen über ihren hübschen, jungen Meditationstrainer. Er sollte besser den Mund halte, sonst erzähle ich der Mama, dass ich ihn am dritten Adventsonntag mit seiner Assistentin im Kino gesehen habe – händchenhaltend. Sie saßen nur drei Reihen vor mir. Wenn ich sagen würde, sie benahmen sich wie pubertierende Vierzehnjährige, so wäre das eine schwere Beleidigung meiner Altersgenossen.
Mein Herr Papa macht zu Hause keinen Handgriff. Sein Job in der Werbebranche nimmt ihn sehr mit. Nach seiner Alkoholfahne beim Frühstück zu schließen, torkelt er von einer Weihnachtsfeier zur anderen.
Mama erwartet, dass wenigstens wir ihr helfen.
Im ganzen Haus riecht es verdächtig nach Weihnachten. Die große Tanne im Wohnzimmer reicht fast bis an die Zimmerdecke. Ein schöner, gerade gewachsener Baum mit kräftigen Zweigen. Ich gieße heuer die Christbaumkerzen selbst. Natürlich sind die Kerzen aus echtem Bienenwachs.
Mama blockiert mit Vollkornkeksen und Sesamkipferln das Backrohr. Kein Mensch, außer vielleicht Allesfresser Felix, mag ihre staubtrockene Bäckerei. Oma wird sowieso wieder kiloweise Vanillekipferl und ordinäre Weihnachtskekse