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Madrid im Dezember 1936: Die deutsche Journalistin Anita Adam ist eine emanzipierte Frau mit politischem Weitblick. Wie viele Europäer will sie die spanische Republik gegen den Putsch der Franco-Faschisten unterstützen. In der Zensurstelle der berühmten Telefónica vermittelt sie deshalb zwischen internationalen Journalisten und der militärischen Führung. Mit ihrem Versuch, das Zensursystem zu modernisieren, macht sie sich dort jedoch gefährliche Feinde. Einen Verbündeten findet sie in Agustín Sánchez, dem Kommandanten der Telefónica. Während sich die beiden allmählich näherkommen, fallen vor der Telefónica die Bomben von Hitlers Legion Condor auf die wehrlose Zivilbevölkerung, und die Front droht aufzubrechen. Ilsa Barea-Kulcsar verarbeitet ihre Erfahrungen während des Spanischen Bürgerkrieges in einem eindrucksvollen und bewegenden Roman.
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Seitenzahl: 453
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ILSA BAREA-KULCSAR
ROMAN
Herausgegeben und mit einemNachwort versehen von Georg Pichler
EDITION ATELIER WIEN
Statt einer Widmung
Telefónica
Madrid, Herbst 1936
Nachwort
Anmerkungen
Ich habe eben den Zeitungsbericht von der Übergabe Madrids gelesen. Die Truppen des Generals Franco sind in die Stadt eingezogen. Die Frauen und Kinder in den Straßen haben die Soldaten um Brot, die Männer haben sie um Zigaretten angebettelt. Die Fahne des nationalistischen Spanien wurde auf der Spitze des Telephongebäudes gehißt, jenes Wolkenkratzers, der in den Jahren der Belagerung am meisten beschossen und bombardiert wurde … So ähnlich lautete die karge Meldung.
Vor meinem Zimmer ist ein grüner Rasen, den feiner weicher Nebel einzuhüllen beginnt. Auf dem Zaun sitzt eine Drossel. In der Hecke lärmt ein Chor von kleinen Vögeln. Die gelben Kelche der Märzbecher schwanken leise. Ich bin in England. Aber lauter als das Summen des feuchten Holzes im Kamin ist das Surren von Flugzeugmotoren. Drei schwarze Vögel ziehen langsam und niedrig den friedlichen Horizont entlang. Übungsflugzeuge oder Luftwache? Sie haben hier Zeit, ihre Flieger auszubilden, weil Madrid sich erst gestern ergeben hat, nicht vor zweieinhalb Jahren.
Bald wird man nicht mehr verstehen, wie es war. Es werden die Legenden entstehen und die lebenden oder die nun schon toten Menschen verdecken, die sich nicht fügen wollten und die sich nicht ergaben, weil sie es nicht für recht hielten. Ich habe in jenen Monaten in der Telefónica von Madrid gelebt. Ich will versuchen, diese Menschen – nicht die aktenmäßige, sondern die innere Wahrheit von uns allen – in einem Buch leben zu machen, so wie sie mich heute beherrschen: es ist deshalb für mich sinnlos, ihnen das Buch zu widmen.
Die häßlichen Häuser Madrids verwandeln sich in eine wunderbare Stadt, wenn der leuchtende Abend sie als phantastische Blöcke vor den dämmerigen Hügeln aufschimmern läßt, oder wenn die weiße Mittagssonne sie als grelle, glatte Flächen mit schmalen Schattenkanten auf eine tief und dunkelblau flimmernde Himmelsglocke malt.
Dann verliert der amerikanische Wolkenkratzer der Telefónica seine kleinlichen Simse und Türmchen und wird zum Festungsturm dieser traumhaften Stadt.
Die Telefónica war der Wachtturm und das Wahrzeichen Madrids in jenen ersten Belagerungsmonaten, als die Menschen über alle die kleinen Ängste und kleinen Tapferkeiten ihrer Einzelleben hinaus zu einem kämpfenden Volk verwuchsen. Diese Gemeinschaft auf Leben und Sterben, der sich keiner entziehen konnte, war sehr dicht und warm innerhalb der hohen Betonmauern der Telefónica, denn die dort arbeiteten und lebten, fühlten sich auf Vorposten des Todes. Und doch starb keiner in diesen Monaten im Gebäude der Telefónica von Madrid und das Haus selbst lebte weiter, mit hundert Granatlöchern im Leibe.
Seine Fenster blickten auf die Front. Zu seinen Füßen lagen Sandsäcke. Und vom Turm der Telefónica sahen wir an den Abenden, bevor die Dunkelheit ohne Lichter kam und das Nachtgefecht begann, unser zerquältes, zerkämpftes Madrid als körperlose, zeitlose Festung leuchten.
Ilsa BareaHertfordshire, 29. März 1939
TELEFÓNICA
»Ist es wahr, daß man nicht mehr getroffen werden kann, wenn man die Granate pfeifen hört?« fragte Johnson.
Er ging mit Simms und Warner durch die Calle de Alcalá mit dem Gefühl, ein unerforschtes Dschungel zu durchqueren. Es war der 16. Dezember 1936. Er war in Madrid und man erwartete in seiner Redaktion von ihm, eine Serie von Berichten über die Verteidigung und bevorstehende Eroberung der Stadt zu erhalten. Vor fünf Tagen war er noch in London gewesen; das schien ihm phantastisch.
»Ja, es ist wahr«, antwortete ihm der kleine Warner, der sich selbst mit Vorliebe an dieses Stück Beruhigung klammerte. »Ich hoffe es wenigstens.« Das Mausgesicht mit den lebhaften Augen war erfüllt von innerer Spannung, alle Muskeln spielten unter der Haut: Warner war schon drei Monate als Kriegsberichterstatter in Madrid.
Von irgendwoher kam ein dumpfer Krach.
»Das ist Richtung Plaza de Callao«, sagte Simms, der seit fünf Jahren in Madrid lebte und jede Gasse kannte und liebte. »Klingt wie großes Kaliber … Nein, das mit dem Pfeifen ist eine Legende. Man kann sich auf nichts verlassen. Man weiß nie, ob es einen erwischt oder nicht.«
Sie gingen schweigend weiter.
»War das jetzt eine Granate?« fragte Johnson. Sein feines Intellektuellengesicht unter dem strohblonden Haar drückte nur Neugier aus, aber innerlich fragte er sich völlig ratlos: »In was für eine Welt bin ich geraten?«
Warner hatte es für eine Granate gehalten, aber er zog es vor, zu sagen: »Nein. Übrigens, wenn Sie eine Explosion in der Nähe hören, werfen Sie sich auf den Boden, Johnson.«
»Das haben mir jetzt schon alle Leute gesagt. Ich glaube, ich werde auf diese Art meinen Anzug ruinieren«, sagte Johnson. Was für eine Pose, das zu sagen, dachte er, und fügte laut hinzu: »Na, es ist mein erster Tag in Madrid.«
Sie bogen in die Gran Vía ein.
»Dort ist die Telefónica«, sagte der kleine Warner. »Sie wissen, die Telephonzentrale. Gehört den Amerikanern, jetzt ist sie von der Republik angefordert und unter die Kontrolle der Militärbehörden gestellt worden. Schauen Sie das Haus gut an, Johnson, dort werden Sie von jetzt an den Hauptteil Ihrer Zeit verbringen. Die Presse und die Zensur sind dort zu Hause. Es ist das höchste Haus von Madrid und die beste Zielscheibe für die Nationalisten.«
Johnson betrachtete den großen weißen Block mit den konventionellen Türmchen auf dem Sims des Daches.
»Warum arbeitet die Presse dort, wenn das Haus so gefährdet ist?« fragte er und dachte an seine Freundin Anita, die seit heute in diesem Gebäude zu sitzen hatte, als Zensor – unangenehmer Beruf! –, als Zielscheibe.
»Wir können nur von dort aus mit dem Ausland telephonieren«, erklärte Simms, der, schweigsam wie immer, mit langen, ruhigen Schritten an Johnsons Seite ging. »Deshalb hat man uns ein Arbeitszimmer eingerichtet. Das ist immerhin noch sicherer, als mit jeder einzelnen Nachricht durch diese Straße zu gehen. Es ist kein angenehmer Weg.«
»Die Telefónica ist außerdem der Beobachtungsposten für den Generalstab«, sagte Warner, der immer das Bestreben hatte, sich als gut informiert zu zeigen, gerade weil ihn die Kollegen wegen seiner Jugend nicht recht für voll nahmen. »Wenn man aufpaßt, was im Hause vorgeht, kann man allerlei erraten. Nur ist die Zensur dumm und die Anarchisten verrückt vor Spitzelfurcht.«
Ein feines, langgezogenes Pfeifen: die drei spannten alle Nerven an, um auf die Explosion vorbereitet zu sein.
Es kam keine Explosion. Nur ein dumpfer Schlag. Eine leichte Staubwolke stob aus einem der gegenüberliegenden Dächer.
»Blindgänger«, konstatierte Simms. »Sonst wäre es für uns nicht vorteilhaft gewesen. Die Granatsplitter fliegen weit.«
Der kleine Warner war etwas rot im Gesicht. »Ich bin immer froh, wenn ich diesen Weg hinter mir habe«, sagte er.
Johnson schüttelte sich wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt. Er sah die Vorübergehenden an – Soldaten. In zusammengestoppelten Uniformen, Mädchen auf hohen Stöckeln, mit komplizierten Lockenfrisuren und grell geschminkten Lippen – und fragte: »Gewöhnt man sich daran?«
»So schlimm ist es erst seit acht Tagen, seit dem 7. November. Ich weiß es noch nicht«, antwortete Simms, dessen hageres Gesicht mit den unerwartet dunklen Augen gleichmütig geblieben war.
»Habt ihr Angst?« bohrte Johnson. Er wollte diese merkwürdige Luft verstehen.
»Jeder hat Angst!« rief Warner. »Sie werden schon merken, was Madrid ist – wenn Franco Ihnen Zeit dazu läßt. Am ersten Tag ist jeder nur verblüfft, später kommt der Ernst.«
»Gehen wir lieber rasch«, sagte Simms.
Die Explosion kam unerwartet, von keinem Pfeifen angekündigt. Zuerst etwas wie ein Schlag, dann der Krach selbst und der Luftdruck und das Klirren von Glas und das Fallen von Steinsplittern. Jeder fühlte den Schlag am eigenen Körper, fühlte das Herz im Leibe beben und fühlte das Gehirn stocken, auf das Unbekannte wartend.
Warner warf sich zu Boden, Simms drückte sich in eine Ladentür. Johnson fand sich allein, mit klopfendem Puls und einem saugenden Gefühl in der Magengrube, allein mitten auf einem plötzlich leeren Gehsteig. Dreißig Meter weiter weg rollte eine träge schwarze Wolke auf der Straße, breitete sich aus und verdünnte sich zu grauem Rauch.
»Das also war eine Granate«, sagte er sich laut vor. Durch den grauen Rauch sah er dunkle Figuren sich bewegen. Von irgendwoher, aus allen Haustoren kamen Menschen und gingen eilig weiter. Er hörte Rufe, die er nicht verstand, und kam sich todeinsam vor.
»Meine Feuertaufe als Kriegsberichterstatter«, sagte er mit erstauntem Augenausdruck zu Johnson. »Ich habe nicht viel Angst gehabt.«
»Schnell, jetzt haben wir vielleicht ein paar Minuten Zeit«, antwortete der andere nur. Warner eilte ihnen schon voraus.
»Ist das alle Tage so? Wie halten das die Leute aus?« fragte Johnson etwas außer Atem.
»Man hält es aus.« Simms, groß, mit langen, hageren Gliedmaßen, machte gleichmäßige, gemessene Laufschritte und sprach dabei ganz ohne Hast. »Wir sind hier für Zeitungen. Die Spanier für ihr Leben.«
Giftiger Qualm hing noch immer in der Luft; die Abenddämmerung hatte die Straße mit einem nebelhaften Grau erfüllt; alles schien wie in einem bösen Traum.
»Hier ist jemand getroffen worden!« rief Warner, der stehengeblieben war. Neben dem lichten Fleck im Straßenpflaster, wo der Stein aufgerissen war, stand eine kleine, dunkle Lache.
»Steigt nicht hinein, mir ist es einmal passiert und es hat mich ganz krank gemacht«, sagte Warner leise.
»Wie weit ist es zur Telefónica?«
»Ein paar Minuten. Ein paar hundert Meter. Das ist weit. Gehen wir«, antwortete Simms.
Sie gingen langsamer als vorher, nicht rascher. Johnson stellte es fest. Wollen wir uns beweisen, daß wir keine Angst haben? fragte er sich und meinte dann: »Material für meinen ersten Artikel aus Madrid. Eine andere Welt.«
»Eine fremde Welt«, sagte Warner. »Wir verstehen sie nie ganz. Vor acht Tagen haben wir gewettet, daß Madrid über Nacht fallen wird. An den Sieg können sie nicht glauben, warum machen denn diese Leute nicht Schluß?«
»Kommen Sie, Johnson, trinken Sie einen Whisky!« Simms ging den beiden voraus in die menschenerfüllte Bar des Hotels Gran Vía. »Trinken Sie eins auf das Wohl der Telefónica, daß sie nicht zu oft getroffen wird.«
Den halbrunden Bartisch entlang saßen lärmende Soldaten und ein paar Mädchen, nicht sehr hübsch, zu geschminkt, dachte Johnson. Er hörte ein Rattern und wusste nicht, ob es ein Maschinengewehr oder ein Motorrad sei. Niemand drehte sich um. Nur Simms fing den fragenden Blick auf und sagte: »Das ist die Front. Anderthalb Kilometer straßenabwärts. Wenn nicht schon weniger. Aber heute ist ein stiller Tag.«
»Stiller Tag, stiller Tag, im Westen nichts Neues«, sagte Johnson. »Ich glaube, im Krieg ist die ganze Welt etwas verrückt. Das ist heute also ein stiller Tag, zu meinem Empfang in Madrid. Ich beginne Spanisch zu lernen.«
Sie tranken. Alle die anderen auf den hohen Barschemeln tranken Wein. Sie machten viel Lärm; Johnson ärgerte sich, so gar nichts zu verstehen, und hatte einen Anfall von Unwillen gegen diese unverständlichen fremden Menschen.
»Wie erfährt man die offiziellen Nachrichten?« fragte er.
»Am besten, man geht in die Telefónica und macht dann einen Spaziergang an die Front. Aber da steckt die eigentliche Sensation, Johnson, in diesen Leuten und in diesen Straßen hinter der Front.« Simms wurde einen Moment lebhaft. »Und in der Telefónica.«
»Laufen wir über die Straße, bevor die Batterie wieder schießt. Habt ihr nicht die letzten Krache gehört, gerade jetzt?« schrie Warner durch den Lärm. Er hatte sich in die Tür gestellt und kam hastig an den Bartisch zurück.
Sie waren schon auf der Straße und kreuzten sie eilig. »Ich habe nichts gehört, ich kenne die Kriegsgeräusche noch nicht gut genug«, sagte Johnson halb entschuldigend. »Ist denn immer eine solche Pause zwischen den Schüssen?«
»Wir ziehen vor, es anzunehmen«, gab Simms trocken zur Antwort.
Von einer Sekunde zur anderen wurde der Nebel dichter. »In der Dunkelheit schießen sie nicht mehr viel, nur einzelne Versuchsschüsse«, sagte Simms, als sie schon die hohe, glatte Front der Telefónica entlanggingen und um die Ecke bogen.
Autos in einer engen Straße, viele Menschen auf dem Gehsteig, ein Wachtposten, eine kleine Tür in einem gewaltigen Portal: sie traten in die Halle der Telefónica.
»Wir sind zu Hause«, sagte Simms. Er erklärte einem derben, unfreundlichen Mann mit schwerem Unterkiefer und platter Nase etwas auf Spanisch. »Das ist ein anarchistischer Kontrollfunktionär, er untersucht alle, die hereinkommen, auf Waffen. Aber wir sind Presseleute, ich habe Sie legitimiert, Johnson.«
Unter einem dumpfen Schlag klirrten die Scheiben der Glastür und schütterten leise die Wände. Die vielen Menschen, Männer, Frauen und Kinder, in der zugigen Halle sprachen wirr durcheinander. Aber weiter geschah nichts, als daß ein Mann ans Haustelephon trat und ein Gespräch führte.
»Nur das Sims des Daches«, erklärte Simms, der gelauscht hatte.
»Ist unser Haus getroffen worden?« fragte Johnson. Er sah von einem spanischen Gesicht zum anderen und verstand nichts, was er sah. Wie lebte man in diesem Hause?
Es ist eine andere Welt, gab er sich selbst zur Antwort.
Es war eine feuchte, frostige Nacht ohne Mond und Sterne. Der Nebel des Abends hatte sich gehoben, aber die Luft blieb von ihm durchtränkt und gefärbt.
Im Zimmer des Kommandanten der Telefónica brannte kein Licht, denn das Fenster stand offen. Agustín Sánchez beugte sich über die Brüstung und versuchte, in die Gran Vía hinunterzublicken. Die breite Straßenschlucht war von einem so undurchdringlichen Dunkel erfüllt, daß er sich daran wie an einem festen Körper anzulehnen glaubte.
Von der nächstliegenden Front kamen in kurzen Abständen die Peitschenknalle der Gewehre. Munitionsverschwendung, Nervosität, dachte er. Die Nachrichten klangen böse, sie waren sehr unbestimmt. Er hätte nicht telephonieren, sondern selbst ins Kriegsministerium fahren sollen. Heute war ein relativ stiller Tag, er konnte also nicht erwarten, daß der General hierherkäme. Und er würde die Nacht durcharbeiten und seine kurzen Schlafpausen einschalten müssen, ohne genau zu wissen, wie es stand und wie weit der Feind nähergerückt war. Es war eigentlich ganz günstig, daß er keine Zeit zum Schlafen hatte; denn die Ungewißheit ließ immer den Pessimismus in ihm hochkommen, und ihn hätte im Bett der Alpdruck gequält. Wenn er das Schlimmste wußte und sah, daß es nicht so schlimm war wie seine geheimen Ängste, stieg in ihm eine fast fröhliche Tapferkeit hoch, die die anderen dann nicht recht verstanden und für besonderen Mut ansahen. Vielleicht ging es ihm heute auch so, wäre er nur zum Generalstab gefahren und wüßte nun, warum es so still an der Front war, statt daran herumzurätseln.
Und doch, selbst wenn er über einige wirklich freie Stunden verfügt hätte, selbst wenn er nicht der Gefangene dieses Dienstes gewesen wäre, er hätte das Gebäude der Telefónica nicht verlassen mögen. Hier waren ihm die Stiegen selbst in der Dunkelheit vertraut. Hier wäre er schon längst um die Ecke gebracht worden, hätte einer der vielen hundert Arbeiter und Angestellten im Hause die Gelegenheit ausnutzen wollen: also – hier war er sicher. Hier war die Arbeit, die ihm die Vernunft rettete. Draußen sprangen ihn die Angst und die Wut an, seine Stadt war ihm fremd, die Menschen unverständlich geworden.
Es ist alles ein Wahnsinn, dachte er, und wahrscheinlich gehen wir alle zugrunde. Aber die anderen auch. Wozu arbeite ich wie ein Narr, warum nehme ich nicht meinen Revolver und schieße ein paar Schweine nieder, bevor alles zu Ende ist? Meine alte feige Angst vor dem Blutvergießen. Was für ein Verbrechen ist das Ganze und wie schön könnte doch alles sein.
Ach, Dreck und Scheiße, da mache ich mir Gedanken, damit ich mir zuhören kann, aber es ist doch alles anders und viel schwerer, ich verstehe nichts mehr ganz, da muß man doch auf seine Gedanken aufpassen. Ich bin nur so müde. Die vom Arbeiterrat werden mir noch zu schaffen geben. Ja und nein, was soll ich eigentlich mit ihnen tun, sie haben vielleicht recht. Aber immer diese Anarchisten und Kommunisten. Haben sie keine anderen Sorgen? Ich hab’ sie. Ich weiß zu gut, wo die neue Batterie steht, die sich auf uns eingeschossen hat.
Das war ein schönes Schrapnell. Wie eine Rose.
Die Paquita wird doch hoffentlich nicht gemerkt haben, daß ich für eine halbe Stunde frei bin. Sie soll nicht heraufkommen. Es steht nicht dafür. Ich mag nicht. Ich hab’ Arbeit.
Die Kleine im Keller bei den Flüchtlingen aus Carabanchel hat gute Brüste; wie die Spitzen stehen – sie ist sicher läufig. Aber ich mag nicht. Ich weiß überhaupt nicht, was mit mir ist. Ich möchte mit einer schlafen gehen, aber mein Gehirn will nicht und so hab’ ich dann keine Lust. Das ist alles nicht so wichtig. Aber vier Wochen. So lange war ich niemals ohne Frau seit damals, als ich die Lungenentzündung hatte. Die Paquita ist ein Luder, sie macht mir’s absichtlich schwer. Und seit heute die Pepita im Haus – ich hätte nicht erlauben sollen, daß sie in die Telefónica kommt. Es ist bei ihr die reine Hysterie. Aber was hätte ich tun sollen?
Heute schießen sie unregelmäßig. Viele Schrapnells, das heißt, daß sie sich einschießen. Das dort war besser gezielt – wenn sie uns treffen wollen.
Ich sollte hinuntergehen und nachsehen, wie es sich die Pepita mit den Kindern eingerichtet hat. Sicher schlecht, wie immer. Aber ich kann da nichts mehr machen. Und ich will nicht, daß sie sich mir wieder an den Hals hängt. Es regt sie noch mehr auf und ich will doch nicht mehr. Die Weiber müßten doch endlich verstehen, daß ich nicht kann und nicht will und daß Krieg ist. Es ist zwar eine Ausrede von mir. Oder nein? Ich weiß nichts mehr, ich verstehe nichts mehr, ich weiß nicht, was mein Leben werden soll. Aber das ist egal, wir werden ja doch alle umkommen.
»Wir werden alle sterben«, sagte Agustín laut und lachte. Denn vor dem Tod hatte er nie Angst, nur vor dem Schmerz und vor dem Schmutz.
Er hatte heute vierzehn Stunden intensivster Arbeit hinter sich. Er hatte endlose Arbeit vor sich, nicht viel davon an seinen Stellvertreter übertragbar. Die ganze Militärverwaltung der Telefónica lag in seinen Händen, solange sein Vorgesetzter, der Oberst, in Valencia blieb. Agustín begann eben zu verstehen, wie groß seine Verantwortung war. Diese Telephondrähte waren die einzigen Fäden, die vom belagerten Madrid zur Außenwelt führten. Immer war Sabotage möglich. Im obersten Stock des Hauses hatte der Generalstab seinen zentralen Beobachtungsposten. Immer war Spionage möglich. Sabotage und Spionage: alle Funktionäre in der Telefónica waren von der Furcht vor diesen zwei unbekannten Größen beherrscht.
Die Telefónica hatte dreizehn Stockwerke und zwei Kellergeschosse. Zutiefst unter der Erde waren die Flüchtlinge aus den Außenbezirken und Umgebungsdörfern Madrids. Im dreizehnten Stock war der Artilleriebeobachtungsposten. Dazwischen, in die Räume von zwölf Stockwerken zusammengepreßt, die Maschinerie des Telephonnetzes für ganz Spanien und zugleich ein Querschnitt durch das Madrid der Belagerung: andere Flüchtlinge; Arbeiter; Polizisten; Milizposten; Erste-Hilfe-Station; Beamte; von jedem Verkehr ängstlich abgesperrt, die Beobachtungsoffiziere des Generalstabes; als Fremdkörper, isoliert, die Funktionäre der amerikanischen Kapitalisten, denen die Telefónica und das Telephonmonopol in Spanien gehörten, derzeit entmachtet durch die Staatskontrolle; das Militärbüro, oberste Verwaltungsinstanz des Gebäudes, in dem nur Agustín saß; eine Ausspeisungshalle; Notbetten in allen möglichen Räumen für die Leute vom Nachtdienst; ein Heer von Telephonisten, die zum Teil im Hause schliefen, um nicht im Granatenregen von und zur Arbeit gehen zu müßen; im vierten Stock die Journalisten der ausländischen Presse; im fünften die Pressezensur, Abteilung des Außenministeriums, und die Horchzensur, Komitee der Telefónica-Beamten; dazwischen Maschinen und wieder Maschinen, kostbar und fast unersetzlich; dann die Gewerkschaftsräume, der Arbeiterrat – Consejo Obrero – und dessen Institutionen; die Plakate der Organisation; die Materialien für die Reparaturen; das technische Leben, das politische Leben, das militärische Leben, Schreibmaschinen und Scherenfernrohre. Und, durch den Bau quer durch, die fünf gewaltigen Fahrstuhlschächte und die enge, bei Panik so gefährliche Wendeltreppe. Das alles war nun der Zielpunkt für die Kanonen und die Fliegerbomben der Faschisten.
Sie haben recht, wenn sie uns zerstören wollen, dachte Agustín. Wir sind eines der Nervenzentren von Madrid. Das Kleinhirn. Obwohl sich die Herren Journalisten wahrscheinlich als das Großhirn vorkommen. Lächerliche, eitle Bande: man läßt ihnen zu viel Freiheit. Was haben sie auf unsere Kosten Sensationen zu verkaufen? Sie sind alle gleich, diese Ausländer, alles nur Geschäft. Die Zensur taugt nichts. Es ist freilich auch ein widerliches Geschäft. Wie heißt doch der kleine, ölige Zensor mit der Zahnlücke, der paßt dazu. Der Chef ist ein braver, alter Mann, aber er ist zu gut. Die Korrespondenten machen mit ihm, was sie wollen. Ich werde ein wenig eingreifen. Die Abhörzensoren sind Esel. Sie verstehen die Hälfte aller Sachen nicht und kommen mir immer mit Verdacht, wenn die Geschichte harmlos ist. Natürlich übersehen sie alles Gefährliche.
Ich bin wieder normal, dachte Agustín. Wenn mir nicht die Weibergeschichten den Kopf heiß machen und wenn es mir gelingt, nicht daran zu denken, was das alles bedeutet, werde ich heute Nacht gar nicht schlecht arbeiten.
Er schloß das Fenster und spannte sorgfältig den schwarzen Baumwollstoff des Vorhanges aus, ehe er die schwache, blauverhüllte Tischlampe anzündete. Sein Telephon klingelte: der Gebäudearchitekt hatte mit ihm über die Adaptierung der Waschräume für die Flüchtlinge zu reden.
Er wollte eben eine Besprechung für morgen Vormittag festlegen, da kam, ohne anzuklopfen und ohne zu grüßen, Paquita ins Zimmer. Er nickte ihr zu und stellte aufs Geratewohl eine technische Frage in das Telephon hinein, ohne nachzudenken. Er war damit beschäftigt, sich die unvermeidlich kommende Szene auszumalen; er – überbeschäftigt und freundlich, sie – eindringlich und hemmungslos. So leidenschaftlich, daß er beinahe nachgeben würde und doch zu tiefe Abwehr empfinden würde. Eine stumpfe Müdigkeit lähmte ihn. Nur vermeiden, daß etwas geschieht, so oder so. Irgendetwas müßte sich ändern, ja, aber wie oder wann wollte er jetzt nicht wissen.
Die Stimme des Architekten im Apparat klang erstaunt. Comandante Sánchez war doch sonst immer so erfreulich klar in technischen Angelegenheiten. Er begann überdeutlich zu erklären.
Währenddessen schritt Paquita durch das Zimmer. Sie ging bewußt langsam aus den Hüften schreitend, wie immer, seitdem sie Agustín entlockt hatte, daß ihn an ihr der klare Schwung der Hüftlinie erfreute und dieser Gang reizte. Mit ihrem Gesicht – großlinig, fleischig und regelmäßig, mit weit offenen, sehr gewölbten Augen – konnte sie nicht so viel anfangen, das wußte sie. Agustín sollte ihren Körper sehen, sollte ihn betrachten. Warum hatte er ein so märtyrerhaft gequältes Gesicht, mit gespannten Nasenflügeln, engen Schatten unter den Backenknochen und an den Schläfen und einen strengen Mund?
Er setzte sich in den Armsessel, der ihm wie eine Barrikade gegen Paquita vorkam: er war aus schwerfällig geschnitztem Holz und machte jedes Anschmiegen unmöglich. Aber er folgte ihr doch mit den Augen. Sie bemerkte es und ging rund um das Zimmer herum, den Wänden entlang, die Bücher betastend und immer einen Fuß knapp vor den anderen setzend. Das ließ die Schwungbewegung schön fließen. Und das kümmerliche Licht dämpfte die kühne Derbheit ihrer Züge.
Agustín lachte etwas höhnisch, aber die Sehnen seines hageren, eckigen Kinnes spannten sich. Er rief plötzlich in den Apparat hinein: »Am besten, Sie kommen einen Sprung herauf, aber sofort. Dann habe ich noch Zeit, mit Ihnen in die Souterrains zu gehen, bevor die Konferenz mit Valencia fällig ist.« Dann hängte er ab.
Paquita lehnte sich an den Bücherschrank und sagte: »Ach, da wird sich deine Gemahlin freuen, wenn du sie besuchst. Wenigstens muß sie dann nicht später in der Nacht heraufkommen, um Geld zu holen. Und nach der Konferenz hast du Zeit, im kleinen Salon zu schlafen. Ich habe nur bis zwei Uhr Nachtdienst. Dann komm ich zu dir, ja?«
Sie war sehr direkt, denn sie wußte, daß sie wenig Zeit zur Unterredung hatte, und sie spürte seit Tagen, wie Agustín ihr entglitt. In Wahrheit hatte sie es schon seit einem halben Jahr gespürt und mit ihren Mitteln bekämpft. Aber seit einem Monat war es ernst. So lange war er nicht mit ihr ins Bett gegangen. Freilich, auch mit keiner anderen; sie konnte sein Leben sehr genau kontrollieren. Er behauptete, daß er jetzt kein Privatleben haben könne. Aber sie glaubte es ihm nicht, denn die meisten Männer ringsherum verbrauchten im Krieg mehr Frauen, weil sie das Leben noch ausnützen wollten. Daß Agustín seit heute die Pepa, seine Frau, im Haus hatte, war ein Grund mehr, ihn sich bald zu holen, sonst würde er es am Ende mit der Pepa tun. In seinem Hunger. Denn er war hungrig nach einer Frau, das sah sie, sie hatte scharfe Augen: er hatte sicherlich das Feuer im Leib genauso wie sie, Paquita. Oder er würde mit einem der vielen Mädchen im Haus gehen. Sie wollten alle, die kleinen Huren. Aber sie selbst hatte einen Vorteil; mit ihr sprach er immer wieder, mit den anderen nicht. Merkwürdig, wieviel ihm das zu bedeuten schien, dieses Reden und Verstandenwerden, und dabei war es doch so nebensächlich. Aber so war er, also ihn zum Reden bringen, bevor der verdammte Architekt kommt. Denn noch hatte er sie nicht für diese Nacht zu sich gerufen.
Sie unterbrach das Schweigen mit ihrer heiseren, tiefen Stimme: »Tinito, bist du sehr müde? Oder ärgerst du dich, weil diese Herren in Valencia die Ersatzteile nicht schicken? Oder was ist los?«
Agustín war sich klar darüber, daß er viel zuviel mit Paquita sprach, ihr zuviel erzählte. Aber sie war doch seine Bürotelephonistin gewesen; sie wußte viel von ihm und über ihn, und sie interessierte sich für seine Angelegenheiten. Das Gegenteil seiner Frau. Und dann liebte ihn Paquita sehr, sagte er sich.
Er antwortete ihr nur: »Laß das, Kindchen.« Sie ging sofort dicht zu ihm, denn seine Stimme war nicht zurückhaltend wie sonst. »Weißt du, daß wir heute wieder zweihundert Meter in der Casa de Campo zurückgehen mußten? Ich verstehe die ganze Frontlinie nicht mehr, sie geht im Zickzack. Sie haben uns viele Keilspitzen in die Stellungen getrieben. Und ich hab’ Angst, daß sie uns ganz abschneiden.«
Ich sollte ihr das nicht sagen, dachte er gleichzeitig. Aber ich bin so müde. Man kann nicht immer allein sein. Vielleicht gehe ich doch heute mit ihr in den kleinen Salon. Irgendeinmal wird einen ja doch eine Granate erwischen, und man ist ein Bündel Fleischfetzen. Sie denkt wenigstens an mich, sie hat nur mich. Man soll wenigstens nicht schlecht zu anderen sein. Die Kinder – ich mag nicht daran denken, was die Pepita aus meinem Leben gemacht hat.
Er ließ zu, daß sie ihm die Haare streichelte; das mochte er sonst nicht recht, weil sie es stets mit Besitzergeste tat. Paquita sah sein Nachgeben. Sie hatte ihre Chance. Aber sie hatte keine Ahnung vom inneren Wesen des Mannes, mit dem sie durch drei Jahre geschlafen, den sie fünf Jahre lang zum vertraulichen Reden gebracht hatte. Sie hielt ihr Beisammensein in dieser Nacht für eine gesicherte Angelegenheit, wenn sie ihn noch mehr ins Feuer setzen konnte, und gleichzeitig wollte sie seine Stimmung sofort auch für ihr nächstes Ziel ausnützen:
»Tinito«, sagte sie, »du machst hier nur den Narren für die großen Herren: du sitzt in der Rattenfalle und sie in der Sicherheit. Ich habe keine Lust, in Madrid zu verhungern, wenn sie uns abschneiden. Du hast schon genug geopfert. Du kannst erreichen, daß man dich versetzt. Gehen wir nach Alicante, du, dann können wir es gut haben.«
Sie ließ ihre Hand von seinem Scheitel hinabgleiten und begann, ihm vom Knie aufwärts über die Innenfläche des Schenkels zu streichen.
Agustín hatte plötzlich eine große Leere im Magen. Seine Müdigkeit schlug in jähen Ekel um. Nicht so interessiert, mein Kind, ich merke es nicht gern, daß man mich verführen will, dachte er. Er nahm ihre Hand mit einem sachlichen und gleichgültigen Druck, hob sie von seinem Körper weg und legte sie auf die Tischplatte wie ein totes Ding. Einen Augenblick lang war er nahe daran, ihr zu sagen, daß sie offenbar nie verstanden hätte, wie er Madrid empfand und wie diesen Krieg, und warum er hierbleiben mußte, den Tod erwartend. Aber da stieg ihm mit der nüchternsten Klarheit die Erkenntnis auf, daß er hier jahrelang nicht mit einem Menschen, sondern nur zu einem Menschen gesprochen hatte. Daß er eine Verständnisunfähigkeit übersehen hatte, weil sie nicht auf große Proben gestellt worden war. Daß er die Illusion dieser Gemeinschaft nie mehr wiederherstellen würde können.
In der Telefónica kann man schlechter lügen und schwindeln als im normalen Leben, ging es ihm durch den Kopf, aber der Gedanke kam ihm kindisch vor.
»Geh jetzt, Paquita, du hast bald Dienst. Ich werde morgen mit dir Kaffee trinken gehen, wenn ich Zeit dafür habe«, sagte er so kühl, daß sie auffuhr und die Sturzwelle einer verzweifelten Wut ihr Gehirn überschwemmte. Er sah die Explosion kommen, stand auf und ging an ihr vorbei zur Tür, ehe sie in jenes intensive Weinen ausbrechen konnte, das ihm so verhaßt war. Im Vorsaal blieb er bei der Ordonnanz stehen, bis Paquita das Zimmer verließ und den Gang hinabschritt, ohne ihn anzusehen, die schönen Hüften allzu heftig schwingend.
Die Zeit war richtig bemessen gewesen. Der Architekt kam eben aus dem Lift heraus und Agustín nahm ihn herzlich beim Arm. Er mußte nichts verdrängen. Seine wirren Privatkonflikte waren ihm unwirklicher und fremder als die Massennot der vierhundert Frauen, Kinder, Kranken, Greise, die er nun bombensicher unterbringen sollte, nachdem sie den Moros entronnen waren.
Im achten Stock schlug um acht Uhr abends eine Granate ein. Sie war nicht der Rede wert; eine 7,5-Zentimeter. Sie traf das Fenstersims in der Vorderfont und explodierte dort. Zement- und Holzsplitter flogen ins Zimmer, zugleich mit der zerbrochenen Fensterscheibe, zugleich mit den Sprengstücken, von denen sich einige in die gegenüberliegende Wand bohrten, andere in die dicken Eichenschränke drangen, viele ohne Durchschlagskraft auf den Boden fielen. Das Zimmer war einer der unzähligen, nun unbenützten Verwaltungsräume, die jetzt leer standen; also an sich eine uninteressante Granate.
Der Vertrauensmann des Stockwerkes besichtigte den Schaden. Er stellte zwei nicht unwichtige Details fest, die ihm erlaubten, eine Änderung des Schußwinkels der Batterie oder die Aufstellung einer neuen Batterie anzunehmen. »Das ist die linke Seite des Fensterrahmens«, sagte er zu seiner Ordonnanz, »sie haben die Richtung geändert. Aber was fällt ihnen ein, jetzt so spät eine einzelne Granate abzuschießen. Besser, ich melde es dem Comandante.«
Manuel García war erst seit wenigen Tagen Responsable, Verantwortlicher. Er gehört zu den Vorarbeitern der Reparaturkolonne. Aber sie hatten seit dem 6. November keinen Außendienst gemacht. Das wenige Material, das in Madrid vorhanden war, wurde von den militärischen Linien und den neuerrichteten Telephonzentralen der Kriegsbehörden aufgebraucht. Manuels Gruppe von Elektrikern und Mechanikern, die den Reparaturdienst am Telephonnetz der Hauptstadt selbst zu versehen hatte, wartete vergebens auf eine Materialzusendung. Derzeit war es immerhin noch möglich, diesen Dienst durch Kunststücke der Linienkombination und Umschaltung zu ersetzen. Aber lange ging das nicht mehr so weiter. Manuel fühlte sich überdies nicht sehr geeignet für den Dienst in der Telefónica, er war an freie Luft und die Arbeitsgemeinschaft der Gruppe gewöhnt. Aber die Freie Gewerkschaft – die UGT – hatte ihn zum Diensthabenden im achten Stock bestimmt, weil dort die Militärkanzlei und die Kommandantur lag und man da keinen Anarchisten haben wollte. Gute Kerle, meinte Manuel selbst, aber man weiß nie, was sie anstellen.
Eben hatte er die Arbeit vor sich, den ganzen Stock zu überprüfen, nach Menschen und nach Dingen. Dann würde er zu Sánchez gehen. Comandante Sánchez war etwas schwierig zu verstehen; verschlossen und abseitsstehend, dabei ein alter Gewerkschafter. Ein tüchtiger Mensch und nicht feig – er hätte, wie so viele, am 7. November nach Valencia abhauen können und war aus freien Stücken in Madrid geblieben –, aber ihm fehlte die normale Freundlichkeit. Er war immer so angespannt. Manuel nahm an, daß Sánchez unvermeidlich in schlimme Konflikte mit Pedro Solano aus dem Arbeiterrat geraten würde; Pedro hielt den Kommandanten für ein unverläßliches Element, weil er in seinem Zivilberuf vor dem Bürgerkrieg als Abteilungsleiter und Ingenieur einer Fabrik zum Dienerkreis der Kapitalisten gehört habe.
Manuel war anderer Meinung, aber er wollte erst dann ein endgültiges Urteil abgeben, wenn er den Mann besser kennengelernt hätte. Vielleicht würde er auch mit ihm über die internationale Lage sprechen können. Sánchez wußte davon mehr als die meisten anderen, und Manuel war gequält von dem Gedanken an das Versagen der internationalen Arbeitersolidarität und der Demokratien. »Das darf doch nicht sein«, sagte er wieder einmal laut vor sich hin und begann zwischen den Sprengstücken nach dem Zünder zu suchen, der die Herkunft des Geschosses am deutlichsten verraten würde. Der Zünder war irgendwo anders hingeflogen, vielleicht auf die Straße. Aber da war ein Sprengstück mit undeutlicher Fabrikmarke. Sicherlich deutsch, was denn – aber der Comandante würde das wissen, der war ein alter Artillerist.
Manuel ging in den kleinen Raum, der ihm den Luxus eines Privatschlafzimmers in der Telefónica vortäuschte, und fuhr sich mit dem Kamm durch die widerspenstigen, sehr schwarzen Haare. In der einen Schicht seines Denkens formulierte er seinen Rapport an den Kommandanten, darunter aber rechnete er nach, ob der neue Schußwinkel der Batterie sein eigenes Fenster in neue Gefahr brächte. Nein, ebensowenig wie die Kommandantur. Aber man wußte es ja nie. Er sah in den Spiegel, denn er hielt viel auf seine äußere Wirkung: sehr dicke schwarze Augenbrauen, erstaunlich hellbraune, fröhliche Augen, kräftige, gerade Nase, ein breiter, fester Mund, sehr braune Haut, ein zu gerundetes fleischiges Kinn. Sein dunkelblaues Hemd ließ ihn noch schwärzer erscheinen. Er gefiel sich und erinnerte sich unklar an die Komplimente der kleinen Blonden – Wasserstoff-Blondine! –, die so lustig war und sich im Haus zu einer Art Kollektiveinrichtung entwickelte. Er dachte wirklich das Wort »Kollektiveinrichtung« und vermied das Wort Puta, Hure, das sonst so rasch zur Hand war; denn jenes kleine, lustige Mädchen war einfach toll vor Angst, ihr junges Leben nicht mehr ausnützen zu können.
Ein nettes Mädchen, aber nichts für Manolo. Ob heute Nacht ein Bombardement kommt? Der späte Nachmittag war merkwürdig gewesen, nichts los und doch immer Unruhe und Schießen. Man spürt so etwas in den Knochen. Na, er würde zu Sánchez gehen und erst dann essen, aber nicht in das Kollektivrestaurant, dazu war es schon zu spät.
Als Manuel in die Kommandantur trat, hielt ihn die Ordonnanz auf. Diese Ordonnanz war ein alter Arbeiter, der sich niemals soldatisch benehmen wollte, aber dabei von einem großen Stolz auf die Funktion »seines« Büros, seines Obersten, seines Comandante und seiner eigenen Person erfüllt war.
Er nahm Manuel am Arm und erklärt ihm eifrig: »Der Genosse Agustín ist jetzt gerade im Souterrain, der Architekt will ein paar Holzwände für Waschräume einziehen lassen, für die Flüchtlinge unten. Wir wissen ja nicht, wann man sie evakuieren kann. Aber bleib nur hier und warte, er wird gleich wieder heraufkommen.«
Manuel kannte den alten Pepe und dessen Art. Er wusste alles und mußte immer alles erzählen, was er wußte. Nur wenn man ihm Verschwiegenheit auferlegte, hielt er sich mit einer unbedingten Verläßlichkeit daran. Müßig fragte Manuel den Alten, der Einladung eines pfiffigen Zwinkerns folgend: »Warum glaubst du, daß Sánchez gleich kommt? Die Inspektion unten wird lange dauern und ich könnte inzwischen essen gehen.«
»Ja, Manolo, das ist so: Der Agustín hat doch jetzt unten seine Frau, die Pepa, mit den beiden Kindern. Die ist ein Maschinengewehr; es ist kein Wunder, wenn er ihr davonrennt. Ich kenne sie gut. Eine Zeitlang ist sie jeden Tag hier heraufgekommen und hat ihm Szenen gemacht, weil er nicht genug Geld gibt für Sofapolster und so Zeug, und weil er mit der Paquita geht. Sie hat mich sogar ausgefragt, ob er hier in der Telefónica mit der Paquita schläft; aber bis jetzt hat er es nicht getan – eigentlich eine Dummheit von ihm –, und das hab’ ich der Pepa auch gesagt. Die Pepa war einmal ein hübsches, feines Mädel, aber jetzt hat sie ein Essiggesicht. Komisch, Verschwenderinnen haben meistens ein anderes Gesicht, man würde die Pepa für geizig halten, wenn man nicht wüßte, wie sie ist. Und sie ist strohdumm. Nein, du kannst dich darauf verlassen, der Agustín kommt gleich wieder herauf, er will nichts von Weibern wissen. Gerade vorhin hat er die Paquita hinausgeschmissen. Aber die wird schon wiederkommen, die ist zäh und weiß, daß so einer wie der Agustín nicht überall zu finden ist. Weißt du, daß Miaja ihn mit du anredet?«
»Der General redet fast alle Leute mit du an, wenn er sie nämlich gut leiden kann. Und du bist selbst ein Maschinengewehr, Pepe, das geht bei dir taka-taka-tak. Bei mir bliebest du nicht Ordonnanz, das sag’ ich dir, ich mag es nicht, wenn man mir meine Bettgeschichten nachrechnet.«
»Teufel, Manolo, du bist grob und du kannst mich auch. Junge, du weißt ja, daß ich über den Agustín nicht mit jedem rede, sondern nur mit denen, die zu ihm halten. Und wenn du nicht zu ihm hältst, schlag’ ich dir die Zähne ein. Und außerdem ist ein Mann ein Mann und das ist keine Schande. Und …«
»Und ich habe andere Sorgen als deinen Agustín. Laß mich ins Büro, ich will ein paar Worte aufschreiben. Wenn ich dir zuhöre – übrigens, das mit dem Zähne einschlagen geht nicht so einfach bei mir, schau sie dir nur an, die beißen! Also, wenn ich dir zuhöre, vergesse ich meinen Bericht.«
Es war im Grunde gegen die Dienstordnung, aber Manuel war der Responsable des Stockwerkes, also durfte er auch in Abwesenheit des Chefs dessen Zimmer betreten. Er setzte sich zwar nicht auf den geschnitzten Sessel, aber das geschah zum Teil, weil die Lederfauteuils viel bequemer waren. So haben sich die Amerikaner eingerichtet, die wissen, was Luxus ist, dachte Manuel. Aber wir werden es anders machen und es wird auch schön sein, dafür werden wir eine breitere Stiege machen und nicht bloß Waschbecken und Duschen, sondern auch ein Bad für unsere Angestellten – in jedem Stockwerk womöglich.
Das Telephon klingelte; Pepe steckte den Kopf herein und sagte: »Antworte du, Manolo, du kennst die Leute besser.« Manuel zog seine uniformartige Bluse straff und nahm den Hörer ab. Zuerst verstand er nicht recht, aber er wollte seine Ungeschicklichkeit nicht merken lassen. Dann verstand er aber klar genug: »Vier Junkers, sechs Jagdflugzeuge im Anflug. Alarm geben!«
Nun war es wieder da. Er rief die Hauszentrale an und gab die vereinbarten Stichworte, die er als Responsable genau beherrschen mußte. Damit setzte er den Alarmapparat des gewaltigen Hauses in Bewegung, ohne den Kommandanten zu fragen. Aber das war Notstand. Alle Lichter aus. Nur die Taschenlampen und an ein paar Stellen die kleinen, mattblauen Notlampen, und Achtung mit den Taschenlampen! Was hatte er im Stock selbst zu tun? Er ging rasch hinaus und verständigte Pepe. Dieser wischte sich die Stirn und schlug vor, den Comandante im Keller suchen zu gehen.
»Geh nur du, wenn du Angst hast«, sagte Manuel. »Ich bleibe im Stock, einer muß das Telephon bedienen. Warte nur noch, bis ich mir die anderen Räume angesehen habe.«
Er machte in Hast die Runde. Die wenigen Menschen, die im achten Stock arbeiteten, waren schon im Stiegenhaus. Alarmpfeifen, Lärm von vielen Menschen auf der Treppe. Manuel kehrte wieder in die Kommandantur zurück, wo Pepe wartete. Der Gang bis dorthin war dunkel, der fensterlose Vorsaal schwarz, die kleine Taschenlampe drang nicht durch. Er stieß gegen Ecken und Kanten und fühlte sich im Stich gelassen, bis er die Stimme des Alten hörte »Hola, Manuel!«
Ein mattes Taschenlampenlicht blinkte auf (Pepe hat eine schlechte Batterie, sie wird bald ganz versagen und Batterien sind knapp geworden, dachte er), dann rief Pepe heiser: »Agustín hat angerufen, er kommt herauf. Ich muß nicht dabei sein, sagt er, wenn jemand anderer Verläßlicher heroben ist. Ich gehe. Ich kann die Junkers nicht leiden, sie tun meinen Magennerven nicht gut.«
»Geh in Teufels Namen, altes Schwein«, erwiderte Manuel, ernstlich gereizt und aufgeregt. Er lauschte auf die stolpernden, sich entfernenden Fußtritte im langen Korridor und ging dann mit einer Willensanstrengung ins Kommandantenzimmer. Er versuchte, sich zurechtzufinden: Das ist der große Armsessel, das ist die Tischkante, das ist das eine Fenster. Wenn ich die Taschenlampe auslösche, kann ich dieses Fenster aufmachen und horchen. Es ist sicher eine Dummheit, daß ich nicht in den Keller gehe. Aber so will ich wenigstens hören können, wie weit die Flieger von uns sind. Und wo bleiben unsere Abwehrgeschütze?
Er blickte in die beklemmende Dunkelheit hinaus, in der nur der Himmel einen matten Schein hatte. Er sah keine Flieger, aber wie hätte er sie auch zwischen den Wolkenfetzen sehen sollen? Das Motorengeräusch kam näher, es war ein alles durchdringendes Surren, aber noch kein Dröhnen. Manuel spannte alle Nerven auf das Hören und Ertragen der ersten Bombenexplosion. Als plötzlich ganz dicht neben der Telefónica ein Fliegerabwehrgeschütz losratterte, war es wie eine Enttäuschung. Schlechte Geschütze, nichts als ein besseres MG, dachte Manuel und setzte sich nieder, denn er war in den Knien so müde. In diesem Augenblick trat jemand ein, der sofort die Taschenlampe abknipste – das offene vorhanglose Fenster! – und scharf sagte: »Wer da?«
»Hier Manuel García, mi comandante«, sagte der andere. »Entschuldigung, ich bin hier geblieben, weil du selbst dem Pepe erlaubtest, hinunterzugehen, und weil jemand beim Telephon bleiben mußte.«
»Mach das Fenster zu, Genosse Manuel«, sagte Sánchez ruhig. Als der schwarze Vorhang gespannt war (eine schwierige Arbeit ohne Licht), knipste er eine sehr große Taschenlampe an, die wie ein Automobilscheinwerfer wirkte. »Setz dich dorthin, Genosse Manuel. Ist dein Stock in Ordnung?« Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern sagte: »Es ist schwer mit den Mädchen seit dem letzten Bombardement gestern. Zu viele von ihnen haben nun Tote gesehen. Die meisten haben eine tolle Angst.«
»Genosse Sánchez«, sagte Manuel, die Anrede wechselnd. »Ich wollte dir vorhin melden, daß ich anhand der letzten Granate hier im Stock feststellen konnte, daß die Faschisten einen neuen Schußwinkel haben.«
»Ja. Der dreizehnte Stock hat es gemeldet. Danke, Manuel.«
Manuel horchte auf das Motorensummen, das nun undeutlicher war. Er fühlte sich etwas enttäuscht, mit seiner Meldung zu spät gekommen zu sein. Genauso wie Agustín hielt er sich unbewußt außerhalb des grellen Lichtkegels der Taschenlampe, die auf dem Tisch lag und ihren Schein gegen die Tür warf.
»Sie sind uns diesmal nicht nahe gekommen und haben keine Bombe abgeworfen«, sagte Agustín. Dann schwiegen beide. Sie warteten. Agustín hatte einen schlechten Geschmack im Mund – von der Begegnung mit seiner Frau. Sie hatte sich beim Alarm nicht aufgeregt: sie hielt den Keller für absolut sicher für sich selbst und die Kinder, und an andere dachte sie nicht. Aber sie hatte Agustín zurückhalten wollen, nicht weil sie Angst um ihn hatte, sondern … »Du kannst mich nicht allein lassen, ich bin doch deine Frau.«
Und dann auf der Treppe ein Moment, in dem der Lichtkegel der Taschenlampe in Paquitas Gesicht gefallen war. Sie war nicht feige, sie hatte einen bösen Ausdruck gehabt, keinen aufgelösten wie viele andere. Aber als sie dem Lichtstrahl mit den Augen folgte und Agustín erkannte, hatte sie gerufen: »Tinito, komm, hilf mir. Ich falle«, und hatte ihr Gesicht wie eine Schauspielerin in Hilflosigkeit umgeändert. Merkwürdig, das so genau in diesem übermäßig harten, vergröbernden Lichtstreifen sehen zu können. Besser, nicht daran denken, besser, an die anderen denken. An die zwei Mädchen, die im fünften Stock an den Schaltbrettern sitzen geblieben waren, damit der Dienst weiterginge. An diesen Manuel, der mit ihm hier saß und wartete.
»Willst du ein Glas Kognak, Manolo?« Der Funktionär war überrascht, vor allem über die freundschaftliche Koseform seines Namens. »Klar, Mensch!« Er wollte noch etwas hinzufügen, da ging das Telephon. Aus dem Ja, Nein des Kommandanten konnte er nichts schließen. Im Reflex des Lampenkegels, in diesem ganz blassen Licht, sah er die Züge Agustíns sich erhärten. Agustín drehte zweimal ganz wenig den Kopf hin und her, und die Flügel seiner schmalen Nase bewegten sich.
»Ja.« Er hängte ab und drehte sich zu Manuel. »Sie kommen zurück. Es ist noch nicht vorüber. Sie werden auf uns losgehen. Ich kann nichts tun.« Er begann heftig zu fluchen, schön gewaltsame, barbarische Flüche, aber es war eine künstliche Explosion, die ihn nicht erleichterte. Er holte aus dem Schreibtisch eine Kognakflasche heraus und schenkte sich selbst und Manuel zwei kleine Gläser ein. »Zum Teufel mit den Deutschen!«
Wieder ging das Telephon. Er fluchte wieder und hob den Hörer ab. Im Apparat ein »Hallo … Ausländer … Comandante Sánchez?« Eine Frau mit tiefer Stimme, sie sprach seinen Namen wie Sanches aus. »Sprechen Sie französisch?«
»Ja. Was wollen Sie? Es ist Fliegeralarm«, sagte Agustín unfreundlich. Sicher Auslandspresse. »Wegen dem Alarm rufe ich Sie an«, sagte die fremde Frau mit einer sehr kühlen und sanften Stimme. »Hier spricht die Diensthabende der Zensur der ausländischen Presse.«
»Dort gibt es keine Frau.«
»Seit heute doch, Comandante Sánchez«, sagte die Frau in ihrem langsamen und korrekten Französisch. »Ich möchte, daß Sie mir die Information geben, wie es mit dem Fliegerangriff steht, damit ich das eventuell an die Berichterstatter weitergeben kann. Daß eine Bombe abgeworfen wurde, höre ich eben.«
Während sie sprach, war jenes dumpfe Aufschlagen und das Zittern aller Fensterscheiben gekommen, das eine Bombe in mäßig großer Entfernung ankündigt.
»Hat das nicht später Zeit? Jetzt habe ich keine Lust, Informationen an die Presse zu geben.«
»Ich mache Dienst, Genosse Comandante, damit die Nachrichten über das Bombardement durchgegeben werden. Deshalb bin ich hier oben geblieben. Sie sollten mir die Zusammenarbeit nicht verweigern, das ist keine Privatsache.«
Die Frau sprach noch immer kühl, aber ihre Stimme war noch tiefer und etwas heiserer geworden. Sie war wohl wütend – eine interessante Stimme –, sicher eine Deutsche. Agustín war mißtrauisch, aber er fühlte sich in die Ecke gedrängt.
»Señorita (ich werde einer Unbekannten da unten nicht Genossin sagen). Ich werde hinunterkommen und mit Ihnen reden. Sie sind im fünften Stock, nicht? Sie werden sich mir gegenüber ausweisen.«
Agustín hängte den Hörer auf und wandte sich zu Manuel, der vergebens versucht hatte, einzelne Worte zu verstehen: »Genosse García, bleib hier beim Telephon, und wenn etwas los ist, rufe mich in der Pressezensur im fünften Stock an. Da ist ein neues ausländisches Frauenzimmer. Ich muß sie mir näher anschauen. Die Sache paßt mir nicht.«
Drei schmale Wendeltreppen, totenschwarz, die der Strahl der Taschenlampe durchsticht, ein langer Korridor, Türen, Tappen an den Wänden, bis man den Lichtkegel richtig dirigiert hat, ein leeres Zimmer, kleine Taschenlampe, schattenhafte Frau, Scheinwerferlicht in ihr Gesicht: »Sie haben eben mit mir telephoniert, Señorita?«
Diese Frau hatte sehr helle Augen – grau wahrscheinlich –, deren Pupillen sich rasch verengten. Sie hatte harte Augenbrauen und einen blassen Mund – wenigstens nicht angestrichen –, der sehr gerade verlief. Sie war gar nicht hübsch. Um so besser.
»Hier sollten Sie niemand mit Señorita anreden, Comandante«, sagte die kühle, ruhige Stimme. »Und wollen Sie nicht einen Moment lang Ihre Lampe so halten, daß ich zur Abwechslung Ihr Gesicht examinieren kann?« Ihr herber Mund vertiefte und veränderte sich zu einem fröhlichen und kameradschaftlichen Lächeln, das einem knabenhaften Grinsen sehr nahekam. Die Lippen waren voll; dieser Mund war nicht hart. Agustín blickte interessiert darauf, denn es schien ihm ein Phänomen von Licht- und Schattenwirkung zu sein.
Aber er hielt die Lampe in einem anderen Winkel, so daß sie beide einander in einem schwachen Licht sichtbar wurden, und sagte ohne Gereiztheit: »Also gut, wer sind Sie eigentlich? Wissen Sie, daß bei Alarm der Keller sicherer ist?«
Sie setzte sich. Er sah, daß sie das war, was er viereckig nannte, stark muskulös, wahrscheinlich Sportlerin. Mitte der Dreißig, keine üble Figur, aber zu männlich für ihn, vor allem in Gesichtsausdruck und Benehmen. Er nahm neben ihr am papierüberladenen Tisch Platz. Sie sah die Schatten unter seinen Backenknochen und an seinen Schläfen, die langen Glieder, die dünnen Nasenflügel, die Müdigkeit. Sehr spanisch, überzüchtete Rasse, sehr nervös, wahrscheinlich sehr anständig und sehr empfindlich, alles im Extrem, taxierte sie ihn. Sie nahm sich vor, seine Mitarbeit zu gewinnen.
In diesem Augenblick kam Morton herein, der Korrespondent des »New York Telegraph«. Agustín kannte und mißachtete ihn, denn er hatte ihn oft in widerlichem Whiskyrausch in den Bars der Gran Vía gesehen; er hielt ihn für einen Faschisten und für einen unappetitlichen Fleischkoloß. Dem englischen Gespräch konnte Agustín nicht folgen, aber er sah, wie die Zensorin das Manuskript in einer, wie ihm schien, gewissenlos kurzen Zeit durchlas und billigte. Das mißfiel ihm, er fror innerlich wieder ein. Das Telephon klingelte: »Offenbar für Sie, Genosse Kommandant«, sagte die Frau und hielt ihm den Apparat hin. Manuel gab die Meldung, daß sich die Flieger entfernt hätten, aber daß noch eine Viertelstunde Alarmzustand eingehalten werden sollte; und daß die Bombe von vorhin in Vallecas gefallen war.
»Sind Sie Deutsche?« fragte Agustín die Frau, als der Journalist das Zimmer verlassen hatte.
»Ja.« Sie spürte die erneute Feindseligkeit.
»Wie heißen Sie? Zeigen Sie mir Ihre Legitimationen!«
»Ich heiße Anita Adam, und hier haben Sie meine Ausweise vom Außenministerium«, sagte sie mit einiger Schärfe. »Ich bin gestern Nacht aus Valencia gekommen und habe von nun an Nachtdienst in der Zensur.«
Die Papiere waren in Ordnung, aber das sagte ihm nicht viel. Hier war man in Madrid, nicht in Valencia. Das Ministerium war in vielen Dingen eine Domäne der alten Intriganten geblieben. Die Pressezensur war ein Departement des Außenministeriums. Aber in Madrid war Kriegszustand, die Verantwortung hatten die militärischen Autoritäten und hier in der Telefónica derzeit er selbst. Der brave, alte Hilario Gomá, der Vorstand der Zensur, bot ihm keine genügende Garantie für die Überwachung der Arbeit dieser Deutschen. Man sah, daß sie intelligent und energisch war. Warum war sie in Spanien?
Er fragte das so, wie er es dachte: »Was suchen Sie hier in Madrid?«
Anita verstand sein Mißtrauen nicht. Sie war bisher nur der spontanen Herzlichkeit ihrer Chauffeure und der überschwenglichen Höflichkeit der Ministerialbeamten gegenüber der ausländischen Journalistin begegnet und glaubte überdies in ihrem fanatischen Arbeitswillen und ihrer langen politischen Tätigkeit einen Freibrief für das republikanische Spanien zu besitzen. »Was ich suche? Ich verstehe Sie nicht gut, Comandante. Ich sehe nur, daß Sie meine Funktion hier in Frage stellen. Ich bin natürlich hier wie wir alle, als Sozialistin und Antifaschistin oder wie Sie es nennen wollen. Jedenfalls als Genossin, die hier helfen will.«
»Haben Sie draußen nichts zu tun gehabt?«
»O ja, Genosse, verzeihen Sie: wenn ich mich einmal entschließe, Sie nie mehr als Genosse anzureden, so wird das eine Bedeutung haben, die ich diesem Gespräch einstweilen noch nicht verleihen will. Also nenne ich Sie weiter Genosse. Ja, ich habe draußen Arbeit. Aber nichts ist jetzt so wichtig wie Spanien. Und ich bilde mir ein, hier nützliche Arbeit leisten zu können und zu müssen. Warum haben Sie diese Frage gestellt?«
Auf die Rückfrage war er nicht gefaßt gewesen. Er sah sie an – jetzt waren ihre Lippen wieder schmal und ihre Brauen zuckten. Sie mußte sehr zornig sein. Macht nichts, sie sollte nur merken, daß man ihrer ausländischen Autorität erst recht auf die Finger sah.
Unwillkürlich schaute er ihr tatsächlich auf die Finger. Sie hatte sehr weiche, kleine, weibliche Hände.
Agustín war so furchtbar übermüdet, daß er nicht merkte, wie lange er mit der Antwort zögerte und wie deutlich sein Blick zu verfolgen war. Anita sagte mit ihrer kältesten Stimme (sie zog bewußt dieses Register): »Sie wollen hier wohl keine Ausländerin und keine Frau sitzen haben. Leider kann ich einige Sprachen und kenne die ausländischen Presseverhältnisse, Kenntnisse, die hier fast ganz zu fehlen scheinen.« (Schweinerei, aber wahr, dachte er. Umso gefährlicher ist sie. Aber sein Mißtrauen kam ihm auf einmal übertrieben vor.) »Ich arbeite hier, wie meine Freunde in der Internationalen Kolonne kämpfen.«
Sie hätte das nicht sagen sollen, sie spürte es sofort. Er war Spanier, seine Reaktion war doch ganz logisch: aber sie tat weh. Sein Schweigen nach dem indirekten Vorwurf war peinlich. Ein unguter Anfang der Arbeit.
Inzwischen gingen ihm die Gedanken widerspruchsvoll durcheinander. Die Internationale Kolonne – Fremdenlegion. Nein, das nicht, es sind außer Abenteurern auch Revolutionäre dabei – und unsere Milizianer sind davongelaufen. Aber die deutschen Flieger und Granaten – die da ist eine ehrgeizige Abenteurerin – aber wenn sie doch ehrlich ist, hab ich ihr weh getan – sie antwortet gut – das Schlimme ist, daß wir keine gebildeten Spanier für diese Arbeit haben – sie hat vernünftige Augen, vielleicht kann man mit ihr reden. Die Funktion hat sie nun – die Konferenz mit Valencia ist gleich fällig – abschließen und hinaufgehen.
»Warum sind Sie allein hier heroben?« fragte er unvermutet in verändertem Tonfall. Er setzte sich dabei auf die Tischkante, was gewöhnlich ein Zeichen innerer Abrüstung ist.
Anita tastete dem neuen Stimmklang nach und kam zu dem Schluss, daß er sie wohl für mutig hielt. »Ich habe die Ordonnanz in den Keller geschickt, ich mußte hierbleiben. Ich finde, daß Bombardementsnachrichten von unserem Propagandastandpunkt aus sehr wichtig sind und man da der Presse alle Unterstützung geben muß.« Auch sie veränderte ihre Stimme, deren Wirkung sie sehr genau kannte.
»Sie können den Korrespondenten sagen, daß die Bombe von vorhin in Vallecas gefallen ist, sieben Tote, sechzehn Verletzte, die Bombe war deutsches Fabrikat. Es ist eine zweite als Blindgänger gefallen.«
»Danke, Genosse. Aber man müßte die Fabrikmarke und womöglich die Herstellungsnummer genau angeben, photographieren lassen, wenn es geht. Sehen Sie, man muß die Zeitungsleute mit echten Nachrichten füttern.« Sie sprach eifrig, ihr ganzes Gesicht war in Bewegung.
Spürt sie nicht, daß es eine Schande für alle Deutschen ist, was da geschieht, oder findet sie, daß sie nicht zu ihnen gehört? fragte er sich. Ihm war sie so neu wie er ihr. Merkwürdiger Typ, dachten sie beide fast zu gleicher Zeit. Aber als eben Johnson eintrat, tat ihnen die Unterbrechung leid.
Dieser sandhaarige Engländer war ein Freund der Frau, stellte Agustín sofort fest. Sie erklärte ihm die Nachricht, die sie soeben empfangen hatte, und war offenbar erfreut, den Mann zu sehen. Der Engländer begann in sie hineinzusprechen, eindringlich, besorgt, wahrscheinlich wollte er sie in den Keller schicken. Agustín wurde ärgerlich, daß er nicht Englisch verstand. Er wies die naheliegende Annahme, die alle seine Landsleute geglaubt hätten, nämlich, daß dies hier ein Verhältnis sei, zurück. Aber Freundschaft – wenn es Freundschaft zwischen Mann und Frau gab, was er nicht glaubte. Er, Agustín, kannte Männer und Frauen, er hielt den Engländer für schüchtern in die Deutsche verliebt, sie aber nicht in ihn. Er beugte sich über sie, sie hielt sich mit einem freundlichen Lächeln zurück. Agustín beobachtete, wie sich ihr Mund dabei veränderte; in seinen Winkeln bildete sich ein kleines Fragezeichen. Ihm gefiel der Mund, er dachte, es müßte angenehm sein, ihn zu küssen. Nur das, nicht mehr.
Als Johnson gegangen war, zögernd und unzufrieden, Anita in dieser dunklen Unsicherheit der Telefónica in einem merkwürdigen Dienst zurückzulassen, erhob sich Agustín. Er war länger geblieben, als er beabsichtigt hatte, und immer noch hätte er gern weiter mit ihr gesprochen. Anita erklärte ihm, wer Johnson war – die wichtige gemäßigte englische Zeitung, die ihn hergeschickt hatte –, und sagte noch: »Er ist ein feiner Kerl, ich kenne ihn, seitdem er einmal mit meinem Mann in einem internationalen Nachrichtenbüro gearbeitet hat.«
Sie war also verheiratet. Aber wo war der Mann? Sie sah nicht verheiratet aus, aber auch nicht wie eine unbefriedigte Frau. Hoffentlich suchte sie keine Kriegsabenteuer, mit diesem Mund da. Das hätte ihm eben noch gefehlt. Er mußte jedenfalls einiges klarstellen: