Theorie des Regens - Ralf Rothmann - E-Book

Theorie des Regens E-Book

Ralf Rothmann

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Beschreibung

»Immer habe ich den Regen geliebt – solange ich nicht nass wurde. Die Welt ist friedlicher, wenn es regnet, still sitze ich am Fenster und höre zu, wie der Wolkenbruch das Laub der Linde, die Postkästen und die leeren Flaschen hinter dem Bistrot zum Klingen bringt. So flüssig schriebe ich gern. Die ganze rue Delambre ist bis zur letzten Laterne auf eine glänzende Weise ausformuliert, und ich blicke durch die Tropfen auf der Fensterscheibe wie durch winzige, schnell zerlaufende Prismen auf mein Leben.«

Ralf Rothmanns Notizen aus fünfzig Jahren: So persönliche wie lyrische, so grimmige wie humorvolle Momentaufnahmen aus den Erinnerungen eines Autors, von dem wir viele wunderbare Romane und Erzählungen kennen und der uns hier mit wenigen Worten vor Augen führt, was versöhnen könnte mit den Zumutungen der Mitwelt und der viel zu rasch vergehenden Zeit: Eine poetische Existenz.

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Cover

Titel

Ralf Rothmann

Theorie des Regens

Notizen

Suhrkamp Verlag

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der Bibliothek Suhrkamp 2023.

Originalausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Umschlaggestaltung: nach einem Konzept von Willy Fleckhaus

Umschlagfoto: Heike Steinweg

eISBN 978-3-518-77528-8

www.suhrkamp.de

Widmung

Am Stadtrand, im Vorfeld

Wohl drei Dutzend Notizhefte habe ich in den letzten fünfzig Jahren gebraucht, und die meisten der darin festgehaltenen Einfälle, Beobachtungen oder Gedanken wurden in Erzählungen und Romane übertragen. Doch manche Zeilen widersetzten sich auch, waren ihr eigener Ort und stehen nun in diesem Buch. Es sind Segmente oder Splitter einer Geschichte, deren Herausgabe vielleicht die Hoffnung rechtfertigt, dass in ihren Zwischenräumen die Geschichten anderer beginnen. Die wären dann die Wasserzeichen auf den folgenden Seiten.

Berlin-Frohnau, im Frühjahr 2023

Motto

Wie viel hätte man zu wünschen und doch eigentlich nichts.

Hermann Hesse

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

Irgendwann werde ich besonnen sein

Informationen zum Buch

Theorie des Regens

Irgendwann werde ich besonnen sein

Irgendwann werde ich besonnen sein; irgendwann werde ich vernünftig sein und tot.

Auf den Autobahnbrücken meiner Jugend am Ortsrand, besoffen vor Sehnsucht, fühlte ich mich immer zurückgelassen – während unter mir alles in die Ferne flitzte.

Ist es nicht wahr, was ich irgendwo bei Musil gelesen habe? Wenn ich schreibe: Geschieht das nicht in einem Zustand, der der Liebe ähnelt, egal worum es geht?

»Dichter« wäre ein Titel für mich. Wie in der Kindheit, bei unseren Kämpfen im Brachland, »Apache« (nur die Idioten wollten »Cowboy« sein).

Die Geburt des Erzählers aus der Lieblosigkeit. Viele, wenn nicht die meisten Kinder hatten damals, im Ruhrgebiet der fünfziger und sechziger Jahre, den Mund zu halten; nie fragten die stets erschöpften Eltern, wie es denn gehe, nicht einmal, wie es in der Schule war; das würde man ja auf dem Zeugnis sehen: »Beim Essen spricht man nicht! Putz dir die Zähne, und ab ins Bett!« – Und so erzählte ich mir auf den Wegen durch die Wälder längs der Kohlehalden selbst, was ich soeben erlebt hatte: einen Wigwam aus Zweigen und Farn gebaut, eine Schleie im Baggersee gefangen, Nägel auf die Geleise gelegt, damit der Zechenzug sie plattwalzt, prima Pfeilspitzen, weißt du. Das Erzählte fügte sich in den Rhythmus meiner Schritte, und der brachte immer neue Geschichten hervor, erfundene auch, weil es einfach guttat, der Stille zwischen den Weizenfeldern etwas zu flüstern. Betrat ich dann unsere Wohnung, hätte ich kaum noch sagen können, was ich erlebt und was ich mir ausgedacht hatte, und die Verwirrung nahm noch zu und wurde beklemmend, wenn ich mir vorstellte, dass mich ausnahmsweise doch jemand nach den letzten Stunden fragen könnte … Dann war ich erleichtert über das vertraute: »Essen, waschen und ins Bett!«

Eine Biografie aus Leerzeilen. Wäre nicht alles andere erfunden?

1973, Essen-Rüttenscheid: Eigentlich lebe ich mein Leben ohne jede gedankliche Vermittlung, bin befangen in einer nahezu animalischen Augenblicklichkeit. Die treibenden Kräfte bestehen allein im erotischen Verlangen und in dessen Brüskierung. Möglicherweise haben meine Einfälle darum etwas so Expressives, fast Grelles: als ob in ihnen für Sekunden die sonst zerstreute geistige Energie in einem Lichtblitz zusammenschießt.

Mir kann das Schlimmste passieren: Wenn ich mich einsam fühle, ist es immer nur das Zweitschlimmste.

Laufe zum Briefkasten hinunter, Post ist da! Die Lohnsteuerkarte.

»Ich bin hier auch nur angestellt.«

Was ich sage oder schreibe, klingt nicht nach mir. Ich bin wie das schlafende Huhn auf der Stange, das gurrt, weil es träumt, eine Taube zu sein.

Wenn du das, was du für einen Mangel hältst, bewusst und selbstsicher trägst, ergibt das eine Eigenart. Und wenn es dir ohne Ironie und Zynismus ernst ist mit deinem Leben, deinem Tun, hast du Eros.

Schon in der Kindheit war das eine gute Schule: Zu träge, einen falsch begonnenen Satz zu streichen oder umzuschreiben, überließ ich ihn und seine Gangart meiner Phantasie, die so gelenkig blieb, das Abgeknickte rundete und dem Wirren eine Struktur gab – was den einen oder anderen Lehrer stutzig machte und Hoffnung in den sonst mäßigen Schüler setzen ließ. Aber schon damals hatte das Schreiben seine Zeit: Brillanz war nicht abzurufen oder zu bewerkstelligen, also legte ich auch Hinlängliches vor. Dann war das Stutzen der Lehrer ein enttäuschtes, und ihr wortloses Wegsehen beschämte mich mehr als eine schlechte Zensur.

Miriam, über etwas winziges Graues auf dem Teppich geneigt: »Bist du Tier oder Fluse?«

Es fehlt mir weniger das wahre Glück als vielmehr die Fähigkeit, es zu erkennen. Angstblau las ich statt Augustblau.

»Du wirst auch noch ruhiger werden.«

*

Der Essener Armin, ein gutmütiger Riese mit gewaltigem Bart, sein Freund Johannes, ein stets etwas ironischer Kölner voller Blatternarben, und ich reisen nach Teheran. 1974 wollen die Menschen dort große Autos fahren, am liebsten Chevrolet, Mercedes oder BMW. Der Handel mit den Marken blüht, aber es gibt ein Problem: Jede Person, auch jeder Perser, darf nur ein Auto pro Jahr einführen, und so suchen die Händler, die zum Schein kleine Teppichläden oder Haushaltswarengeschäfte in Stuttgart oder München betreiben, zeitlich ungebundene Männer mit Reisepässen, in denen noch kein aktueller Import eingetragen ist. In kleinen Kolonnen fährt man die fabrikneuen Autos über Österreich, Jugoslawien, Bulgarien, Griechenland und die Türkei nach Teheran.

Für die fünftägige Tour bekommen die Fahrer sechshundert Mark und freie Verpflegung in Raststätten. Geschlafen wird am Straßenrand in den Wagen, und meistens geht es schon nach drei, vier Stunden weiter. Übrigens kann der Besitzer der großen 5er-BMWs, ein äußerst gepflegter, rundlicher Teheraner, der Elyar heißt, seine Geringschätzung der drei langhaarigen Chauffeure in den zerfransten Jeans nur schlecht verbergen. In den Raststätten isst er an einem gesonderten Tisch, und während eines Streits wegen der zu kurzen Pausen beschimpft er uns als Gammler und Taugenichtse, die nicht arbeiten wollen und es folglich zu nichts bringen werden. – »Und wozu hast du es gebracht?«, fragt Johannes listig zu ihm hinüber. »Verschiebst ein paar Autos im Jahr für lumpige zehn Prozent Gewinn?«

Da hat er der Ehre des Mannes die erste Delle beigebracht. »Was redest du da, dumme Kartoffel?«, knurrt er. »Meinst du, für zehn Prozent würde ich aufstehen am Morgen? Meinst du, meine Frau würde mich dann noch achten und mir jedes Jahr einen prächtigen Sohn schenken? Fünfhundert Prozent Gewinn mache ich mit einem einzigen Wagen, fünfhundert! Das musst du erstmal erreichen im Leben!«

Johannes, der Design an der Folkwangschule studiert, zwinkert uns zu. »Na, dann wäre das ja auch geklärt«, sagt er. »Aber vergiss nicht, Elyar: Die Autos gehören uns, sie stehen in unseren Pässen. Und auch wenn die in deinem Handschuhfach liegen: Wir gehen einfach zur nächsten deutschen Botschaft und sagen, wir sind bestohlen worden. Dann kriegen wir neue und fahren mit deinen Autos zurück ins Ruhrgebiet. So weit musst du es erstmal bringen im Leben! Drei geschenkte 5er-BMWs!«

Da steht der Perser auf, zeigt in die Runde und fragt mit plötzlich weicher, fast singender Stimme: »Alle satt? Wollt ihr vielleicht noch ein kleines Dessert? Oder können wir langsam weiter? Ich meine, keinen Stress jetzt, wenn ihr müde seid, könnt ihr auch noch ein bisschen ausruhen im Auto.«

Obwohl die BMWs gerade aus dem Werk kommen und eigentlich behutsam eingefahren werden müssten, brettern wir, wo immer es geht, Elyar mit Vollgas hinterher. Die Polizisten kennen die Route der Schieber: In Österreich werden wir das erste Mal angehalten, dann in Jugoslawien auf dem »Autoput«, wo Elyar ein Huhn überfährt, im nächtlichen Sofia und auch in Thessaloniki: Die Uniformierten fuchteln, drohen und bellen, der plötzlich demütige Perser nickt reuevoll und bittet mit zuckenden Schultern und hervorgekehrten Handflächen um Verzeihung, wobei ihm die Stimme bei Bedarf ins Weinerliche kippt, und bezahlt wird am Ende immer bar, ohne Quittung.

An der nächtlichen Grenze zur Türkei tragen die beiden Zollbeamten Nadelstreifenanzüge, Siegelringe und zweifarbige Schuhe. Sie sind pomadisiert und haben jede Menge Gold im Mund, und Elyar öffnet alle vier Kofferräume. Er spricht türkisch und scherzt mit ihnen, während sie sich aussuchen, was sie gebrauchen können: neue »Seidensticker«-Oberhemden, einen kleinen tragbaren Fernseher, einen »Moulinex«-Mixer, gerüschte rosa Morgenröcke für die Frauen, mehrere Packungen »Mozartkugeln«. Und nachdem Elyar dem einen Beamten noch eine Rolle Geldscheine in die Hand gedrückt und dem anderen das Kinn getätschelt hat – er krault ihn tatsächlich wie ein Hündchen und wispert dabei Koselaute –, kriegt er seine Stempel, und wir fahren weiter.

Während der Fahrt durch Anatolien, wo die Straßen oft nicht asphaltiert sind, springen uns immer wieder Schottersteine gegen die Karosserie; keine Windschutzscheibe ohne Riss oder Loch, was den Wert der Wagen aber nicht zu mindern scheint. In einem Hotel in Erzurum trifft Elyar sich mit irgendwelchen Geschäftsleuten, verhandelt stundenlang mit ihnen in der Lobby, während wir im Park davor Boccia spielen, und an der Grenze nach Persien dann keine Kontrollen, man winkt uns durch. Als ich ihn in der folgenden Raststätte nach dem Grund frage, beißt er von einem Bund Petersilie ab und sagt kauend: »Mein Schwager arbeitet beim Zoll. Wir haben es so eingerichtet, dass er dort Dienst hatte …«

In jedem Dorf, auch im kleinsten, eine goldbemalte Schah-Statue, überlebensgroß. Wo immer wir anhalten, werden wir um Whisky und Zigaretten gebeten. Alle zehn Kilometer an der Autobahn ein hoher Betonsockel mit einem übel zerdrückten Autowrack darauf, Warnung vor zu schnellem Fahren. In der Ferne der Ararat, schneebedeckt, und als ich ihn eine längere Zeit fasziniert betrachte – Mein Gott, denke ich, den gibt es wirklich! –, wäre ich fast mit einem wilden Kamel kollidiert. Immer wieder traben welche neben dem Asphalt durch den Sand, oder sie brechen plötzlich durchs Gestrüpp und überqueren die Straße.

Im nächtlichen Teheran, im Garten von Elyars Villa, haben wir im Hintergrund zwischen Palmen zu warten, während ihn seine Familie empfängt: Die Frau trägt ein Kopftuch, von dem sie einen Zipfel mit dem Mundwinkel hält, ebenso die kleine Tochter, die sich ängstlich an sie drängt, als wäre der Vater ein bedrohlicher Fremder. Aufgereiht an der Kante des beleuchteten Swimmingpools stehen sieben Söhne zwischen zehn und achtzehn Jahren. Alle küssen ihm die Hand, und er streicht ihnen segnend über den Kopf. Ohne uns noch einmal anzusehen, befiehlt er dem Ältesten, uns ins Hotel zu fahren.

Das »Amir Kabir« in der Innenstadt ist 1974 ein heruntergekommener Betonbau, in dem vor allem europäische Durchreisende wohnen, Hippies auf dem Weg nach Indien oder Afghanistan. Die Matratzen sind versifft, die Fenster blind vor Dreck, und es gibt nur ein Bad pro Etage, lichtlos: Kein Schalter irgendwo, man muss die Tür zum Korridor offen lassen, will man sich waschen, wobei ausschließlich kaltes Wasser aus dem großen Duschkopf in der Raummitte fällt. Darunter sind die Bodenkacheln zu sehen, ein mondgelber Kreis, doch der Rest des Raums bleibt im Dunkeln, und man weiß nicht, was die glitschige Schicht unter den Füßen ist, irgendein Moos oder vielleicht sogar Kot; alle hier, auch wir, haben Diarrhöe.

Frühstück gibt es nur aus dem Automaten. Amerikanische Cerealien, abgepackte H-Milch, Donuts und Weißbrot. Dafür braucht man Münzen, und als der gähnende Armin dem Mann an der Rezeption einen Geldschein hinschiebt und um welche bittet, reagiert der nicht, schreibt irgendetwas aus dem Reservierungsbuch ab. Drei oder vier Mal fragt Armin ihn, immer auf Englisch, immer mit einem höflichen »Sir?« oder »Excuse me?«, bleibt aber Luft für den Mann, und schließlich wendet er sich mit einem resignierten »Arschloch« von ihm ab. Das hatte er auf Deutsch gesagt, doch nun schnellt der Angestellte, oder was er ist, hinter seinem Tresen hervor und klatscht ihm die flache Hand ins Gesicht.

Armin ist gelernter Steinmetz, hat zentnerschwere Grabmale getragen, und ein beiläufiger Schlag von ihm hätte den kleinen Perser fraglos auf den Teppich geschickt. Doch schneller, als er ausholen kann, stehen plötzlich drei weitere Männer vor ihm, alle ähnlich aussehend wie der vermeintliche Rezeptionist: öliges schwarzes Haar, bläuliche Bartschatten, weiße Hemden mit Schulterklappen und Hosen mit scharfen Bügelfalten. Zwei von ihnen tragen Pistolenholster am Gürtel, und einer zeigt auf die Sitzgruppe in der Ecke und zischt: »You better sit down and be quiet now!«

Am Nachmittag treffen wir Elyar im Zollamt, in dem die Wagen aus unseren Pässen gestempelt werden – sonst kommen wir nicht wieder über die Grenze. Ich gehe zu Fuß durch die verstopften Straßen und bin eine halbe Stunde eher dort als die anderen in ihrem Taxi. Menschentrauben vor jedem der vergitterten Schalter, Palaver und Gebrüll. Alle wedeln mit irgendwelchen Papieren, doch auch hier werden wir bevorzugt; ein Beamter winkt uns heran, und als Elyar ihm unsere Pässe reicht, rutschen einige Dollarnoten heraus und trudeln zu Boden. Das hat ein ausgemergelter Perser mit einem schmutzigen Turban, der offenbar schon eine Weile auf seine Abfertigung wartet, gesehen; er stößt einen langgezogenen, vor tiefer Empörung oder Verzweiflung gellenden Schrei aus und rüttelt an dem Gitter. Er springt sogar auf den Tresen in seinen mürben Plastiksandalen, versucht den Beamten durch die Stäbe hindurch zu packen, und augenblicklich öffnet sich eine Seitentür und vier Uniformierte reißen den Mann herunter und führen ihn ab.

Hinter einer Moschee mit schepperndem Muezzin-Lautsprecher entdecken wir zu unserer Freude ein Lokal, das frisch gezapftes Bier ausschenkt. Über der Tür hängen Portraits des Schahs und seiner Gemahlin, die Halbliterkrüge sind aus durchsichtigem Plastik, und das kaum schäumende Helle ist sogar in der großen Hitze sehr kalt. Dazu isst man unablässig Pistazien und lässt die Schalen einfach fallen; sie werden offenbar nie ausgekehrt. Ein dicker Teppich bedeckt den Boden der stillen Bar, und wenn man zum Tresen oder zur Toilette geht, knackt und knirscht es unter den Sohlen, als ginge man über Knochengries.

Katzen in weggeworfenen Sandwich-Tüten: Immer mal wieder bewegt sich eine auf dem Gehweg, und man schreckt zur Seite.

Während der Rückreise, im »Pudding Shop« in Istanbul, bitten zwei Studentinnen aus Düsseldorf darum, sich uns anschließen zu dürfen. Es sei nicht mehr auszuhalten: Dauernd würden sie bedrängt von den türkischen Männern, die offenbar dächten, allein reisende Frauen seien Freiwild; auf den Basaren griffe man ihnen einfach in die hellblonden Haare und Schlimmeres … Ritterlich gewähren wir ihnen Geleit bis zur griechischen Grenze, und die Vorstellung, dass eine Frau nur deswegen nicht betatscht wird, weil ich neben ihr gehe, eröffnet Abgründe. Der Mann, das missratene Geschlecht.

Die schönste oder meinetwegen verführerischste Frau lässt mich kalt, wenn sie sich abspielt oder sich für ein Kunstwerk hält (»Hier spielt sich eine Dame ab …«). Zeigt aber eine Humor oder gar Selbstironie, bin ich besiegt.

Essener Saalbau, Frühjahr 1975: Grigory Sokolov. Ein nicht sehr großer, rundlicher Mann Ende zwanzig mit dunklen Haaren und Dreitagebart, der wegen seiner Weigerung, in die Partei einzutreten, nur gelegentlich aus der Sowjetunion ausreisen darf. Keine der üblichen Pianisten-Posen, auch verbeugt er sich nicht in seinem Straßenanzug, sondern nickt nur kaum merklich, ehe er sich an den Flügel setzt. Bei aller Konzentration wirkt er sehr melancholisch, ja depressiv, und dadurch doppelt so alt, wie er laut Programmzettel ist. Aber der erste Ton fällt einem wie ein Tautropfen in die Seele.

Ich bewege mich nicht vor Angst, meine Lederjacke könnte knarren. Und nach dem oft erschütternden Konzert – Schubert, Brahms, Rameau – wieder keine Verbeugung, nur ein leichtes Vorneigen am Bühnenrand mit einem starren, tieftraurigen Blick. Das russische »Toska« glaubt man darin zu sehen, etwas zwischen Schwermut, Sehnsucht und Sorge, während der brausende Applaus ihn gar nicht zu berühren scheint. Nach einer kurzen Zugabe geht er davon, und ich, von dieser Erscheinung am Bühnenrand noch mehr fasziniert als von seinem Spiel, habe einen Helden fürs Leben gefunden.

Du hast Zeit, Zeit, überlasse es der Zeit. Bis endlich alles übergeht in ein stetes ruhiges Schreibgeräusch: Bleistift auf holzfreiem Papier.

*

An so einem diesigen Morgen im späten Sommer riecht das frisch gemähte Gras wie rohes Fischfilet.

Wie oft war ich verliebt, ohne es zu wissen, nur weil ich einer bestimmten Auffassung von der Liebe anhing. Um wie viel bringt man sich überhaupt mit Vorstellungen von Gefühlen.

Als ich Miriam nicht lange nach unserer ersten Trennung 1976 in Berlin besuche, eine Fahrt im Nachtzug, erkenne ich sie zunächst nicht in dem frühmorgendlich überfüllten Bahnhof Zoo, suche sie hinter der Frau, die vor mir steht. Obwohl sie verschlafen ist wie ich, umgibt sie etwas Neues, Freies, das mit dieser ummauerten Stadt zu tun haben muss, denke ich. Sie hat einen bunt bemalten Renault 4, und während sie mich zwischen den wuchtigen Häusern mit den bröckelnden Balkonen und zerschossenen Stuckelementen in ihre neue Wohnung fährt, empfinde ich Geschichte zum ersten Mal im Leben als etwas Leibhaftiges, das mir zu meiner Silhouette verhelfen könnte. Und weiß bereits, dass ich für lange hierbleiben werde.

Berlin-Schöneberg, 1977: Wer nicht schreibt oder malt, der schauspielert oder macht Musik; Männer schminken sich die Augen, Frauen bringen ihre Kleinkinder um Mitternacht mit in den »Dschungel« am Winterfeldtplatz. Zwei Tage arbeite ich schwarz als Koch in einer Jazzkneipe in Wilmersdorf, mit dem Geld und ein paar geklauten Kartoffeln komme ich über die Woche. Rauchend schlendere ich durch den dunklen Park hinter dem Rathaus heim, und manchmal setze ich mich noch in ein Nachtcafé an der Akazienstraße und esse ein Eis. Alles fühlt sich provisorisch an, und das ist eine Form von Zärtlichkeit.

Als ich meinen Namen und die Titel zweier Gedichte in der Ankündigung einer kleinen Anthologie lese: Zum ersten Mal im Leben das Gefühl, jetzt eine Verantwortung zu haben.

Die alten Männer aus dem Zentralkomitee der Lyrik: Der namhafte Autor und Rundfunkredakteur, eigentlich ein moderner Romantiker, erscheint zu seiner Lesung im »Buchhändlerkeller« am Savignyplatz in einem knöchellangen schwarzen Ledermantel mit breitem Revers und Schulterklappen, bei dem man unwillkürlich an Gestapo oder Stasi denken muss. Dazu eine Schirmmütze aus dem gleichen Leder, und als ihm während des Gesprächs nach der Lesung jemand sagt, dass ihm seine Gedichte voller Rheinwiesen, Schneewehen und Forsythien nicht politisch genug seien, gibt er dem jungen Mann mit einem Blick zu verstehen, dass er ihn für einen Zausel hält, und fragt: »Was wollen Sie? Dass ich schreibe wie Erich Fried? Das wollen Sie doch, oder?«

Wenn schon jemanden vor Augen oder im Sinn haben beim Schreiben, dann meine hart arbeitenden Eltern, nicht diesen Literaturklüngel.

Neue Adresse: Eva und Werner bestehen darauf, dass wir keine Wohngemeinschaft sind, sondern eine Gemeinschaftswohnung haben; alles andere wäre 1978 nicht mehr cool. Ich besitze nur eine Matratze und ein paar Bücher, und wenn Eva nachts ins »Risiko« geht, erlaubt sie mir, ihre Platten zu hören. Sie hat die meisten von Roxy Music, Talking Heads, Patti Smith, Lou Reed und den Sex Pistols, aber besonders eine erschüttert mich tief, Iggy Pops »The Idiot«. Eine unglaubliche, von einer majestätischen Melancholie durchwirkte Kraft und Eleganz liegt für mich in dieser von David Bowie produzierten Aufnahme, die wuchtigen Akkorde scheinen den Raum zu verziehen, und die mal metallisch schneidende und mal tiefdunkle Stimme des knapp Dreißigjährigen klingt, als hätte er schon alle Erfahrungen eines langen Lebens gemacht und sei über jeden Alltagskram erhaben. Ich lege sie wieder und wieder auf in den warmen Sommernächten, während ich rauchend auf dem Balkon sitze, und eines Morgens gegen vier, gerade war »Nightclubbing« zu Ende, ruft jemand leise »Eva?«, und ich blicke über die Brüstung: Auf der dämmrigen Eisenacher Straße stehen ihre Freundin Esther, eine Fotografin, und deren Freund James Osterberg, »Iggy Pop«. Der schwankt betrunken und kriegt kaum die Fingerspitzen in die Taschen seiner engen Hose, und sie fragt: »Wer bist du? Wir fahren nachher weg. Könntet ihr unsere Katze füttern?«

Nur nachts ist die Stadt erträglich. Die Lichter verbergen alles, wovon einem tagsüber schwarz wird vor Augen.