TICK TACK - Wie lange kannst Du lügen? - Megan Miranda - E-Book
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TICK TACK - Wie lange kannst Du lügen? E-Book

Megan Miranda

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Beschreibung

15 Tage. 2 Freundinnen. 1 Mord.

Zehn Jahre ist es her, dass Nic ihre Heimatstadt von einem Tag auf den anderen verließ. Doch die Erinnerung an die Nacht, in der ihre beste Freundin Corinne spurlos verschwand, hat sie nie losgelassen. Hatte jemand aus ihrem Freundeskreis etwas damit zu tun? Eines Tages erhält sie eine geheimnisvolle Nachricht: »Dieses Mädchen. Ich habe es gesehen.« Nic weiß, dass nur eine damit gemeint sein kann: Corinne. Sie fährt zurück in das von dunklen Wäldern umgebene Städtchen, um herauszufinden, was damals wirklich geschah. Doch schon am selben Abend verschwindet erneut ein Mädchen – das Mädchen, das ihnen allen damals ein Alibi geliefert hatte …

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MEGAN MIRANDA hat am Massachusetts Institute of Technology Biologie studiert und ist heute hauptberuflich als Autorin tätig. Sie hat bereits mehrere Jugendromane veröffentlicht und lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in North Carolina. »TICK TACK« ist ihr erster Thriller und wurde in den USA sofort ein riesiger Erfolg.

Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.

Megan Miranda

TICK TACK

Wie lange kannst du lügen?

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Cathrin Claußen und Elvira Willems

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »All the Missing Girls« bei Simon & Schuster, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen

von Penguin Books Limited und werden

hier unter Lizenz benutzt.

Copyright © 2016 by Megan Miranda

Published by arrangement with the original publisher, Simon & Schuster, Inc.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by

Penguin Verlag,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Favoritbüro

Covermotiv: © WIN-Initiative / GettyImages

Redaktion: Barbara Raschig

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-21065-6 V003

www.penguin-verlag.de

Für meine Eltern

Teil 1

Heimkommen

Der Mensch wunderte sich aber auch über sich selbst, das Vergessen nicht lernen zu können und immerfort am Vergangenen zu hängen: Mag er noch so weit, noch so schnell laufen, die Kette läuft mit.

Friedrich Nietzsche

Mit einem Anruf fing es an, scheinbar harmlos und leicht zu ignorieren. Das Summen auf Everetts Nachttisch, das Aufleuchten des Displays – zu hell in dem Schlafzimmer, das er gern ganz dunkel hielt, wo die Verdunkelungsrollos heruntergezogen waren bis zum Fensterbrett und die getönten Fensterscheiben eine zweite Verteidigungslinie gegen die grelle Sonne und die Stadt bildeten. Den Namen sehen, auf stumm schalten, das Handy mit der Vorderseite nach unten neben den Wecker legen.

Doch dann. Wachliegen und überlegen, warum mein Bruder am Sonntagmorgen so früh anruft. Alle Möglichkeiten durchgehen: unser Vater, das Baby, Laura.

Ich tastete mich durch die Dunkelheit, strich mit den Händen über die Kanten der Möbel, bis ich den Lichtschalter im Bad fand. Meine nackten Füße auf dem kalten Fliesenboden, als ich mich auf den Toilettendeckel setzte, das Handy am Ohr, Gänsehaut an den Beinen.

Daniels Nachricht hallte durch die Stille.

»Das Geld ist so gut wie weg. Wir müssen das Haus verkaufen. Aber Dad will die Papiere nicht unterschreiben.« Pause. »Es geht ihm gar nicht gut, Nic.«

Er bittet mich nicht um Hilfe, das wäre zu direkt. So sind wir nicht.

Ich drückte auf Löschen und schlüpfte wieder unter die Laken, bevor Everett aufwachen konnte.

Als ich später in meiner Wohnung die Post vom Vortag durchging, fand ich den Brief – Nic Farrell, mit blauer Tinte in der vertrauten Handschrift, die Adresse von jemand anderem mit einem dunkleren Stift nachgetragen.

Mein Vater rief nicht mehr an. Das Telefon verstärkte seine Desorientierung noch, zu weit weg von dem Menschen, den er zuzuordnen versuchte. Selbst wenn er sich noch erinnerte, wessen Nummer er gewählt hatte, entglitten wir ihm doch, sobald wir das Gespräch annahmen, und waren nur noch körperlose Stimmen im Äther.

Ich faltete den Brief auseinander – ein liniertes Blatt aus einem Notizbuch mit ausgefranstem Rand. Seine Handschrift ging über die Linien und scherte leicht nach links aus, als hätte er sich beeilt, die Gedanken aufs Papier zu bringen, bevor sie wieder verpufften.

Keine Anrede.

Ich muss mit dir reden. Dieses Mädchen. Ich habe es gesehen.

Kein Gruß.

Ich rief Daniel zurück, den Brief noch in meiner zitternden Hand. »Hab gerade deine Nachricht bekommen«, sagte ich. »Ich komme nach Hause. Erzähl mir, was los ist.«

Tag 1

Ich sah mich ein letztes Mal in der Wohnung um, bevor ich mein Auto belud: Koffer an der Tür, Schlüssel in einem Briefumschlag auf der Küchenarbeitsplatte, ein offener Karton mit den letzten Sachen, die ich am Abend zuvor zusammengepackt hatte. Von der Kochnische aus konnte ich jeden Winkel der Wohnung einsehen, trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, irgendetwas vergessen zu haben.

Ich hatte alles eilig zusammengepackt, während ich die letzten Wochen des Schuljahres zu Ende gebracht hatte, Daniels Anrufe pariert und gleichzeitig jemanden gesucht hatte, dem ich meine Wohnung über den Sommer untervermieten konnte – keine Zeit, innezuhalten und darüber nachzudenken, was ich hier eigentlich tat. Zurückkehren. Dorthin. Daniel wusste nichts von dem Brief. Er wusste nur, dass ich kam, um zu helfen, dass ich zwei Monate hatte, bevor ich in mein Leben hier zurückkehren würde.

Die Wohnung war jetzt praktisch leer. Den einigermaßen verantwortungsbewusst wirkenden Studenten, der sie bis zum August gemietet hatte, erwartete eine anonyme, aller Wärme beraubte Kiste.

Die Sachen, die nicht in mein Auto passten, lagerten in einem Depot ein paar Blocks von hier. Mein ganzes Leben in einer versiegelten rechteckigen Koje, bis oben hin vollgepackt mit bunt angestrichenen Möbeln und Winterklamotten.

Ein Klopfen hallte von den nackten Wänden wider, und ich fuhr zusammen. Der neue Mieter sollte erst in ein paar Stunden kommen, wenn ich schon unterwegs war. Für jemand anderen war es zu früh.

Ich durchquerte das schmale Zimmer und öffnete die Wohnungstür.

»Überraschung«, sagte Everett. »Ich hatte gehofft, dich noch zu erwischen, bevor du losfährst.« Er war für die Arbeit gekleidet – elegant und gepflegt –, und er beugte sich vor, um mich zu küssen, eine Hand hinter dem Rücken. Kaffee und Zahncreme, Wäschestärke und Leder, Professionalität und Effizienz. Hinter dem Rücken holte er einen dampfenden Styroporbecher hervor. »Den hab ich dir mitgebracht. Für die Fahrt.«

Ich atmete tief durch. »Der Schlüssel zu meinem Herzen.« Ich lehnte mich an den Küchentresen und trank einen kräftigen Schluck.

Er schaute auf seine Armbanduhr und zuckte zusammen. »Ich find’s schrecklich, aber ich muss schon wieder los. Früher Termin am anderen Ende der Stadt.«

Wir küssten einander ein letztes Mal. Als er sich löste, fasste ich ihn am Ellbogen. »Danke.« Er lehnte die Stirn an meine. »Es geht schnell vorbei. Du wirst sehen.«

Ich blickte ihm hinterher – seine Schritte forsch und gemessen, sein dunkles Haar streifte den Kragen –, bis er am Ende des Flurs vor dem Aufzug stand. Als die Türen aufgingen, wandte er sich noch einmal zu mir um. Ich lehnte mich an den Türrahmen, und er lächelte.

»Fahr vorsichtig, Nicolette.«

Ich ließ die Tür ins Schloss fallen, und plötzlich lähmte der Gedanke an das, was ich an dem Tag vorhatte, meine Glieder, und meine Fingerspitzen kribbelten.

Die roten Ziffern der Uhr an der Mikrowelle sprangen um, und ich fuhr innerlich zusammen.

Von Philadelphia nach Cooley Ridge sind es mit dem Auto neun Stunden, dazu der Verkehr und kurze Pausen, um etwas zu essen, um zu tanken oder auf die Toilette zu gehen. Ich würde zwanzig Minuten später abfahren als angekündigt und sah Daniel schon vor mir, wie er auf der Veranda vor dem Haus saß und ungeduldig mit dem Fuß tippte, wenn ich in die unbefestigte Einfahrt bog.

Ich stellte einen Koffer in die Wohnungstür und schickte ihm eine SMS: Bin unterwegs, wird aber eher 15:30 Uhr.

Ich musste zweimal gehen, um das Gepäck und die restlichen Kartons runter ins Auto zu schaffen, das hinter dem Haus stand. Aus der Ferne hörte ich den einsetzenden Berufsverkehr, ein stetiges Summen auf dem Highway, ab und zu ein Hupen. Vertraute Harmonie.

Ich ließ den Motor an und wartete darauf, dass die Klimaanlage ansprang. Ich steckte mein Handy in den Becherhalter und sah eine Antwort von Daniel: Dad erwartet dich zum Abendessen. Verpass es nicht.

Als würde ich drei Stunden später kommen als angekündigt. Eine von Daniels eindrucksvolleren Leistungen: Er hatte die Kunst der passiv-aggressiven Kommunikation perfektioniert. Jahrelange Übung.

Als Kind hatte ich geglaubt, die Zukunft vorhersehen zu können. Daran war wahrscheinlich mein Vater schuld, der mich meine ganze Kindheit über mit Plattitüden aus seinen Philosophievorträgen fütterte und mich an Dinge glauben ließ, die nicht sein konnten. Ich schloss die Augen und versuchte, sie mit schierer Willenskraft herbeizuzwingen, in winzigen, wunderschönen kurzen Bildern. Ich sah Daniel in Barett und Talar. Meine Mutter lächelnd neben ihm durch die Linse meiner Kamera, und ich winke ihnen näherzukommen. LegdenArmumsie.Tutso,alsmögtihreuch!Perfekt.Ich sah Tyler und mich, Jahre später, wie wir unsere Taschen auf die Ladefläche seines dreckigen Pick-ups warfen und uns auf den Weg ins College machten. Weggingen. Für immer.

Damals war es unmöglich zu begreifen, dass wegzugehen nicht ein singuläres Ereignis in einem Pick-up sein würde, sondern ein zehn Jahre andauernder Prozess der Ablösung. Kilometer und Jahre, die den Abstand langsam vergrößerten. Ganz zu schweigen davon, dass Tyler Cooley Ridge nie verlassen hat. Und Daniel nie einen Uniabschluss gemacht hat. Und unsere Mutter es ohnehin nicht mehr erlebt hätte.

Wenn mein Leben eine Leiter wäre, dann wäre Cooley Ridge das untere Ende – eine bescheidene Stadt am Rand der Smoky Mountains, eine typische amerikanische Kleinstadt ohne besonderen Charme. College gut dreihundert Kilometer nach Osten, Uni ein Staat weiter nördlich, Praktikum in einer Großstadt, in der ich mich niederließ, um dort zu bleiben. Eine eigene Wohnung, mein Namensschild auf einem Schreibtisch und Cooley Ridge mit jedem Tag ein Stück weiter entfernt.

Das Weggehen schließt die Rückkehr aus. Ich weiß nicht mehr, was ich mit Cooley Ridge anfangen soll, und Cooley Ridge weiß nichts mehr mit mir anzufangen. Der Abstand wird mit den Jahren immer größer.

Wenn ich versuchte, es mir wieder in Erinnerung zu rufen – Erzähl mir von zu Hause, erzähl mir, wie du aufgewachsen bist, erzähl mir von deiner Familie, sagte Everett –, hatte ich meistens nur eine Karikatur vor meinem inneren Auge: eine Miniaturstadt, wie man sie in der Weihnachtszeit auf Flurtischen aufbaute, in der Zeit erstarrt. Also gab ich ihm oberflächliche Antworten, pauschal und unspezifisch: Meine Mutter starb, als ich sechzehn war. Es ist eine kleine Stadt am Waldrand. Ich habe einen älteren Bruder.

Selbst für mich, wenn ich antwortete, machte es nicht viel her. Ein an den Rändern vergilbtes Polaroid, die Farben ausgeblichen, die Umrisse einer Geisterstadt voller Geister.

Doch ein Anruf von Daniel – Wir müssen das Haus verkaufen –, und ich spürte, wie die Dielen unter meinen Füßen nachgaben. »Ich komme nach Hause«, hatte ich gesagt, und die Ränder wellten sich, die Farben brannten: Meine Mutter drückte die Wange an meine Stirn; Corinne ließ unsere Gondel hoch oben im Riesenrad sanft vor und zurück schaukeln; Tyler balancierte über den umgestürzten Baum, der den Fluss zwischen uns überspannte.

Das Mädchen, hatte mein Vater geschrieben, und ihr Lachen erschütterte mein Herz.

Ich muss mit dir reden. Dieses Mädchen. Ich habe es gesehen.

Eine Stunde später, einen Augenblick später, und er hatte es wahrscheinlich schon wieder vergessen – legte den zugeklebten Umschlag zur Seite, bis ihn jemand verlassen auf seiner Kommode oder unter seinem Kissen fand und in seiner Akte meine Adresse nachschlug. Doch es musste einen Auslöser gegeben haben. Eine Erinnerung. Ein Bild irgendwo in den Windungen seines Gehirns; ein Gedanke, der zündete, aber nirgendwo Feuer fing.

Die herausgerissene Seite, die geneigte Schrift, mein Name auf dem Umschlag …

Und jetzt war in meinem Kopf etwas Scharfes und Wildes losgelassen worden. Ihr Name, der darin herumschoss wie ein Echo.

Corinne Prescott.

Den Brief meines Vaters hatte ich in den letzten Wochen zusammengefaltet in der Handtasche mit mir herumgetragen, er lauerte dicht unter der Oberfläche meines Bewusstseins. Manchmal griff ich nach der Geldbörse oder den Autoschlüsseln und ertastete versehentlich die Kante, stieß an die Ecke, und schon war sie da: langes, bronzefarbenes Haar, das ihr über die Schultern fiel, der Geruch nach Pfefferminzkaugummi, ihr Flüstern in meinem Ohr.

Das Mädchen. Sie war immer das Mädchen gewesen. Welches Mädchen hätte es sonst sein sollen?

Es war über ein Jahr her, dass ich mit dem Auto nach Hause gefahren war – Daniel hatte angerufen und gesagt, wir müssten unseren Vater in ein Heim bringen, und ein Last-Minute-Flug war mir zu teuer gewesen. Damals hatte es fast die ganze Strecke geregnet, hin und zurück.

Dagegen war heute ein perfekter Tag zum Fahren. Es regnete nicht, und der Himmel war bedeckt, aber nicht dunkel. Hell, aber nicht grell. Ich hatte drei Staaten durchquert, ohne anzuhalten, Städte und Abfahrten verschwammen im Vorbeifahren. Ich liebte das Tempo, deshalb lebte ich auch so gern in der Stadt. Ich liebte es, dass man den Tag mit einer To-do-Liste füllen, sich die Stunden gefügig machen konnte. Ich liebte die Ungeduld des Verkäufers im Lebensmittelladen an der Ecke in der Nähe meiner Wohnung, dass er nie von seinem Kreuzworträtsel aufsah, nie Blickkontakt aufnahm. Ich liebte die Anonymität. Ein Bürgersteig voller Fremder und endloser Möglichkeiten.

Irgendwo in Virginia klingelte mein Handy in dem Becherhalter. Ich kramte nach der Freisprecheinrichtung in meiner Handtasche, eine Hand fest am Lenkrad, aber irgendwann gab ich auf und schaltete auf Laut, um den Anruf entgegenzunehmen. »Hallo?«, rief ich.

»Hey, kannst du mich hören?« Everetts Stimme knisterte, und ich war mir nicht sicher, ob es am Lautsprecher lag oder am Empfang.

»Ja, was gibt’s?«

Er sagte etwas, was ich nicht verstand, weil seine Worte zerhackt und bruchstückhaft bei mir ankamen.

»Tut mir leid, die Verbindung reißt. Was?« Ich schrie praktisch.

»Ich hol mir grad was zu essen«, sagte er durch das Rauschen. »Wollte nur mal hören. Lassen dich die Reifen diesmal nicht im Stich?« Ich hörte das Lächeln in seiner Stimme.

»Eher die Handyverbindung.«

Er lachte. »Den restlichen Tag habe ich wahrscheinlich ein Meeting nach dem anderen, aber ruf mich an, wenn du da bist, damit ich weiß, dass du gut angekommen bist.«

Ich überlegte, irgendwo zu Mittag zu essen, doch Kilometer um Kilometer nichts als Asphalt und Felder.

Ich hatte Everett vor einem Jahr kennengelernt, in der Nacht, nachdem wir meinen Vater ins Pflegeheim gebracht hatten. Nervös und unsicher war ich danach nach Hause gefahren, und nach fünf Stunden hatte ich einen Platten gehabt und musste im Nieselregen selbst den Reifen wechseln.

Bis ich endlich vor meiner Wohnungstür stand, war ich den Tränen nahe. Ich hatte die Tasche über die Schulter gehängt und versuchte mit zitternder Hand, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Schließlich lehnte ich den Kopf an die Holztür, um mich zu beruhigen. Zu allem Übel war der Typ aus 4A auch noch gleichzeitig mit mir aus dem Aufzug gestiegen, und ich spürte, dass er mich anglotzte und vermutlich nur darauf wartete, dass ich zusammenbrach.

Apartment 4A. So viel wusste ich über ihn: Er drehte seine Musik zu laut auf, hatte zu viele Gäste und lebte nach seinem ganz eigenen Tagesrhythmus. Er war in Gesellschaft eines Mannes – gut gekleidet, was man von ihm nicht sagen konnte. Gepflegt, was man von ihm auch nicht sagen konnte. Nüchtern, während er betrunken war.

Wenn wir uns abends im Flur begegneten, lächelte der Typ aus 4A manchmal, und einmal hatte er den Aufzug für mich aufgehalten, aber das hier war eine Großstadt. Menschen kamen und gingen. Gesichter verschwammen.

»Hey, 4C«, lallte er, auf den Füßen schwankend.

»Nicolette«, sagte ich.

»Nicolette«, wiederholte er. »Trevor.« Der andere Mann guckte peinlich berührt. »Und das ist Everett. Du siehst aus, als könntest du was zu trinken brauchen. Komm, sei ’ne gute Nachbarin.«

Ich hätte es nachbarschaftlich von ihm gefunden, wenn er sich bei meinem Einzug vor einem Jahr meinen Namen gemerkt hätte, aber ich hatte Lust auf einen Drink. Ich wollte die Entfernung zwischen dort und hier spüren; ich brauchte Abstand von der neunstündigen Fahrt im Auto.

Trevor drückte gerade seine Wohnungstür auf, als ich zu den beiden ging. Der andere Mann reichte mir die Hand und sagte: »Everett«, als zählte Trevors Vorstellung nicht.

Als ich ging, hatte ich Everett davon erzählt, dass wir meinen Vater ins Pflegeheim gebracht hatten, und er hatte gesagt, es sei das Richtige gewesen. Ich hatte ihm von der Wohnung erzählt und dem Regen und allem, was ich den Sommer über machen wollte, wenn ich frei hatte. Als ich aufhörte zu reden, war mir leichter zumute, entspannter – was vielleicht dem Wodka geschuldet war, doch ich redete mir ein, es wäre Everett gewesen –, und Trevor war auf dem Sofa neben uns eingepennt.

»Oh. Ich sollte gehen«, sagte ich.

»Ich begleite dich«, antwortete Everett.

Mein Kopf war leicht, als wir schweigend den Flur hinuntergingen, und dann lag meine Hand am Türknauf, und er stand immer noch neben mir, und was erwartete man in so einer Situation von einem Erwachsenen? »Willst du reinkommen?«

Er antwortete nicht, aber er folgte mir in die Wohnung. Blieb in der Kochnische stehen, von der er den Rest meines Einzimmerapartments überblicken konnte, einen Raum mit hohen Fenstern und Tüllgardinen, die an freigelegten Rohren meinen Schlafbereich abteilten. Doch durch sie hindurch konnte ich mein Bett sehen – ungemacht, einladend –, und mir war klar, dass er es auch sehen konnte.

»Wow«, sagte er. Das galt bestimmt den Möbeln. Stücke aus Gebrauchtwarenläden und von Flohmärkten, die ich abgebeizt und in zueinander passenden knalligen Farben neu gestrichen hatte. »Ich fühle mich wie Alice im Wunderland.«

Ich streifte die Schuhe ab und lehnte mich an die Küchenarbeitsplatte. »Zehn Dollar, dass du es nie gelesen hast.«

Er lächelte, öffnete den Kühlschrank und holte eine Flasche Wasser heraus. »Trink mich«, sagte er, und ich lachte.

Dann nahm er eine Visitenkarte aus der Tasche, legte sie auf die Arbeitsplatte, beugte sich vor und strich mit seinen Lippen über meine, bevor er sich wieder zurückzog. »Ruf mich an«, sagte er. Das tat ich.

Die Fahrt durch Virginia mit seinen Bauernhäusern zwischen den Hügeln und den Heuballen auf den Wiesen zog sich endlos hin. Je länger ich fuhr, desto langsamer schien ich voranzukommen. Zu Hause war die Geschwindigkeit eine andere. Die Menschen bewegten sich nicht so schnell und veränderten sich im Laufe eines Jahrzehnts nicht allzu sehr. Cooley Ridge nahm einen als der Mensch, der man immer war. Als ich den Highway verließ, die Abfahrt hinunterfuhr und in die Hauptstraße bog, hätte ich wetten können, dass Charlie Higgins oder einer wie er immer noch an der schäbigen Seite des Drugstores lehnte. Ich hätte wetten können, dass Christy Pote immer noch meinen Bruder anschmachtete und mein Bruder so tat, als bekäme er es nicht mit, auch wenn beide längst jemand anderen geheiratet hatten.

Vielleicht lag es an der Feuchtigkeit und daran, dass wir uns regelrecht hindurchkämpfen mussten, als klebte Sirup unter unseren Füßen, süß und zähflüssig. Vielleicht lag es daran, dass wir so nah an den Bergen lebten – tausend Jahre im Entstehen, Erdplatten, die sich langsam ineinanderschieben, Bäume, die schon hier standen, als ich geboren wurde, und noch stehen würden, wenn ich längst nicht mehr war.

Vielleicht liegt es an der Tatsache, dass man, wenn man hier ist, nichts anderes sehen kann. Nur Berge und Wald und sich selbst. Mehr nicht.

Ein Jahrzehnt später überquere ich 160 Kilometer entfernt die Staatsgrenze – Willkommen in North Carolina! –, und die Bäume wachsen dichter, und die Luft wird schwer, und ich bin wieder da.

Die verschwommenen Ränder werden wieder scharf, mein Hirn findet sich wieder ein, erinnert sich. Unsere Geister nehmen Gestalt an: Corinne, die vor mir am Straßenrand entlangläuft, den Daumen raushält, auf ihren Beinen glänzt der Schweiß, ihr Rock bläht sich, wenn ein Auto zu dicht vorbeifährt. Bailey hängt an meiner Schulter, ihr Atem – oder meiner – heiß vom Wodka.

Meine Finger lösten sich vom Lenkrad. Ich wollte die Hand nach ihnen ausstrecken und sie berühren. Corinne sollte sich umdrehen und sagen: »Reiß dich zusammen, Bailey«, mir in die Augen sehen und lächeln. Doch sie waren, wie alles andere, zu schnell verblasst, und alles, was geblieben war, war der brennende Schmerz. Es tat weh, sie zu vermissen.

Ein Jahrzehnt, dreißig Kilometer entfernt, und ich kann unser Haus sehen. Die Haustür. Den zugewachsenen Weg und das Unkraut, das durch den Kies der Einfahrt sprießt. Ich höre das Knarren der Fliegengittertür, wenn sie geöffnet wird, und Tylers Stimme: Nic? Und sie klingt ein wenig tiefer als in meiner Erinnerung, ein wenig näher.

Gleich bin ich daheim. Die Ausfahrt runter, an der Ampel links, der Teer rissig und grau.

An der Ecke ein Schild, frisch in die Erde gesteckt, der untere Teil voller Matsch, angetrocknet – der Jahrmarkt ist wieder in der Stadt –, und in meiner Brust flattert etwas.

Da ist der Drugstore, wo immer irgendwelche Teenager an der Seite des Gebäudes herumhängen, wie Charlie Higgins früher. Da ist die Ladenreihe, auf den Scheiben andere Buchstaben schabloniert als in meiner Kindheit. Nur das Kelly’s ist noch der alte Pub, der für den Ort schon damals so etwas wie ein Wahrzeichen war. Da ist die Grundschule und auf der anderen Straßenseite das Polizeirevier, in dem in irgendeinem Hinterzimmer die Akte von Corinnes Fall aufbewahrt wird und verstaubt. Ich denke an die Beweismittel, die in einem Karton verpackt in irgendeiner Ecke standen, weil es sonst nirgends Platz dafür gab. Untergegangen in der Menge, mit der Zeit vergessen.

Die Stromkabel spannten sich über uns entlang der Straße, die Kirche, in die fast alle gingen, ob sie Protestanten waren oder nicht. Und daneben der Friedhof. Corinne hat uns immer die Luft anhalten lassen, wenn wir vorbeifuhren: mit den Händen an der Decke über die Eisenbahnschienen, ein Kuss, wenn die Kirchenglocken zwölf schlugen, und in der Nähe der Toten nicht atmen. Das mussten wir selbst nach dem Tod meiner Mutter beibehalten. Als wäre der Tod ein Aberglaube, etwas, was wir austricksen könnten, indem wir Salz über die Schulter warfen und hinter dem Rücken Zeige- und Mittelfinger kreuzten.

An der Ampel holte ich mein Handy heraus und rief Everett an. Wie erwartet, ging die Mailbox dran. »Ich hab’s geschafft«, sagte ich. »Ich bin da.«

Das Haus war exakt so, wie ich es mir in den letzten neun Stunden vorgestellt hatte. Der Weg von der Einfahrt zur vorderen Veranda war überwuchert, Daniels Auto parkte seitlich vom Carport neben der Garage, damit Platz für meinen Wagen war, das Unkraut kratzte an meinen nackten Knöcheln, als ich mir den Weg von einem glatten Trittstein zum nächsten bahnte und meine Beine sich noch genau an die richtige Schrittlänge erinnerten. Die elfenbeinfarbene Hausverkleidung war an einigen Stellen dunkler, an anderen von der Sonne ausgebleicht, sodass ich die Augen zusammenkneifen musste, wenn ich den Blick darauf richten wollte. Ich stand auf halbem Weg zwischen meinem Auto und dem Haus und schrieb im Kopf schon eine Liste: Hochdruckreinigerausleihen,einenJugendlichenmiteinemAufsitzmäherauftreiben,einpaarTöpfemitbuntenBlumenaufdieVerandastellen …

Ich kniff noch die Augen zusammen und schirmte sie mit der Hand ab, als Daniel um die Hausecke kam.

»Ich dachte doch, ich hätte dein Auto gehört«, sagte er. Seine Haare waren länger als in meiner Erinnerung, gingen bis zum Kinn – genauso lang waren meine gewesen, bevor ich für immer weggegangen war. Früher hatte er sie stoppelkurz getragen, denn das eine Mal, als er sie hatte wachsen lassen, hatten alle gefunden, er sähe aus wie ich.

Sie wirkten heller, ganz herausgewachsen – eher blond als nicht blond –, wogegen meine im Laufe der Jahre dunkler geworden waren. Er war genau wie ich hellhäutig, und seine nackten Schultern waren bereits von der Sonne verbrannt. Aber er war dünner geworden, die harten Linien seines Gesichts traten deutlicher hervor. Jetzt hielt uns sicher niemand mehr für Geschwister.

Auf seiner Brust waren schmutzige Streifen, und seine Hände waren voller Erde. Im Näherkommen wischte er sich die Hände seitlich an seiner Jeans ab.

»Und vor halb vier«, sagte ich, was lächerlich war. Von uns beiden war er immer der Verantwortungsvolle gewesen. Er war derjenige, der von der Schule abging, um unserer Mutter zu helfen. Der gesagt hatte, wir müssten Hilfe für unseren Vater organisieren. Der sich jetzt um das Geld kümmerte. Dass ich relativ pünktlich war, würde ihn nicht beeindrucken.

Er lachte. »Ich freue mich auch, dich zu sehen, Nic.«

»Tut mir leid«, sagte ich und umarmte ihn stürmisch, was schon zu viel war. Ich machte das immer. Versuchte zu kompensieren, indem ich ins andere Extrem fiel. Er versteifte sich, und mir war klar, dass ich mir die Kleider schmutzig machte. »Wie läuft’s auf der Arbeit, wie geht’s Laura, wie geht’s dir?«

»Viel zu tun. So reizbar wie schwanger. Wir sind froh, dass du hier bist.«

Ich lächelte, und dann beugte ich mich ins Auto, um meine Handtasche herauszufischen. Ich konnte nicht gut damit umgehen, wenn er nett war. Ich wusste nie, was ich damit anfangen sollte und was er damit meinte. Er war, wie mein Vater so gern sagte, schwer zu entziffern. Sein Gesicht war von Natur aus mürrisch verzogen, sodass ich mich immer in der Defensive fühlte, als müsste ich etwas beweisen.

»Oh«, sagte ich, öffnete die hintere Tür meines Wagens und schob Kartons hin und her. »Ich hab was für sie. Für euch beide. Für das Baby.« Wo zum Teufel war die Geschenktüte? »Es ist hier irgendwo«, murmelte ich.

»Nic«, sagte er und legte seine langen Finger über die Autotür, »das kann warten. Die Babyshower ist nächstes Wochenende. Ich meine, falls du nichts vorhast. Falls du kommen möchtest.« Er räusperte sich. Löste die Finger von der Tür. »Sie würde sich freuen, wenn du kommst.«

»Okay«, sagte ich und richtete mich auf. »Klar. Selbstverständlich.« Ich schloss die Tür und ging auf das Haus zu, und Daniel ging neben mir her. »Wie schlimm ist es?«, fragte ich.

Ich hatte das Haus seit dem letzten Sommer nicht gesehen, als wir unseren Vater nach Grand Pines gebracht hatten. Damals hatte noch die Chance bestanden, dass der Umzug vorübergehend war. Das hatten wir ihm gesagt. Nur fürs Erste, Dad. Bis es dir wieder besser geht. Nur ein Weilchen. Doch inzwischen war klar, dass es ihm nicht mehr besser gehen würde, dass es nicht nur für ein Weilchen war. Sein Kopf war ein einziges Durcheinander. Seine Finanzen waren ein noch größeres Durcheinander, eine Katastrophe, die sich aller Logik widersetzte. Aber er hatte wenigstens das Haus. Wir hatten das Haus.

»Ich habe angerufen, dass sie Strom, Gas und Wasser gestern wieder freischalten sollten, aber mit der Klimaanlage stimmt was nicht.«

Meine langen Haare klebten mir im Nacken, mein Strandkleid pappte mir am Körper, und ich spürte den Schweiß auf meinen nackten Beinen, dabei war ich noch keine fünf Minuten hier. Mit wackligen Knien trat ich auf die zersplitterte Holzveranda. »Wo ist die Brise?«, fragte ich.

»Das geht schon den ganzen Monat so«, sagte er. »Ich habe ein paar Ventilatoren mitgebracht. Bis auf die Klimaanlage ist alles in Ordnung. Es braucht ein bisschen Farbe und ein paar Glühbirnen und muss gründlich geputzt werden. Und wir müssen natürlich entscheiden, was wir mit dem Inventar machen. Es würde uns einiges an Geld sparen, wenn wir es selbst verkaufen würden«, fügte er mit einem vielsagenden Blick in meine Richtung hinzu. Da kam ich ins Spiel. Ich sollte mich nicht nur um den Papierkram meines Vaters kümmern, Daniel wollte auch, dass ich das Haus verkaufte. Er hatte einen Job und erwartete ein Kind, er hatte ein ganzes Leben hier.

Ich dagegen hatte zwei Monate frei. Eine Wohnung, die ich untervermietete, um ein wenig Geld zu sparen. Einen Ring am Finger und einen Verlobten, der sechzig Stunden in der Woche arbeitete. Und jetzt einen Namen – Corinne Prescott –, der in meinem Kopf herumspukte wie ein Geist.

Er zog die Fliegengittertür auf, und das vertraute Knarren schoss mir direkt in den Bauch. Das tat es immer. Willkommen zu Hause, Nic.

Daniel half mir, das Auto auszuladen, mein Gepäck in den Flur im ersten Stock zu tragen und meine persönlichen Sachen auf dem Küchentisch abzustellen. Er wischte mit dem Arm über die Arbeitsfläche, und in einem Lichtstrahl, der durchs Fenster fiel, tanzten Staubpartikel in der Luft. Er hustete, den Arm vor dem Gesicht. »Tut mir leid«, sagte er. »Hier drin war ich noch nicht. Aber ich hab Putzsachen besorgt.« Er zeigte auf einen Pappkarton auf der Arbeitsplatte.

»Dafür bin ich hier«, sagte ich.

Wenn ich hier wohnen wollte, sollte ich mit meinem Zimmer anfangen, dachte ich mir, damit ich einen Platz zum Schlafen hatte. Den Karton mit den Putzsachen auf die Hüfte gestützt, ging ich an meinem Koffer am oberen Ende der Treppe vorbei in mein altes Zimmer. Einen Schritt vor meiner Tür knarrten die Dielen im Flur, wie immer. Die Vorhänge dämpften das Licht vom Fenster, und alles sah aus wie nur halb da. Ich drehte den Lichtschalter, doch nichts passierte, also stellte ich den Karton mitten auf dem Fußboden ab, zog die Vorhänge auf und sah zu, wie Daniel mit einem Boxventilator unter dem Arm von der Garage aufs Haus zukam.

Die gelbe Steppdecke mit den blassen Gänseblümchen lag zerknüllt am Fußende meines Betts, als wäre ich nie weg gewesen. Abdrücke im Laken – eine Hüfte, ein Knie, eine Wange –, als wäre gerade jemand aufgewacht. Ich hörte Daniel an der Haustür und zog rasch die Steppdecke hoch und strich Täler und Hügel glatt.

Ich öffnete beide Fenster – das mit dem heilen Riegel und das mit dem Riegel, der irgendwann in der Mittelstufe kaputtgegangen und nie repariert worden war. Das Fliegengitter war weg, kein großer Verlust, denn es war zerrissen gewesen und verzogen von jahrelangem Missbrauch. Davon, dass ich es Nacht für Nacht am unteren Rand nach außen drückte, auf das schräge Dach kletterte und mich in den Mulch plumpsen ließ, wo man sich nur wehtat, wenn man die Entfernung falsch einschätzte. Mit siebzehn war mir das vollkommen normal vorgekommen, jetzt erschien es mir lächerlich. Reinklettern war unmöglich, also war ich immer zur Hintertür hineingeschlichen und die Treppe hinaufgehuscht. Oben im Flur machte ich einen großen Schritt über die knarrende Diele. Wahrscheinlich hätte ich mich auf diesem Weg auch rausschleichen können, dann hätte ich nicht springen müssen, und mein Fliegengitter wäre noch ganz.

Als ich mich wieder umdrehte und den Blick durch das jetzt ins Sonnenlicht getauchte Zimmer schweifen ließ, bemerkte ich die vielen Kleinigkeiten, die Daniel schon erledigt hatte: Ein paar Fotos waren von den Wänden genommen worden, die gelbe Farbe verblasst, wo sie gehangen hatten; die alten Schuhschachteln, die ganz oben im Wandschrank ausgeharrt hatten, waren in der hinteren Ecke ordentlich an der Wand gestapelt; und der kleine Webteppich, der als Kind meiner Mutter gehört hatte, lag mitten im Zimmer, unter den Beinen meines Betts herausgezogen.

Kaum hörte ich das Knarren des Dielenbretts, stand Daniel schon in meiner Tür, den Ventilator unter dem Arm. »Danke«, sagte ich.

Er zuckte die Achseln. »Kein Problem.« Er stellte ihn in die Ecke und legte den Schalter um. Himmlisch. »Danke fürs Kommen, Nic.«

»Danke, dass du in meinem Zimmer angefangen hast«, sagte ich und verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Ich verstand nicht, wie andere Geschwister eine entspannte Beziehung hinkriegten. Wie sie in einem Sekundenbruchteil wieder in die Kindheit schlüpfen und alle Förmlichkeiten fahren lassen konnten. Daniel und ich würden den ganzen Tag auf Zehenspitzen durch unser leeres Haus schleichen und einander zu Tode danken.

»Hä?«, sagte er, während er den Ventilator höher drehte und das leise Summen zum unablässigen Brummen wurde, das alle Geräusche von draußen dämpfte.

»Mein Zimmer.« Ich zeigte auf die Wände. »Danke, dass du schon die Fotos abgehängt hast.«

»Hab ich nicht«, sagte er, verharrte vor dem Ventilator und schloss für eine Sekunde die Augen. »Das muss Dad gewesen sein.«

Vielleicht. Ich konnte mich nicht erinnern. Ich war vor einem Jahr hier gewesen, in der Nacht, nachdem wir ihn ins Pflegeheim gebracht hatten, aber die Einzelheiten … an die Einzelheiten erinnerte ich mich nicht. Waren die Schuhschachteln da schon unten gewesen? Die Fotos von den Wänden? Mir war, als müsste ich mich daran erinnern. Doch die Erinnerung an die Nacht war verschwommen.

Daniel wusste nicht, dass ich hierher zurückgekommen war, statt direkt nach Hause zu fahren, wie ich ihm gesagt hatte – ich muss arbeiten, ich muss zurück. Ich war hierher zurückgekommen und mit trockenen Augen, vollkommen durcheinander, von einem Zimmer ins andere gewandert, wie ein Kind, das im Jahrmarktsrummel verloren gegangen ist und in der Menschenmenge nach einem vertrauten Gesicht sucht. Ich hatte mich in dem leeren Haus auf den Laken zusammengerollt, bis ich den Motor vor dem Haus hörte und die Haustürklingel, auf die ich nicht reagierte. Das Knarren der Fliegengittertür, den Schlüssel in der Tür, seine Stiefel auf der Treppe. Bis Tyler an der Wand meines Schlafzimmers lehnte. Beinahe hätte ich dich verpasst, hatte er gesagt. Geht es dir gut?

»Wann warst du das letzte Mal hier?«, fragte ich Daniel.

Er kratzte sich am Kopf und trat näher an den Ventilator. »Ich weiß nicht. Ab und zu fahr ich vorbei und schau kurz rein, oder wenn ich was für Dad holen muss. Was ist?«

»Nichts.« Aber es war nicht nichts. Jetzt stellte ich mir den Schatten von jemand anderem im Zimmer vor. Der in meinen Kartons kramte. Meinen Teppich durchs Zimmer zog. Schaute. Suchte. Ich hatte das Gefühl, meine Sachen waren nicht da, wo sie hingehörten. Ungleichmäßige Abdrücke im Staub, die im Sonnenschein sichtbar wurden. Vielleicht war es auch nur meine Perspektive. Ich war gewachsen und das Haus kleiner geworden. In meiner Wohnung stand ein einen Meter fünfzig breites Bett, das ungefähr die halbe Wohnung einnahm, und Everett hatte ein richtiges Doppelbett. Dieses Einzelbett wirkte wie ein Kinderbett.

Ich überlegte, ob ich, wenn ich mich auf der Matratze zusammenrollte, den Abdruck von jemand anderem spüren würde. Vielleicht nur den von meinem Geist. Ich riss die Laken vom Bett und schob mich an Daniel vorbei. Er sah mir zu, und die Falte zwischen seinen Augen wurde tiefer.

Als ich wieder nach oben kam, nachdem ich eine Ladung Wäsche angeworfen hatte, fühlte sich das Zimmer schon ein wenig mehr nach meinem an. Genau wie Daniel und ich brauchten das Zimmer und ich ein bisschen Zeit, um uns wieder aneinander zu gewöhnen. Ich zog den Ring ab und legte ihn in die angeschlagene Keramikschale auf dem Nachttisch, bevor ich das Bad und die Kommodenschubladen in Angriff nahm. Danach setzte ich mich vor den Ventilator auf den Boden und stützte mich nach hinten auf die Ellbogen.

Stunde zwei, und ich schindete schon Zeit. Ich musste zu meinem Vater. Ich musste ihm die Unterlagen bringen und mit ihm reden, auch wenn sich die Gespräche endlos im Kreis drehten. Ich musste ihn fragen, was er mit dem Brief gemeint hatte, und hoffen, dass er sich daran erinnerte. Ich musste so tun, als würde es nicht wehtun, wenn er meinen Namen vergaß.

Egal, wie oft es schon passiert war. Es ging mir jedes Mal an die Nieren.

Ich schob die Papiere zusammen, die ich dem Arzt meines Vaters vorlegen wollte – um die Sache in Gang zu bringen. Damit wir, die größte Ironie des Lebens, die Vormundschaft über unseren Vater übernehmen und Hüter seiner Besitztümer werden konnten. Als ich gerade los wollte, hörte ich von draußen leise, gedämpfte Geräusche – das Zuschlagen von Türen, das Dröhnen eines Motors. Ich nahm an, Daniel hatte jemanden wegen des Gartens angerufen. Doch dann knarrte die Fliegengittertür und übertönte das Brummen des Ventilators.

»Nic?« Ich kannte diese Stimme, als würden zwölf Jahre Geschichte sich zu einer einzigen Erinnerung verdichten, einer einzigen Silbe.

Ich beugte mich zum Schlafzimmerfenster. Sah Tylers Pick-up mit laufendem Motor am Straßenrand stehen. Auf dem Beifahrersitz ein Mädchen. Daniels sonnenverbrannter Rücken, als er sich ins offene Fenster des Pick-ups beugte und sich mit ihr unterhielt.

Mist.

Ich wirbelte gerade rechtzeitig herum, um Tyler in meiner offenen Schlafzimmertür stehen zu sehen.

»Dachte, es wäre unhöflich, nicht reinzukommen und Hallo zu sagen.«

Ich lächelte, ohne es zu wollen, denn es war Tyler. Reiner Reflex.

»Genauso unhöflich wie nicht anzuklopfen?«, versetzte ich, und er lachte, aber über mich. Ich war leicht zu durchschauen, und ich fand es furchtbar.

Er sagte nicht, Wiegehtesdir oder WashastdudieletzteZeitsogemacht, er fragte nicht, ob ich ihn vermisst hätte, weder im Spaß noch sonst wie. Er erwähnte weder die Schuhschachteln noch das Gepäck noch meine Haare, die länger waren als im Jahr zuvor und lockiger denn je. Aber ich sah, dass er alles in sich aufnahm. Ich tat umgekehrt das Gleiche.

Das Gesicht ein wenig voller, die braunen Haare ein bisschen zerzauster, die blauen Augen ein winziges bisschen strahlender. Als wir jünger waren, hatte er immer dunkle Ringe um die Augen gehabt, die auch nicht weggingen, wenn er den ganzen Tag geschlafen hatte. Das hatte ihn noch attraktiver gemacht, doch jetzt, da sie weg waren, sah er genauso gut aus. Jünger. Glücklicher.

»Dan hat mir gar nicht erzählt, dass du heute kommst«, sagte er und trat ein.

Daniel hatte es gern, wenn zwischen uns beiden ein hübscher Abstand war, möglichst nicht zu nah zusammen. Als ich sechzehn war, erklärte er mir, ich würde meinen Ruf ruinieren, wenn ich mit einem Typen wie Tyler abhing – ich bin mir immer noch nicht sicher, ob die Beleidigung mir galt oder Tyler –, und er schien nie darüber hinweggekommen zu sein, dass er sich getäuscht hatte.

»Er hat mir auch nicht erzählt, dass du kommst.« Ich verschränkte die Arme.

»Zu seiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich den Mäher in der Mittagspause vor fünf Stunden hätte herbringen sollen.« Er zuckte die Achseln. »Aber ich musste eh in die Gegend. Zwei Fliegen mit einer Klappe.«

Ich spähte über die Schulter, um mir die Frau anzusehen, aber auch, um den Blick auf etwas anderes richten zu können als auf ihn. Während Daniel und ich Tage brauchten, um einen einigermaßen entspannten Umgang miteinander zu finden, gelang Tyler und mir das im Nu. Ganz egal, wie lange es her war oder was wir als Letztes zueinander gesagt hatten. Er steht in meinem Zimmer, und es sind Osterferien vor zwei Jahren. Er macht einen Schritt auf mich zu, und es ist der Sommer nach dem Collegeabschluss. Er sagt meinen Namen, und ich bin siebzehn.

»Ein Date?«, fragte ich und betrachtete einen blonden Pferdeschwanz und einen dünnen Arm, der aus dem Fenster hing.

Er grinste. »So was in der Art.«

Ich schaute noch einmal über die Schulter. »Dann sieh zu, dass du da raus kommst«, sagte ich. »Daniel warnt sie wahrscheinlich gerade vor dir.« Daniels Oberkörper verschwand weiter im Pick-up, und ich zuckte zusammen, als die Hupe ertönte. »Übrigens«, sagte ich, »das war nicht dein Date.«

Als ich mich wieder umdrehte, war Tyler näher getreten. »Wenn ich es nicht besser wüsste«, sagte er, »würde ich tippen, dass er mich nicht in der Nähe seiner kleinen Schwester haben will.«

Ich verkniff mir ein Lächeln über den Running Gag, denn das war der gefährliche Teil. Es spielte keine Rolle, dass eine Frau, mit der er ein Date hatte, in seinem Auto saß. Denn das hier passierte jedes Mal, wenn ich zurückkam. Es spielte keine Rolle, dass ich wieder weggehen würde oder dass er nicht weggehen würde. Dass wir weder über die Vergangenheit sprachen noch über die Zukunft. Dass er etwas anderes für mich aufgeben würde und ich so tat, als bekäme ich es nicht mit.

»Ich bin verlobt«, sagte ich schnell.

»Ja, das hat er mir erzählt.« Er beäugte meine Hand mit dem nackten Finger.

Ich fuhr mit dem Daumen über die Haut. »Er liegt auf dem Nachttisch«, sagte ich. »Ich wollte nicht, dass er schmutzig wird.« Was mir lächerlich vorkam und prahlerisch. Es war genau das, was Tyler an einer Frau und einem Ring hassen würde.

Er musste lachen. »Na, dann zeig mal her.« Als wollte er mich provozieren.

»Tyler …«

»Nic …«

Ich kippte die Keramikschale in meine hohle Hand und warf ihm den Ring zu, als wäre er nicht mehr wert als er und ich zusammen. Eine Minute lang machte er große Augen, während er ihn in der Hand drehte. »Ohne Scheiß, Nic. Gut für dich. Wer ist der Glückliche?«

»Er heißt Everett.«

Er fing wieder an zu lachen, und ich biss mir auf die Lippe, um nicht zu lächeln. Ich hatte dasselbe gedacht, als wir uns kennenlernten – der piekfeine Zimmergenosse meines Nachbarn auf dem College, Partner in Daddys Anwaltskanzlei. Natürlich heißt er so, hatte ich gedacht. Natürlich. Doch Everett hatte mich überrascht. Er überraschte mich immer wieder.

»Er heißt Everett, und er hat dir diesen Ring geschenkt«, fuhr Tyler fort. »Klar hat er das. Wann ist es so weit?«

»Haben wir noch nicht besprochen«, sagte ich. »Irgendwann halt …«

Er nickte und warf mir den Ring so zurück, wie ich ihn ihm zugeworfen hatte. Als würde man eine Münze werfen oder eine in einen Brunnen hüpfen lassen. KopfoderZahl.Wünsch dir was. Woran denkst du gerade?

»Wie lange bleibst du?«, fragte er, als ich den Ring wieder in die Schale legte.

»Weiß ich noch nicht. So lange wie nötig. Ich hab Sommerferien.«

»Dann sieht man sich sicher.«

Er war schon halb zur Tür hinaus. »Kenne ich sie?«, fragte ich und wies zum Fenster.

Er zuckte die Achseln. »Annaleise Carter.«

Deswegen war er also hier in der Gegend. Das Grundstück der Carters grenzte hinten an unseres, und Annaleise war die älteste Tochter der Carters, aber nicht so alt wie wir. »Wie alt ist sie, dreizehn?«, fragte ich.

Er lachte, als hätte er mich vollkommen durchschaut. »Tschüss, Nic«, sagte er.

Annaleise Carter hatte große Rehaugen, mit denen sie immer unschuldig und gleichzeitig überrascht wirkte. Ich sah diese Augen jetzt – sah sie sich aus dem Wagenfenster lehnen, den Blick auf mich fixiert, und langsam blinzeln, als sähe sie einen Geist. Ich hob die Hand – hallo – und dann die andere – nicht schuldig.

Tyler setzte sich hinters Lenkrad, ohne ein letztes Mal zu meinem Fenster hochzuwinken, bevor er losfuhr.

Wie alt war sie jetzt, dreiundzwanzig? Für mich würde sie immer dreizehn sein. Und Tyler neunzehn und Corinne achtzehn. Eingefroren in dem Augenblick, als alles anders geworden war. Als Corinne verschwand. Und ich wegging.

Vor zehn Jahren, ziemlich genau um diese Zeit – die letzten beiden Juniwochen – war der Jahrmarkt in der Stadt gewesen. Seither war ich dazu nicht mehr zu Hause gewesen. Und doch war das, trotz der verstrichenen Zeit und der räumlichen Entfernung, immer noch meine deutlichste Erinnerung – das, was mir, sobald Everett mich nach meinem Zuhause fragte, als Erstes in den Sinn kam, bevor ich es wegschieben konnte.

Wie ich über den Rand der Riesenradgondel hänge, das Eisen sich in meinen Bauch drückt, und ich seinen Namen rufe. Tyler ganz unten, zu weit weg, um sein Gesicht richtig zu erkennen, die Hände in den Taschen, erstarrt, während die Leute um ihn herumwuseln. Er beobachtet uns. Beobachtet mich. Corinne flüstert mir ins Ohr: »Tu’s.« Baileys Lachen, angespannt und nervös, und die Gondel, die hoch über Cooley Ridge langsam vor und zurück schaukelt. »Tick, tack, Nic.«

Ich klettere auf den Rand, obwohl wir alle Röcke tragen, und als ich das Gewicht verlagere, schaukelt die Gondel noch mehr. Die Ellbogen habe ich hinter mir um die oberste Querstange der Gondel geschlungen, meine Füße balancieren auf dem taillenhohen Sims unten. Corinnes Hände an meinen Ellbogen, ihr Atem in meinem Ohr. Tyler sieht zu, wie das Riesenrad sich weiterdreht und uns nach unten bringt. Der Wind rauscht mir mit dem Boden entgegen, mir rutscht der Magen in die Kniekehlen, mein Herz rast. Unten kommt das Riesenrad kreischend zum Halten, und ich steige einen Augenblick zu früh ab.

Beim Auftreffen auf der Stahlplatte schmerzten meine Knie, als ich die Rampe runterlief, schwindlig und voller Adrenalin, und dem Jahrmarktshelfer, der hinter mir herschrie, zurief: »Ich weiß, ich weiß, ich bin ja schon weg!« Ich lief auf Tyler zu, der mich matt anlächelte. Seine Augen sagten mir alles, was er in diesem Moment wollte, als er in der Nähe des Ausgangs stand. Ein Anstifter? So hatte Daniel ihn genannt, weil er jemand anderem die Schuld geben wollte als mir.

Lauf, hatte Tyler mir stumm bedeutet. Ich war außer Atem, lachte nicht richtig, aber beinahe, als ich zu ihm lief. Seine Lippen verzogen sich zu einem angedeuteten Lächeln, und ich wusste, dass wir es nicht vom Parkplatz herunter schaffen würden. Wir hatten Glück, wenn wir es bis zu seinem Pick-up schafften.

Doch dann wurde ich von einer Hand gepackt … »Ich hab doch gesagt, ich bin schon weg.« Ich riss meinen Arm los.

Aber es war keiner vom Jahrmarkt. Es war Daniel. Er packte mich, fest und energisch, und schlug mich. Versetzte mir einen Fausthieb ins Gesicht, und zwar mit solcher Wucht, dass ich zu Boden stürzte und auf meinem verdrehten Arm landete.

Schock und Schmerz, Angst und Scham – in meiner Erinnerung fühlt sich alles gleich an, vermischt mit dem Geschmack von Blut und Erde. Er hatte mich noch nie geschlagen. Nicht einmal, als wir kleine Kinder waren. Zehn Jahre später, und immer noch steht dieser Augenblick bei allem, was wir tun, zwischen uns, bei jeder passiv-aggressiven SMS, bei jedem ignorierten Anruf.

In dieser Nacht, irgendwann zwischen der Zeit, als der Jahrmarkt dicht machte, und sechs Uhr morgens, verschwand Corinne, und alles, was an dem Tag passiert war, bekam ein anderes Gewicht, eine andere Bedeutung. In den Wochen danach wurde offensichtlich, dass sie tot sein konnte. Es war überall um uns herum, nicht greifbar und doch erdrückend. Sie konnte tot sein, auf tausend verschiedene Arten.

Vielleicht war sie abgehauen, weil ihr Vater sie missbraucht hatte. Vielleicht hatte ihre Mutter sich deswegen von ihm scheiden lassen und die Stadt ein Jahr später verlassen.

Oder es war ihr Freund gewesen, Jackson, denn normalerweise ist es der Freund, und sie hatten sich gestritten. Oder der Typ, mit dem sie auf dem Jahrmarkt geflirtet hatte und den niemand von uns kannte – der vom Hotdog-Stand. Der, wie Bailey schwor, uns beobachtet hatte.

Vielleicht hatte sie auch den Daumen rausgehalten, damit jemand sie mit nach Hause nahm, in ihrem zu kurzen Rock und ihrem langärmeligen, hauchdünnen Oberteil, und vielleicht hatte ein Fremder, der durch die Stadt kam, sie mitgenommen, sich an ihr vergangen und sie dann irgendwo liegen gelassen.

Vielleicht war sie einfach fortgelaufen. Zu diesem Schluss kam die Polizei irgendwann. Sie war achtzehn – von Rechts wegen erwachsen –, und sie hatte die Nase voll von diesem Ort.

Was ist in diesen Stunden passiert, fragten die Polizisten, was habt ihr gemacht? Deckt eure Geheimnisse auf, das Wer und das Was und das Warum, zwischen zehn Uhr abends und sechs Uhr morgens. Dieselben Polizisten, die unsere Partys sprengten, uns dann aber nach Hause fuhren, statt unsere Eltern anzurufen. Dieselben Polizisten, die mit unseren Freundinnen ausgingen und mit unseren Brüdern oder Vätern ein Bier tranken. Und diese Geheimnisse – das Wo waren wir zwischen zehn Uhr abends und sechs Uhr morgens, das Was haben wir gemacht, das Warum –, würden nicht bei diesen Polizisten bleiben. Nicht an der Bar, nicht im Bett, nicht in dieser Stadt.

Als die Bundespolizei kam, um die örtlichen Kräfte zu unterstützen, war es zu spät. Da hatten wir uns schon nach innen gewandt, hatten schon unsere Theorien entwickelt, glaubten schon, was wir glauben mussten.

Die offizielle Linie: Für die, die sie kannten, existierte Corinne zum letzten Mal direkt hinter dem Eingang zum Jahrmarkt. Und von dort verschwand sie.

Doch in Wirklichkeit verschwand sie nicht. Da war noch mehr. Ein Stück für jeden von uns, das wir gut versteckten.

Für Daniel verschwand sie außerhalb des Jahrmarkts, hinter der Fahrscheinbude.

Für Jackson vom Parkplatz der Höhlen.

Und für mich verblasste sie in einer Kurve der gewundenen Straße auf dem Rückweg nach Cooley Ridge.

Wir waren eine Stadt voller Angst, die nach Antworten suchte. Doch wir waren auch eine Stadt voller Lügner.

Der Speisesaal von Grand Pines ist ein einziger großer Schwindel – Echtholzfußboden und Tische mit dunklen Leinendecken, die besser zu einem Restaurant gepasst hätten als zu einem geriatrischen Pflegeheim. Ein Klavier in der Ecke, auch wenn es wohl eher nur zur Dekoration dort stand, und beim Abendessen leise klassische Musik im Hintergrund. Das Essen soll das beste von sämtlichen Pflegeheimen im ganzen Süden sein – das hat man Daniel jedenfalls bei seinem ersten Besuch hier erzählt, als müsste er sich dann gleich besser fühlen, und ich ebenso. Mach dir keine Sorgen, Dad, wir kommen dich besuchen. Und das Essen ist hervorragend.

Heute begleitete mich die Schwester am Empfang in den Raum, und ich sah meinen Vater an einem Ecktisch für zwei sitzen. Sein Blick glitt über die Krankenschwester und mich, bevor er sich wieder auf seinen Teller mit Spaghetti konzentrierte.

»Er hat uns nicht gesagt, dass Sie kommen, sonst hätten wir ihn gebeten zu warten«, sagte die Schwester bekümmert.

Mein Vater blickte auf, als sie mich an den Tisch führte, und öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, doch die Schwester war schneller, ihr Lächeln geübt und ansteckend, und mein Vater und ich taten es ihr nach.

»Patrick, Ihre Tochter ist hier. Nicolette«, sagte sie und sah mich an, »es hat mich sehr gefreut, Sie zu sehen.«

»Nic«, sagte ich zu der Schwester. Das Herz zog sich mir in der Brust zusammen, während ich abwartete und hoffte, dass der Name hängen blieb, ansteckend wie ein Lächeln.

»Nic«, wiederholte mein Vater. Er trommelte mit den Fingern auf den Tisch, langsam, eins, zwei, drei, eins, zwei, drei – und dann schien etwas klick zu machen. Das Trommeln wurde schneller, einszweidrei, einszweidrei. »Nic.« Er lächelte. Er war hier.

»Hi, Dad.« Ich setzte mich ihm gegenüber und nahm seine Hand. Gott, es war lange her, ein Jahr, seit wir zuletzt im selben Raum gewesen waren. Eine Zeit lang hatten wir noch telefoniert. Mal war er klarer und mal weniger klar, bis Daniel sagte, dass die Anrufe ihn zu sehr aufregten. Dann nur noch Briefe, denen ich ein Foto von mir beilegte. Doch jetzt war er hier. Wie eine ältere Version von Daniel, aber weicher vom Alter und gezeichnet von einer lebenslangen Vorliebe für Fast Food und Alkohol.

Er schloss die Hände um meine und drückte. Das hatte er schon immer gut gekonnt. Körperliche Zuneigung, die äußerliche Zurschaustellung einer guten Vater-Tochter-Beziehung. Eine Umarmung, wenn er spät in der Nacht angetrunken hereingewankt kam. Ein Händedruck, wenn wir etwas zu essen einkaufen mussten, er aber nicht aus dem Bett kam. Händedruck, nimm meine Kreditkarte – damit wollte er alles wieder gutmachen.

Sein Blick wanderte zu meiner Hand, und er tippte auf meinen Ringfinger. »Wo ist er?«

Ich wand mich. Doch ich lächelte meinen Vater an, froh, dass er sich an dieses Detail erinnerte. Es machte mich glücklich, wenn er sich an Dinge erinnerte, von denen ich ihm in meinen Briefen berichtet hatte. Er verlor nicht den Verstand, er war nur darin verloren. Das war etwas anderes. Ich existierte in seinem Kopf. Die Wahrheit existierte darin.

Ich suchte in meinem Telefon nach einem Foto von dem Ring und vergrößerte es. »Ich hab ihn im Haus gelassen. Ich hab geputzt.«

Er kniff die Augen zusammen und betrachtete die perfekt geschliffenen Facetten des Diamanten auf dem Display. »Den hat Tyler dir geschenkt?«

Mir wurde flau. »Nicht Tyler, Dad. Everett.«

Er verlor sich wieder, aber ganz falsch lag er nicht. Er war nur woanders. Ein Jahrzehnt in der Vergangenheit. Als wir Jugendliche waren. Und Tyler hatte mich nicht gefragt, ob ich ihn heiraten wollte, nicht direkt, er hatte es mir in Aussicht gestellt wie ein Gesuch. Bleib, sollte es bedeuten.

Und dieser Ring … Ich hatte keine Ahnung, was dieser Ring bedeutete. Everett war dreißig, und ich ging auch auf die dreißig zu, und er hatte mir an seinem dreißigsten Geburtstag einen Antrag gemacht, ein Versprechen, dass ich für ihn keine Zeitvergeudung war und er nicht für mich. Ich hatte Ja gesagt, doch das war zwei Monate her, und wir hatten noch nicht über die Hochzeit gesprochen, noch nicht die Details geklärt. Es war ein Irgendwann. Ein Plan.

»Dad, ich muss dich etwas fragen.«

Sein Blick glitt zu den Unterlagen, die aus meiner Tasche ragten, und er ballte die Hände zu Fäusten. »Ich hab ihm schon gesagt, dass ich nichts unterschreibe. Lass nicht zu, dass dein Bruder das Haus verkauft. Deine Großeltern haben das Land erworben. Es ist unseres.«

Ich kam mir vor wie eine Verräterin. Das Haus würde verkauft werden, so oder so.

»Dad, wir müssen«, sagte ich leise. Du hast kein Geld mehr. Du hast alles wahllos für Gott weiß was ausgegeben. Es war nichts mehr da. Nur das, was in der Betonplatte, den vier Mauern und dem ungepflegten Garten steckte.

»Nic, wirklich, was würde deine Mutter denken?«

Ich verlor ihn schon wieder. Bald würde er aufs Neue ganz in eine andere Zeit abtauchen. Es fing immer so an, mit meiner Mutter, als würde es ihn, wenn er an sie dachte, herabziehen an einen Ort, an dem sie immer noch lebte.

»Dad«, sagte ich in dem Versuch, ihn im Hier und Jetzt zu halten, »deswegen bin ich nicht hier.« Ich atmete langsam ein. »Erinnerst du dich, dass du mir vor ein paar Wochen einen Brief geschrieben hast?«

Er trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Sicher. Ein Brief.« Eine Hinhaltetaktik – ich spürte, dass er danach griff, sich zu erinnern bemühte.

Ich holte das Blatt heraus, faltete es auf dem Tisch zwischen uns auf und sah, wie er den Blick darauf senkte. »Das hast du mir geschickt.«

Sein Blick verharrte auf den Worten, bevor er aufsah, und seine blauen Augen wässrig hin und her huschten wie seine Gedanken. Dieses Mädchen. Ich habe es gesehen.

Ich hörte den Widerhall des wilden Klopfens meines Herzens, zusammen mit ihrem Namen, in meinem Kopf. »Wen hast du damit gemeint? Wen hast du gesehen?«

Er sah sich im Raum um. Beugte sich vor. Sein Mund ging zweimal auf und zu, bevor es in einem Flüstern seinen Lippen entwich. »Das Prescott-Mädchen.«

Meine Nackenhaare stellten sich auf. »Corinne.«

Er nickte. »Corinne«, sagte er, als hätte er etwas gefunden, wonach er gesucht hatte. »Ja. Ich habe sie gesehen.«

Ich sah mich in dem Speisesaal um und beugte mich näher zu ihm. »Du hast sie gesehen? Hier?« Ich versuchte mir den Geist vorzustellen, der durch diese Räume schwebte. Oder ihr herzförmiges Gesicht und ihr bronzefarbenes Haar, die bernsteinfarbenen Augen, ihren Kussmund – wie sie zehn Jahre später aussehen würde. Wie sie den Arm um mich schlang, ihre Wange an meine drückte, mir flüsternd alles gestand: Bester Streich aller Zeiten, was? Ach, komm schon, sei nicht sauer. Du weißt, wie lieb ich dich hab.

Der Blick meines Vaters war weit in die Ferne gerichtet. Und dann wurde er wieder klar, nahm seine Umgebung wahr, die Unterlagen in meiner Tasche, mich. »Nein, nein, nicht hier. Sie war am Haus.«

»Wann, Dad. Wann?« Sie war direkt nach dem Schulabschluss verschwunden. Unmittelbar bevor ich wegging. Vor zehn Jahren … Am letzten Abend des Jahrmarkts. Tick, tack, Nic. Ihre kalten Hände an meinen Ellbogen, das letzte Mal, als ich sie berührte.

Seitdem hatte sie niemand mehr gesehen.

Wir tackerten ihr Foto aus dem Jahrbuch an die Bäume. Suchten an Orten, an denen wir Angst hatten zu suchen, suchten nach etwas, vor dem wir Angst hatten, es zu finden. Wir blickten einander tief in die Seelen. Wir offenbarten Seiten von Corinne, die verborgen hätten bleiben sollen.

»Ich sollte deine Mutter fragen …« Sein Blick entglitt wieder. Er hatte wohl eine Erinnerung von vor vielen Jahren hervorgeholt. Aus der Zeit vor Corinnes Verschwinden. Aus der Zeit, bevor meine Mutter starb. »Sie war auf der Veranda hinter dem Haus, aber nur ganz kurz …« Er machte große Augen. »Der Wald hat Augen«, sagte er.

Mein Vater hatte immer schon einen Hang zu Metaphern. Er hatte viele Jahre am Community College Philosophie unterrichtet. Wenn er trank, war es schlimmer – dann zitierte er aus Büchern, neu zusammensortiert, je nach Laune, oder warf Zitate ohne Kontext ein, die ich verzweifelt zu verstehen versuchte. Schließlich lachte er, drückte meine Schulter, wandte sich etwas Neuem zu. Doch jetzt verlor er sich in dem Bild, es gelang ihm nicht mehr, sich herauszuziehen. Der klare Augenblick war vorüber.

Ich beugte mich über den Tisch und fasste ihn am Arm, bis er sich ganz auf meine Worte konzentrierte. »Dad, Dad, uns läuft die Zeit davon. Erzähl mir von Corinne. Hat sie mich gesucht?«

Er seufzte erschöpft. »Die Zeit läuft nicht davon. Sie ist nicht einmal real«, sagte er, und da wusste ich, dass er sich verloren hatte, umherirrte in seinen Gedanken. »Es ist nur ein Entfernungsmaß, das wir erfunden haben, um Dinge zu verstehen. Wie ein Zentimeter. Oder ein Kilometer.« Er bewegte beim Reden die Hände, um das Wichtige zu unterstreichen. »Die Uhr da«, sagte er und zeigte hinter sich. »Sie misst nicht die Zeit. Sie kreiert sie. Verstehst du den Unterschied?«

Ich starrte auf die Uhr an der hinteren Wand, auf den schwarzen Sekundenzeiger, der sich unablässig bewegte. »Und doch werde ich immer älter«, murmelte ich.

»Ja, Nic, ja«, sagte er. »Du veränderst dich. Aber die Vergangenheit ist noch da. Das Einzige, was sich bewegt, bist du.«

Bei dem Versuch, ein Gespräch mit ihm zu führen, fühlte ich mich wie ein Hamster in einem Laufrad. Ich hatte gelernt, ihm nicht zu widersprechen, sondern abzuwarten. Jede Aufregung zu vermeiden, denn daraus würde rasch Desorientierung werden. Ich würde es am nächsten Tag noch einmal versuchen, von einem anderen Ansatzpunkt, in einem anderen Augenblick. »Okay, Dad. Hey, ich muss los.«

Er löste sich und sah mich an, sein Blick wanderte über mein Gesicht. Was er wohl sah – seine Tochter oder eine Fremde? »Hör zu, Nic«, sagte er. Ich hörte das Ticken der Uhr. Tick, tack, Nic.

Er trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Am anderen Ende des Raums krachte etwas, und ich drehte mich auf meinem Stuhl um und sah einen Mann, der ein Tablett mit Geschirr aufhob, das er wohl fallen gelassen hatte, während er die Tische abräumte. Als ich mich wieder meinem Vater zuwandte, war er ganz auf seinen Teller konzentriert, drehte seine Spaghetti, als hätte es die letzten paar Minuten nicht gegeben.

»Du solltest wirklich die Spaghetti probieren«, sagte er und grinste, mit den Gedanken weit weg.

Im Aufstehen schob ich die Unterlagen tiefer in meine Tasche und erwiderte sein warmes, fernes Lächeln. »Es war sehr schön, dich zu sehen, Dad.« Ich ging um den Tisch herum, nahm ihn fest in die Arme, spürte sein Zögern, bevor er die Hand an meinen Arm hob und mich drückte.

»Lass nicht zu, dass dein Bruder das Haus verkauft«, sagte er noch einmal.

Als ich das Auto in der gekiesten Einfahrt parkte, brannte das Licht auf der Veranda, der Himmel war fast dunkel, und ich erhielt eine SMS von Daniel. Er würde am nächsten Morgen wiederkommen, und ich sollte anrufen, falls ich etwas brauchte oder falls ich es mir anders überlegte und lieber bei Laura und ihm wohnen wollte.

Ich saß im Auto und sah zu, wie die Laterne im Wind schaukelte und Licht und Schatten auf die Hauswand warf, und dachte darüber nach. Darüber, quer durch die Stadt zu fahren und mir in dem unbenutzten Kinderzimmer auf der aufblasbaren Matratze mein Bett zu richten. Denn ich konnte uns sehen, unsere Schatten, die vor einem Jahrzehnt auf dieser Veranda mit dem tanzenden Licht Geistergeschichten erzählt hatten.

Corinne und Bailey vollkommen gebannt von Daniels Geschichten über das Monster, das im Wald lebte, das man nicht sehen konnte, sondern nur spüren. Dass es sich Menschen bemächtigte und sie Sachen machen ließ. Ich konnte in meinem Kopf hören, wie ich sagte, er würde nur Scheiße erzählen. Und Corinne neigte den Kopf zu Daniel und lehnte sich an das Verandageländer, schob die Brust raus, stellte den Fuß gegen eine Holzrippe, beugte eins ihrer langen Beine und sagte: Waswürdeesdich machenlassen? Immer drängte sie uns. Immer.

Ich fand es schon immer schrecklich, dass unsere Geister hier wohnten. Doch Laura stand kurz vor der Geburt, und für mich war dort kein Platz, und auch wenn Daniel es mir angeboten hatte, erwartete man doch, dass ich Nein sagte. Ich hatte hier ein Haus, ein Zimmer für mich. Er war nicht mehr für mich verantwortlich.

Als ich die Haustür aufdrückte, hörte ich am anderen Ende des Hauses eine andere Tür zugehen, als hätte ich das Gleichgewicht gestört.

»Hallo?«, rief ich, starr vor Schreck. »Daniel?«

Nichts als der Abendwind, der an den Fensterscheiben rüttelt, vertraut. Eine Brise, Gott sei Dank.

Auf dem Weg in die Küche im hinteren Teil des Hauses schaltete ich die Wandlampen an. Die eine Hälfte funktionierte, die andere nicht.

Daniel war nicht hier. Niemand war hier.

Ich schob den Riegel vor, doch das Holz darum herum war verrottet und gesplittert, der Riegel drückte sich in den Rahmen, ob er nun vorgeschoben war oder nicht. Alles sah so aus, wie ich es verlassen hatte: auf dem Tisch ein Karton, ein benutztes Glas in der Spüle, eine dünne Staubschicht auf allem.

Der Ring