Tief in der Wüste - Robert Low - E-Book
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Tief in der Wüste E-Book

Robert Low

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Beschreibung

Das zweite große Abenteuer für die kampferprobten Gladiatoren

Sie sind die Procuratores, die Brüder des Sandes – Männer, die einander blind vertrauen, die Rücken an Rücken und Seite an Seite gekämpft haben. 224 n. Chr.: Die ehemaligen Gladiatoren unter der Führung von Drust und Kag werden erneut an die Grenzen des Imperiums gerufen. In Syrien benötigen alte Kampfgefährten ihre Hilfe. Doch in der sengenden Hitze der Wüste geraten sie in ein gefährliches Komplott um einen korrupten Statthalter. Jeder scheint ihnen nach dem Leben zu trachten. Die Gladiatoren sind ganz auf sich allein gestellt und müssen auf ihren Mut und Instinkt vertrauen ...

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Seitenzahl: 508

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Das Buch

»Wenn er es recht bedachte, bewegten sie sich alle seit jeher in einer Welt aus gebrochenen Versprechen, schönen Reden und falschen Wahrheiten. Dieses Leben war ihnen so in Fleisch und Blut übergegangen, dass das Einzige, auf das sie vertrauten, die Waffen und Rüstungen waren, mit denen sie einst in der Arena gekämpft hatten.

Drust sah ihre Gesichter, die von Hitze und Anstrengung gezeichnet waren und mit Augen, die wie wachsame Tiere aus den Schatten unter den sonnengebleichten Brauen hervorspähten. Sie waren die schmutzigen, blutigen, zerlumpten Überreste dessen, was sie einmal gewesen waren, eine kleine, stetig schrumpfende Familie. Sie kannten nur wenige Regeln, und manchmal bekämpften sie sich, wie sie es als Gladiatoren gelernt hatten – dennoch würde Drust niemals einen von ihnen, der um Hilfe rief, einfach sterben lassen. Er wusste, dass die anderen genauso dachten.«

Der Autor

Robert Low, Journalist und Autor, war mit 19 Jahren als Kriegsberichterstatter in Vietnam. Seitdem führte ihn sein Beruf in zahlreiche Krisengebiete der Welt. Um seine Abenteuerlust zu befriedigen, nahm er regelmäßig an Nachstellungen von Wikingerschlachten teil. Robert Low lebte in Largs, Schottland – dem Ort, wo die Wikinger schließlich besiegt wurden. 2021 ist der Autor verstorben.

Lieferbare Titel

978-3-453-53409-4 – Runenschwert

978-3-453-41000-8 – Drachenboot

978-3-453-43714-2 – Rache

978-3-453-41074-9 – Blutaxt

978-3-453-41168-5 – Der Löwe erwacht

978-3-453-41181-4 – Krone und Blut

978-3-453-41244-6 – Die letzte Schlacht

978-3-453-44096-8 – Jenseits des Walls

Robert Low

TIEF IN DER WÜSTE

DIETOD GEWEIHTEN

Aus dem Englischen von Norbert Jakober

Wilhelm Heyne Verlag München

Die Originalausgabe The Red Serpent (Brothers of the Sand 2) erschien erstmals 2019 bei Canelo, London

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Deutsche Erstausgabe 01/2023

Copyright © 2019 by Robert Low

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Barbara Häusler

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, unter Verwendung von Motiven von © Canelo Digital Publishing Limited

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-25785-9V001

www.heyne.de

1

In der Oase Al-Bardi, südwestlich von Dura Europos Im zweiten Jahr der Herrschaft von Kaiser Severus Alexander

Es schnürte ihm die Brust zu, sein Mund war trocken, ganz im Gegensatz zu seiner schweißnassen Haut und seinem Darm, der sich wässrig zu entleeren drohte. Panik überkam ihn und ließ bleierne Übelkeit in ihm aufsteigen.

Nicht zum ersten Mal verfluchte Drust diesen Ort, die launische Göttin Fortuna und die Versicherung, die Parther seien so gut wie erledigt und in endlose interne Auseinandersetzungen verstrickt.

Heutzutage sei es ein Spaziergang nach Dura Europos hatte man ihm gesagt. Man brauche bloß dem sicheren Karawanenpfad zu folgen, der zum westlichen Ende der Seidenstraße führte.

Ein wenig Trost fand Drust im Anblick von Quintus, der ihm mit dreckverschmiertem Gesicht gegenübersaß. Er trug immer noch seinen dicken Umhang, den er gegen die kühle Nachtluft angelegt hatte, obwohl sich im Morgengrauen bereits die Hitze des kommenden Tages bemerkbar machte und ihnen den Schweiß aus den Poren trieb.

Was hätte er jetzt nicht für einen Schluck Wasser gegeben. Tief geduckt hockten sie hinter der kniehohen Steinmauer. Aufzustehen wäre nicht ratsam gewesen; die Schleuderschützen aus Jabal Tayy, die in den gelben Sanddünen lauerten, nutzten jede Gelegenheit, sie mit ihren Geschossen zu erwischen.

Die Stammesleute hatten genug Munition bei sich, wie Drust wusste. Gnade kannten sie nur gegenüber den Kamelen, die wollten sie lebend, nur ihre Feinde waren ihnen am liebsten tot. Nicht wenige von ihnen lagen bereits als stinkende und von Fliegen übersäte Leichen in der Landschaft.

Hinter einer zweiten niedrigen Mauer links von Drusts Position hockte eine Gruppe verschwitzter Männer. Ihre Kopfbedeckungen hatten sie abgenommen, die Gesichter wirkten grimmig und entschlossen. Im schwachen Licht der Morgendämmerung waren Blut und Dreck auf ihren weißen Gewändern zu erkennen. Am Himmel war kein Stern mehr zu sehen, die Palmen der Oase hoben sich wie furchterregende Schattengestalten vor dem Hintergrund der nächtlichen Dunkelheit ab. Plötzlich knallte etwas wie ein Peitschenhieb neben Drusts Kopf.

In einem Schwall von Steinen und Staub kam eine Gestalt herangeschlittert. Drust hustete und fluchte.

»Wäre Manius mit seinem Bogen da«, keuchte Sib, »würden diese Steinewerfer ihr blaues Wunder erleben.«

Aber Manius war nicht da. Soweit sie wussten, war er schon vor Jahren gestorben, auch wenn Sib es nie hatte glauben wollen. Er war sich seiner Sache genauso sicher wie früher, als er Manius für einen Dschinn, einen Dämon aus der Unterwelt, gehalten hatte. Seit sie vor sechs Jahren aus dem Exil im Süden Afrikas zurückgekehrt waren, zogen die Brüder des Sandes durch das Wüstenland von Tingis bis Alexandria und handelten mit Getreide, Tieren und Sand für Amphitheater. Sie hatten gehört, dass Manius zur Arbeit in den Bergwerken verurteilt worden war und Colm, »der Hund«, ihn herausgeholt hatte, da er die Gunst des jugendlichen Elagabal genoss, der zum Kaiser des Römischen Reichs aufgestiegen war.

Bis Elagabal vor zwei Jahren gestürzt und durch seinen Vetter Alexander ersetzt worden war. Drust war sich sicher, dass Colm und Manius tot waren; er hatte gehört, dass sie bei den Säuberungen im Zuge des Machtwechsels getötet worden waren. Die Brüder des Sandes hatten eine Trauerfeier abgehalten und zu Ehren ihres Andenkens Salz verstreut und Wein vergossen.

Drust hatte vor Verblüffung fast der Schlag getroffen, als er eine Nachricht aus den dunklen Tiefen des Partherreichs erhielt: Manius und Colm waren am Leben und brauchten Hilfe.

Kag stieß einen Ruf aus, der beinahe fröhlich klang. Er legte seinen Gladius und ein gekrümmtes Messer nieder; diese Waffen waren für den letzten Augenblick bestimmt, wenn die Stammeskrieger mit ihren Schwertern angriffen. Vorläufig begnügten sich diese Ziegenficker damit, herumzuschleichen und aus den Dünen heraus mit Steinen zu schießen. Immer wieder sprang einer auf, schwang seine Schleuder und ging sofort wieder in Deckung. Ihre Vorsicht war übertrieben – keiner in der Karawane besaß etwas, womit er hätte zurückschießen können.

Drust schloss seine schweißnasse Hand noch fester um den Griff seines Schwerts, das ihn seit den Tagen in der Arena begleitete. Der Griff war glatt gescheuert, was sich im Kampf als gefährlich erweisen konnte. Neben Kags Kopf flogen Steinsplitter auf. Drust wollte ihm eine Warnung zurufen, als ihm bewusst wurde, wie unsinnig das wäre. Mit dem Schwert in der Hand stierte er in das kalte Licht der Morgenröte, als er ganz in der Nähe eine Bewegung wahrnahm, dann ein Geräusch, als hätte jemand feuchten Lehm an eine Mauer geworfen, gefolgt von einem dumpfen Ächzen und dem Aufprall eines Körpers direkt hinter ihm.

»Die kleinen Bastarde sind schwer zu sehen, was?«

Drust erkannte die überraschend sanfte Stimme sofort und drehte sich zu Praeclarum um, die über einen am Boden liegenden Kameltreiber hinwegkroch. Der Mann zuckte noch, doch sie hatte bereits erkannt, dass er keine Chance hatte.

»Es wird Zeit, dass die Mistkerle aus der Festung anrücken«, meinte Drust, und Praeclarum gab zu, dass ihre Hoffnung darauf allmählich schwand.

»Diese Lumpenärsche sind einfach überall«, meinte sie. »Sobald sie das Gefühl haben, wir wären geschwächt genug, werden sie einen Sturmangriff wagen. Ich fürchte, die Leute aus der Festung werden nicht rechtzeitig da sein.«

»Hör mal, ich weiß es zu schätzen, dass du mich aufmuntern willst«, erwiderte Drust trocken. »Aber unsere Lage ist beschissener, als du denkst.«

Praeclarum spitzte die Lippen. »Wir könnten natürlich versuchen abzuhauen, aber damit werden sie rechnen. Sie brauchen nur zu warten, bis wir an ihnen vorbeikommen. Dann enden wir alle mit einem Messer im Rücken und mit abgeschnittenen Eiern. Letzteres betrifft mich zwar nicht, das macht es aber auch nicht besser.«

Drust schauderte und fuhr erschrocken herum, als eine dunkle Gestalt neben ihnen auftauchte.

»Authent-es«, sagte eine vertraute Stimme.

Drust stieß einen heiseren Fluch aus. »Mann, ich hätte dich fast einen Kopf kürzer gemacht.«

Kisas Augen in seinem dunklen Gesicht schimmerten. »Das wäre wohl ziemlich traurig für uns beide gewesen.«

»Ein bescheuerter Mavro weniger auf der Welt«, ätzte Praeclarum, drehte sich um und spähte über die Mauer.

Kisa Shem-Tov wiegte den Kopf angesichts dieses spöttischen Ausdrucks für einen Menschen von dunklerer Hautfarbe. »Die ehrenwerte Dame weiß es natürlich am besten«, konterte er mit einem eisigen Lächeln.

»Kannst du uns hier rausbringen, Kisa? Ist es möglich – was meinst du?«

Der Mann zog die Luft durch die Zähne und überlegte einen Augenblick. Dann nickte er Drust freundlich zu. »Nein.«

Praeclarum stieß ein seidenweiches Lachen aus. Kisa begab sich in Deckung, während die Morgendämmerung die Dunkelheit über der Oase vertrieb. Ein Stück weiter nördlich lag Dura Europos, wo sich die Festung befand. Drust hatte Stercorinus schon vor zwei Tagen losgeschickt, bevor die Tayy sie völlig umzingelt hatten. Nun fragte er sich, ob der Mann durchgekommen war. Und ob es klug gewesen war, sich auf ihn zu verlassen. Stercorinus war ein zaundürrer Kerl mit einer Haut wie gebrannter Lehm. Er war nur mit einem Lendenschurz bekleidet und mit einem krummen Schwert bewaffnet, wie es in der Gegend von Palmyra gebräuchlich war. Er behauptete, von dort zu stammen, doch Drust war sich ziemlich sicher, dass das gelogen war, wie fast alles, was der Mann behauptete.

»Du vertraust diesem Ziegenficker viel zu sehr«, knurrte Praeclarum. Drust wusste nicht, ob sie von Kisa Shem-Tov oder von Stercorinus sprach. Es war im Grunde auch egal. Sie hatten Stercorinus vor einigen Monaten in einer sich auflösenden Gladiatorenschule in Antiochia erstanden – ziemlich günstig, da der Kerl, wie der Lanista, der Gladiatorenmeister, ihnen offenherzig erklärt hatte, so verrückt sei wie ein Sack brennender Harpyien.

Kisa Shem-Tov war Jude, ein freigelassener Sklave, der sich nicht nur gut mit Kamelen auskannte, sondern auch mit Diebstahl und Kuppelei. Genau das, was uns noch gefehlt hat, hatte Kag damals gemeint. Kisa war mit einer Botschaft zu ihnen gekommen, die irgendein Stammesführer gesandt hatte, ein Freund Roms in Dura Europos.

Praeclarum hatte einst als »Amazonenkönigin« in der Arena gekämpft, bewaffnet mit Messer und Wurfschlinge. Nachdem der alte Kaiser Septimius Servilius Frauen aus der Arena verbannt hatte, war sie mehrfach verkauft worden. Für eine Hure hatte ihr das Aussehen gefehlt, für eine Haussklavin die Kenntnisse und Manieren, und aufgrund ihrer schroffen Art traute ihr niemand. Sie war mindestens einmal entflohen und trug eine entsprechende Halsmarkierung. Vor zwei Monaten hatte Quintus sie mit einem Lächeln so breit wie der Euphrat »zu einem Spottpreis« in Emesa erstanden. Falls er sich gewisse Hoffnungen gemacht hatte, so wurde ihm schnell klar, dass sie vergeblich waren.

Nun waren sie alle Brüder des Sandes, auch wenn eine von ihnen eine Schwester war. Sie waren so etwas wie Prokuratoren, in Anlehnung an die Procuratores dromi, jene armen Bastarde, die die Aufgabe hatten, während der Wagenrennen auf die Bahn zu laufen und nicht nur Trümmerteile verunglückter Streitwagen zu beseitigen, sondern auch Tote und Verletzte sowie gestürzte Pferde. So hatten die Brüder des Sandes jahrelang für Servilius Structus, ihren Herrn, die Schweinerei beseitigt, bis zu seinem Tod.

Der Himmel wurde heller, und der feindliche Beschuss ließ nach, doch niemand schien willens, etwas zu unternehmen. Drust hatte sich seiner Kopfbedeckung entledigt, die auch den Hals schützte und mit einem Schleier versehen war, der sich vors Gesicht ziehen ließ. Das bereute er nun und schaute sich danach um, als er von jenseits der Dünen das schrille Li-li-li-lihörte, den Schrei, der ihm immer wieder das Blut in den Adern gefrieren ließ. Nackte Angst stieg in ihm auf und drohte gegen die Pflicht die Oberhand zu gewinnen, gegen den eisernen Grundsatz, dass ein Gladiator nicht davonlief. Wozu auch? Die Arenawar rund. Irgendwann kam man zum Ausgangspunkt zurück und starb trotzdem, dann aber vollkommen ermattet.

Die anderen hörten es auch und gingen jeder auf seine Weise mit der Angst um.

»Wer sind wir?«, rief eine Stimme trotzig.

»Fortunas Stiefkinder«, blaffte eine Stimme zurück. »Der Sand ist unser Land.«

Drust war froh, jemanden wie Quintus an seiner Seite zu haben – und Ugo, der schon einmal probeweise seine große Streitaxt schwang. Mit dem Rücken seiner Schwerthand wischte sich Drust über die Lippen und schmeckte salzigen Schweiß. Praeclarum sah ihn an und grinste ihn mit ihren abenteuerlichen Zahnlücken an.

»Stercorinus, diese Ratte, ist wahrscheinlich in den Dünen verschwunden, aus denen er kommt«, sagte sie. »Mit seiner Hautfarbe geht er leichter als einer von denen durch, anders als wir, außer Jude und Sib. Würde mich nicht wundern, wenn er irgendwo da draußen mit einem Messer lauert, um uns abzuschlachten.«

Drust wollte das nicht glauben, doch er wusste, dass Stercorinus ein verschlagener Kerl war, der noch dazu fest davon überzeugt war, zu wissen, wann er sterben würde. Er behauptete, Baal-Schamin, ein Gott, der in Palmyra angebetet wurde, habe es ihm in einer Vision offenbart. Mehr hatte er nicht gesagt, doch nun fragte sich Drust, ob in der Prophezeiung eine Wüstenoase und brüllende Stammeskrieger vorkamen.

Und doch waren sie alle durch Sand und Blut aneinander gebunden.

»Sie kommen«, sagte Drust unnötigerweise. Der von schrillen Schreien begleitete Ansturm der Turban tragenden Stammesleute war weder zu übersehen noch zu überhören.

Drust bekam noch mit, wie Kag sich brüllend aufrichtete, dann stürmte auch schon ein bärtiger Kerl mit einem krummen Dolch auf ihn zu. Im Aufstehen riss Drust seinen Gladius hoch und sah den Dolch an der Klinge abgleiten. Der Angreifer konnte seinen Schwung nicht rechtzeitig bremsen und taumelte an ihm vorbei. Drust schwang sein Schwert nach ihm und hörte sein Rückgrat brechen, drehte sich jedoch nicht nach ihm um, weil er schon den nächsten Gegnern gegenüberstand.

Der Schwertgriff ruckte in seiner Faust, sein Kopf dröhnte von seinem eigenen Gebrüll. Irgendwo in der Nähe hörte er Ugo schreien und fluchen. Am Rand seines Blickfelds huschte Quintus vorbei, der tänzelnd einem Gegner auswich und den nächsten mit dem Schwert niederstreckte.

Der Mann vor ihm ließ den Speer fallen und fasste sich an sein rot verfärbtes Gewand, wie um die Bauchwunde zu verschließen, damit die Eingeweide nicht herausquollen. Zwecklos, dachte Drust, als er den Mann mit dem Ellbogen aus dem Weg stieß und sich den nächsten vornahm.

Es waren zu viele. Die Morgenluft war von Schreien erfüllt, von metallischem Klirren, Blut, Sand und Panik. Man stolperte von einem Kampf zum nächsten, einem eingefleischten Ablauf und uralten Instinkten folgend.

Ein zähnefletschender Mann ragte vor Drust auf und schwang sein gekrümmtes Messer. Drust konnte nicht mehr ausweichen, der Angreifer stürzte sich auf ihn und riss ihn zu Boden. Sie wälzten sich im Sand, Drust versuchte aufzuspringen, doch während er noch auf allen vieren war, war sein Gegner schon wieder kampfbereit. Der Krieger grinste ihn mit fauligen Zähnen an, hob das Messer, und Drust spuckte Sand aus und versuchte verzweifelt sich zu bewegen, während er vor seinem Gegner kniete wie ein Ochse vor dem Opferaltar.

Plötzlich, wie von einer unsichtbaren Hand gezogen, flog der Angreifer mit dem Messer nach hinten. Drust hob den Kopf und schaute ungläubig zu einem Mann auf einem Kamel auf. Wo kam der so plötzlich her?

Gesicht und Helm des Mannes waren von einer schneeweißen Kufiya bedeckt. Er trug eine staubige weiße Tunika, unter der sich ein Kettenhemd aus Metall abzeichnete. Sein Umhang war blutrot, seine weiten parthischen Hosen schmiegten sich an die Seiten eines großen staubfarbenen Kamels. Er zog einen Wurfspeer aus einem Köcher hinter seinem rechten Bein, während Drusts Gegner sich auf dem Boden wand, nachdem ihn der erste Speer getroffen hatte.

»Dromedarii!«

Der Ausruf war gefärbt von Freude und Erleichterung.

Die Männer mit den blutroten Umhängen trieben ihre Reittiere rund um die kleine Festung aus niedrigen Mauern. Aufheulend suchten die Stammeskrieger das Weite, während immer mehr Speere und Pfeile auf sie einprasselten. Ugo erhob sich mit schweißnassen Haaren, hob seine furchtbare Streitaxt und stieß einen anerkennenden Schrei aus, in den die anderen begeistert einstimmten. Das Wasser in der Oase verfärbte sich rosarot.

Stercorinus nahm den Jubel entgegen, als wäre er für ihn allein bestimmt, saß aufrecht auf seinem Kamel und winkte mit zahnlückigem Grinsen, während eine schrille Stimme verkündete, wer sie gerettet hatte.

»Die roten Männer.«

Mühsam rappelte sich Drust auf die Knie und sah eine Hand vor sich. Als er den Kopf hob, blickte er in Quintus’ grinsendes Gesicht.

»Sag, warum sind wir noch mal hier?«

»Wegen Colm und Manius, diesen verdammten Bastarden«, brummte Kag, der seine Frage gehört hatte. Er wollte verächtlich ausspucken, doch sein Mund war zu trocken. »Ich weiß gar nicht, warum wir uns die Mühe machen – die zwei sind tot. Ich muss es wissen, ich habe den Göttern guten Wein für ihr Andenken geopfert.«

Sie taten es aber auch, weil sie Brüder des Sandes waren, dachte Drust. Weil sie eine Botschaft erhalten hatten, in der es hieß, sie sollten nach Dura Europos kommen und mit Uranius von der Zwanzigsten Kohorte reden. Drust hatte keine Ahnung, wer dieser Uranius war, und hätte die Nachricht normalerweise ignoriert. Aus zwei Gründen hatte er es nicht getan. Der erste war, dass die Botschaft in lateinischer Sprache verfasst war, mit guter Tinte auf anständigem Papyrus und nicht einfach in eine Wachstafel gekratzt. Der zweite Grund war, dass die Botschaft von Männern kam, die weder lesen noch schreiben konnten, ob sie nun lebten oder tot waren.

*

Dura Europos war wie eine Grimasse im Gesicht der Welt. Es erinnerte an einen Menschen, dem ein erbarmungsloser Wind entgegenblies und der dennoch immer ein spöttisches Wort auf den Lippen hatte, selbst wenn er schon am Rande des Todes stand. Hätte die Stadt sprechen können, so hätte ihr Akzent so hart geklungen wie der Stein, aus dem ihre vielen Türme erbaut waren. Sie räkelte sich auf einem Steilufer des Euphrattals wie eine betrunkene Hure auf einem Podium.

Sie war verschleiert mit den zerlumpten Überresten verblasster parthischer Pracht, jüdischen Tands, römischen Prunks und christlicher Ikonen. Die Mauern waren so alt, dass niemand sich mehr an ihre Ursprünge erinnern konnte. Einst hatten hier die Parther geherrscht, bis Rom die Grenzstadt dem Reich einverleibt und mit zahlreichen Türmen und Zitadellen versehen hatte.

Dura Europos war nur aus zwei Gründen bedeutend, wie der Militärkommandant Drust, Kag und den anderen erklärte. Einerseits war die Stadt wie eine römische Standarte, die die Parther ständig daran erinnerte, wer hier das Sagen hatte; andererseits diente sie dazu, das westliche Ende der wichtigen Handelsroute zu überwachen, die sich bis Gott weiß wohin im Fernen Osten erstreckte.

Der Militärkommandant, ein gewisser Virius Genadius Attalus, trug zahlreiche Titel; er war Vir militaris, Militärtribun und Herr des Flusses, wie er ihnen stolz mitteilte, als sie auf seinem Mosaikfußboden standen und durch die Torbögen auf eine Terrasse hinausblickten, von der eine milde Brise den Duft von Flussschlamm und Rosen, aber auch den Gestank von Abwässern hereinwehte. Sie schauten auf Tamarisken und Palmen hinunter und auf ein Boot, das sanft den Fluss hinabglitt.

»Was führt euch zu mir?«, wollte Attalus, der Vir militaris, Militärtribun und Eques wissen.

»Eine lange staubige Straße«, erwiderte Drust.

»Und Kamele«, fügte Kag hinzu.

Attalus runzelte die Stirn. Er trug einen sorgfältig gelockten Vollbart, wie es die Mode verlangte, und ertrug das Jucken, das damit verbunden war. Bekleidet war er mit seiner breit gestreiften Tunika und einer Toga, dem vollen Ornat, um die Neuankömmlinge zu beeindrucken.

»Kommt mir nicht blöd«, knurrte er. Fast hätte Drust über die derben Worte aus dem Mund dieses römischen Aristokraten lächeln müssen. Er verkniff es sich jedoch.

»Aus welchem Grund seid ihr hier?«

»Wir sind Händler. Jedenfalls im Wesentlichen. Wir haben Ferkel, Schweine, guten Wein, Datteln, Öl und Garum.«

Alles Waren, die Soldaten immer gern kauften, auch wenn Drust die Schweine nicht mehr sehen konnte und diese bereits auf einem Bratrost wähnte, was ihm selbst das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.

»Und nicht zu vergessen, uns selbst«, setzte er hinzu. Attalus sah ihn finster an und fragte sich, ob er sich diesen unverschämten Ton noch länger bieten lassen musste.

»Wir sind Männer der Arena«, erklärte Kag rasch, bevor die Situation eskalierte. »Wir stammen aus einer römischen Gladiatorenschule und haben gekämpft, bis man uns das Holzschwert überreicht und aus dem Dienst entlassen hat. Heute sind wir freie Bürger, bieten aber einem interessierten Publikum noch gelegentlich Schaukämpfe an.«

»Gladiatoren?«, fragte Attalus überrascht. »Ehemalige Sklaven?«

Keiner sagte ein Wort. Der Militärtribun ging auf und ab, blieb stehen und beäugte sie ungläubig.

»Ihr habt mit einer Karawane den ganzen gefährlichen Weg zurückgelegt, um Gladiatorenkämpfe zu veranstalten und Würzsoße zu verkaufen?«

»Und Schweine«, warf Kag ein. »Vergiss die Schweine nicht.«

Attalus machte ein finsteres Gesicht. »Ich habe eure Schweine nicht gesehen, aber mir tun die Viecher jetzt schon leid, dass sie die Gesellschaft von euch Schurken ertragen müssen.«

Er musterte sie abschätzig, und Drust wusste, was der Mann vor sich sah – zähe, drahtige Männer, von Sonne und Wind verbrannt, weit über die Blüte der Jugend hinaus, aber noch nicht am Ende. Wir haben viel durchgemacht, dachte Drust, aber wie Gladiatoren sehen wir wirklich nicht aus, da hat er schon recht. Selbst in unseren besten Jahren waren wir keine herausragenden Kämpfer …

»Wir haben gehört, der Weg ist frei.« Kag breitete entschuldigend die Hände aus. »Die Parther sind viel zu sehr in ihre eigenen inneren Streitigkeiten verwickelt, hat man uns mitgeteilt.«

Attalus trat hinter seinen prächtigen Schreibtisch, der abgesehen von einem Stuhl und einigen Liegen das einzige Möbelstück im Raum war.

»So ist es«, räumte er ein. »Es gab Unruhen in der Gegend von Fars, in denen der Partherkönig Artaban von einem Rebellen namens Ardaschir und dessen Sohn Schapur getötet wurde. Wir ihr sicher bemerkt habt, hat das die Probleme nicht gelöst. Seit die Parther die Kontrolle über die Region verloren haben, werden die hiesigen Stämme aufmüpfig. Die Jabal Tayy, denen ihr begegnet seid, sind nur einer davon. Warum wollt ihr Uranius sprechen?«

»Ich habe schon früher im Westen von ihm gehört«, log Drust. »Er soll hier in Dura Europos der Mann sein, wenn es um Kamele geht.«

»Euer Bote wollte anscheinend unbedingt mit ihm reden. Er kam zum Tor und hat seinen Namen gerufen.«

Für die Wachen muss es ein interessanter Anblick gewesen sein, dachte Drust. Ein hoch aufgeschossener Schwarzer im Lendenschurz mit einem langen Krummschwert, der auf einem ausgelaugten Kamel aus der Wüste angeritten kam und nach einem Römer verlangte. Für Uranius’ Ansehen war das bestimmt nicht förderlich.

»Ich kann verstehen, dass es ein bisschen ungewöhnlich war«, sagte Drust. »Ich habe meinem Boten aufgetragen, auf die Dringlichkeit der Situation hinzuweisen. Ich dachte mir, wenn er den Namen nennt, wird man ihm glauben.«

»Es hat ja auch funktioniert«, setzte Kag lächelnd hinzu. »Schließlich hat Uranius uns seine berittenen Krieger zu Hilfe geschickt.«

»Die Dromedarii habe ich geschickt«, erwiderte Attalus säuerlich. »Uranius war nicht dabei. Kennt ihr Decurio Uranius?«

»Ich bin ihm nie begegnet«, sagte Drust wahrheitsgemäß. Attalus’ Stirnrunzeln verriet ihm, dass er Uranius das Gleiche gefragt hatte. Warum interessiert ihn das so?, ging es ihm durch den Kopf. Wahrscheinlich hatten Manius und Colm wieder einmal irgendwelche wichtigen Leute verärgert.

Plötzlich teilte sich der gepflegte Bart des Militärtribuns in einem Grinsen. »Gladiatoren«, sagte er in einem Ton, der Drusts Alarmglocken schrillen ließ.

»Wir haben ein neues Amphitheater hier«, erklärte Attalus. »Es ist erst voriges Jahr für die Garnison errichtet worden. In einigen Tagen beginnt das Rosenfest der Standarten. Ich bin sicher, die Männer würden gerne einmal echte Gladiatoren in ihrem Amphitheater erleben.«

Drust war von der Idee nicht begeistert und erwähnte die Kosten des Spektakels, die selbst einem Senator die Sprache verschlagen hätten. Attalus runzelte die Stirn.

»Ich werde mich mit den Zuständigen beraten«, sagte er zu Drusts Bestürzung. Attalus würde versuchen, die Centurionen zu überreden, die Rücklagen für den Sold der Legionäre zu plündern; das bedeutete, die Soldaten würden dafür aufkommen müssen.

»Es wird keine Toten geben«, fügte Drust in der Hoffnung hinzu, dass Attalus dadurch das Interesse verlieren würde. Doch der Römer nickte lächelnd und gab ihnen mit einer Geste zu verstehen, dass das Gespräch beendet war.

*

Es wimmelte nur so von römischen Tuniken, griechischen Umhängen, skythischen Spitzhüten, weiten parthischen Hosen, den langen Gewändern der Araber und Juden und den dicken Turbanen der Seidenhändler aus Tamilakam.

Drusts Kamelzug war quer durch die Stadt zum 17. Turm geleitet worden, einer Anlage, in der sie alle Platz fanden und die sogar über ein Badehaus verfügte. Drust war sich nicht sicher, ob er es als Gunst oder als Brüskierung empfinden sollte, dass man sie von den anderen Karawanen absonderte. Das Gelände für Kamelzüge aus West und Ost befand sich zum größten Teil außerhalb der Stadtmauern, nur einige Auserwählte durften sich in der Stadt aufhalten. Drust wollte nicht darüber nachdenken, weshalb sie zu diesen Auserwählten gehörten.

Sie ruhten sich erst einmal an einem schattigen Plätzchen aus und berieten, wie sie vorgehen sollten. Unterdessen brachte Kisa Shem-Tov ein wenig Ordnung in die Karawane, was er mit großer Umsicht tat, auch wenn er gelegentlich etwas mitgehen ließ.

»Ich habe wenig Lust, hier in der Arena aufzutreten«, murmelte Kag. »Als du die Summe genannt hast, hat Attalus nicht mal mit der Wimper gezuckt. Er gehört zu diesen hochwohlgeborenen Ärschen, die gern dafür bezahlen, andere bluten zu sehen.«

»Dann tun wir’s einfach nicht«, sagte Drust. »Wir sind freie Männer, keine Sklaven, die an den alten Eid gebunden sind.«

»Trotzdem halten wir uns daran«, warf Sib ein.

Ugo saß betrübt da, mit beiden Händen an seiner Streitaxt. »Ich kämpfe nicht gern ohne Axt.«

Quintus schnaubte verächtlich. »Das ist nun mal keine Waffe für die Arena. Du musst wie ein richtiger Hoplomachus auftreten, nicht wie ein verdammter Barbar aus den germanischen Wäldern. Außerdem hast du selbst gesagt, dass du diese Axt gar nicht magst.«

Ugo nickte niedergeschlagen. »Meine beste Axt habe ich im Kopf eines Stiers im Norden zurücklassen müssen. Mit dieser hier ist es einfach nicht dasselbe.«

»Dann such dir eine andere«, riet Kag gereizt. »Oder noch besser irgendwas Zivilisierteres.«

»Du fandst es nicht unzivilisiert, als ich die Ziegenficker in der Oase damit niedergemacht habe«, wies Ugo ihn zurecht, und keiner konnte ihm widersprechen.

»Ich könnte mit Stercorinus’ Schwert kämpfen«, fügte Ugo hoffnungsvoll hinzu, doch dieser schwieg, während er mit seinem großen Krummschwert an einer Mauer lehnte wie eine windgeschüttelte Palme.

»Woher hast du diese Waffe?«, fragte ihn Quintus.

Stercorinus wandte ihm seine verträumten schwarzen Augen zu. »Von Gott. Er hat mir mitgeteilt, wie ich sterben werde und dass ich bis dahin diese Waffe tragen soll. Sie hat einst Simon Petrus gehört, der Christus verteidigt hat. Er hat damit einem Diener des Hohepriesters ein Ohr abgeschlagen, als sie kamen, um seinen Herrn festzunehmen.«

»Wie hast du die Waffe erhalten?«, wollte Ugo wissen.

»Ich habe meine Vorsehung, darum habe ich jetzt diese Waffe und darum bleibe ich auch bei euch. Drust und Gott sagen mir, was mir bestimmt ist.«

Das hatten sie alles schon von ihm gehört, hatten aber gehofft, etwas Neues zu erfahren. Doch er war offenbar nicht bereit, über das Schwert oder seinen Gott zu sprechen, ebenso wenig über die näheren Umstände seines Todes.

»Du bleibst, weil du gekauft und befreit worden bist und weil du dich in einem Vertrag verpflichtet hast, deine Schulden zurückzuzahlen«, erklärte Praeclarum. »Genau wie ich.«

Stercorinus schaute starr vor sich hin, als wollte er sagen: Glaubt, was ihr wollt, die Wahrheit ist ganz anders.

»Trotzdem«, sagte Kag mürrisch, »dieses krumme Messer mag ja ziemlich groß sein, aber es ist einfach keine Waffe für die Arena. Hat keine dignitas. Genau wie kämpfende Frauen.«

»Falls sie mich kämpfen lassen«, warf Praeclarum ein, der Kags verächtliche Bemerkung nichts auszumachen schien.

»In Rom haben sie es verboten«, fuhr Kag fort. »Dort gilt es als abartig. Hier akzeptieren sie es anscheinend. So ist das nun mal im Osten.«

»Natürlich«, warf Sib ein. »Wenn du als Frau in der Arena eine schlechte Figur abgibst, werden sie dich genauso ausbuhen wie jeden Mann und verlangen, dass du nicht lebend rauskommst.«

Drust war fest entschlossen, dass es dazu nicht kommen würde. Das teilte er den anderen mit, worauf eine Weile Schweigen herrschte.

Irgendwann fragte Quintus: »Was ist jetzt mit diesem Uranius?«

Drust hatte keine Ahnung. Es war offensichtlich, dass man sie von allen anderen fernhielt, vor allem von Uranius. Warum, wusste er nicht. Umso unheimlicher war ihm die Sache mit dem Amphitheater.

»Glaubst du, sie werden versuchen, uns umzubringen?«, sprach Sib aus, was allen im Kopf herumging.

Quintus tat die Befürchtung mit seinem sorglosen Lachen ab. »So lösen die hier im Osten ihre Probleme. Frag Colm, der muss es wissen.«

Wieder herrschte Schweigen. Colm war einer von ihnen gewesen. Ein Kerl mit einem tätowierten Gesicht, das aussah, als hätte man ihm das Schädelinnere nach außen verpflanzt. Colm, der Hund, war mit den Julias der kaiserlichen Familie fortgegangen, die sich um den jugendlichen Herrscher Elagabal scharten. Drust und die anderen waren so vernünftig gewesen, ins Exil im Süden Afrikas zu gehen. Von Colm hatte niemand mehr etwas gehört, seit Elagabal und seine Mutter Julia getötet worden waren und sein junger Vetter Alexander als neuer Kaiser den Thron bestieg. Den Machtwechsel hatten ebenfalls zwei Julias eingefädelt – die Matriarchin der Familie und Alexanders Mutter.

Allem Anschein nach hießen alle Frauen in der Dynastie der Severer Julia. Elagabal hatte seinerseits zwei Julias geheiratet; die zweite Ehe war ein Skandal, weil die Frau eine Vestalin war – ein Umstand, den man nicht unterschätzen durfte, wie Drust wusste. All diese Frauen stellten die tödlichste Macht im Reich dar. Colm hatte Elagabals Mutter praktisch wie eine Göttin verehrt, bevor sie zusammen mit ihrem Sohn in Ketten gelegt und getötet worden war.

Drust und die anderen waren sich sicher gewesen, dass Colm ebenso wie Manius tot sei – bis dieses unerwartete Lebenszeichen sie erreichte. Die beiden riefen die Leute um Hilfe, die für sie wie eine Familie waren, die einzigen Menschen auf der Erde, denen sie vertrauten. Drust teilte den anderen seine Vermutung mit, dass die Botschaft aus diesem Grund so kurz gehalten war – die beiden wollten vermeiden, dass andere etwas mitbekamen.

»Bestimmt ist es um Frauen gegangen«, meinte Quintus mit seinem breiten Grinsen.

»Oder um einen Haufen Gold«, murmelte Kag verdrießlich. »Bestimmt war das der Grund, dass Colm nicht mehr klar denken konnte mit seinem widerlichen Totenschädel.«

Und nun hockten sie hier in dieser Festungsstadt, diesem zuckenden Nervenende im Körper des römischen Reiches an der Grenze zu einem alten Feind, der sich offenbar in einer Weise veränderte, die niemand durchschaute.

Kisa Shem-Tov kannte die Stadt gut, deshalb wandten sich alle ihm zu, als er zurückkam. Er war klein und hatte ein breites, von einem Bart umrahmtes Gesicht, dessen Lächeln nur selten echt war. Er hatte die Versorgung der Kamele überwacht, deren Schnauben und Blöken verstummt war, nachdem man ihnen Futtersäcke vors Maul gehängt hatte. Ihre Handelswaren lagen ordentlich gestapelt und mit Öltuch bedeckt auf dem harten Boden. Kisa übergab ihnen die Glocke, die das letzte Kamel in der Reihe trug, wenn sie unterwegs waren, und schaffte es, diese Geste aussehen zu lassen, als brächte er einem Gott ein Opfer.

»Was redet man so über uns?«, fragte Drust. Der kleine Jude schaute kurz zu Sib, dann zu Stercorinus, der wie eine riesige Spinne auf dem Boden hockte und sein großes Krummschwert wie ein geliebtes Kind im Arm hielt. Kisa traute diesen Wüstenbrüdern nicht über den Weg, doch er hatte nun einmal seine Aufgabe …

»Dass ihr Krieger aus Rom seid«, berichtete der Jude. »Die Wächter der Karawanen fragen sich, wie gut ihr seid. Sie wundern sich, dass ihr so wenige seid. Normalerweise wird eine Karawane von mindestens hundert Mann bewacht.«

Quintus schnaubte verächtlich. »Diese Wächter habe ich gesehen. Du brauchst nicht mehr als einen Klaps mit dem Stock, um ihre Ärsche in den Staub zu befördern.«

»Die Leute machen sich Sorgen«, fuhr Kisa Shem-Tov fort. »Der Handel mit dem Osten ist zwar nicht ganz zum Erliegen gekommen, ist aber empfindlich gestört. Diese Aufständischen haben die alten Herrscher zwar offensichtlich gestürzt, aber noch keine neue Ordnung hergestellt. Es brodelt im Wüstensand.«

Doch dann lächelte er. »Aber wer weiß, was das nächste Jahr bringen wird. So war es schon immer in diesem Teil der Welt. Man reißt sich um ihn, von den glorreichen Kriegern eures Kaisers bis zu den einheimischen Wüstensöhnen.«

Die Stadt war es allerdings auch wert, um sie zu kämpfen, dachte Drust. Der Handel hatte sie reich gemacht, auch wenn sie nicht danach aussehen mochte. Man konnte in zwanzig Minuten von einem Ende zum anderen reiten, falls man ein gutes Pferd und eine gerade Straße fand. Doch diese Straßen steckten voller Möglichkeiten.

»Ein gutes Pferd kannst du schon finden«, meinte Kisa Shem-Tov, als Drust dies aussprach. »Eine gerade Straße dagegen auf keinen Fall.«

Er wusste das, erzählte er jedem, der es hören wollte, weil er die Stadt kannte wie kaum ein anderer, weshalb kluge Leute in dieser Gegend ihn als Führer anheuerten. Dieses Wissen konnte überaus nützlich sein, wie er ihnen auch schon in Antiochia erzählt hatte, als er ihnen die Botschaft überbrachte, die sie nun hierhergeführt hatte.

Drust hörte nur mit halbem Ohr zu. Sie waren schon kurz nach ihrer Ankunft in Antiochia auf den kleinen jüdischen Kerl aufmerksam geworden, der so viel zu wissen schien. Doch nicht alles war brauchbar oder ergab einen Sinn.

Nicht zum ersten Mal fragte sich Drust, ob es klug war, auf ihn zu hören. Er traute Kisa Shem-Tov nicht über den Weg, behielt dies aber für sich und hörte nur weiter zu, während er den Blick über die dicht gedrängten Lehmziegelhäuser mit ihren flachen Dächern schweifen ließ, über die unzähligen Zelte und die zufrieden grunzenden Kamele.

Es tat gut, sich vom Geruch der Holzfeuer, frisch gebackenen Brots und gerösteter Zwiebeln umwehen zu lassen, auch wenn er die Düfte aus dem Gestank von Kamelen und ungewaschenen Leuten heraussieben musste. Wenn er die Augen schloss, stellte er sich die Häuser höher und noch dichter vor und fühlte sich in die Subura, das pochende Herz Roms, versetzt. Doch Rom lag in weiter Ferne, genau wie die Chance, einen Kampf im neuen Amphitheater umgehen zu können.

»Es gibt viele von meinem Schlag«, sagte Kisa. »Wir sind Juden, nennen uns aber Karaiten und folgen den Lehren unserer Vorfahren, seit Rabbi Hillel und Rabbi Schammai sich in der Auslegung der Tora widersprachen. Manche sagen, wir kämen aus Chufut-Kale, aber das weiß keiner so genau.«

»Ich hasse diesen Misthaufen hier«, verkündete Kag und erwiderte Kisas breites Grinsen mit finsterem Blick. »Ich hasse die Hitze und die seltsamen Gebräuche. Mir ist der Geruch meiner Eier lieber als deine Karaiten. Mich interessiert nur noch, wo die Straße ist, die mich von hier wegbringt. Und welcher Teufel uns geritten hat hierherzukommen.«

»Wenn deine Genitalien riechen«, erwiderte Kisa liebenswürdig, immer noch grinsend, »kann ich dir einen Ort zeigen, wo du baden kannst. Die Leute hier baden regelmäßig, so wie wir Juden, mit Ausnahme der frisch gebackenen Väter, die sich nach der Geburt ihres Kindes neunundvierzig Tage nicht waschen dürfen. Die Araber baden auch, aber nicht so oft. Die Händler aus den Wüsten im Osten waschen sich nur sel…«

»Es reicht«, donnerte Ugo. »Du redest wie ein Wasserfall. Ich bin schon sauber vom Zuhören.«

»Wenn du es sagst, muss es so sein.« Kisa drehte sich um und rückte näher an Drust, sodass diesem ein Geruch von essigsaurem Schweiß, ungewaschenem Leinen und unpassenderweise ein Hauch von Rosenparfüm in die Nase stieg.

»Da war ein Mann«, raunte der Jude, und sein Atem streifte die Härchen um Drusts Ohren. »Er hat mir zugeflüstert, du sollst das Haus von Scheich Amjot in der Straße des billigen Eisens aufsuchen. Dort triffst du den roten Mann.«

»Was für ein Mann?«, knurrte Drust unwirsch. »Warum erzählt er das dir? Und warum erfahre ich das erst jetzt?«

Kisa Shem-Tov fuhr erschrocken zurück und schaute sich um, als suche er nach einem Fluchtweg. Stattdessen traf sein Blick Kag.

»Beruhige dich, Jude. Die erste Regel der Arena – tief durchatmen, und wenn du spürst, dass du dich gleich anpinkelst, geh in die Hocke und tu so, als würdest du dir Sand in die Hände reiben.«

»Ich habe euer Geschäft nie ausgeübt«, erwiderte Kisa Shem-Tov sichtlich erleichtert. »Er hat mir das ganz unerwartet erzählt, ich habe nicht darum gebeten. Wie ein Schatten ist der Mann aufgetaucht, hat es gesagt und war wieder weg. Ich weiß auch nicht, was er damit gemeint hat …«

»Gut, jetzt weiß ich es«, sagte Drust. Kag war ein wenig überrascht, dass Drust die Ratte wieder losgelassen hatte, die er am Hals gepackt hatte.

Drust beäugte Kisa mit dem drohenden Grinsen einer Wildkatze. »Kennst du diese Straße des billigen Eisens?«

Unterwürfig beugte Kisa den Kopf. »Ich glaube, ich kann sie finden.«

Drust schwieg, und Kisa begriff, dass seine Anwesenheit nicht mehr erwünscht war. Er bemühte sich, eine gewisse Würde zu wahren, doch nach wenigen Schritten hastete er eilig davon.

»Du hast recht – dem Kerl kann man nicht trauen.«

Praeclarum sprach leise, und doch schreckten die anderen auf, als ihre Stimme aus einem dunklen Winkel ertönte.

Kag fing sich als Erster und zwang sich zu einem Kichern. »Als ob wir auf diesen Rat angewiesen wären. Trotzdem danke.«

»Er riecht nach Rosen«, fügte sie hinzu, und Drust wechselte einen bestätigenden Blick mit Kag.

»Die sieht man überall in dieser Gegend«, fuhr sie fort. »Auf sämtlichen Balkonen und Hausdächern scheinen sie hier Rosen zu züchten.«

»Sie bekränzen sogar die Standarten damit«, fügte Drust hinzu. »Zum Andenken an die Toten.«

»Damit lässt sich gutes Geld verdienen«, meinte Kag. »Allein für diesen Zweck.«

»Er ist auf dem Weg hierher niemandem begegnet«, erklärte Praeclarum und hockte sich achtlos hin, sodass Kag die dunklen Mysterien zwischen ihren Beinen auf sich gerichtet sah. Er tat so, als bemerke er es nicht. »Er muss noch einmal zurückgegangen sein. Das bedeutet …«

»Er hat sich absichtlich mit jemandem getroffen«, führte Drust ihren Gedanken zu Ende.

Kag strich sich über den Bart und kniff die Augen zusammen. »Mit wem? Diesem Scheich? Dem roten Mann?«

»Der rote Mann muss Uranius sein«, meinte Quintus, hockte sich zu ihnen und grinste Praeclarum mit blitzenden Zähnen an. »Als uns diese Römer auf ihren Kamelen zu Hilfe gekommen sind … hast du da nicht gerufen, Kag, es seien die ›roten Männer‹, wegen ihrer roten Umhänge?«

»Ich hab nix gerufen«, erklärte Kag. »Ich dachte, du wärst das gewesen.«

»Es war Kisa Shem-Tov«, stellte Praeclarum klar. »Er muss diese Dromedarii kennen.«

»Nimm ihn besser mit, wenn du zu diesem Scheich gehst«, meinte Kag.

»Am besten gehen wir alle zusammen«, fügte Quintus hinzu. »Fremde Stadt, fremde Leute.«

»Ich muss darüber nachdenken.« Drust stand auf und setzte sich etwas abseits. Er brauchte ein bisschen Ruhe und Luft zum Atmen. Nach einer Weile fiel ihm auf, dass Praeclarum ihn lächelnd ansah.

»Die zwei sorgen sich um dich, als wären sie mit dir verheiratet«, sagte sie.

Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Nenn sie bloß nie ›deine Alten‹, wenn sie in der Nähe sind.«

»Nimm mich mit«, sagte sie.

»Warum? Willst du unbedingt die dritte Ehefrau sein?«

Drust wartete auf eine Antwort, doch sie schwieg. Schließlich stand er auf und streckte sich. Er spürte die Müdigkeit in den Knochen. Von irgendwo wehte der Duft einer gebratenen Ziege herüber. Er wollte nur noch essen und schlafen.

Praeclarum sah ihn mit einem zaghaften Lächeln an. »Sklavinnen können nicht heiraten.«

»Du bist keine Sklavin mehr«, erinnerte er sie.

Sie quittierte es mit einem leichten Nicken.

»Ich bin das, was in deinem Vertrag steht«, sagte sie. »Es sei denn, ich überlege es mir anders und laufe davon.«

Er wusste, dass sie nur scherzte – wenigstens hoffte er es –, also lächelte er. »Was könnte dich vor diesem schlimmen Schicksal bewahren?«, fragte er leichthin.

Sie beugte sich vor, die Hände hinter dem Rücken, wie es sich für eine Sklavin gehörte. »Nimm mich mit.«

Er schwieg und ging den Essensdüften entgegen, doch er spürte ihren Blick im Rücken.

2

Sie aßen Ziegenfleisch und Fladenbrot und schliefen ein wenig, bis die Hitze des Tages nachließ. Dann weckte Drust Kag und Kisa – und anschließend Praeclarum.

Kisa hielt nichts davon, eine Frau mitzunehmen. »Das ist keine gute Idee. Diese Perser und Araber haben ganz bestimmte Vorstellungen davon, was sich für Frauen gehört. Wenn es nach ihnen geht, dürfen sie nicht kämpfen oder sich am Gespräch der Männer beteiligen.«

»Dann sag ihnen, sie sollen nicht mit ihr kämpfen oder mit ihr reden«, erwiderte Kag trocken.

Drust war überrascht, dass Kag nichts dagegen hatte und sogar für Praeclarum eintrat. Er selbst äußerte sich nicht dazu, sondern bedeutete Kisa nur voranzugehen. Praeclarum schwieg ebenfalls. So sehr Drust sich auch bemühte, sie nicht anzusehen, konnte er sich doch einen kurzen Blick nicht verkneifen. Sie lächelte ihm zu.

Trotz seiner Lage am Ende einer belebten Handelsroute war Dura Europos doch vor allem eine Soldatenstadt. Überall sah man Legionäre auf dem Weg zur nächsten Schenke, zu einer Hure oder zum Basar, um irgendetwas zu besorgen, das ihnen ihr Los ein wenig angenehmer machte. Dass sie nur mit ihrer Legionärstunika, Stiefeln und einem Umhang durch die Straßen schlenderten, war ein Vorrecht, das ihnen nicht zuteilwurde, weil sie die Besten waren, sondern weil sie sich als schlau und zäh erwiesen hatten, was im römischen Heer besonders viel galt.

Die meisten hatten erst fünf der zwanzig Jahre hinter sich, zu denen sie sich verpflichtet hatten. Doch in diesen fünf Jahren hatten sie eine Menge gelernt, wie Drust wusste. Nach dem Appell gab es stets Übungen und paarweises Boxtraining, um sie auf Trab zu halten. Das Frühstück draußen in der Wüste bestand stets aus dem harten Brot vom Vorabend, das in posca getunkt wurde, ein Erfrischungsgetränk aus Wasser, Weinessig und Honig. Sie schlangen ihre Ration hastig hinunter, während sie Kleidung und Ausrüstung einigermaßen ordentlich zusammenpackten, damit die Vorgesetzten zufrieden waren und sie selbst die Sachen auch im Dunkeln wiederfanden.

Zur Verpflegung gehörte auch puls, ein Brei aus Getreide und Bohnen, der sein giftgrünes Aussehen dem Lauch verdankte. Das eigentliche tägliche Brot des Legionärs war jedoch das Marschieren. Selbst nach langen Märschen mit schwerem Gepäck mussten sie noch in der Lage sein, mit dem Speer ein Ziel zu treffen. Sie bauten Straßen, stellten Ziegel her und machten Zimmermannsarbeiten – und das alles für einen lächerlichen Sold, von dem sogar noch einiges abgezogen wurde.

Drust hätte Mitleid mit ihnen haben können – immerhin unterschied sich ihr Los kaum von dem eines Gladiators oder eines Sklaven –, doch sie schauten trotz allem verächtlich auf Leute wie ihn herab, fühlten sich mehrere Stufen über ihm, diese frühzeitig gealterten Männer, die in der Legion noch ganz unten waren.

Drust war trotz seines höheren Alters immer noch schlank und in guter Verfassung, auch wenn immer mehr Körperteile in der nächtlichen Kälte schmerzten. Wenn er sich in irgendeiner spiegelnden Fläche betrachtete, erschrak er längst nicht mehr, wenn er die Furchen in seinem Gesicht sah oder sich an die Zeiten erinnerte, als die Mädchen ihn einen »hübschen Kerl« genannt hatten, wovon in seinem harten Gesicht nichts mehr übrig war.

Kag sah ähnlich aus und hatte zudem noch diesen dunklen, starren Wüstenblick. Aufgrund seines Aussehens hielten die meisten ihn für verschlagen und heimtückisch, doch in Wahrheit war er nur von Sonne und Wind gegerbt und von einer natürlichen Vorsicht geleitet, die nur allzu begründet war. Eine der Weisheiten, an die er sich hielt, lautete: Wenn du Spuren hinterlässt, wirst du verfolgt …

Im Grunde unterschied er sich nicht von den anderen Brüdern des Sands, auch nicht von den neu hinzugekommenen, Stercorinus und Praeclarum. Sie teilten ihren von Entbehrungen geprägten Alltag, der es ihnen nur selten erlaubte, an etwas anderes als das nackte Überleben zu denken. Auch in diesem Augenblick ging es um nichts anderes.

»Glaubst du, dieser Scheich Amjot wird uns helfen?«, fragte Kag leise, während er seinen wachsamen Blick schweifen ließ. »Für das, was wir vorhaben, müssen wir ordentlich dekoriert sein.«

Drust konnte ihm nicht widersprechen. Den Ausdruck »dekorieren« hatten sie von der Armee übernommen, wo er nicht nur für militärische Auszeichnungen verwendet wurde, sondern auch für eine Mischung aus Arbeit, Schlauheit und Diebstahl. Man tat, was nötig war, um sich einen guten Schluck Wein und ein paar Münzen zu verschaffen oder seine Ausrüstung zu vervollständigen. Diebstahl wurde von den Vorgesetzten ignoriert, solange man sich nicht erwischen ließ. In diesem Fall setzte es eine Strafe, die wiederum von den Tribunen ignoriert wurde. Die Ranghöheren ließen den Übeltäter auf einen Tisch legen und ihm je einen Nagel in die Handflächen schlagen. Dann brachten sie den Verletzten ins Lazarett und bestraften ihn zusätzlich dafür, dass er »dienstunfähig aus eigenem Verschulden« war.

Scheich Amjot war wahrscheinlich kein Mann, der zwei Römer »dekorieren« würde, schon gar nicht hartgesottene Ex-Gladiatoren und Sklaven. Er war der Anführer der Ouled Janir, eines blutrünstigen Stammes, der einst mit seinen gefürchteten Horden immer wieder Rivalen und Feinde überfallen hatte und bis weit in den Osten vorgestoßen war. Dabei hatte er benachbarte Stämme entweder mit Gewalt gefügig gemacht oder vorteilhafte Bündnisse mit ihnen geschlossen. Es war ihm sogar gelungen, sich gegen die Banden durchzusetzen, die von den durch die Wüste ziehenden Karawanen Schutzgeld erpressten.

Im fortgeschrittenen Alter war ihm klar geworden, dass es sich am sichersten leben ließ, wenn man die Römer zu Freunden hatte. Also hatte er sich in dieser Festungsstadt niedergelassen und betrieb eine Schenke, deren Wände mit vulgären Sprüchen in allen bekannten Sprachen beschmiert waren – Griechisch und Latein, aber auch Aramäisch, Hebräisch, Syrisch, Palmyrenisch, Parthisch, Safaitisch und Pahlavi.

Kag meinte, der Kerl sei ein noch größerer Halunke als Kisa Shem-Tov – aber immerhin ein römerfreundlicher Halunke am heiß umkämpften Euphrat. In leisem, verdrießlichem Ton fügte Kag hinzu, dass sie von Scheich Amjot nicht viel zu erwarten hätten und dass Dura Europos überhaupt kein gutes Pflaster für sie sei … doch jetzt waren sie nun einmal hier.

Die Einheimischen begegneten der Armee mit Angst, Verachtung und Spott, obwohl ihre Stadt ohne die Römer immer noch das elende Loch wäre, das sie einst war. Heute gab es hier moderne Straßen, die jedoch nicht für die Soldaten bestimmt waren. Es gab auch Straßen, die alles andere als modern waren, doch hier hatten die Legionäre schon gar nichts zu suchen, und noch weniger Fremde, die sich alle Mühe gaben, nicht für Legionäre gehalten zu werden.

Kisa führte sie mit Bedacht durch das Labyrinth von kleinen Höfen und Straßen, in denen Juden und Araber lebten, durch tückische, dunkle Gassen mit Lokalen, in denen ein Dattelgetränk oder spottbilliger Wein aus mehrfach ausgepressten Trauben angeboten wurde.

Sie hüllten sich in diese dunklen Gegenden wie in eine wärmende Kufiya, das Tuch, das die Einheimischen sich um Kopf und Hals schlangen, oder in Praeclarums Fall auch um das Gesicht, um zu verbergen, dass sie eine Frau war.

Weil sie etwas zu früh dran waren, machten sie in einem schummrigen Lokal halt und aßen zähe Pfannkuchen mit Honig, während Kisa sich draußen umsah. Drust ahnte, dass der kleine Mann dies nur als Vorwand benutzte, um auf eigene Faust loszuziehen, doch er machte ihm klar, dass er das nicht erlaubte.

In der Taverne, die diesen Namen kaum verdiente, sah man es nicht gern, wenn die Gäste zum Essen Messer benutzten; sie galten als verfluchte Werkzeuge der Wüstendämonen oder der Römer, also aßen sie mit den Fingern. Der Alte, der sie bediente, erkannte sie dennoch sofort als Römer.

Kag lachte, doch Drust war alarmiert. Sie trugen hellbraune Gewänder und weite persische Hosen, darüber Umhänge, die einmal weiß gewesen waren. In ihren Gürteln steckten krumme Messer, sodass Drust davon ausging, dass sie wie wilde Wüstenpiraten aussahen und an einem Ort wie diesem gar nicht auffallen würden.

»Einen alten Hasen wie den kannst du nicht täuschen«, meinte Kag. »Der hat genug Kerle wie uns gesehen. Und wenn wir Speere und einen roten Umhang hätten, sähen wir aus wie diese Dromedarii.«

Da war etwas dran, dachte Drust, auch wenn es ihn nicht tröstete. Missmutig trank er den schlechten Wein, bis das Öl in den Lampen nachgefüllt wurde und die Flamme höher loderte, was noch mehr Insekten anzog, während ein paar grauhaarige Stammgäste in irgendein Spiel vertieft waren, das sie mit lauten Schlägen auf die Theke und Geschrei begleiteten.

Schließlich meinte Kisa, es sei Zeit. Sie standen auf und warfen ihre letzten paar Münzen auf den Tisch. Der Alte erschien lautlos wie ein Dschinn und steckte sie ein.

»Wir suchen das Haus von Scheich Amjot«, sagte Drust auf Arabisch.

Der Alte schaute mit zusammengekniffenen Augen zu ihm auf und sog den Atem durch seine Zahnlücken ein. Kisa runzelte die Stirn; er wusste, dass Drust nur testen wollte, ob sie wirklich so nahe am Ziel waren, wie Kisa behauptete, und er sie nicht vielleicht in eine dunkle Gasse führte, wo sie von Messern und Säbeln empfangen wurden.

»Da würde ich nicht hingehen«, meinte der Alte. »Eure Verkleidung ist gut, aber so gut auch wieder nicht, Authent-es. Das ist kein Viertel für Leute wie euch.«

»Solche Viertel gibt es in jeder Stadt«, erwiderte Drust säuerlich. »Du erzählst uns nichts Neues.«

Der Alte zuckte mit den Schultern und rollte den Kopf in einer vieldeutigen Geste, die ebenso ein Kompliment sein konnte wie eine Beleidigung.

»Wie du meinst, Authent-es. Du bist ein kühner Krieger und wirst dich von nichts abschrecken lassen, auch nicht mit einer Frau an deiner Seite. Also gehst du am besten diese Straße bis zum Ende, biegst links ab, dann rechts, dann noch einmal links.«

Mit höflichen Verbeugungen verließen sie das Lokal, doch ihre Hände wanderten fast unwillkürlich zu den Griffen ihrer Dolche. In den finsteren Winkeln dieses Viertels, erklärte Kisa, finde man so gut wie jede Krankheit, jedes Laster und jedes Verbrechen, das man sich vorstellen könne. Er warnte sie davor, in Löcher oder Abfälle zu treten. Sie wussten, dass er sich bemühte, ihre Gunst zurückzugewinnen, nachdem sie an seiner Loyalität gezweifelt hatten.

Da und dort waren die Straßen vom gedämpften Licht von Fischöllampen in den Fenstern erhellt, doch sie waren so schmal, dass Drust die Häuser auf beiden Seiten mit ausgestreckten Armen hätte berühren können. Es waren kleine, halb verfallene Häuschen, zwischen denen die Gasse wie ein dunkler Tunnel durchführte, in dem es von Schreien und Wimmern, Gesang und Gelächter widerhallte.

Kohlenbecken glühten wie Rattenaugen, um die Frauen auf der Suche nach ein wenig Wärme in der kalten Nacht kauerten. Eine von ihnen mit einer Haut so dunkel wie Ebenholz lag halb nackt auf einer Decke und forderte sie mit einer müden Geste auf, in ihre Hütte zu kommen.

Wie etliche andere auch. Eine Frau mit dem gezeichneten Gesicht eines verpfuschten Lebens rief ihnen etwas auf Arabisch zu; ein Mädchen – ein Kind noch – überschüttete die ältere Frau mit Spott und schüttelte die dünnen Arme, dass ihre Kupferreifen klimperten.

Im Hintergrund sah man schattenhafte Gestalten umherschleichen. Bei Tag wären es eher jüdische Händler in ihren blauen Gewändern gewesen oder zerlumpte Mavros, die schwerer bepackt waren, als man es einem Maultier zumuten würde, vielleicht auch persische Steinbrecher oder Ziegelmacher. Nachts gehörte die Straße den Jägern.

Da und dort rührte sich etwas in den dunklen Winkeln, doch die dort Lauernden waren offenbar zu dem Schluss gekommen, dass sie es mit einer ganzen Gruppe von bewaffneten Männern hätten aufnehmen müssen. Also zogen sie sich in ihre dunklen Ecken zurück und hielten Ausschau nach leichterer Beute.

Plötzlich flammte grelles Licht vor ihnen auf, und Drust schloss rasch die Augen. Der Geruch von heißem Eisen stieg ihnen in die Nase, während sie sich durch die Dunkelheit schoben. Mit jedem Schlag des Hammers auf den Amboss stiegen Erinnerungen in ihm hoch.

In der Schmiede hämmerte ein Koloss von einem Mann auf rot glühendes Eisen ein. Ein paar Leute waren stehen geblieben, um ihm bei der Arbeit zuzusehen. Es war faszinierend, wie etwas so Hartes zu etwas Neuem geformt wurde, auch wenn der Zauber in diesem Fall nur Nägel und Scharniere hervorbrachte.

»Die Straße des billigen Eisens«, sagte Kag, und Kisa strahlte. Er stieß Drust an und deutete in die Richtung, die sie einschlagen mussten. Sie gelangten zu einer Mauer aus verzierten Lehmziegeln und folgten ihr bis zu einer massiven, gut beleuchteten Tür. Kisa klopfte an, worauf eine Klappe aufging.

»Zu Scheich Amjot«, sagte Kisa, und Drust rechnete mit einer schroffen Reaktion – wer sie seien und was sie so spät noch hier wollten. Stattdessen wurde die Klappe geschlossen und die große, schwere Tür geöffnet, hinter der sich ein beleuchteter Hof erstreckte. Eine riesige Gestalt versperrte den Eingang.

Dann trat sie zur Seite, und Drust ging hinein, warf einen Blick zur Seite, der auf ein gestreiftes Gewand sowie vor einer mächtigen Brust verschränkte Arme fiel, wie zwei Ferkel, die von der Sau gesäugt wurden. Das Gesicht darüber war breit, schwarz und glänzend, wie eine dunkle Ausgabe von Ugo.

Er fand sich im Hof eines gepflegten persischen Hauses wieder, auf dessen Boden dunkle Gestalten in weißen Gewändern hockten, die ihm lächelnd zunickten.

Der nubische Riese schloss die Tür; der herabfallende Riegel klang unheimlich, wie eine Totenglocke. Drust schaute zu Kag, der nur die Augenbraue hob. Praeclarum ließ ihr Gesicht verschleiert, und Kisa sah aus, als würde sein Darm sich jeden Moment entleeren. Der Nubier geleitete sie in einen abgeschiedenen Raum, in dem ein Kohlenbecken glühte. An der gegenüberliegenden Wand hing ein riesiges Tuch mit fantasievollen goldenen Stickereien.

Auf bequemen Matten saßen Männer, und der Riese forderte sie mit einer Geste auf, sich ebenfalls zu setzen. Mit teils misstrauischen, teils spöttischen Mienen rückten die Männer zusammen, um ihnen Platz zu machen. Sie gehörten den hiesigen Stämmen an, wie Drust sofort erkannte, und waren bis zu den Zähnen bewaffnet, was in Ordnung war, solange sie sich im Haus oder im Schutz der Nacht aufhielten. Ließen sie sich mit solchen Waffen bei Tageslicht auf den Straßen blicken, bekämen sie es mit der römischen Armee zu tun. Drust erwiderte ihre ablehnenden Blicke mit einem zähnefletschenden Grinsen, um zu zeigen, dass er sich von ihrer drohenden Haltung nicht einschüchtern ließ.

Doch sie waren viele. Drust und Kag waren sich bewusst, dass sie wie Tonbecher waren, die jederzeit von einem Elefantenfuß zertreten werden konnten.

»Das sind Tayy«, sagte Kisa leise. »Wie die, die uns in der Oase angegriffen haben.«

Drust sah in ihnen vor allem Männer mit harten Augen, Hakennasen, langen, krummen Messern und stierem Blick.

Sie warteten. In respektvollem Abstand standen verschleierte Mädchen, deren Kupferschmuck klimperte, sobald sie sich bewegten. Mit würdevoller Eleganz tranken sie Sharbat aus winzigen Bechern. Drust lächelte bei dem Gedanken, dass sie genau wie römische Matronen Wein und Klatsch genossen. Im nächsten Augenblick zuckte er zusammen, wie von eiskaltem Wasser überschüttet, als er eine leise, melodische Stimme hörte:

»Schlaf gut und träum süß, während die Laren über dich wachen …«

Es war eine Stelle aus einem lateinischen Wiegenlied. Als Drust sich umdrehte, sah er die Falten eines Umhangs und das halb verhüllte Gesicht einer Frau mit dunklem Haar, Haut so weiß wie Milch und verklärten blauen Augen. Sie musste einmal sehr schön gewesen sein, doch das Leben hatte ihr die Schönheit geraubt. Sie sang mit dem verzückten Lächeln eines Menschen, der mit dem Herzen und den Gedanken weit weg war. Vielleicht erinnerte sie sich an ihre eigene ferne Kindheit, dachte Drust und beobachtete, wie sie sich auf den Boden hockte und mit dem Finger die Worte des Lieds in den Staub schrieb. Sie kann schreiben, wurde ihm dumpf bewusst. Eine Sklavin, die lesen und schreiben kann und Latein spricht …

»Schlafmohn«, flüsterte Praeclarum. Drust nickte; Mohnsamen waren bei Sklaven immer schon beliebt gewesen und nicht schwer zu bekommen. Es war ein willkommenes Hilfsmittel, um den harten Sklavenalltag erträglicher zu machen. Oder das Leben ganz allgemein … Drust dachte an Manius, der zu ähnlichen Zwecken eine Mischung aus afrikanischen Kräutern benutzte, und fragte sich, wo er gerade sein mochte.

Plötzlich ertönte ein Befehl in einer Sprache, die selbst Drust nicht verstand, mit einem kehligen Akzent, der wie ein Räuspern klang. Die Frau hörte auf zu singen und erhob sich sofort. In der folgenden Stille hörten sie nur noch ihr eigenes Atmen, dann ein leises Rascheln, als die Frau sich den feinen Schleier vom Kopf zog und bis zu den Hüften herabgleiten ließ.

Eine Flöte setzte ein, rhythmisches Trommeln gesellte sich dazu. Die Frau trug Ringe mit Glöckchen an Handgelenken und Füßen und ließ sie klingeln, während sie mit verträumtem Ausdruck die Hände hob und stolz den Kopf zurückwarf. Sie war immer noch gut gebaut; ihrem Gesicht sah man das Alter an, nicht aber ihrer Alabasterhaut, ihren Brüsten und runden Hüften.

In einem Meer aus leuchtenden Farben und würzigen Düften wiegte und drehte sie sich, ergriff eine Fackel, die jemand ihr reichte, und ließ sie über dem Kopf kreisen. Die Flammen tauchten sie in blutrotes Licht, und für einen Augenblick schienen die zischende Fackel und ihr Schleier ineinander zu verschmelzen. Drust hielt den Atem an in der Erwartung, dass die Frau jeden Augenblick Feuer fing.

Doch das geschah nicht. Sie hielt in ihrer Bewegung inne, sank keuchend zu Boden und drückte die Flamme auf dem Fliesenboden aus. Von den Zuschauern kam anerkennendes Murmeln, gefolgt vom leisen Klimpern von Silbermünzen. Drusts Bewunderung verwandelte sich in Sorge, als er sah, wie die Frau aufstand, taumelte und das Gleichgewicht verlor. Er eilte ihr zu Hilfe und stützte sie am Arm.

»Langsam, Mädchen«, sagte er. Sie sah ihn an, und für einen kurzen Moment klärte sich ihr Blick, dann wurde Drust von einer kräftigen Hand gepackt und weggerissen. Er schaute in das verzerrte Gesicht eines der anwesenden Stammesmänner.

Der gedrungene Kerl funkelte ihn mit seinen Schweinsäuglein an und sagte etwas, das Drust nicht verstand, doch der Ton allein machte ihn zornig. Als ihn auch noch der Speichel des Mannes am Kinn traf, reagierte er impulsiv.

Er bog den Kopf nach hinten und rammte ihm die Stirn in die krumme Nase, die in einem Blutschwall explodierte. Mit einem Aufschrei taumelte der Mann nach hinten, stolperte über ein Bein, stürzte rücklings zu Boden und blieb liegen wie ein umgedrehter Käfer. Kag lachte.

Im nächsten Augenblick erhob sich empörtes Gebrüll, und Messer wurden aus Scheiden gezogen. Drust, Kag und Praeclarum gingen in Verteidigungsstellung und wichen Schulter an Schulter zur nächsten Wand zurück, während Kisa sich auf den Boden warf und zusammenrollte. Krachend wurde ein Tisch umgeworfen. Praeclarum riss sich den Schleier vom Gesicht. Als die Einheimischen sie als Frau erkannten, steigerte sich ihre Empörung zu einem wüsten Kreischen.

Plötzlich durchschnitt eine Stimme wie ein Peitschenhieb den Lärm. Drust sah den Nubier in die Mitte des Raumes schreiten. Die Stimmen wurden leiser, nur der Mann mit dem blutigen Gesicht fluchte und schnaubte unvermindert weiter. Kisa erholte sich von dem Schock und übersetzte, so schnell er konnte, um sich von seiner Angst abzulenken.

Der Kerl mit der blutigen Nase tönte lautstark, der Römer habe Scheich Amjot beleidigt, da die Frau ihm gehöre. Kisa wartete, während der Nubier ruhig und gemessen antwortete.

»Hat Scheich Amjot etwa seine Stimme erhoben?«, fragte der Riese gelassen. »Ist sie seine Frau oder deine? Geht es um seine Ehre oder um deine? Sind das seine Gäste oder deine?«

Darauf wusste der Mann mit der blutigen Nase nichts zu erwidern, stattdessen schluckte er seinen Zorn hinunter und betupfte sich mit einem Tuch das blutüberströmte Gesicht.

»Was seid ihr denn?«, fuhr der Riese fort und schaute in die Runde der Anwesenden, die unbehaglich mit den Füßen scharrten.

»Käfer seid ihr«, beantwortete der Riese seine Frage selbst. »Ihr seid wie der Wüstenwind, der keine Stimme hat, sondern nur seufzen kann. Ihr seid nichts, wenn Scheich Amjot euch nicht sagt, was ihr seid.«

Drust sah, dass die Männer innerlich tobten. Vermutlich hätten sie Scheich Amjot am liebsten die Kehle durchgeschnitten, doch aus irgendeinem Grund, den Drust nicht kannte, waren ihnen die Hände gebunden. Der Riese unterbrach ihn in seinen Gedanken. »Kommt mit«, forderte er ihn und die anderen mit einer herrischen Geste auf.

Als sie an der Frau vorbeigingen, sah Drust, dass der Schock sie aus ihrem träumerischen Zustand gerissen hatte. Mit ihrem zu einem »O« geöffneten Mund und ihren weit aufgerissenen, geschminkten Augen sah sie aus wie ein verängstigtes Kind.

»Danke«, flüsterte sie in Latein mit einem schweren Akzent. Dann wurde ihr Blick schon wieder glasig, und sie nahm ihren klagenden Singsang wieder auf: »Schlaf gut und träum süß, während die Laren über dich wachen. Ich halte deine Hand, und wenn du morgen erwachst, bin ich immer noch bei dir.«