Die letzte Schlacht - Robert Low - E-Book

Die letzte Schlacht E-Book

Robert Low

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Beschreibung

Die große Mittelalter-Saga von Bestsellerautor Robert Low

Schottland 1314: Seit acht bitteren Jahren regiert Robert the Bruce das Land mit eiserner Hand. Es ist ihm gelungen, fast alle englischen Besatzer zu vertreiben. Doch der lange Krieg hat viele Leben zerstört. Unzählige Männer sind gefallen, Frauen und Kinder sind dahingeschlachtet worden oder hinter Kerkermauern verschwunden. Es bleiben noch drei Festungen mit englischer Besatzung, die Robert niedermachen muss, um den englischen König Edward II. endgültig zu besiegen. Doch Edward, den die Schmach der Niederlage zu neuen Taten treibt, setzt alles daran, Schottland doch noch zu unterwerfen. Auf beiden Seiten sammeln sich die verbliebenen tapferen Krieger zur letzten Schlacht ...

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Zum Buch

Schottland 1314: Seit acht bitteren Jahren regiert Robert the Bruce das Land mit eiserner Hand. Es ist ihm gelungen, fast alle englischen Besatzer zu vertreiben. Doch der lange Krieg hat viele Leben zerstört. Unzählige Männer sind gefallen, viele Frauen und Kinder sind dahingeschlachtet worden oder hinter mächtigen Kerkermauern verschwunden. Es bleiben noch drei Festungen mit englischer Besatzung, die Robert niedermachen muss, um den englischen König Edward II. endgültig zu besiegen. Doch Edward, den die Schmach der Niederlage zu neuen Taten treibt, will alles daran setzen, Schottland doch noch zu unterwerfen. Auf beiden Seiten sammeln sich die verbliebenen tapferen Krieger zur letzten Schlacht …

Zum Autor

Robert Low ist Journalist und Autor. Mit 19 Jahren war er als Kriegsberichterstatter in Vietnam. Seitdem hat ihn sein Beruf in zahlreiche Krisengebiete der Welt geführt, unter anderem nach Sarajevo, Rumänien und Kosovo. Auf Wunsch seiner Frau und seiner Tochter hat er das Reisen mittlerweile aufgegeben. Um seine Abenteuerlust zu befriedigen, nimmt er regelmäßig an Nachstellungen von Wikingerschlachten teil. Robert Low lebt in Largs, Schottland.

Besuchen Sie den Autor im Internet unter www.robert-low.com.

Lieferbare Titel

Die Königskriege: Der Löwe erwacht – Krone und Blut – Die letzte Schlacht

Die Eingeschworenen: Raubzug – Runenschwert – Drachenboot – Rache – Blutaxt

Robert Low

DIE LETZTESCHLACHT

DIE KÖNIGSKRIEGE III

Roman

Aus dem Englischen von Christine Naegele

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe THE LION RAMPANT erschien 2012bei HarperCollins Publishers, London

Vollständige deutsche Erstausgabe 10/2015

Copyright ©2013 by ROBERT LOW

Copyright ©2015 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Heiko Arntz

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung des Originalartworks von © Larry Rostant

Karte: Copyright ©2013 by John Gilkes

ISBN: 978-3-641-16008-1

www.heyne.de

Gewidmet allen Schotten, wo immer sie sein mögen

Dies ist die Chronik des Königreiches aus der Zeit der großen Unruhen. Niedergeschrieben im Kloster der Greyfriars in der Oktave Septuagesima, im Jahre des Herrn eintausenddreihundertneunundzwanzig, im dreiundzwanzigsten Jahr der Regierung unseres Königs Robert der Erste, den Gott erhalten möge.

Im Jahre des Herrn eintausenddreihundertvierzehn hatte der König acht ereignisreiche Jahre regiert und seine Feinde mit Feuer und Schwert bekämpft. Die Balliols und die Comyns waren aus dem Land vertrieben und alle, die noch am Leben waren, flohen in den Süden. Der alte Earl von Buchan, der ausgebrannt war von dem ständigen Krieg gegen sein Land und sein Volk und jetzt im Sterben lag, flehte den englischen König Edward um Hilfe an und sorgte gleichzeitig dafür, dass Isabel, seine ehemalige Gattin, in einem Käfig an der Burgmauer von Berwick schmachtete, weil sie es gewagt hatte, die Pläne von Bruce zu unterstützen. Buchans Handlanger, der grausame Malise Bellejambe, war ihr Gefängniswärter, und dieser Aufgabe widmete er sich äußerst gewissenhaft.

Doch dieser zweite König Edward war anders als sein Vater. Er hatte jeglichen Versuch aufgegeben, seine Macht auf Schottland auszudehnen, denn er hatte genug damit zu tun, sich mit seinen eigenen Baronen herumzuschlagen, die seinen Günstling, Piers Gaveston, von seiner Seite entfernen wollten und versuchten, seine Macht einzuschränken.

So kam es, dass der gute König Robert freie Hand hatte, die englischen Besatzer und ihre schottischen Verbündeten aus dem Land zu jagen. Zu Beginn dieses Jahres unseres Herrn gab es im ganzen Königreich nur noch drei wichtige Festungen, die sich in der Hand der Engländer befanden: Roxburgh, Stirling und Edinburgh.

Und nun beschloss unser König, das Reich zu befreien und dem Feind auch diese letzten drei Bastionen zu nehmen, indem er sie von außen her abriegelte und belagerte. Da sie jedoch über keine geeigneten Belagerungsmaschinen verfügten, war die Wahrscheinlichkeit eines Sieges für die Schotten gering, sodass die Engländer Hoffnung schöpften.

Da kam Sir James Douglas nach Roxburgh…

Isabel

Der Himmel ist finster, und Gott ist grausam. Doch er möge dich strafen. Du Lügner. Hurenbock. Folterknecht. Mörder. Er möge dir Kröten unters Hemd schicken, Ameisen in Bart und Schamhaare und Fliegen in die Augen, du altes Scheusal. Ich bitte den barmherzigen Gott, dass er mich zu einem Irrlicht in den Marschen werden lässt, damit ich ihn ins Moor locke und versinken lasse. Gott, ich werde dich ewig preisen, wenn du mich in die weiße Hirschkuh verwandelst, die die Jäger zu den Wölfen des Waldes führt, damit sie von ihren scharfen Zähnen zerrissen werden. Ihr Heiligen, macht mich zu einer Wespe, die ständig um seinen Kopf kreist und ihm keinen Moment Ruhe lässt. Allmächtiger Gott, lass ihn so tief begraben werden, dass er nie den Weg hinauf zum Jüngsten Gericht findet, so tief, dass nicht einmal die Würmer ihn finden. Oder lass mich sterben, Herr, damit ich nicht noch länger in diesem Käfig von Berwick unter dem niederträchtigen Malise Bellejambe leiden muss.

KAPITEL 1

Roxburgh

Fastnachtsdienstag 1314

Frixco de Fiennes eilte über das Kopfsteinpflaster, um in den Schutz des Torhauses zu gelangen. Der kalte Nieselregen machte die ohnehin graue Abenddämmerung so trübsinnig wie ein Häufchen nasser Asche. Alles passte zu seiner Stimmung, besonders wenn er zu der Gestalt hinübersah, die unter dem Torbogen stand und sich leise hin und her wiegte: Aggie mit dem Kind im Arm. Seufzend ging er zu ihr hin, nahm seine Mütze ab und schüttelte die Nässe aus.

»Aggie«, sagte er müde. »Du solltest doch nicht hier auf mich warten.«

»Niemand kann uns hören. Die Wachen sind in ihrem Verschlag«, erwiderte sie mit ruhiger Stimme. »Außerdem schlafen sie.«

Frixco fluchte unhörbar und nahm sich vor, die Männer aufzuscheuchen, wenn er hier fertig war. Von irgendwo hinter ihm ertönte eine Lachsalve aus der großen Halle, wo man den Abend vor Aschermittwoch beging, indem man sich noch einmal richtig die Bäuche vollschlug.

»Nein, du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, fügte Aggie bitter hinzu. »Ich will dich nicht lange belästigen – nur etwa so lange, wie es gedauert hat, um dieses Würmchen hier zu zeugen.«

Frixco brachte mühsam ein Lächeln zustande, doch er wünschte sich diese Frau samt ihrem Kind hundert Meilen weit weg.

»Ich kann nur ein paar Silbermünzen erübrigen«, sagte er bedauernd, doch er merkte sofort, dass sie ihm diese Lüge nicht abnahm. Die Verzweiflung ließ ihren Mund zu einer schmalen Linie werden, aber sie nickte, während sie ihre freie Hand nach dem Beutel ausstreckte.

Selbst diesen gab er nur widerwillig her, und nicht zum ersten Mal verwünschte Frixco die Tochter des Burgkochs und hoffte dabei, sie würde es für sich behalten, wer der Vater ihres Kindes sei. Im Geiste sah er schon Sander mit dem Fleischerbeil, sodass er kurz die Augen schließen musste, ehe er Aggie mit einem flüchtigen Lächeln ansah.

Ihr Blick drückte nichts als Verachtung aus. Jetzt wandte er sich der großen Halle zu, erinnerte sich jedoch an die schlafenden Wachen, machte kehrt und ging an ihr vorbei. Aggie hörte, wie er den Männern drinnen die Meinung sagte, während sie ihr Schultertuch um sich und das Kind schlug und aus dem Schutz des Torhauses in den Nieselregen hinaustrat.

Sie ging jedoch nicht zu ihrem Bett im Küchengebäude zurück, wo ihr Vater nach wie vor wütend von ihr verlangte, endlich den Namen des Mannes zu nennen, der ihr den Bastard gemacht hatte. Immer noch konnte sie es kaum fassen, dass sie Frixco zu Willen gewesen war – aber andererseits konnte sie es auch wieder verstehen. Er war immerhin der Truchsess, der Bruder des Vogts, und hatte einen gewissen Einfluss. Darüber hinaus hatte er Geld, wenn er sich auch nur ungern davon trennte, und einen Sommer lang schien er ihr die Möglichkeit zu bieten, Roxburgh zu verlassen.

Als sie zu den regennassen Zinnen des Torhauses hinaufstieg, musste sie an den Gefangenen denken, dem sie jeden Tag das Essen gebracht hatte, solange sie Schale, Löffel und Becher noch tragen konnte, ohne etwas zu verschütten – sieben Jahre lang, mindestens. Er und ich haben das gleiche Schicksal, dachte sie, Gefangene in diesem Gemäuer, das an drei Seiten von Wasser umgeben ist. Sie war fünfzehn Jahre alt, und ihr Leben war vorüber.

Sie stand auf dem Dach des Torhauses, dicht am Kohlebecken, in dem der Nieselregen in der Glut zischte. Der Wind fegte das Wolltuch vom Kopf des Kindes. Schnell hüllte sie ihn wieder ein.

»Aber Mädchen«, hörte sie eine Stimme. Sie drehte sich um und sah Leckie, der sie unter seinem Helm anlachte. »Du solltest mit dem Kleinen runter ins Warme gehen und nicht hier im Wind stehen. Ihr holt euch beide den Tod hier oben.«

Aggie mochte Leckie. Er sah sie nie schief an oder stellte ihr peinliche Fragen wegen des Kindes. Er war freundlich und teilte oft Brot und Käse mit ihr, wenn sie heraufkam, um sich den Wind um die Nase wehen zu lassen und von anderen Orten zu träumen.

Jetzt nickte sie lächelnd, tatsächlich sehnte sie sich plötzlich nach Wärme und Schutz. Ein letztes Mal drehte sie sich um, und ihr Blick schweifte in die Umgebung, auf den zerfurchten Weg, der zu der hochgezogenen Brücke hin und auf der anderen Seite weit in die Ferne führte, in ein verheißungsvolles Anderswo.

»An so einem Abend sind keine Rebellen unterwegs«, erklärte Leckie entschieden, der ihren Blick in die Dunkelheit jenseits der Burg für besorgt hielt, und wieder lächelte sie. Die Rebellen beschäftigten im Moment die Gedanken aller Bewohner. Roxburgh war eine der letzten mächtigen Burgen dieses Reiches, die noch gehalten wurden, alle anderen hatte der Usurpator Robert Bruce schon erobert. Die Angst hatte alle ergriffen.

Doch nichts bewegte sich in der bleigrauen Dunkelheit außer ein paar schwarzen Kühen, nichts als Schatten im Nebel. Sie wandte sich zum Gehen und sprach leise zu dem Kind.

»Ruhig, ganz ruhig, der Schwarze Douglas wird dich heute Nacht nicht holen.«

Am Fuße des Felsens unter dem Torhaus trottete ein halbes Dutzend schwarze Kühe langsam über die Weide, als suchte es nach dem saftigeren Gras, das unter den überhängenden Latrinen wuchs. Als eines der Tiere mit dem Ellbogen in etwas Klebriges, Stinkendes geriet und anfing zu fluchen, wurde es von den anderen sofort zischend zur Ruhe ermahnt.

Wütend und frustriert warf Sim Craw seinen schwarzen Umhang ab und zerrte die aufgerollte Strickleiter von seinem Rücken.

»Nur zu«, zischte James Douglas wütend. »Am besten du läutest gleich am Tor, Sim. Dann wissen sie, dass wir da sind.«

»Diese Haken bringen mich noch um«, flüsterte Sim zurück. »Und außerdem bin ich eben durch Scheiße gekrochen.«

»Jetzt gebt Ruhe, ihr beiden, sonst werden wir noch entdeckt.«

Die beiden sahen in das finstere, nasse Gesicht vor ihnen. Ein Ebenbild des Schwarzen Jamie Douglas, dachte Sim. Die Einzigen, die noch nicht zu wissen scheinen, dass der Hundejunge und Jamie Douglas Geschwister sind, sind die beiden selbst. Der Schwarze James wollte es wohl nicht sehen, weil er schließlich Herr von Douglas war und nie zugeben würde, dass der Hundejunge, ein armer, gemeiner Bauernsohn, ein Fehltritt seines Vaters war. Und der Hundejunge, selbst wenn er es vermutete, würde seinen Jugendfreund, der jetzt gleichzeitig sein Lehnsherr war, damit niemals in Verlegenheit bringen wollen.

Wie immer behielt Sim das bei sich. Er sah die beiden nur unwillig an.

»Ich hoffe, du hast den Speer, Hundejunge«, flüsterte er heiser. Die Antwort war ein genervtes Stöhnen.

»Den habe ich vor mir hergeschoben, als wir durchs Gras gekrochen sind. Und ich heiße Aleysandir, nicht Hundejunge. Das habe ich dir schon mehrmals gesagt.«

»Ja, ja«, murmelte Sim, der dabei war, das Durcheinander aus Seilen, Holz und Eisen zu entwirren. Der Hundejunge war nicht mehr derselbe, seit er herausgefunden hatte, dass er einen richtigen Namen besaß. Sim erinnerte sich, wie es herausgekommen war. Sie hatten die Namenslisten der Hundepfleger in der Burg Douglas gefunden, als Jamie und der Hundejunge sie geplündert hatten. Du lieber Gott, das war bestimmt auch schon wieder fünf Jahre her.

Damals hatte auch Sir James seinen neuen Namen bekommen – der Schwarze Douglas – für das, was er der englischen Garnison in seiner eigenen Burg angetan hatte, aus dem sie ihn vertrieben hatten. Er hatte sie den englischen Besatzern auf überaus schlaue Art und Weise wieder abgenommen, so, wie sie es jetzt auch planten, aber er hatte auch gewusst, dass er sie nicht würde halten können – also hatte er sie verwüstet.

Zusammen mit seinen Leuten hatten sie, soweit sie konnten, alles zerstört und unbrauchbar gemacht, vom Viehfutter bis zum Wasser im Brunnen, sie hatten den Keller mit Beute gefüllt und darauf gepisst, dann hatten sie den Engländern, die sich zusammen mit ihren schottischen Anhängern ergeben hatten, die Köpfe abgeschlagen und ein mächtiges Feuer angezündet. »Die Vorratskammer von Douglas«, hatte man es mit grimmigem Humor genannt, und die Erinnerung daran war so schwarz wie die verkohlten Mauern, die übrig blieben. Noch finsterer war Jamies Gesicht, weil er gezwungen gewesen war, sein Elternhaus und sein rechtmäßiges Erbe zu zerstören.

Doch jetzt war sein Gesicht nicht finster, es zeigte dieses hämische, fast irre Grinsen, bei dem Sim immer eine Gänsehaut bekam.

»Tja, du bist schon ein schlauer Kerl, Sim Craw«, flüsterte James Douglas und schlug ihm auf die durchnässte Schulter. »Das hier wird Randolph in den Schatten stellen.«

Sim warf dem dunklen Lord mit dem wirren Haarschopf einen säuerlichen Blick zu. Als ob es hier darum ging, Douglas zu Ruhm zu verhelfen, indem man Randolph übertraf. Der sitzt in Edinburgh und überlegt, auf welche Weise er dort die Burg einnehmen könnte, und wir sitzen hier in Roxburgh und überlegen dasselbe. Jetzt schickt der Lord von Douglas sich an, Roxburgh mit einem einzigen Handstreich zu nehmen, aber, wie es schien, nur, um Randolph eins auszuwischen … Nicht zum ersten Mal staunte Sim darüber, wie schnell sich der scheue, bescheidene Lord von Douglas in einen kaltblütigen, hartherzigen Mörder verwandeln konnte.

Und dazu bedient er sich meines Einfalls, fügte er im Geiste mürrisch hinzu, als er endlich den Wurfhaken am oberen Ende der Strickleiter freibekommen hatte, die mit einer Halterung für den Speer versehen war. Zwanzig Fuß waren noch aufgerollt, die hölzernen Sprossen der Leiter dick mit Wolle gepolstert, damit sie gerade weit genug von der Mauer Abstand hatten, um den Fuß draufsetzen zu können. Sein Vater und die anderen Brunnengräber hatten diese Technik von den Bergleuten bei Leadhouse mitgebracht, und Sim hatte sich daran erinnert und sie für seine Zwecke abgewandelt.

Jetzt schlich er zu der Felsenklippe, auf der das Torhaus wie ein Klotz stand, er blickte nach oben und wischte sich die Regentropfen aus den Augen. Dann nickte er dem Hundejungen zu, der sich gegen den Felsen lehnte und die Hände verschränkte, während Sim den langen Speer in die Halterung an der Leiter schob und Jamie Douglas reichte.

Dann setzte er den Fuß auf die Hände des Hundejungen, der fluchend aufstöhnte.

»Du wirst fett, Sim.«

Fett und alt, stimmte Sim im Geiste zu, als er auf die Schultern des Hundejungen kletterte, dann im Felsen einen Halt fand und sich an der nassen Wand hochhangelte, bis er nicht mehr weiterkonnte. Er streckte die Hand aus, ergriff den Speer und schwang ihn so hoch er konnte, wobei er sich verzweifelt am Felsen festklammerte, während ihm der Regen übers Gesicht lief. Schwankend schob er ihn mit beiden Händen noch höher und reckte sich so weit er konnte, bis er merkte, wie der Haken der Leiter sich über die Brüstung schob und mit einem knirschenden Geräusch in den Stein grub.

Er zog an der Schnur, und die Strickleiter entrollte sich mit einem so leisen Geräusch, als liefe eine Katze über die Steine. Sim spürte, dass jemand ihn am Stiefel berührte, blickte hinunter und sah den Schwarzen, der besorgt zu ihm hochstarrte.

»Bist du sicher, dass du als Erster gehen willst?«

Sim antwortete nicht. Er wusste, warum der Schwarze besorgt war: eigentlich war er zu alt für diese Sache. Aber es ist meine Leiter, dachte Sim. Sie gehört mir. Also antwortete er nicht, zog noch einmal kräftig daran, um sich zu vergewissern, dass sie auch fest verankert war, und kletterte los.

Frixco, der sich an den Wachen im Torhaus abreagiert hatte, eilte über den nassen Hof zurück zur großen Halle. Er spürte die wütenden Blicke, die ihm folgten, wütend wie nie zuvor, das wusste er. Aber so war es nun mal, es war eine gottgegebene Tatsache, dass die, über die er Macht hatte, ihm das verübelten und ihm wütende Blicke nachschickten, wenn sie dachten, er sehe es nicht.

Aber obwohl Frixco schon so lange hier war – mein Gott, es mussten mindestens achtzehn Jahre sein –, hatten die Engländer ihn immer als einen Gascogner und die Schotten als einen Eindringling betrachtet, egal, welche Farben er trug. Gascogner waren unter dem alten und dem neuen König beliebt gewesen, besonders unter dem neuen, denn Gaveston, der Günstling des Königs, war auch ein Gascogner gewesen.

Aber Gaveston war tot, und die Lords, die ihn ermordet hatten, umkreisten den König mit finsteren Gesichtern und knurrten ihn und seine loyalen Barone an – zwei Hundemeuten mit gesträubtem Nackenfell. Jetzt wurden alle Gascogner, die König Edward dienten, von jenen verdächtigt, die anderer Meinung als der König waren. In der Stadt Roxburgh gab es einen Vogt, der dem König durch eine Rechtsverordnung aufgezwungen worden war, um die Loyalität desGascogners, der die Garnison der Burg befehligte, zu kontrollieren, und das war Sir William de Fiennes, Frixcos Bruder.

In der Halle schlug Frixco wohlige Wärme und fröhlicher Lärm entgegen, und er nahm sich Zeit, um seinen nassen Mantel auszuschütteln und mit den Feiernden, die ihm am nächsten saßen, ein paar Worte zu wechseln. Aber noch wartete eine Aufgabe auf ihn, ehe er sich hier niederlassen konnte. Und so zog er weiter, eilte aus der Halle und die Treppe hinauf in die Privatkapelle.

Der Gefangene kniete demütig vor den geschnitzten Votivtafeln, die für diesen besonderen Tag hervorgeholt worden waren: die vierzehn Stationen des Kreuzwegs. Der Gefangene, dem man an diesem Feiertag eine Andacht gestattet hatte, kniete vor der neunten Station, wo Jesus zum dritten Mal unter dem Kreuz zusammenbricht. Frixco hoffte, der Mann würde nicht darauf bestehen, vor jeder der vierzehn Tafeln eine längere Andacht zu halten. Er war gekommen, um ihn in seine Zelle zurückzubringen und dann mit den anderen zu essen und zu trinken.

»Es ist Zeit«, sagte er. Er erhielt keine Antwort, deshalb wiederholte er es etwas lauter.

Doch Hal hörte ihn nicht. Er war versunken in das Bildnis – eine wunderschöne Schnitzarbeit, die den Schmerz eindrucksvoll wiedergab. Christus, am Boden liegend, auf eine Hand gestützt, mit der anderen das erdrückend schwere Kreuz festhaltend. Er dachte an die vielen Male, als er in der kleinen Steinkapelle von Herdmanston zur Beichte gegangen war und in der Schlange gewartet hatte, egal, ob er Lord Hal war oder nicht, bis er an der Reihe war. Meist war kaum genug Zeit, um hastig eine Sünde zu bekennen, denn Pater Thomas war der Einzige, der hier die Lossprechung erteilte.

Vater, ich habe gestohlen. Vater, ich habe geflucht. Ich habe zur Fastenzeit Fleisch gegessen. Ich schlage meine Frau. Ich trinke. Die meisten der Wartenden wussten längst, was die anderen unter dem angeblichen Beichtgeheimnis zu bekennen hatten, und die, die länger brauchten, stellten sich ganz ans Ende, begleitet von den vielsagenden Blicken und Rippenstößen der ungeduldig Wartenden. Der hat bestimmt jemanden umgebracht, oder zumindest hat er einen Bischof beraubt, pflegte man sich stirnrunzelnd zuzuflüstern.

Wurden die Gebete jemals beantwortet? Oder schliefen Gott und Seine Heiligen etwa? War der Herr immer noch eine Zuflucht? Non accedet ad te malum – es wird dir kein Übel begegnen.

Sieben Jahre. Auch für sie … Er fragte sich, ob Isabels Gebete wohl beantwortet worden waren, und hoffte, dass sie wenigstens nicht mehr in einem Käfig gehalten wurde. Doch das war unwahrscheinlich. Die betrügerische Isabel MacDuff war mit stillschweigendem Einverständnis ihres Mannes, des Earls von Buchan, vom alten König Edward an der Burgmauer von Berwick aufgehängt worden. Edward hatte es getan, weil sie es gewagt hatte, Robert Bruce die Krone aufs Haupt zu setzen, und Buchan war einverstanden gewesen, als Warnung für alle treulosen Ehefrauen. Hätte er die Möglichkeit dazu gehabt, er hätte seinen Nebenbuhler Hal umgebracht.

Hals Versuch, Isabel in einer gewagten Rettungsaktion zu befreien, war gescheitert, und er wurde selbst gefangen genommen, und eine Zeit lang hatte es so ausgesehen, als würde Buchan seinen Triumph endlich doch noch feiern können – aber dann war der alte König Edward gestorben. Ein Wunder, dachte Hal. Er wurde unter dem neuen König gefangen gehalten, wurde aber geschont. Höchstwahrscheinlich, bis irgendjemand sich an ihn erinnern und handeln würde.

Doch der neue Edward hatte andere Sorgen, und jetzt war Hal schon sieben Jahre hier in Roxburgh, offenbar hatte man ihn wirklich vergessen. Der gefallene Christus sah ihn mit seinen hölzernen Augen an, und Hal sagte sich, der Herr sei wohl immer noch eine Zuflucht – denn tatsächlich kannte Hal keine Furcht mehr, obwohl er jeden Tag aufs Neue mit Erleichterung feststellte, dass das nicht daran lag, dass er keine Wünsche mehr hatte.

Freiheit. Isabel. Diese Worte klangen für ihn wie eine Glocke, und der geschnitzte Christus schien sich zu bewegen, was aber nur am Kerzenschein lag, der im Wind flackerte. Wie jeden Tag, so erinnerte er sich auch jetzt an das Versprechen, das er und Isabel sich gegenseitig gegeben hatten – das Versprechen, sich niemals zu trennen. Man sollte vorsichtig sein, vor Gott Schwüre abzulegen, denn der Teufel hört immer mit.

Doch Gott sieht alles, dachte Hal, als er auf die starren hölzernen Augen Christi starrte. Du hast dich nicht von Engeln forttragen lassen und hast deine Füße an den Steinen wundgestoßen. Dafür bist du in einer Winternacht in einem Stall auf die Welt gekommen. Du liebst auch meine arme, verlorene Isabel, und ich hoffe, du beschützt sie besser, als ich es konnte …

Ein Schlag auf seinen Hinterkopf holte ihn in die Wirklichkeit zurück, und beinahe wäre er gestürzt, doch er fing sich und drehte sich zu Frixco um, der ihn unwillig ansah.

»Hörst du mich jetzt?«, wollte er wissen, und Hal nickte stumm.

»Zeit zu gehen«, knurrte Frixco, der das Warten satthatte. Seit sieben Jahren plagten sie sich nun mit dem hier ab, und jeden Tag warteten sie auf eine Anweisung – von wem auch immer –, was mit ihm geschehen sollte. Doch es kam kein Befehl, und selbst Frixco hatte schon fast vergessen, was der Lord von Herdmanston – wo immer das sein mochte – eigentlich getan hatte.

Ein Mord, erinnerte er sich dunkel. Und er war ein schottischer Rebell. Eines Tages würde er sicher hängen, wenn nicht heute, dann eben morgen, und für Frixco de Fiennes, der sich um ihn kümmern musste, konnte dieser Tag nicht schnell genug kommen. Von unten hörte er Rufe und lautes Gebrüll, und sein Gesicht wurde noch finsterer – er verpasste den besten Teil des Festes.

Leckie hörte ein merkwürdiges leises Klicken, konnte aber nicht ausmachen, woher es kam. Er legte den Kopf auf die Seite und hörte angestrengt hin. Seltsames kleines Geräusch, dachte er, wie eine Maus, die in Klapperschuhen tanzt. Oder ein böses Wichtelmännchen mit roter Mütze, das seine Krallen schärft. Er folgte dem Geräusch und schlich am Kohlebecken vorbei ins dunkle Ende des Wehrgangs, spähte zwischen die Zinnen und entdeckte blitzendes Metall, wo keins sein sollte.

Sein Herz schien kurz stillzustehen, und als er näher trat, sah er die Haken. Er starrte sie an und hatte Mühe, zu verstehen. Die Krallen eines bösen Wichtelmännchens, ganz richtig, dachte er, und sie hängen hier an meiner Mauer. Er sah hinüber zu Aggie, die ihrem Kind etwas zuflüsterte, und wollte ihr zurufen, sie solle fliehen, dann blickte er wieder auf die Stahlkrallen und hörte das leise Kling-Kling, mit dem sie sich an der Mauer hin und her bewegten.

Denn hier kletterte etwas – jemand – die Leiter herauf, die daran hing. Die Erkenntnis traf Leckie, als hätte ihm jemand einen Kübel Eiswasser über den Rücken gegossen. Er hätte auf der Eisenplatte Alarm schlagen müssen. Er hätte sich die Lunge aus dem Hals schreien müssen. Stattdessen trat er an die Brüstung, spähte darüber – und hatte das Gesicht eines grauhaarigen Mannes vor sich, der ihn böse angrinste.

»Buh!«, sagte Sim, dabei schoss seine Hand vor, packte den Wachsoldaten vorn an der Tunika und zerrte ihn über die Mauer, noch ehe dieser einen Ton herausbringen konnte.

Etwas weiter unten kamen Jamie und der Hundejunge heraufgeklettert. Sie sahen, wie etwas an ihnen vorbeiflog, und hörten es dumpf aufschlagen. Sie fluchten leise, denn sie erschraken, als plötzlich zu ihren Füßen ein Mann aufschlug. Sie hörten, wie Schädel und Knochen brachen.

»Um Gottes willen«, zischte Jamie. »Was war das denn?«

»Sim bei der Arbeit«, erwiderte der Hundejunge grimmig, dann kletterten sie weiter.

Oben auf dem Dach hatte Aggie ihr geflüstertes Zwiegespräch mit dem Kind beendet. Sie wollte Leckie noch einmal zum Abschied zuwinken, sah aber nur eine undeutliche Gestalt in der dunklen Ecke, deshalb wandte sie sich schulterzuckend der Treppe zu. Das Kind fing an zu weinen, als ihm der Regen ins Gesicht fiel.

»Ruhig, ganz ruhig«, sang sie und wickelte den Kleinen fester in ihren warmen Umhang. »Der Schwarze Douglas holt dich heute Nacht nicht, mein Lämmchen.«

»Von wegen, mein Lämmchen«, sagte eine Stimme dicht neben ihr, während eine schwielige Hand ihr den Mund zuhielt, »da irrt deine Mutter sich ganz gewaltig.«

Frixco, der Hal die Wendeltreppe hinauffolgte, die zur Halle führte, blieb verunsichert stehen. Ein derartiges Gekreische war eher unüblich an einem Fastnachtsdienstag. Und das Klirren von Schwertern erst recht! Gab es einen Kampf? Frixco wollte ihn auf keinen Fall verpassen, deshalb wollte er Hal ungeduldig vorantreiben, doch dann sah er in das Gesicht seines Gefangenen und fuhr herum, um zu sehen, was hinter ihm passierte.

Das Grauen in Person schien ihn anzustarren. Ein Auge hing an einer blutigen Sehne, das Gesicht eine zerfleischte Masse mit weit aufgerissenem Mund, in dem jeder Zahn rot umrandet war.

»Zurück«, schrie sein Bruder. »Zurück, die Treppe hoch und verriegle die Tür. Der Schwarze ist hier!«

Wie betäubt und mit offenem Mund starrte Frixco auf die blutige Erscheinung seines Bruders und auf die Männer, die hinter ihm herkamen und ihm mit gezogenen Messern Rückendeckung gaben. William de Fiennes, mit verunstaltetem Gesicht, halb blind und in Panik, versetzte seinem Bruder einen Schlag, um ihn aus seiner Erstarrung zu lösen.

Hinter ihm sah Hal Jamie Douglas, eine kurze lichte Erscheinung, wie ein Blitz vor einem dunklen Hintergrund und so vertraut, als seien keine sieben Jahre vergangen – mit wild fliegendem schwarzem Haar, in einer Hand das Schwert, in der anderen den Langdolch. Und hinter ihm – Hal glaubte seinen Augen nicht zu trauen – ein zweiter Jamie Douglas, der mit grimmigem Gesicht ein zitterndes Mädchen mit einem Kind im Arm bewachte.

Erst später, als sie sich alle in die Kapelle geflüchtet hatten und die Männer die wenigen Möbelstücke, die es hier gab, gegen die Tür schoben – einschließlich der vierzehn geschnitzten Kreuzwegstationen –, dämmerte es Hal, dass es der Hundejunge war, den er da gesehen hatte.

Sim sah die Männer auf der Treppe, die mit erhobenen Schilden ihren Lord schützten. Er hatte ihn schwer verletzt, diesen Sir William de Fiennes, wie er jetzt Jamie Douglas mitteilte, als sie in die Halle stürmten.

»Hab ihm das Auge ausgestochen«, erklärte er, und Jamie nickte nachdenklich. Beide waren sich einig, dass ein Mann mit einer solchen Verletzung vielleicht endlich darüber nachdachte, ob er weiterhin Widerstand leisten wolle.

Doch für weitere Erklärungen war jetzt keine Zeit. Sim setzte krachend über die Bänke hinweg und warf sich auf die Männer, sein Atem dröhnte ihm in den Ohren. Einige flohen in den hinteren Teil der Halle, wo es keinen Ausgang gab. Auf dem Tisch zu seiner Linken schlitterte der Rote Rowan durch einen Matsch aus Bratensaft, Fleisch und Gerstenbrei und trat gegen die Holzteller, dass sie durch die Luft flogen. Er drehte sich um und wollte Sim grinsend entgegentreten, wurde im Kampfgetümmel aber umgerissen.

Sim stürzte sich auf einen Mann mit einer Armbrust, der seinen fieberhaften Versuch, sie zu spannen, aufgab und sie stattdessen wie eine Keule schwang, wobei er seine Angst und seinen Zorn hinausschrie. Sims Klinge flirrte im Kerzenschein durch die dicke, rauchgeschwängerte Luft und drang in den Hals des Mannes, dessen Geschrei in ein würgendes Gurgeln überging. Dann stieß er die Leiche mit dem Fuß zur Seite und schickte gleichzeitig in hohem Bogen einen halben Käselaib durch die Luft.

»Aaaah!«

Sim fuhr herum und konnte die Klinge, die gerade wie eine wütende Schlange zustoßen wollte, im letzten Moment abwehren, doch die Kraft des Aufpralls hätte ihm fast sein Schwert aus der Hand geschlagen. Der Mann, der brüllend auf ihn zugerast war, war schon älter, mit weißem Bart und tränenden Augen. Jetzt wich er zurück und schwang drohend seine Waffe.

Ein Feuerhaken, stellte Sim fest. Tatsächlich, er greift mich mit einem Feuerhaken an. Ein ehemaliger Soldat, ging es ihm durch den Kopf, als er auf das Knie des Mannes zielte. Der Mann wich aus, doch Sim trat auf einen schmierigen Holzteller, und im nächsten Moment lag er am Boden und ruderte mit Armen und Beinen.

Der alte Mann stieß einen Schrei aus und hob den Feuerhaken hoch über seinen Kopf – aber aus seiner Brust erschien plötzlich eine Schwertspitze, die mit solcher Kraft von unten nach oben gestoßen wurde, dass sie bis in seinen Unterkiefer drang. Mit einem hohen, dünnen Aufheulen ging der Alte zu Boden, und Sim blickte in das grinsende Gesicht von Jamie Douglas, der leicht taumelte, weil sein Schwert vom Gewicht des Mannes mitgerissen wurde.

»Himmel, was tust du da? Das war hier eine Sache zwischen zwei alten Knackern! Wir wollen euch jungen Leuten schließlich was bieten!«

Er achtete nicht auf Sims empörtes Gesicht und zog ihn mit einem breiten Grinsen wieder auf die Füße, dann stemmte er den Fuß gegen den Hals des alten Mannes und zog mit einiger Mühe sein Schwert heraus. Das Blut bildete eine Lache, in der Äpfel und Pflaumen lagen, die vom Tisch gefallen waren, dazu gebratene Kapaune, Pfannkuchen und Brot.

Noch eine blutige Vorratskammer für den Schwarzen, dachte Sim bitter, als er weitere Schreie hörte und sich erschöpft umwandte. Er sah den Hundejungen und hob grüßend sein Schwert.

Der Hundejunge sollte die Frau mit dem Kind beschützen, allerdings wusste er nicht, warum sie dem Schwarzen so wichtig war. Trotzdem blieb er dicht an ihrer Seite und lächelte sie jedes Mal freundlich an, wenn sie ihn ansah, obwohl sie nicht aufhörte zu zittern.

Doch wenn er in die Halle blickte, verschwand sein Lächeln, denn hier herrschten Chaos und Gemetzel, und immer noch klirrte der Stahl.

Er bemerkte ein paar Männer, die Richtung Treppe rannten, um sich in Sicherheit zu bringen. Er sah, wie Sim und Jamie zwei Männer töteten, und dachte, jetzt sei alles vorbei, doch plötzlich kam eine weitere Gruppe von Männern mit verzweifeltem Geschrei auf ihn zu. Sie wurden angeführt von einem dicken Mann mit kahlem Kopf, der ein Fleischerbeil schwang und dessen Mut an eine verzweifelte gefangene Ratte erinnerte.

Der Hundejunge ließ die Frau los und schob sie hinter sich, dann stürzte er sich auf den fetten Riesen. Er schwang sein Schwert von oben, damit der Mann es von unten blockieren musste, in der anderen Hand hielt er den Langdolch, den er dem Kerl in den Bauch stieß. Ihm war, als hörte er hinter sich einen Schrei, unterdrückte aber den Drang, sich umzudrehen, um zu sehen, ob die Frau und ihr Kind angegriffen wurden.

Der Dicke taumelte, hielt sich den Bauch und sah abwechselnd zum Hundejungen und auf das Blut in seiner Hand, sein Gesicht hatte den ungläubigen Ausdruck eines zu Unrecht geprügelten Hundes. Ein weiterer Mann warf sich dazwischen. Der Hundejunge holte aus, aber sein Hieb wurde von einem kleinen Schild abgefangen – der Hundejunge merkte erst später, dass es ein Topfdeckel war –, und der Mann grunzte vor Anstrengung. Dann griff er mit einem langen, scharfen Küchenmesser an.

Es sind Bedienstete, kam es dem Hundejungen plötzlich in den Sinn, als er den Angriff mit dem Schwert abwehrte. Neben ihm schlug Patrick das Messer nieder, warf sich mit seiner lederbewehrten Schulter gegen den Topfdeckel des Mannes, sodass dieser taumelte, mit der Kniekehle gegen eine Bank stieß und mit einem verzweifelten Schrei darüberfiel.

Wie ein tollwütiger Hund warf Patrick sich auf ihn und hieb mit dem Langschwert auf ihn ein, dass Blut und Knochensplitter spritzten.

Der Hundejunge wandte sich um und sah die Frau, die ihr schreiendes Kind an sich drückte und starr vor Entsetzen war.

Nun ja, dachte er, als er die feucht schmatzenden Geräusche hörte, mit denen Patrick sicherstellte, dass sein Gegner auch wirklich tot war, so ein Anblick ist nichts für zarte Nerven.

»Hab keine Angst«, keuchte er, indem er sich auf sein Schwert stützte, weil er ahnte, dass das Schlimmste vorüber war. »Der Schwarze hat mir aufgetragen, für deine Sicherheit zu sorgen, also wird dir nichts geschehen.«

Patrick tauchte auf, sein ohnehin schon rotes Gesicht mit Blut bespritzt. Er grinste sie an, als er mit der Mütze des Toten seine Klinge von Blut und Hirnmasse säuberte.

»Man kommt ganz schön ins Schwitzen«, bemerkte er, aber die Frau drückte lediglich ihr Gesicht in das Bündel, das sie im Arm hielt, und schluchzte. Er zuckte die Schultern.

»Ach, Weiber!«, sagte er. »Hast du ihr nicht gesagt, dass sie in Sicherheit ist?«

»Doch«, sagte der Hundejunge, und stirnrunzelnd fügte er hinzu: »Ich verstehe ja auch nicht, warum sie so heult.«

Die Frau hob den Kopf, das schmutzige Gesicht von Tränen verschmiert, und mit zitternder Hand zeigte sie auf den zuckenden Riesen, dem das Hackebeil aus der Hand gefallen war und der jetzt dalag wie ein erschlagener Ochse. Durch seine Finger rann das Blut aus der Bauchwunde, die der Hundejunge ihm zugefügt hatte.

»Das war mein Vater.«

Hal musste immer an den Anblick der beiden Jamies denken. Er fühlte sich merkwürdig losgelöst von allem, von dem Gestank nach Angst und Schweiß in der Kapelle, wo die Männer wie gefangene Tiere saßen und auf die Schläge gegen ihre verbarrikadierte Tür horchten.

Sir William brüllte Flüche nach draußen und versuchte, seinen eigenen Leuten Mut zu machen, ehe er das Bewusstsein verlor und nur noch schwer atmend dalag. Einer seiner Soldaten fasste sich schließlich ein Herz und trennte tapfer die letzten Fasern durch, an denen sein Auge noch hing. Er wollte es Frixco geben, der entsetzt zurückwich.

Gegen Morgen war allen klar, dass Sir William im Sterben lag und dass Frixco keine Führungsperson war, deshalb überraschte es Hal nicht, als einer der Männer – derselbe, der Sir William das Auge entfernt hatte – zu ihm kam und sich im stickigen Morgendämmer neben ihn kniete. Er stellte sich ihm als Tam Shaws vor, »ein braver Schotte«, was wie eine Herausforderung klang. Hal sagte nichts, er hatte seine eigene Vorstellung davon, was einen braven Schotten ausmachte.

»Hat der Schwarze vor, uns alle umzubringen, oder wird er uns verschonen?«, fragte Shaws, eine Frage so unmissverständlich wie eine offene Klinge.

Hal zuckte die Schultern. Er wusste es nicht. Wie alle hatte auch er von Jamie Douglas und dessen Grausamkeit gehört, was er nur schwer mit dem Jungen in Einklang bringen konnte, den er einst gekannt hatte. Doch der Hundejunge war bei ihm, und Hal konnte sich einfach nicht vorstellen, dass dieser sich an den Geschichten beteiligt hatte, die man sich mit schreckgeweiteten Augen in jedem Haus des Königreiches erzählte. Das sagte er ihm jetzt auch, und der Soldat hob eine skeptische Augenbraue.

»Es ist ja nicht dein Leben, das hier auf dem Spiel steht«, erwiderte er trocken. Das war richtig. Hal stand auf, steif vom langen Sitzen.

»Würdet ihr euch ergeben, wenn man euch verschont?«, fragte er.

Shaws schwieg, er wechselte Blicke mit seinen Leuten, auch mit dem wimmernden Frixco. Schließlich nickte er.

»Dann entriegelt die Tür«, befahl Hal.

Jamie Douglas war überrascht, als innen Möbel gerückt wurden. Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Verteidiger sich als so mutig erweisen würden. Trotzdem, dachte er grimmig, besser so, denn ich muss diese Burg einnehmen, und möglichst schnell.

»Los, Jungs!«, rief er, und die schwarz gekleideten Männer auf der Hintertreppe ergriffen ihre Waffen und ballten die narbigen Fäuste.

Der Hundejunge, der immer noch die Frau bewachte, die zusammengesunken neben ihm hockte – mein Gott, sie war ja fast noch ein Mädchen, stellte er jetzt im fahlen Morgenlicht fest –, sah sie zittern und legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. Sie hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan und ängstlich ihr Kind an sich gedrückt. Der Zwischenfall mit ihrem Vater war dem Hundejungen unangenehm, aber er wollte ihr klarmachen, dass es noch andere Menschen gab, die sich um sie kümmern würden.

»Du stehst unter dem besonderen Schutz des Schwarzen, du und das Kind«, sagte er erneut, worauf sie ein mühsames Lächeln zustande brachte.

Oben wurde knarrend die Tür geöffnet, und alles wartete gespannt auf den todesmutigen Angriff der letzten Verzweifelten. Stattdessen trat ein Mann heraus, in einfachen Wollstoff gekleidet, das eisengraue Haar und der Bart zerzaust und verfilzt. Alles starrte ihn an, keiner kannte ihn.

»Jamie, mein Junge«, sagte der Mann leise, »sie wollen sich ergeben, wenn du sie verschonst. Es wäre klug, darüber nachzudenken.«

Sim erkannte die Stimme, sobald er sie hörte. Er sah nach oben.

»Sir Hal!«, rief er, und Jamie Douglas sprang auf, als hätte ihn etwas gestochen. Doch schnell erholte er sich von seinem Schock und schüttelte ungläubig den Kopf. Da stand plötzlich ein Held vor ihm, dessen Gefangenschaft in Roxburgh er völlig vergessen hatte, wie er sich zu seiner Schande eingestehen musste.

»Sir Hal von Herdmanston. Hier hat man Euch also gefangen gehalten! Eigentlich hätten wir euch befreien sollen«, rief er laut, denn er wusste, dass solche Worte ihre Wirkung nicht verfehlten. »Aber wir kommen offensichtlich zu spät – Ihr habt die Burg schon selbst eingenommen.«

Isabel

Die Nonnen sind da, die eine, die Schwester Constance heißt, und die andere, Alise. Welche Nonne heißt schon Alise? So heißt doch nur eine, die sich für etwas Besseres hält, für mächtiger als der Allmächtige. Die kleine Constance ist auf ihre Art ganz nett, aber sie glaubt alles, was man ihr über die »Hure von Babylon« erzählt, die hier in Berwick im Käfig an der Burgmauer hängt, bis sie auf ihren reservierten Platz am Höllenfeuer abberufen wird. Das Kloster, aus dem sie kommen, ist dasselbe, in dem ich vor vielen Jahren von Malenfaunt als Geisel festgehalten wurde, aber von seinen Schäfchen damals ist kein einziges mehr da. Ich würde zu gern wissen, was aus der kleinen Laienschwester Clothilde geworden ist. Zusammen mit allen anderen ist sie, wie Constance mir reichlich selbstgefällig mitteilt, durch anständige, christliche Frauen ersetzt worden. Nun ja, bis auf Alise, die Satans Unterteufeln eine ergebene Helferin ist. Durch die Frau ist die Erbsünde in die Welt gekommen, wie sie mir immer wieder gern in Erinnerung ruft, und damit alles Übel, alles Leid und alle Unreinheit– mit diesem verschlagenen kleinen Grinsen, das andeuten soll, dass sie sich selbst offensichtich nicht zu den Töchtern Evas zählt. Wer ist denn frei von Sünde? Selbst ein Ordensritter müsste wohl in der Wüste leben, wenn er alle Gebote Gottes halten wollte. Das habe ich einmal zu ihr gesagt, und ihr kleiner Mund zog sich zu einem hässlichen Katzenarsch zusammen, weil jemand so mit ihr zu sprechen wagte, aber sie konnte nichts machen. Doch hinterher schien es eine Zeit lang, als ob die Menschenmenge, die in den Außenhof gelassen wurde, um mich zu begaffen, noch größer wurde, ja, sie wurde sogar ermutigt, mich anzupöbeln. Doch ausgerechnet Malise sorgte dafür, dass das wieder aufhörte, denn er hat es nicht gern, wenn seine Befehlsgewalt über mich angefochten wird. Schwester Alise hasst es, wenn sie an der Reihe ist, auf einem Strohsack vor meiner Tür zu schlafen, damit nichts Unrechtes passiert und niemand die Gelegenheit nutzt– ausgenommen natürlich Malise Bellejambe selbst. Was weiß sie schon über mich, diese Alise? Was weiß überhaupt jemand von denen, die da unten über mich geifern und feixen, als sei ich ein wildes Tier? Ich bin Isabel MacDuff, und ich werde geliebt. Hal lebt– ich wüsste es, wenn es nicht so wäre– und er wird kommen. Miserere nostri. Dies irae, dies illa, solvet saeclum in favilla. Erbarme dich unser. Tag der Rache, Tag der Zähren, wird die Welt in Asche kehren.

Amen.

KAPITEL 2

Die Burg von Edinburgh

Tag der heiligen Fergna von Iona, März 1314

Im Nebelregen näherten sie sich dem schwarzen Felsen mit der düsteren Burg, und Hal, der so lange nicht geritten war, fühlte sich wund und erschöpft. Sie kamen an einem mächtigen Karren vorbei, der hinten beschwert war, weil man ein totes Schwein auf die Deichsel gelegt hatte, und die Schlachter in ihren blutigen Schürzen blieben stehen und riefen Jamie beim Vorbeireiten einen fröhlichen Gruß zu.

»Der gute Sir James«, sagte Sim und lenkte sein Pferd neben Hal, damit sie sich leise unterhalten konnten. »Der Schwarze Lord von Douglas, der Liebling des Volkes. Ein furchtloser, unbeugsamer Held.«

Hal wechselte einen Blick mit Sim, sah den Spott in seinen Augen und antwortete mit einem flüchtigen Lächeln. Wieder fiel ihm auf, wie weiß Sim Craw geworden war. Zwar hatte er sich inzwischen daran gewöhnt, aber zunächst war es ein Schock gewesen, wie viel Schnee sein alter Gefährte jetzt auf dem Dach hatte. Doch erst als der Hundejunge anregte, dass sie sich für die Ankunft des Earls von Carrick lieber ordentlich herrichten sollten, war ihm aufgefallen, wie er selbst auch in die Jahre gekommen war, er sah es an jeder grauen Locke, die Aggie ihm abschnitt. Und schließlich war Sim nur sieben oder acht Jahre älter als er.

Da es niemanden kümmerte, wie ein Gefangener aussah, egal ob von edlem Geblüt oder nicht, wusste Hal bald selbst nicht mehr, wie er aussah, erst als er vor der welligen Oberfläche eines schlechten Spiegels saß und darin einen Mann mit einem Gewirr grauer Haare erblickte, das in einen wilden, buschigen Bart überging, in dem sein Gesicht fast völlig verschwand.

Als Hal sich erblickte, wurde ihm fast schwindelig, denn es kam ihm vor, als sehe ein Fremder ihn an, als habe ein anderer seinen Körper bezogen wie ein leeres Haus. Als der Bart ab war, war ihm allerdings der hagere Mann mit dem kantigen Kinn, der darunter zum Vorschein kam, ebenso fremd.

Aggie, die ihr Kind in einem Tragetuch auf dem Rücken trug, hatte schließlich erklärt, sie habe getan, was sie könne, und der Hundejunge hatte kritisch genickt und angemerkt, dass das Ergebnis ganz passabel sei. Hal, der den schlaksigen Jungen, der sich nur für Hunde interessierte, sieben Jahre lang nicht gesehen hatte, konnte über diesen neuen Hundejungen nur staunen. Er war ein athletischer und geschickter Krieger geworden, das Ebenbild des Schwarzen selbst. Er nannte sich jetzt auch Aleysandir, ein respektabler Mann mit einem Namen und genügend Witz und Verstand, um zu wissen, wie ein kleiner Lord von Lothian sich einem Earl zu präsentieren hatte. Doch für die, die ihn von früher her kannten, war er immer noch der Hundejunge.

Hal hatte in seinem Gefängnis ab und zu Neuigkeiten aus der Welt draußen erfahren und wusste, dass ihm vieles entgangen war, aber die Ankunft des Earls von Carrick hatte ihn doch verwirrt. Er hatte Bruce erwartet, aber stattdessen kam dessen Bruder, und Hal schalt sich selbst einen Dummkopf.

War er nicht selbst dabei gewesen, als der Earl von Carrick König wurde? Jetzt war dessen Bruder Edward der Earl von Carrick – der letzte der Brüder. Die Erinnerung an all die anderen tapferen Männer, die für Robert Bruce’ Weg auf den Thron geopfert worden waren, war ein Wermutstropfen bei der Feier, die für Edward Bruce anlässlich seiner Ankunft in Roxburgh abgehalten worden war, am Tag nach Hals Befreiung.

Er und Hal hatten sich getroffen, nachdem der offizielle Teil vorüber war: die Begrüßung und die eindrucksvollen Reden, die offizielle Unterwerfung und die gegenseitigen Versprechungen … Sir William Fiennes, dessen Leben immer noch am seidenen Faden hing, war in einer Sänfte fortgetragen, und Frixco, der kaltschnäuzige kleine Dummkopf, war hinterhergerannt, als sei der sterbende Bruder eine Garantie für seine eigene Sicherheit. Der Hundejunge hatte gesehen, wie Aggie verächtlich hinter ihm ausspuckte. Sie war offenbar hocherfreut und konnte es kaum glauben, dass sie jetzt gehen konnte, wohin sie wollte, dazu mit genug Geld, um mit dem Kind eine Zeit lang davon leben zu können.

Edward hatte gegrinst, sein Gesicht hochrot und noch feister als früher, wenn auch die tiefen Falten um Augen und Mund die Sorgen verrieten, die er in den sieben Jahren ertragen musste, seit Hal ihn zuletzt gesehen hatte.

»Ja, die Zeiten haben sich geändert, und zwar zum Besseren«, hatte er gebrummt, als er Hal einen Hornbecher mit Wein reichte. »Bis zum Sommer will der König Edinburgh, Stirling und Roxburgh in seiner Gewalt haben. Das ist ziemlich ehrgeizig – aber bei Gott, der Schwarze hat einen guten Anfang gemacht.«

»War auch klug, dass er mit Roxburgh angefangen hat«, erwiderte Hal, »sonst säße ich dort immer noch fest.«

»Da habt Ihr recht«, pflichtete Edward bei. Er war zum Eingang des Zelts gegangen, blickte hinaus und schüttelte traurig den Kopf.

»Schade«, sagte er dann auf Französisch, »Roxburgh ist so eine schöne Burg, es ist eine Schande, dass wir sie schleifen müssen.«

Hal wusste den Grund: Sie hatten nicht genug Soldaten, um sie gegen die Engländer zu verteidigen, falls sie zurückkommen sollten, und zusammen mit Edinburgh und Stirling stellte Roxburgh einen wichtigen Stützpunkt für die Engländer im schottischen Königreich dar. Nun, aber es gab ja noch andere Burgen in Schottland.

»Doch selbst wenn sie alle fallen sollten, die Engländer haben immer noch Berwick und Bothwell«, hatte er bemerkt, und Edward hatte genickt.

»Richtig, und Dunbar nicht zu vergessen. Aber keine ist in so gutem Zustand wie die Festungen von Stirling, Edinburgh und diese hier. Und wenn wir sie einnehmen, vertreiben wir damit die letzten englischen Garnisonen aus dem Königreich, und das führt den Feinden des englischen Edward noch einmal deutlich vor Augen, dass er nur der schwache Sohn ist. Eben kein Longshanks, auch wenn seine Beine noch so lang sind.«

Er schwieg und schwenkte stirnrunzelnd seinen Weinbecher, als sei eine Fliege hineingefallen.

»Ich weiß, warum Ihr Berwick erwähnt«, hatte er plötzlich gesagt, und Hal war zusammengezuckt, weil er dabei lachte. Einen Augenblick starrten sie einander an.

»Sie ist noch dort?«

Die Antwort ließ lange auf sich warten. Doch schließlich sah Edward ihn an.

»Isabel MacDuff ist noch immer dort. In einem Käfig an der Innenmauer. Vor zwei Jahren versuchten wir auf Befehl des Königs einen Überfall auf die Burg von Berwick. Wir konnten auch eine von Sim Craws raffinierten Leitern anbringen, aber wir weckten den Hund auf, der dort oben schlief. Der machte einen solchen Radau, dass die Wachen kamen und uns entdeckten.«

Er schüttelte den Kopf, als er daran dachte, wie sie Hals über Kopf geflohen waren.

»Wegen einem Hund habt Ihr sie im Stich gelassen«, sagte Hal. Es war keine Frage. Er klang so fassungslos, dass Edward den Kopf hob. Seine Augen blitzten.

»Meine Schwester Mary war in einem ganz ähnlichen Käfig … mein Gott, wenn Ihr hinaufgeschaut hättet, hättet Ihr sie an der Burgmauer von Roxburgh gesehen. Christina, meine andere Schwester, wird in einem Kloster festgehalten, meine Nichte in wieder einem anderen, und wo die Königin ist, weiß kein Mensch. Denkt Ihr wirklich, das alles ist uns gleichgültig, Lord Henry?«

Hal merkte, dass er zu weit gegangen war, dass er Edward unrecht tat, und so nickte er nur widerwillig.

»Im ersten Jahr wurde ich unter schwersten Bedingungen gefangen gehalten und überwiegend im Dunkeln«, sagte er, und auch wenn seine Stimme unbeteiligt klang, seine Augen trübten sich bei der Erinnerung an diese Zeit. »Sie erwarteten stündlich eine Nachricht vom englischen Edward«, fuhr er fort, und es kam ihm vor, als spräche da ein anderer, der sich bemühte, möglichst nüchtern zu klingen. »Aber der lag im Sterben, und der Sohn war viel zu sehr mit seinem Lustknaben und den empörten Baronen beschäftigt. Schließlich ließen sie mich aus der Zelle und behandelten mich etwas besser … aber da war Prinzessin Mary schon weg.«

Edward Bruce schien versöhnt, er trank seinen Wein aus und schenkte nach.

»Ja. Da war sie schon in Sicherheit. Also wisst Ihr auch, dass der Überfall auf Roxburgh jetzt nicht ihretwegen geschah«, brummte er.

Und noch weniger meinetwegen, dachte Hal grimmig, auch wenn Jamie Douglas jetzt so tat, als sei dies der eigentliche Grund gewesen. Als er das erwähnt hatte, hatte Edward nur kurz genickt.

»Und dasselbe gilt für Berwick«, hatte er hinzugefügt. »Wenn wir die Burg stürmen, dann nicht wegen Isabel MacDuff, sondern um sie den Engländern abzunehmen.«

Dann hatte er sich in einen kurulischen Stuhl geworfen und ein Bein über die Lehne geschwungen.

»Und doch kümmern wir uns um unsere Frauen, Lord Hal. Aber darüber würde ich mit dem König nicht so offen sprechen. Er ist nicht mehr derselbe seit damals, als die Königswürde noch ungewohnt für ihn war.«

Er starrte in seinen Weinbecher, als habe er nur zu sich selbst gesprochen.

»Jetzt geht es ihm darum, seine Position zu festigen«, fuhr er schließlich fort, »damit jeder weiß, dass er der König ist. Das ist ihm im Moment das Wichtigste, und da ist es besser, man ist vorsichtig.«

»Ich habe die Erklärung der Geistlichen gelesen«, hatte Hal bemerkt, worauf Edward ihn erstaunt angesehen hatte.

»Die habt Ihr gelesen? Dann lag denen Euer Wohlergehen offensichtlich sehr am Herzen, wenn sie Euch im Gefängnis ein Exemplar davon gegeben haben. Dann haben wir Sir William das Auge wohl zu Unrecht ausgestochen. Was haltet Ihr von dem Dokument?«

Hal erinnerte sich, welche Fragen ihm dabei gekommen waren. Aggie, das Mädchen, das ihm sein Essen brachte, hatte das Dokument von der Kirchentür abgerissen, das man landauf, landab an alle Kirchenportale genagelt hatte. Sie wollte wissen, was darauf stand, konnte aber nicht lesen. Und sie wagte nicht, jemanden von Roxburgh zu fragen, der lesen konnte.

Das Mädchen hatte ihm eine brennende Kerze ins Zimmer gestellt, und das Licht trieb ihm Tränen in die Augen. Es waren Tränen der Freude, denn zum ersten Mal seit – wie langer Zeit? – konnte er wieder etwas sehen. Aber es brauchte eine Weile, bis sich seine Augen an das grelle Talglicht gewöhnt hatten. Dann stieg ihm der Geruch nach Pergament in die Nase, der beißende Geruch der Eichengallustinte – es war wie ein frischer Luftzug von draußen. Schließlich las er die Erklärung der Geistlichen. Darin verkündigten sie in großen Worten, dass Robert Bruce nun der rechtmäßige König sei, dessen Krönung mit Gottes Segen stattgefunden habe. Dass Mord, Niedertracht und Verrat nötig waren, um auf den Thron zu gelangen – davon stand in der Erklärung natürlich nichts.

»Schall und Rauch«, hatte Hal schließlich zu Edward gesagt. »Aber bei Gott, die Pfaffen wollen uns anscheinend glauben machen, dass Bruce ein neuer Josua ist und weiß und rein wie ein Unschuldslamm.«

Edward hatte schallend gelacht und dabei Wein über seine Hand geschüttet, den er ableckte. Hal merkte, dass der Earl von Carrick ziemlich betrunken war, was keine Seltenheit bei ihm war.

»Ach, bei Christi Wunden, wir haben Euch vermisst, Lord Hal. Aber es war vielleicht Euer Glück, dass Ihr sicher hinter Schloss und Riegel wart, denn jetzt darf man seine Meinung nicht mehr so frei äußern, so viel steht fest. Ihr solltet Eure Ansichten über das Schriftstück der Bischöfe jedenfalls lieber nicht meinem Bruder unterbreiten. Falls Ihr ihn jemals zu Gesicht bekommen solltet.«

Er schwieg, seine Miene hatte sich verdüstert. Dann sah er Hal an.

»Aber Ihr standet ihm ziemlich nahe, das weiß ich. Ihr und Kirkpatrick. Wie zwei kluge Hirtenhunde habt ihr ihm gedient.«

Aus seinen Worten klangen Neid und eine langjährige Bitterkeit, und Hal hielt es für das Beste, nichts darauf zu erwidern.

»Wie geht es Kirkpatrick?«, hatte er gefragt, plötzlich schämte er sich, die Frage hatte ihm längst auf der Zunge gebrannt.

»Er ist alt geworden«, hatte Edward nur erwidert, um sogleich wieder das Thema zu wechseln. »Macht Euch besser keine große Hoffnung, dass Ihr in nächster Zeit zum König vorgelassen werdet«, fuhr er fort. »Und wenn, glaubt nicht, dass Ihr Euch einfach zu ihm begeben könnt. O nein. Jetzt gilt es, ein genaues Ritual einzuhalten: Man geht ein paar Schritte, dann bleibt man stehen. Kniet nieder. Auf keinen Fall sieht man ihn an. Und man spricht nicht, ohne dazu aufgefordert zu werden.«

Dieses Königreich ist nicht groß genug für die zwei, hatte Hal gedacht, als er den Hass und die Bitterkeit in der Stimme hörte. Doch Edward hatte sich wieder beruhigt, er hatte seinen Wein ausgetrunken und war aufgestanden.

»Nun, dann gute Reise. Ich werde jetzt gehen und Roxburgh dem Erdboden gleichmachen. Ein Jammer – so eine schöne Burg.«

Schöner als die hier auf jeden Fall, dachte Hal jetzt, als er zum Felsen hochsah, auf dem die Festung von Edinburgh thronte, während sie sich einen Weg durch die Belagerungslinien bahnten.

Sie ritten durch das Zeltlager. Hier hockte ein schwarz gekleideter Benediktiner am Boden wie ein Hund und nahm jemandem die Beichte ab, dort machten laut lachende Frauen mit wiegenden Hüften den gerade angekommenen Helden aus Roxburgh anzügliche Angebote. Irgendwo im Dunkel bumste ein Paar lautstark, und überall waren die Hunde des Lagers auf der Suche nach etwas Essbarem.

Die Luft war schwül. Hal roch den alten Schweiß von Tausenden ungewaschener Körper, gleichzeitig nahm er aber auch die Düfte der Kochtöpfe und das Schmiedefeuer wahr, als sie sich durch das Chaos im Lager hindurchkämpften. Er fühlte sich bedrängt und eingeengt, und es kam ihm vor, als bewege er sich wie im Traum, viel zu langsam und irgendwie losgelöst von allem.

Es war alles zu viel und kam zu schnell nach sieben Jahren Einsamkeit im Gefängnis, dachte er, aber es brachte auch viele alte Erinnerungen zurück.

Wie ein endloser Wandteppich zog es an ihm vorüber: ein zerlumpter Priester, der Psalmen sang; Knappen, die ein Fass mit Sand vor sich herrollten, um das Kettenhemd darin vom Rost zu befreien; ein hochnäsiger Kerl in einer Tunika aus grauem Wollstoff, auf der Hand den Falken seines Herrn; zwei Männer, von Kopf bis Fuß gepanzert, aber ohne Helm, die sich mit Stangen im Turnierkampf übten und jetzt unterbrachen, um grüßend die Hand zu heben, als Jamie vorbeikam. Unter den Hauben aus Panzerketten waren nur ihre Augen zu erkennen.

Hinter ihnen, unter den hohen Burgmauern, war eine lange Reihe von Sturmwänden aufgebaut, Schutz für die Armbrust- und Bogenschützen. Dahinter, dort, wo sich der wuchtige Fels von Edinburgh erhob, taten hungrige Krähen sich an den verwesenden Leichen gütlich, die in Reichweite der feindlichen Geschosse lagen und daher nicht geborgen und begraben werden konnten.

Die Leute marschierten in Blocks und exerzierten unter den gebrüllten Befehlen ihrer Anführer. Hal sah, dass einige von ihnen nur lange Stangen hatten, wie Speerschäfte ohne Spitze, und dass viel zu viele von ihnen keine Rüstung trugen, sie hatten nicht einmal einen Eisenhelm.

»Stoßen – stoßen! Jetzt vorwärts!«

Die schwitzenden Männer drängten sich im Block zusammen und wussten kaum, wo rechts oder links war, die Hälfte von ihnen konnte die Sprache der anderen Hälfte nicht verstehen, und sie waren sich bisher auch nie begegnet. Es war ein einziges stolperndes, taumelndes und fluchendes Durcheinander.

Diejenigen, die früher schon einmal dabei gewesen waren, die besser bewaffneten Bürger und die Adligen in ihren Rüstungen, hatten keine Mühe mit den Übungen. Trotzdem machte sich keiner über den anderen lustig. Wenn es hart auf hart kam, würden sie alle aufeinander angewiesen sein.

Hal schritt durch diese halb vergessene Welt aus Lärm und Gestank und Tod, die durch die leuchtenden Farben der Banner, Zelte und Wappenröcke nur noch grotesker wirkte.

Die auffälligste Fahne von allen war die des Earls von Moray, groß wie ein Bettlaken flatterte sie in der feuchten, übel riechenden Brise. Sie trug nicht das Wappen, an das Hal sich erinnerte, aber dann erkannte er es: Es war tatsächlich Randolphs Wappen, das jetzt aber von den königlichen Insignien Schottlands in Rot und Gold eingerahmt war.

Er sah, wie Jamie Douglas mit finsterer Miene an seinem Zügel riss. Man sah, dass es ihn Überwindung kostete, aber schließlich befahl er, sein eigenes Banner zu senken. Sim Craw, der dicht neben Hal ritt, unterdrückte hustend ein leises Lachen und berührte Hals Arm, als der Eingang des protzigen gelben Zeltes sich öffnete und Randolph selbst erschien.

»Die Farbe an seinem neuen Wappen als Earl ist noch nicht mal ganz trocken«, flüsterte Sim heiser. »Jamie widerstrebt es, Randolph als Earl von Moray anzuerkennen, vor dem er selbst nur ein Lord Douglas ist. Er nimmt ihm auch die königlichen Insignien auf dem Wappen übel, die bedeuten sollen, dass Randolph sich als Blutsverwandter des Königs betrachtet.«

ENDE DER LESEPROBE