Tiffany Exklusiv Band 79 - Carrie Alexander - E-Book

Tiffany Exklusiv Band 79 E-Book

CARRIE ALEXANDER

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Beschreibung

SIE WILL MICH - SIE WILL SEX! von CARRIE ALEXANDER Karina fehlt nur eins: Sex! Aber sie weiß genau, mit wem sie ihre sinnlichen Träume ausleben möchte - mit Alex Anderson, dem attraktiven Anwalt von gegenüber! Als sie ihn an seinem Fenster stehen sieht, beginnt sie sich von Kopf bis Fuß zu streicheln. Ein gewagtes Spiel beginnt … HAST DU LUST HEUTE NACHT? von RHONDA NELSON Der attraktive Mann tritt aus der Dusche - und Zora will im Boden versinken! Sie hatte ihren Freund im Bad vermutet. Doch stattdessen hat sie dem bekannten Autor Tate Hatcher ihre erotischen Sehnsüchte eingestanden! Und sein Blick verrät, dass er sie ihr nur zu gerne erfüllen würde … SEXY UND VERWEGEN von LAUREY BRIGHT Ein Mann wie der Tiefseetaucher Rogan verspricht Aufregung und Abenteuer. Doch Camille braucht Sicherheit und ein geregeltes Leben - so wie es ihr der Geschäftsmann James bietet. Nur wieso träumt sie dann ständig von einem heißblütigen Piraten, der sie entführt auf eine sinnliche Schatzsuche?

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Seitenzahl: 660

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Carrie Alexander, Rhonda Nelson, Laurey Bright

TIFFANY EXKLUSIV BAND 79

IMPRESSUM

TIFFANY EXKLUSIV erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

Neuauflage in der Reihe TIFFANY EXKLUSIVBand 79 - 2020 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

© 2004 by Carrie Antilla Originaltitel: „Unwrapped“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Christian Trautmann Deutsche Erstausgabe 2005 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe TIFFANY, Band 1180

© 2005 by Rhonda Nelson Originaltitel: „Getting It!“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Christian Trautmann Deutsche Erstausgabe 2005 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe TIFFANY, Band 1166

© 2003 by Daphne Clair De Jong Originaltitel: „Dangerous Waters“ erschienen bei: Silhouette Books, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Emma Luxx Deutsche Erstausgabe 2004 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe TIFFANY DUO, Band 172

Abbildungen: LightFieldStudios / Getty Images, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 03/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733726942

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL

Sie will mich - sie will Sex!

1. KAPITEL

„Was ist dein Lieblingsdip?“, wollte Debby Caruso wissen, deren braune Locken hüpften, als sie mit einem Tablett dreifach glasierter Erdbeeren aus der Küche von Sutter Chocolat kam. Jede der großen Erdbeeren war mit mehreren Schichten heller und dunkler Schokolade umhüllt. „Ich kann mich nicht recht entscheiden zwischen den Erdbeeren und den Kirschen. Vorher mochte ich die Aprikosen am liebsten.“

Karina Sutter öffnete die Vitrine und musste über den verräterischen Saft lächeln, der auf Debbys Kinn getropft war. Die Zuckerbäckerin naschte gern. „Und was ist mit Banane?“

„Zu matschig. Ich mag das Spritzen des Saftes in meinem Mund.“ Debby schob das Tablett hinein und stemmte die Hände in die ausladenden Hüften. Mit der Zunge wischte sie die Tropfen weg. „Tja, man sollte glatt meinen, ich müsste mehr Dates haben, oder?“

„Allerdings.“ Karina strich die dekorative Papierspitzenborte am Tablett gerade und ordnete die hintere Reihe neu, um die durch die fehlende Erdbeere entstandene Lücke zu schließen.

Debby beobachtete sie amüsiert, bevor sie die Vitrine, in denen die dekadenten Früchten in ihren Goldpapierkörbchen lagen, schloss. „Bist du nicht einmal versucht, eine zu probieren? Ich werde dich nie verstehen.“

„Vielleicht esse ich eine zum Nachtisch nach dem Mittagessen.“

„Ich auch, falls dann noch welche übrig sind“, sagte Debby. Die dreifach glasierten Erdbeeren verkauften sich sehr schnell. „Das ist der Unterschied zwischen uns. Ich bin jemand, der Nachschlag nimmt, und du – du bist diszipliniert.“ Sie verzog angewidert das Gesicht, doch ihr breites Grinsen, das sie nie lange unterdrücken konnte, verriet sie. „Dir ist hoffentlich klar, dass deine Vollkommenheit für uns anderen sehr ärgerlich ist.“

Karina hörte nur halb zu, da sie nach draußen sah, wobei sie mit ihrer Halskette spielte. „Ich werde mir Mühe geben, ein bisschen lasterhafter zu sein.“

Debby folgte dem Blick ihrer Arbeitgeberin zu den oberen Stockwerken des Gebäudes auf der anderen Straßenseite. „Ach ja? Ist er zu Hause? Ist heute der Tag?“

Karina wich zurück. „Vielleicht nicht gerade heute …“

Sie drehte sich lächelnd zu einer Kundin um, die eine der marmorierten Schokoladenmuscheln betrachtete, und bot ihr eine Kostprobe an. Es wurden viele Kostproben angeboten. Ein Bissen aus dem reichhaltigen Angebot edelster Schokoladen und gemischter Süßigkeiten, und die meisten Leute waren verloren. Karina war vorgeworfen worden, persönlich für eine massenhafte Gewichtszunahme in der Nachbarschaft verantwortlich zu sein. Allerdings machte das verbesserte Sexleben der Kunden die Kalorien mehr als wett.

„Wieso nicht heute?“, fragte Debby. „Es geht jetzt schon drei Wochen so.“

„Ich will nicht überstürzt eine Situation herbeiführen, die ich nachher bereuen werde.“

„Was soll es da zu bereuen geben?“ Debby legte Karina die Hand auf den Arm und zog sie zum Fenster, fort von der Registrierkasse und den Angestellten, die damit beschäftigt waren, die Wünsche der Laufkundschaft zu befriedigen. Der Kälteeinbruch hatte das Geschäft nicht verlangsamt. Nichts lief so gut an einem frostigen Tag im Dezember wie Schokolade, die den sexuellen Appetit anregte.

„Du fütterst ihn mit der Schokolade“, fuhr Debby fort, „tauchst vor seiner Tür auf, nackt unter einem Trenchcoat, und hast ein ganzes Wochenende fantastischen Sex.“

„Pst.“ Karina sah zu den Kunden, obwohl es unwahrscheinlich war, dass einer von ihnen von der aufregenden Unterhaltung geschockt sein würde. Wahrscheinlich hatten die meisten ohnehin Sex im Kopf, gleich nach ihrem Appetit auf Schokolade.

Debby senkte die Stimme. „Wir sprechen hier nicht von einer Beziehung. Du willst ihn doch nur für eine Affäre, oder? Eine heiße Affäre, an die du dich später gern zurückerinnerst, wenn du eine kleine alte Dame bist, die mit einem kleinen alten Mann verheiratet ist, der es im Bett nicht mehr bringt?“

Genau das hatte sie sich auch gesagt, nachdem sie den geheimnisvollen Mann zum ersten Mal gesehen hatte, auch wenn sie es nicht in so anschauliche Worte fassen konnte wie Debby.

Ihr ganzes Leben lang hatte Karina sich an die Regeln gehalten, abgesehen von einer großen Ausnahme, als sie ihr Studium abgebrochen und damit auf die Chance verzichtet hatte, an einem prestigeträchtigen kleinen College zu unterrichten. Stattdessen hatte sie einen Laden für edle Schokolade aufgemacht. Ihre Eltern waren sehr skeptisch gewesen, besonders da sie das seit Generationen überlieferte Familienrezept benutzen wollte. Aber nachdem sich die erstaunlichen Nebenwirkungen der Schokolade herumgesprochen hatten, war der Laden ein Erfolg geworden. Es dauerte nicht lange, bis Karina mit der Nachfrage nicht mehr mithalten konnte.

Sie widmete sich ganz dem Laden und der Einrichtung ihres darüber gelegenen, über zwei Etagen reichenden Apartments, seit ihr das Gebäude gehörte. Doch sie achtete auch darauf, sich Zeit für ein angemessenes gesellschaftliches Leben zu nehmen. Sie nutzte das kulturelle Angebot New Yorks, hielt Kontakt zu Familie und Freunden, wie man es von ihr erwartete, und war mit einer Reihe vornehmer, rechtschaffener junger Männer ausgegangen. Irgendwann würde sie einen davon heiraten, besonders da sie nun auf die dreißig zuging, was das ideale Alter für die Gründung einer Familie war.

Oft und besonders in den letzten Wochen hatte sie sich allerdings gewünscht, so spontan und natürlich sein zu können wie Debby – und wie viele ihrer Kundinnen dank der sexuell stimulierenden Kakaobohnen, die sie bei ihren Pralinen und Schokoladen verarbeitete. Doch bezweifelte sie, dass es möglich war, ihren Charakter zu ändern.

Auch nicht mit Hilfe der Schokolade und obwohl sie vor Verlangen nach dem Mann, der vor kurzem in das gegenüberliegende Gebäude eingezogen war, fast verrückt wurde.

Debby, Karinas engste Vertraute, drängte sie, wenigstens einmal das geheime Familienrezept der Sutters zu ihrem persönlichen Vorteil zu nutzen.

Doch sie sträubte sich. Es kam ihr zu billig vor, das Interesse eines Mannes künstlich zu wecken. Das war fast wie ein Schwindel. Andererseits, wie viele so gute Möglichkeiten würden sich ergeben? Sie konnte die Schokolade bei keinem ihrer männlichen Bekannten und potenziellen Heiratskandidaten, einsetzen. Das würde zu übereilten Romanzen führen, aus denen sie nur schwer wieder herauskäme. Sie wollte keine Komplikationen. Sie wollte nur heißen Sex.

Nur dieses eine Mal. Normalerweise war sie sehr beherrscht, aber sie konnte auch spontan sein – nach einigem Nachdenken und Planen selbstverständlich.

Karina sah hinaus auf die Straße vor ihrem Schaufenster. Der geheimnisvolle Mann müsste jeden Moment vorbeikommen. Er folgte keinem festen Zeitplan, aber nachdem sie ihn drei Wochen lang beobachtet hatte, kannte sie seine Neigungen. Irgendwann am Tag machte er einen Spaziergang, von dem er oft eine Zeitung mitbrachte, Kaffee oder Essen zum Mitnehmen. Selten blieb er länger als eine Stunde fort, und er kehrte stets allein zurück.

Karina schaute auf ihre Uhr. Zweiundfünfzig Minuten, seit er aus seiner Haustür getreten war.

„Das ist zu kompliziert“, sagte sie zu Debby. „Wo er doch so nah wohnt. Was, wenn der Plan schief geht? Dann müsste ich ihn weiter jeden Tag sehen.“

„Doch nur durchs Fenster“, erwiderte Debby. „Schließlich kommt er nie in den Laden.“

Das machte Karina zu schaffen. Welcher Mann konnte denn an einem Schokoladengeschäft voller Frauen vorbeigehen, ohne wenigstens einmal zu zögern?

„Wir wissen nicht, ob es überhaupt funktionieren würde“, sagte sie. „Er scheint kein Interesse an meiner Schokolade zu haben.“

Oder an mir, fügte sie in Gedanken hinzu. So demütigend die Erinnerung auch war – vor einer Woche hatte sie den dritten Knopf ihrer Bluse aufgemacht und sich während seines Spaziergangs provozierend ins Schaufenster gestellt, um die Auslage neu zu arrangieren. Der Blick des geheimnisvollen Mannes war glatt über sie hinweggegangen.

„Es stimmt, Männer scheinen für das Geheimrezept nicht so empfänglich zu sein. Glücklicherweise habe ich eine Ladung doppelt starker Black-Magic-Trüffeln, die in der Küche abkühlen. Ich werde dir eine Geschenkschachtel fertig machen. Er wird gar nicht wissen, wie ihm geschieht, aber er wird dir ewig dankbar sein.“

Karina sah zu ihren begeisterten Kunden, die mit leuchtenden Augen und geröteten Wangen einkauften. Diejenigen, die neu im Laden waren, wirkten ein wenig erschrocken von der nervösen Spannung, die in der Luft lag. „Was ist, wenn es andersherum läuft und er süchtig wird?“

„Hm.“ Debby verzog den Mund. „Was dann? Dann hast du einen tollen Kerl, der dich Tag und Nacht will. Ich sehe da kein Problem.“

„Du weißt genau, dass ich keine Liebe will, die durch einen Schokoladentrick zu Stande gekommen ist. Außerdem hat die Sache ohnehin keine Zukunft. Er ist ein Einzelgänger und arbeitslos.“

„Das weißt du doch gar nicht genau.“

„Ich habe ihn noch nie mit jemand anderem zusammen gesehen. Er scheint nicht mal einen Anzug zu besitzen oder an einem Job interessiert zu sein. Die meiste Zeit ist er tagsüber zu Hause.“ Und nachts auch, aber das würde sie Debby nicht verraten.

„Vielleicht arbeitet er zu Hause am Computer oder so.“

„Vielleicht …“ Nur konnte Karina von ihrer Wohnung aus in sein Apartment schauen, und sie hatte ihn nie viel Zeit am Computer verbringen sehen. Allerdings hatte er sehr oft die Rollos heruntergezogen, selbst am Tag.

„Das spielt auch keine Rolle. Wenn du genug von diesem Weihnachtsgeschenk hast, schneidest du ihn einfach von seiner Schokoladenzufuhr ab und bist ihn los.“

Karina schüttelte den Kopf. „Das ist viel zu berechnend.“ Außerdem war die Schokolade nur ein Stimulans. Sie konnte die Libido nicht steuern.

„Aber genau darum geht es doch! Ich kann mir nicht vorstellen, dass er damit irgendwelche Probleme hat. Selbst ein griesgrämiger Liebhaber wird zu einer attraktiven Blonden, die ihn als Lover will, nicht Nein sagen.“

„Vermutlich.“ Karina strich sich unnötigerweise das Haar glatt, das sie bei der Arbeit zu einem straffen Knoten band oder hochsteckte. „Ich werde darüber nachdenken.“

Debby verdrehte die Augen. „Ja, klar. Ich weiß, dass du dich wieder drücken wirst.“

„Ich werde mich nicht drücken. Ich bin …“ Karina hob das Kinn und versuchte ernst zu bleiben. „Ich bin nur vorsichtig.“

„Pass lieber auf, dass du es nicht so lange hinauszögerst, bis ihn dir eine von deinen Kundinnen eines Nachmittags auf einem Zuckerhoch wegschnappt.“

Karina beobachtete ein Trio Frauen, das hereingeeilt kam und einen Schwall kalter Luft von draußen mitbrachte. Sie stampften mit ihren Stiefeln, zogen ihre Handschuhe aus und studierten hungrig die Vitrinen. Das begierige Funkeln in ihren Augen verriet, dass kein Mann und keine Trüffel vor ihrem Hunger sicher war.

Karina war perplex. „Das ist natürlich ein Argument.“

Debby wusste, wann sie ihre Chefin im eigenen Saft schmoren lassen musste. Sie kehrte zum eigentlichen Thema zurück – dem Früchtedippen. „Da keine Erdbeersaison ist, habe ich vor, für die Feiertage zu Birnen zu wechseln. Natürlich frische. In dunkle oder Milchschokolade getaucht mit einem Klecks Vanillesauce oben drauf. Nur wäre das nicht gut zu transportieren. Karamell vielleicht? Das könnte gehen.“

Karina ließ Debby einfach weiterreden. Sie brauchte nicht zu antworten, höchstens hin und wieder ermutigend zu murmeln. Auf Debbys Können war stets Verlass.

Sutter Chocolat war von Anfang an erfolgreich gewesen. In den letzten drei Jahren hatte sich die Nachfrage mit Hilfe von Debbys Fähigkeiten in der Küche und Karinas Management jedoch verdreifacht. Inzwischen hatten sie zwei Vollzeitkräfte als Verkäuferinnen angestellt, eine weitere Kraft, um telefonische Bestellungen entgegenzunehmen und Lieferungen und Auslieferungen zu organisieren, dazu eine Hand voll Halbtagskräfte, die je nach Bedarf kamen, und die Mitarbeiter in der Küche. Jeder Mitarbeiter war mit großer Sorgfalt ausgesucht worden, da ihnen die geheimen Zutaten anvertraut werden mussten und das Wissen um ein Rezept, das den großen Süßwarenherstellern ein Vermögen wert wäre.

Beim derzeitigen Umsatz hätte Karina leicht eine Kette eröffnen oder auf reinen Versandhandel umstellen können, doch hätte das gegen die Familientradition des Maßhaltens verstoßen. Das Geheimrezept war nicht für die Massenproduktion gedacht. Außerdem gab es auch nicht genug von den seltenen, ultrateuren Kakaobohnen, die an den schattigen Hängen eines entlegenen brasilianischen Berges wuchsen.

„Ich werde mit verschiedenen Sorten experimentieren“, plapperte Debby weiter. „Vielleicht sind Anjou-Birnen das Richtige. Ich bin nicht sicher, wie gut Birnenstücke sich halten, und zu getrockneten kann ich mich nicht durchringen …“

„Keine Sorge. Wir werden sie täglich frisch verkaufen, genau wie die Erdbeeren.“ Ein Fußgänger lenkte Karinas Aufmerksamkeit auf sich – ein dunkelhaariger Haarschopf erhob sich über die Menge. Sie beugte sich vor und stützte sich dabei auf die Vitrine. Ja, er war es.

Er lief auf der anderen Straßenseite und schien vom winterlichen Wetter nichts zu bemerken, da sein grauer Schal im Wind flatterte und sein Ledermantel trotz der eisigen Kälte offen war. Er war groß, gebräunt und trainiert – seinem Aussehen nach wäre niemand darauf gekommen, dass er sich die meiste Zeit in seinem Apartment vergrub.

Nicht zum ersten Mal fragte Karina sich, woher er wohl kam. Sie tippte auf tropisches Klima, obwohl er abgesehen von seiner Bräune, den zu langen mahagonifarbenen, leicht ausgeblichenen Haaren und den frischen Bartstoppeln nicht wie ein Strandschönling wirkte.

Ansonsten strahlte er vor allem Rastlosigkeit aus. Sein Blick wanderte umher, hellte sich selten auf, war stets wachsam. Er lächelte nie. Der ernste Mund und die hohlen Wangen ließen in faszinierender Weise auf einige Erfahrung schließen. Er war ein Stadtmensch, kein Inselbewohner.

Allein sein Anblick löste ein Kribbeln bei Karina aus, und da sie heute Morgen nur von den Schokoladenmedallions einer neuen Angestellten gekostet hatte, konnte sie ihre Erregung nicht auf die Schokolade zurückführen.

„Da ist er“, flüsterte sie Debby zu und seufzte. „Das ist mein Lieblingsdip.“

Debby kicherte. „Woher willst du das wissen, wenn du ihn noch nicht probiert hast?“

„Ich weiß es einfach. Er ist lecker.“

Überraschenderweise schlug der Mann nicht den Weg zu seinem Gebäude ein, sondern überquerte die Straße, wobei er geschickt dem Verkehr auswich und eine Hand hob, um sich gegen ein hupendes Taxi zu wehren.

„Er kommt in unsere Richtung“, stellte Debby fest.

Karina war hinter dem Tresen hervorgekommen und an die Schaufenster getreten, ohne es zu merken. Nervös strich sie über ihre Schürze. „Oh nein, dass kann er nicht machen. Ich bin nicht bereit.“

Hastig versuchten die beiden Frauen, Karina von der Schürze zu befreien. „Der Knoten ist zu fest“, sagte Debby.

Karina zog sich die Schürze übers Gesicht, doch das Band war zwei Mal um ihre Taille gebunden und verfing sich unter ihren Brüsten. Als Karina daran zerrte, rutschte die Bluse aus dem Rockbund. „Hilf mir.“

„Ich hole eine Schere.“ Debby lief los, um in den Regalen unter den Vitrinen zu suchen.

Karina zerrte erneut, und die Schürze rutschte über ihre Brüste. Sie riss sie sich über den Kopf und musste feststellen, dass der Mann schon direkt vor dem Schaufenster war und hineinsah. Oder vielmehr hineinstarrte.

Sie war so erschrocken über sein ungewöhnliches Interesse, dass sie stocksteif dastand. Lose Haarsträhnen fielen ihr ins Gesicht, ihre Kleidung war in Unordnung, und die zerknüllte Schürze hing ihr von der linken Schulter und vom Arm.

Ausnahmsweise streifte sein Blick sie nicht nur. Er blieb zwar nicht stehen, aber er seine Augen funkelten begehrlich, und seine Schritte verlangsamten sich.

Karina wurde es heiß, und ihr Haut begann zu prickeln. Sie blinzelte einmal, und der Mann war weg.

Vor ihr stand Debby, die das Gesicht verzog. Sie wedelte mit dem Zeigefinger. „Äh, deine Bluse …“

Was war damit? Benommen hob Karina eine Hand und berührte … Haut. Ihre Bluse stand offen. Weit offen, in einem umgedrehten V. Bis auf den obersten Knopf waren alle anderen aufgegangen bei ihrem Versuch, sich die Schürze über den Kopf zu ziehen. Der geheimnisvolle Mann hatte nicht sie angesehen, sondern auf ihre Brüste gestarrt, die in den spitzengesäumten halbmondförmigen Körbchen des BHs fast vollständig entblößt waren.

Perplex schaute Karina an sich herunter. Ihre harten Brustspitzen hatten sich aufgerichtet und lugten aus den Körbchen hervor. Hastig bedeckte sie ihre Brüste mit der Bluse. „Du liebe Güte!“

Debby gluckste. „Jetzt hast du ganz sicher seine Aufmerksamkeit.“

„Das ist schrecklich.“ Karina schenkte den gaffenden Kunden ein schwaches Lächeln und wich hinter den Tresen zurück, um durch die Schwingtüren, die zur Küche und in den Bürobereich führten, zu verschwinden. Auf dem Weg durch den kleinen Flur befreite sie sich von der Schürze und drückte sie an die Brust, wie um sich zusätzlich zu bedecken.

„Er hat alles gesehen“, sagte sie zu Debby, die ihr ins Büro folgte, vorbei an der erschrockenen Janine Gardner, einer jungen Frau, die erst vor kurzem für den Empfang und Versand angestellt worden war.

Debby warf die Tür zu, um vor Janines Neugier sicher zu sein. „Ach, vielleicht auch nicht.“ Sie drückte ihrer Arbeitgeberin tröstend die Schulter. „Ich meine, deine Bluse war schon offen, aber …“

„Ich hatte die Arme erhoben.“ Karina warf die Schürze zur Seite und hob die Arme, sodass die Bluse erneut bis auf den obersten Knopf offen stand. Schwer zu sagen, wie viel zu sehen gewesen war. Genug jedenfalls, um die Aufmerksamkeit eines kühlen, reservierten Einzelgängers zu wecken. Sie ließ sich in ihren Schreibtischsessel fallen. „Das ist einfach entsetzlich!“

Debby setzte sich in den Besuchersessel. „Eigentlich nicht.“

„Er hat meine Brüste gesehen!“

„Und es hat ihm gefallen.“

Karina stopfte ihre Brüste tiefer in den BH, wo sie hingehörten. Normalerweise lugten ihre Brustspitzen nicht heraus. Der Kampf mit der Schürze musste das verursacht haben, und das im unpassendsten Moment. Missmutig knöpfte sie ihre Bluse zu.

„Weißt du was?“, meinte Debby. „Von deiner Verlegenheit mal abgesehen war das möglicherweise das Beste, was dir passieren konnte. Jetzt muss er an dich denken. Wahrscheinlich fantasiert er sogar von dir. Schließlich hast du tolle Brüste.“

Karina stöhnte.

„Sie haben so eine tolle Aufwärtstendenz. Meine sind …“, Debby spähte in den u-förmigen Ausschnitt ihres neonpinkfarbenen Tops, „… groß und wogend.“

„Es gibt genügend Männer, die das aufregend finden.“

„Stimmt.“ Debby lächelte. Obwohl sie nicht dem gängigen Schönheitssideal entsprach, war sie wegen ihrer üppigen Figur nicht neurotisch. Ihrer Meinung nach war Schlanksein es nicht wert, dafür die Schokolade aufzugeben.

Karina beneidete ihre Freundin um so viel Selbstbewusstsein. Sie dagegen arbeitete fleißig daran, durch Training und Diäten ihr Gewicht zu halten. Es klappte, aber es war nicht besonders befreiend. „Es ist mir egal, ob sie ihm gefielen. Es war überhaupt nicht meine Absicht …“

„Sie zu zeigen?“

„Es ist mir peinlich.“ Karina kniff die Augen zu. „Jetzt kann ich ihm nicht mehr gegenübertreten.“

„Das musst du aber, und zwar so schnell wie möglich.“

Karina schüttelte den Kopf. „Auf keinen Fall.“

„Aber er denkt an dich und ist scharf auf dich.“

„Wahrscheinlich hält er mich für verzweifelt und will nur in Ruhe gelassen werden.“

„Das glaube ich nicht. Bestimmt ist ihm klar, dass du dich nicht absichtlich vor ihm entblößt hast. Er muss doch gesehen haben, wie du versucht hast, die Schürze auszuziehen.“

Karina machte ein Auge wieder auf. „Meinst du?“

„Ja. Und ich kenne dich. Du wirst das als Ausrede benutzen, um einen weiteren Monat nichts zu unternehmen.“ Debby stand auf und schlug mit den flachen Händen auf den Schreibtisch. „Aber das lasse ich nicht zu. Ich werde jetzt in die Küche gehen und das Trüffelsortiment zusammenstellen. Zieh deinen Mantel an. Du lieferst sie persönlich aus.“

„Das kann ich nicht“, protestierte Karina.

„Klar kannst du.“

„Ich kenne ja nicht einmal seinen Namen. Selbst wenn ich ins Haus gelange, kann ich wohl kaum an jede Tür klopfen, denn dann wüsste er ja sofort, wie verzweifelt ich bin.“

„Wie gesagt, mir ist noch kein Mann begegnet, den das gestört hätte, aber du hast natürlich recht.“ Debby ging hinter den Schreibtisch und schaltete Karinas Computer ein. „Bitte zeig mir unsere Kundenliste.“

Karina tippte das Passwort ein und rief die Datei auf. „Er ist kein Kunde.“

„Aber Annie Rittenouer ist eine, und sie wohnt in dem gleichen Gebäude. Ich wette, sie kennt unseren geheimnisvollen Mann und weiß, in welchem Apartment er wohnt.“

„Oh.“ Karina runzelte die Stirn. „Warte mal. Wollen wir wirklich Annie fragen? Das ist doch die geschwätzige Frau mittleren Alters mit den kurzen blondierten Haaren, richtig? Die jeden Freitagmorgen ihren Mann losschickt, um einen Vorrat Erdnusscrunchies zu kaufen.“

„Genau die.“ Debby scrollte zum Buchstaben R und las die Telefonnummer vor, während sie schon den Telefonhörer abnahm und wählte. Karina machte wilde Bewegungen und schnappte ihr das Telefon weg, als eine Frauenstimme „Hallo? Hallo?“ rief.

„Guten Tag, Mrs. Rittenouer. Hier spricht Karina von Sutter Chocolat. Ich rufe an, um Ihnen mitzuteilen, dass wir für unsere Stammkunden Weihnachtssonderangebote haben. Fünfundzwanzig Prozent Preisnachlass auf Erdnusscrunchies, nur heute.“

Karina bedeutete Debby, still zu sein. Die Kundin am anderen Ende der Leitung gab Laute der Begeisterung von sich. „Ach wirklich? Das ist Ihre Lieblingssorte? Sollen wir Ihnen eine Schachtel liefern? Mit Vergnügen, Ma’am. Vielen Dank.“

„Aber du hast gar keine Informationen bekommen“, meinte Debby, nachdem das Gespräch beendet war.

„Ich komme ins Gebäude. Das genügt. Alles Weitere erledige ich lieber still.“

„Dann gehst du tatsächlich?“ Debby war erstaunt über Karinas plötzliche Initiative.

„Ich gehe.“ Ein flaues Gefühl in der Magengegend veranlasste Karina, sich in die Nasenspitze zu kneifen, um sich zu wappnen. „Denn du hast recht. Entweder jetzt oder nie.“

„Jetzt. Eindeutig.“ Debby klatschte in die Hände und stieß einen Jubelruf aus, bevor sie in dem kleinen Büro zur Tür herumwirbelte. „Gib mir fünf Minuten.“

„Keine Eile.“

„Doch. Es wird kein Zurück mehr geben.“ Debby riss die Tür auf und ertappte Janine, die in der Nähe herumstand. „Zurück an deinen Schreibtisch, Mädchen“, sagte sie und eilte mit fliegender Schürze an ihr vorbei.

Janines Nase zuckte. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Miss Sutter?“

„Nein danke. Oh, warten Sie – besorgen Sie mir doch eine Quittung von der Kasse vorn. Ich muss eine Sonderlieferung an Mrs. Rittenouer auf der anderen Straßenseite machen.“

„Sofort, Miss Sutter.“

Karina schaute Janine hinterher. Die neue Angestellte hatte tadellose Empfehlungsschreiben aus der Süßwarenabteilung von Royal Foods vorweisen können. Die Verbindung zu dem Großunternehmen hatte Karina zunächst zögern lassen, doch Janine hatte den Wunsch geäußert, die Süßwarenherstellung in kleinerem Stil kennen zu lernen, bei der Qualität an oberster Stelle stand. Sie war stets engagiert und zeigte großes Interesse für jeden Aspekt des Unternehmens. Eines Tages würde sie vielleicht eine gute stellvertretende Managerin sein, wenn Karina weniger arbeiten wollte – zum Beispiel wenn sie einen Mann und Kinder hatte. Diese Aussicht kam ihr plötzlich in weitere Ferne gerückt vor als sonst.

In ihrem Kopf gab es nur Platz für einen Mann. Umso schlimmer, dass sie nicht einmal seinen Namen kannte. Ihr Vorhaben war wirklich verrückt.

Debby und Janine kamen gleichzeitig zurück und stießen vor Karinas Bürotür zusammen. „Ich habe deine Trüffeln“, verkündete Debby und hielt die Schachtel hoch.

„Und hier ist die Quittung“, sagte Janine und betrachtete die Schachtel skeptisch. „Kauft Mrs. Rittenouer nicht immer Erdnusscrunchies?“

Debby lächelte säuerlich. Sie hielt nichts von Janine und machte auch keinen Hehl daraus. „Danke, Sie können jetzt gehen. Ich habe mich schon darum gekümmert. Die Mädchen bereiten gerade eine Bestellung Erdnusscrunchies vor, während wir hier reden.“

„Natürlich.“ Janine kehrte an ihren Schreibtisch zurück.

Debby warf die Tür mit Nachdruck zu.

„Du musst mit dieser Zankerei mit Janine aufhören“, meinte Karina abwesend und füllte die Quittung aus. „Das trägt nicht zu einem entspannten Arbeitsklima bei.“

„Das ist jetzt nicht wichtig. Hier, das ist für dich.“

Eine dunkle Schokoladentrüffel erschien auf der Schreibtischunterlage. Karina schaute überrascht zu Debby auf. „Ich brauche das … noch nicht.“

„Ich glaube schon. Um dir Mut zu machen.“

Karina stieß die köstliche Süßigkeit mit dem Stift an. „Mut wird nicht das sein, was ich nach einer doppelt starken Black-Magic-Trüffel haben werde.“ Die sündig gehaltvollen Leckereien waren eine weitere von Debbys Erfindungen. Die festen Schokoladenkerne waren gefüllt mit einer Vielfalt an Aromen, von Champagner bis Mandarine und Orange, aber es waren die einzigartigen Kakaobohnen, die die ganz besondere Wirkung dieser Köstlichkeit entfalteten. Es hieß, schon eine dieser Trüffeln könnte zu einem ganzen Abend voller Leidenschaft führen. Oder zu mehreren Stunden heftiger Frustration.

„Iss sie“, forderte Debby sie auf.

Karina atmete tief durch. „Ich will die Wirkung nicht verpuffen lassen. Wir müssen dem geheimnisvollen Mann Zeit geben, ein paar von den Trüffeln zu essen, die ich ihm bringe. Sobald er in Stimmung ist, werde ich …“, sie schluckte reflexartig, „… werde ich meine Medizin nehmen.“

Debby lachte. „Medizin! Du meine Güte, ich kenne Frauen, die für diese Trüffeln morden würden.“

Karina kaute zögernd auf ihrer Unterlippe. „Das ist mir schon klar, aber ich habe Angst davor, was passieren würde, wenn ich aufgeputscht dort hinübergehe. Möglicherweise macht mich das zu aggressiv, obwohl ich gar nicht der Typ dafür bin.“

„Du vergisst immer, dass es doch genau darum geht.“ Debby schob die Trüffel näher an sie heran, was eine Spur Kakaopuder auf der Schreibunterlage hinterließ. „Dir steht diese großartige Macht zur Verfügung. Nutze sie, Frau.“

„Es ist noch zu früh. Es könnte damit enden, dass ich ihn anspringe.“

„Genau. Allerdings glaube ich das nicht. Wenn ich es wäre, wohl eher. Aber bei dir ist die Wirkung nicht so stark wegen deiner Hem… ich meine, wegen deiner Diszipliniertheit. Eine Trüffel verhilft dir zu dem Mut, den du brauchst, um diesen Plan auch durchzuführen.“

„Das klingt einleuchtend“, räumte Karina ein. Sie hielt sich nicht für gehemmt. Schon gar nicht angesichts der letzten Wochen und des provozierenden Spielchens, das sie mit dem neuen Nachbarn trieb. Nur gab es einige Dinge, die privat bleiben sollten, weil Debby sie ohnehin nicht verstehen würde.

Andererseits brauchte sie alle Kraft, die sie bekommen konnte, wenn sie diesen verrückten Plan wirklich in die Tat umsetzen wollte. Und das war die eigentliche Frage. Wollte sie das? Eine Stimme in ihr antwortete, ohne zu zögern: Ja, ich werde es tun.

„Na los“, drängte Debby sie. „Nenn es Schokoladenmut.“

Wie in Zeitlupe griff Karina nach der runden Trüffel. Die glänzende Schokolade unter der großzügigen Hülle aus Kakaopulver und Zimt war so dunkel, dass sie fast schwarz aussah. Oben war sie zu einem Schnörkel gedreht. Karina lief das Wasser im Mund zusammen, als sie sie an die Lippen hob. Sie öffnete den Mund und kostete zunächst mit der Zungenspitze. Das Aroma stieg ihr in die Nase. Dann biss sie in die Trüffel. Ihre Zähne durchbrachen die Schokoladenhülle und gruben sich in die dichte Espressofüllung, deren Geschmack unbeschreiblich war.

„Das ist gut“, murmelte sie mit vollem Mund und schloss genießerisch die Augen, ehe sie erneut abbiss. Die Black-Magic-Trüffeln war die berühmteste Köstlichkeit des Ladens und wurde zu einem enormen Preis verkauft, einzeln oder in Schachteln verschiedener Größe, damit die Kunden nicht zu viel davon aßen.

Karina schob sich das letzte Stück in den Mund. Sie war schon ganz benommen von der Wirkung der Schokolade. Bald würden die Nebenwirkungen des Geheimrezepts einsetzen – die Euphorie, ein Gefühl der Wärme, das wachsende Verlangen.

Unter normalen Umständen hätte Debby recht gehabt, dass die Trüffeln bei Karina nicht so stark wirkten. Doch diesmal war das anders, denn ihre Sehnsucht war bereits geweckt, bevor sie die Trüffel aß. Die süße Leckerei würde ihre Sehnsucht gefährlich steigern.

Sie leckte den Rest Schokolade und Kakaopuder von ihren Fingern.

Mach dich bereit, Fremder. Ich komme und hole mir von dir, was ich brauche.

Du liebe Zeit! Solche Gedanken waren ganz untypisch für sie. Das musste an den Kakaobohnen liegen.

2. KAPITEL

Nachdem sie in ihren Wollmantel geschlüpft war, sich Handschuhe angezogen und eine Wollmütze mit Ohrenklappen aufgesetzt hatte, ging Karina zur Ecke, um die Straße bei der Ampel zu überqueren. Das verschaffte ihr ein paar Minuten, um sich zu sammeln. Allerdings war sie so aufgewühlt, dass das kaum gelingen konnte. In ihrem Bauch schien ein ganzer Schmetterlingsschwarm zu flattern, so nervös war sie.

Sie hätte die Trüffel nicht essen dürfen.

Die Ampel sprang um, und die kleine Fußgängergruppe auf dem verschneiten Gehsteig setzte sich in Bewegung. Vor dem Hauseingang des schmalen Gebäudes, in dem der mysteriöse Fremde wohnte, stampfte sie sich den Schnee von den Stiefeln und schaute sich um. Im Erdgeschoss befand sich ein Herrenbekleidungsgeschäft, darüber lagen sechs Stockwerke mit Wohnungen. Karina wusste, dass „ihr“ Mann im zweiten Stock zur Straße hin wohnte. Das würde die Suche einengen. Ihn aufzusuchen war schon riskant genug; bei den falschen Leuten zu klingeln wäre eine Katastrophe.

Sie sah zur Ladenfront von Sutter Chocolat zurück, die für den Winter mit einer Girlande aus roten Lichtern geschmückt war. Debby stand in ihrer weißen Schürze hinterm Fenster und drängte sie gestikulierend, weiterzugehen.

Karina bedeutete ihr, zu verschwinden. Sie hoffte nur, dass der geheimnisvolle Mann nicht gerade aus dem Fenster sah und das alberne Getue bemerkte.

Die Haustür war offen. Karina spähte hinein. Der Flur war höchstens zwei Quadratmeter groß, er bot gerade mal ausreichend Platz zum Durchgehen, für eine Reihe Briefkästen und eine Gegensprechanlage. Sie las die Namen auf der Suche nach einem neu aussehenden Schild. Apartment 302 B hatte überhaupt kein Schild. Da musste er wohnen.

Karina jonglierte mit den beiden Sutter-Geschenktüten, die sie mitgebracht hatte, und drückte die Klingel von Apartment 206 D. Annie Rittenouer meldete sich mit einem „Ja?“

„Karina Sutter mit Ihrer Lieferung.“

„Oh ja, kommen Sie rauf!“

Der Summer für die Innentür ertönte. Karina stieß sie mit ihrer behandschuhten Hand auf und lief rasch die Treppe hinauf. Sie konzentrierte sich darauf, trotz ihrer Aufgeregtheit normal zu atmen.

Mrs. Rittenouer wohnte im ersten Stock im rückwärtigen Teil des Gebäudes. Sie wartete bereits bei offener Tür und schnappte Karina begierig die Tüte aus der Hand. „Wie gut, dass Sie ein Sonderangebot hatten, denn ich bin süchtig nach diesen verdammten Dingern, und mir ist mein Wochenvorrat schon ausgegangen“, erklärte die Wasserstoffsuperoxid-Blondine mit heiserer Raucherstimme und sah aus, als würde sie sich sofort die Süßigkeiten in den Mund schieben, noch bevor die Tür wieder zu war. Sie unterschrieb die Rechnung, ohne einen Blick auf die Summe zu werfen. „Mein Jackie beklagt sich über die Kosten, aber ich weiß schon, wie ich ihn zum Verstummen bringe.“ Kichernd zog sie sich in ihre Wohnung zurück und warf die Tür zu.

„Genießen Sie Ihre Schokolade!“, rief Karina.

Die Tür ging wieder auf, und Mrs. Rittenouer steckte den Kopf heraus. „Ich habe keine Ahnung, was Sie da hineintun, aber hören Sie nicht auf damit.“

Karina nickte. „Danke für Ihren Einkauf, Ma’am. Schöne Feiertage.“

Die Frau hatte ihre Nase in die Geschenktüte gesteckt und atmete begierig die Schokoladendüfte ein. „Die werde ich jetzt haben.“

Überzeugt, dass Mrs. Rittenouer die Erdnusscrunchies lange vor Weihnachten ausgehen würden, wandte Karina sich wieder der Treppe zu. Aus einer der Wohnungen dröhnte Musik. Karina stieg in den nächsten Stock hinauf. Ihr wurde heiß unter ihrem Wintermantel, ihre Haut fühlte sich fiebrig an. Die Trüffel hatte eine ganz schön starke Wirkung.

Auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock blieb sie stehen, um ihren Mantel aufzuknöpfen und die Handschuhe auszuziehen. Allein die Aussicht, das Objekt ihrer Begierde mit bloßen Händen anfassen zu können, ließ sie vor Erregung erschauern.

„Hoffentlich wirken diese Trüffeln bei ihm“, murmelte sie auf der Suche nach der Tür mit der Nummer 302 B, „sonst werde ich ziemlich leiden müssen.“

Der Flur bog nach links ab und bildete eine Nische, in der sie die gesuchte Apartmentnummer fand. Sie horchte an der Tür, in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis auf den Bewohner zu bekommen.

Nichts. Mr. Anonym war anscheinend ein ruhiger Typ.

Karina zielte mit dem Finger auf die Türklingel. Ich kann das nicht, dachte sie, doch ihr Körper war da anderer Ansicht. Als sie die Augen schloss, um Mut zu sammeln, sah sie den geheimnisvollen Fremden vor sich. Erneut durchlief sie ein lustvoller Schauer. Deutlich erinnerte sie sich an jenen erregenden Moment, als sie mit dem Mann Blickkontakt gehabt hatte und ihr Interesse erwidert zu werden schien.

Sie stutzte. Allerdings war das gewesen, bevor sie gemerkt hatte, dass ihre Bluse weit offen stand und bevor sie die berauschende Trüffel gegessen hatte. Trotzdem wollte sie das wieder empfinden.

Los, tu es.

Angst und Adrenalin durchströmten Alex Anderson, als es an der Tür klingelte, und er sprang vom Sessel auf. Er verachtete die Angst, so vertraut sie auch war. Der Adrenalinstoß war okay. Er hatte gelernt, ihn zu seinem Vorteil zu nutzen. Selbstverteidigung und blitzschnelle Reaktionen hingen entscheidend vom Adrenalin ab.

Er stand in der Mitte des Wohnzimmers, wartete und sagte sich, dass er nicht übertrieben reagierte. Diese erhöhte Vorsicht konnte ihm eines Tages das Leben retten, so wie ein Moment der Unaufmerksamkeit ihn fast das Leben gekostet hätte.

Sekunden später klingelte es erneut. Er hatte niemanden nach oben gelassen, also hatte er auch nicht die Absicht, an die Tür zu gehen.

Stattdessen ging er ans Fenster und schob einen Finger zwischen das zerfledderte Rollo und den Fensterrahmen, sodass er die Straße unten sehen konnte. Es war nichts Verdächtiges zu erkennen. Trotzdem beobachtete er die Gesichter genau, denn selbst ein harmlos wirkender Fußgänger konnte sich als Killer entpuppen.

Er richtete den Blick auf das gegenüberliegende Gebäude und suchte nach einem Heckenschützen, einem Beobachtungsposten oder einfach etwas Ungewöhnlichem. Es gab keine Anzeichen für Ärger, aber das hieß nichts. Es war noch zu früh nach dem Anschlag auf sein Leben auf den Florida Keys, um sich in Sicherheit zu wiegen.

Kurz streifte sein Blick die Fensterreihe, die in letzter Zeit seine schlimmste Ablenkung gewesen war. Die Frau, die dort wohnte …

Er schüttelte den Kopf, um die verlockenden Bilder zu verdrängen. Er konnte es sich nicht leisten, seine Wachsamkeit zu vernachlässigen.

Die Türklingel läutete ein drittes Mal, gefolgt von einem forschen Klopfen. Sein Besucher gab nicht auf.

Alex bewegte sich leise in den schmalen Flur. Als es erneut klopfte, spähte er durch den Spion.

Verdammt, sie war es, die Frau aus dem Süßwarenladen. Die unnahbare blonde Prinzessin, die durch das unbeabsichtigte Entblößen ihrer Brüste zur Frau seiner Träume geworden war.

Sie war harmlos, aber eine zu starke Ablenkung. Er musste sie schnell loswerden, und zwar endgültig.

Er schob Kette und Riegel zurück und öffnete die knarrende Tür. „Was wollen Sie?“

Sie schien überrascht zu sein. „Entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe.“

Alex änderte seine Haltung. Was war bloß aus ihm geworden? Ein griesgrämiger Mistkerl, der hübschen Frauen mit rosigen Wangen Angst einjagte. „Tut mir leid“, sagte er. „Ich habe keinen Besuch erwartet.“

Sie musterte ihn misstrauisch und zögerte einige Sekunden, ehe sie antwortete. Fast hätte es ihn umgeworfen, als sie sich mit der Zungenspitze die Lippen befeuchtete, sodass sie glänzten. „Tja, ich hatte eine Lieferung in diesem Gebäude zu machen, da dachte ich, es wäre doch eine nette nachbarschaftliche Geste, Ihnen …“ Offenbar fand sie nicht die richtigen Worte, daher hielt sie ihm einfach die kleine Geschenktüte hin.

Er starrte sie an, als präsentierte sie ihm eine Klapperschlange. „Was ist das?“

„Schokolade.“

„Ich esse keine Schokolade.“

„Die hier werden Sie mögen.“

Er schaute in die Tüte. Die Schokolade war in bauschiges grünes Seidenpapier gehüllt. Alex hegte keinen Verdacht, was den Inhalt anging. Er hatte Sutter Chocolat seit seinem Einzug beobachtet. Doch das Misstrauen, das er in den letzten Jahren entwickelt hatte, ließ sich nicht so leicht überwinden. Auch nicht von einer bezaubernden Frau, die ihm unmöglich gefährlich werden konnte, außer als attraktive Nervensäge. Was allerdings ebenso schlimm sein konnte wie alles andere, angesichts der über ihm schwebenden Todesdrohung.

„Trüffeln“, sagte sie und ignorierte seine finstere Miene. „Die besten, die Sie je gekostet haben.“

Er betrachtete ihr Gesicht, ein wenig durcheinander davon, sie plötzlich aus der Nähe zu sehen. Sie war eine klassische Schönheit mit großen karamellfarbenen, leicht mandelförmigen Augen, einer langen schmalen Nase und sinnlichen Lippen. Andererseits wölbte sich eine Braue höher als die andere, was die Makellosigkeit ihres Gesichts ein wenig aus dem Gleichgewicht brachte. Sie trug eine alberne gestreifte Mütze, die ihre blonden Haare verbarg. Zwei flauschige Troddeln hingen an Bändern herunter, die auf ihrem Kopf zu einer Schleife zusammengebunden waren.

Die Troddeln streiften ihre geröteten Wangen, als sie den Kopf neigte und Alex die Tüte hinhielt. „Sie müssen sie probieren.“

Er wich zurück. Wieso bedrängte sie ihn so?

Sie stutzte. „Verzeihung. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Karina Sutter. Mir gehört der Schokoladenladen gegenüber.“

„Ich weiß, wer Sie sind.“ Sein Blick wanderte zu ihren Brüsten hinunter. Er zwang sich, ihr wieder ins Gesicht zu sehen.

Sie lachte verlegen. „Ach ja, also wegen dieser Geschichte …“

Alex zuckte die Schultern. „Das war nichts.“

Sie kniff die Augen zusammen. „Nichts?“

„Ich meine, ich habe nichts gesehen …“ Erneut wanderte sein Blick zu ihrer Bluse. „Ich habe nicht viel gesehen“, korrigierte er sich. Nur genug, um ihr zu Füßen zu liegen.

Sie lächelte unsicher. „Meine Knöpfe verfingen sich in der Schürze …“ Sie hielt inne, da er keine Miene verzog. Sie hatte ja keine Ahnung, wie viel Mühe ihn das kostete.

Karina seufzte leise. „Tun wir einfach so, als wäre das nie passiert, ja? Wir fangen noch mal von vorn an.“ Sie wechselte die Tüte in die linke Hand und streckte ihm die andere entgegen. „Karina Sutter. Und Sie sind?“

„Alex.“ Die Lüge kam ihm leicht über die Lippen, da Alex so ähnlich klang wie Lex, der Spitzname, mit dem er aufgewachsen war.

Karina hielt ihm weiter die Hand hin und runzelte die Stirn.

„Anderson“, fügte er hinzu und nahm widerstrebend ihre Hand. „Alex Anderson.“

Er wollte sie eigentlich sofort wieder loslassen, doch bei der Berührung ihrer Finger begann seine Haut zu prickeln.

Alex biss die Zähne zusammen. So unnahbar war die Prinzessin gar nicht. Offenbar versuchte sie, sich an ihn heranzumachen. Die Art, wie sie ihn ansah und seine Hand drückte, ließ das jedenfalls vermuten. Anscheinend hatte ihn sein erster Eindruck getäuscht.

Nach drei Wochen Beobachtung hielt er sie für eine normale allein stehende Frau, die viele Stunden in ihrem Laden arbeitete und ein geordnetes Privatleben führte. Sie war überdurchschnittlich hübsch, wahrscheinlich aber trotzdem einsam, da sie nachts rastlos durch ihr Apartment wanderte. Sie besaß eine einzigartige Ausstrahlung – ruhig, sanft, anmutig, doch wirkte sie auch ein wenig entrückt. Hin und wieder fragte Alex sich, ob sie wusste, dass er sie beobachtete, da sie fast ebenso oft am Fenster stand wie er, und darauf wartete, dass etwas passierte.

Ihre Vorstellung von etwas unterschied sich offenbar von seiner erheblich. Bisher hatte er sich auf seine Menschenkenntnis einiges eingebildet, daher war es ihm völlig unverständlich, dass er sich bei ihr so geirrt hatte. Sie kam ihm nicht wie eine Frau vor, die plötzlich bei einem wildfremden Mann vor der Tür stand und sich an ihn heranzumachen versuchte.

„Unten hängt gar kein Namensschild von Ihnen“, sagte sie und setzte das Flirten mit einem provozierenden Lächeln fort.

„Ich lebe zurückgezogen.“ Weil ich verfolgt werde, fügte er im Stillen hinzu.

Wieder hielt sie ihm die Tüte hin. Dabei trat sie nervös von einem Bein aufs andere. Alex fragte sich, ob sie zur Toilette musste. „Es ist ein Geschenk, um Sie in der Nachbarschaft willkommen zu heißen.“

Diesmal nahm er die Tüte an. „Vielen Dank.“

Plötzlich nahm sie ihre Strickmütze ab und straffte die Schultern. „Das sind Black-Magic-Trüffel“, erklärte sie. „Eine der Spezialitäten meines Ladens. Ich bestehe darauf, dass Sie wenigstens eine probieren.“

Er griff in die Tüte und nahm eine kleine Kupferschachtel heraus, auf dessen Deckel ein kompliziertes Design um den verschnörkelten Buchstaben S geprägt war. „Ja, das werde ich bestimmt.“

Sie drängte ihn, den Deckel zu öffnen, sodass Alex gezwungen war, einen Schritt in sein Apartment zurückzuweichen. „Die sind köstlich“, sagte sie. Doch ihre Augen waren nicht auf den Inhalt der Schachtel gerichtet, ein Sortiment von einem halben Dutzend Trüffeln in Goldpapierkörbchen. Sie sah ihn an, und das mit unverhohlener Begierde. Sie befeuchtete sich sogar auf ziemlich aufregende Weise mit der Zungenspitze die Lippen.

Alex hatte das Gefühl, dass sie innerhalb weniger Minuten in seinem Bett landen würden, wenn er sie hereinbat. Einen Moment lang dachte er daran, das zu tun. Es war Monate her, seit er mit einer Frau zusammen gewesen war. Das letzte Mal war unbefriedigend gewesen, eine kurze, bedeutungslose Affäre in Florida, von der er gleich gewusst hatte, dass sie zu nichts führen würde, obwohl er so sehr versucht hatte, sich ein normales Leben aufzubauen. Bei Karina hatte er eher darauf getippt, dass sie zu den Frauen gehörte, die an einer ernsten Beziehung interessiert waren. Anscheinend hatte er sich geirrt.

„Bitten Sie mich herein, dann koste ich sie mit Ihnen zusammen“, schlug sie vor und errötete wieder heftiger. Nervös strich sie über die Vorderseite ihrer Bluse, schob die Finger in den offenen Kragen und berührte ihre Kehlgrube.

Die Körpersprache war unmissverständlich.

„Hm, also …“ Alex gab nicht nach, obwohl sie ein paar Zentimeter näher kam. Er würde sie nicht in sein Apartment lassen, obwohl er sie mit einer Heftigkeit begehrte, die nur noch von seinem Selbsterhaltungstrieb übertroffen wurde.

Sie hob ihre goldene Halskette an den Mund und ließ gedankenverloren die dicken Kettenglieder an ihren Zähnen entlanglaufen. Mit steigender Erregung beobachtete Alex, wie die Glieder zwischen ihren Lippen verschwanden und auf der anderen Seite ihres Mundes wieder herauskamen. Als sie sich seiner Aufmerksamkeit bewusst wurde, ließ sie die Kette sinken und hauchte: „Ich brauche etwas, woran ich knabbern kann. Haben Sie Lust …“

Und wie, dachte er.

„… die Schokolade zu teilen?“ Sie pflückte eine Trüffel aus der Schachtel, biss hinein und schloss wie in Ekstase die Augen. „Hm … Himbeer-Wodka. Sie haben ja keine Ahnung, was Ihnen entgeht.“

Oh doch, das habe ich. Er stand schweigend da und beobachtete mit schwindendem Widerstand, wie sie die Trüffel aß. Karina gab ein leises, genüssliches Stöhnen von sich, das man auch als Ausdruck sexuellen Vergnügens missdeuten konnte. Sie war Alex so nah, dass er ihre Wärme spürte, die sich mit dem Duft der Schokolade und ihrem dezenten Parfum vermischte. Das alles schwächte seine Willenskraft noch weiter.

Er hielt es nicht länger aus. Er musste sie loswerden.

Karina schob ihren Daumen in den Mund, um ihn abzulecken, dann schaute sie zu Alex auf. „Probieren Sie wenigstens eine“, versuchte sie ihn zu überreden. „Ich habe sie doch extra für Sie mitgebracht.“

Sie wählte eine weitere Trüffel aus. Alex wich zurück. „Das geht nicht …“

„Wieso nicht?“

Er hätte ihr erklären können, dass er allergisch gegen Schokolade war. Nach der letzten Kostprobe waren seine Lippen angeschwollen wie bei einem Kugelfisch. Außerdem hatte er heftige Kopfschmerzen bekommen. Aber ein Gespräch über so persönliche Dinge wie Allergien würde Karina nur ermutigen. Und natürlich seine Qual verlängern.

Er musste versuchen, sie sofort loszuwerden. Unhöflich zu sein war der einzige Ausweg. „Danke für die Süßigkeiten“, sagte er und klappte die Schachtel zu. „aber auf den Rest verzichte ich.“ Er legte Karina eine Hand auf die Schulter und drehte sie so, dass sie zum Flur sah. Mit sanftem Druck auf ihren Po bugsierte er sie von der Türschwelle weg.

„He!“ Sie wirbelte herum. „Was fällt Ihnen ein?“

Er knallte ihr die Tür vor der Nase zu.

Auf der anderen Seite waren wütende Laute zu hören, gefolgt von einem dumpfen Schlag. Dann nichts mehr.

Alex spähte durch den Spion.

Eine mikroskopisch kleine Karina stand noch immer dort und starrte stumm seine Tür an. Sie legte beide Hände an die Wangen. „Na, das war peinlich“, sagte sie laut zu sich selbst, setzte sich die Mütze auf und marschierte davon.

Alex atmete auf, weil sie so schnell aufgegeben hatte. Er war wieder in Sicherheit. Aber auch einsam, wie er sich eingestehen musste, als er in das spärlich eingerichtete Wohnzimmer des untervermieteten Apartments zurückkehrte. Er warf die Schachtel mit den Trüffeln auf den zerschrammten Schreibtisch, eines der wenigen Möbelstücke, die der Mieter dagelassen hatte, trat ans Fenster und ließ das Rollo hochschnappen. Jetzt hatte er klare Sicht auf Karina, als sie eine Minute später aus dem Gebäude kam. Sie lief forschen Schrittes die Straße entlang, wobei die albernen kleinen Troddeln ihrer Mütze heftig hin- und herbaumelten.

Alex empfand Bedauern. Wenn die Dinge anders gelegen hätten … Er hätte sich nicht zwei Mal bitten lassen, wenn er noch der Mann gewesen wäre, der er früher war – Mark Lexmond, ehrgeiziger Anwalt in einer aufstrebenden Firma, von Freunden und Bekannten Lex genannt. Ein idealistischer Kämpfer für Gerechtigkeit, der ein rotes Cabrio fuhr, aus dem stets ein Surfbrett ragte, der zu jeder Zeit eine Ecknische im „La Caridad“ bekam und in einer Wochenendband namens „The Curl“ Schlagzeug spielte.

Doch Mark Lexmond war tot.

Ebenso wie Pete Rogers und Chris McGraw – Identitäten, die er durch das von den U.S. Marshals geleitete Zeugenschutzprogramm bekommen hatte.

Pete Rogers war nur eine Notlösung gewesen, während Lex darauf wartete, dass die Justiz Geflecht aus Drohungen und Morden untersuchte, für das der berüchtigte Unterweltboss Rafael Norris verantwortlich war. Ein Jahr zuvor war Norris’ Sohn bei einem missglückten Drogendeal getötet worden. Lex war dem Angeklagten als Verteidiger zugeteilt worden. Er handelte mit der Staatsanwaltschaft aus, die Anklage von Mord auf Totschlag herabzustufen. Dieser Handel und die damit verbundene geringere Strafe machten Norris wütend, und er hatte im Namen seines Sohnes Rache geschworen. Bald darauf war der Angeklagte tot aufgefunden worden. Da Lex der Nächste auf der Liste war, schalteten sich die U.S. Marshals ein.

Chris McGraw sollte sein neuer Name sein. Das war zuerst komisch für ihn, aber mit der Zeit gewöhnte er sich an seine neue Identität als Einzelgänger in Florida ohne jede Familie. Er fand einen Job als Barkeeper in einer Hafenkneipe, die ihn an zu Hause erinnerte, mietete sich einen unter Palmen versteckten Bungalow. Er begann ein halbwegs normales Leben zu führen. Schließlich hörte er auf, wachsam zu sein, und erlaubte sich wieder ein paar schlichte Vergnügungen. Und dann …

In Gedanken übersprang er die schrecklichen letzten Stunden in Florida.

Vielleicht war es bloß Verfolgungswahn, doch der Anschlag auf sein Leben in Big Pine Key hatte in ihm den Verdacht geweckt, es könnte in dem Zeugenschutzprogramm Korruption geben. Nicht länger bereit, dem System zu vertrauen, hatte er jeden Kontakt zu den U.S. Marshals abgebrochen und war auf eigene Faust untergetaucht.

Trotzdem war schwer vorauszusagen, wie lange Alex Anderson überleben würde. Die gewaltige Einwohnerzahl New Yorks verschaffte ihm Anonymität und ein Gefühl der Sicherheit. Doch nur ein einziger Patzer, das kleinste Anzeichen, dass man ihn aufgespürt hatte, und er würde weiterziehen. Ein herumlungernder Fußgänger, ein unerwartetes Klopfen an der Tür, ein Fremder, der zu viel Interesse an seiner Vergangenheit zeigte …

Ein Fremder, der überhaupt zu viel Interesse zeigte.

Nicht, dass er Karina Sutter hinterhältige Absichten unterstellte. Trotzdem wäre es ein monumentaler Fehler, mit ihr ins Bett zu gehen.

Alex schob frustriert die Hände in die Taschen. Diese Frau würde heute Nacht in seine Träume eindringen, wie schon in den meisten anderen Nächten zuvor. In gewisser Weise war das gut. Frustrierend, aber gut. Alles war besser als die albtraumhaften Bilder, die ihn normalerweise verfolgten.

Ein schwacher Trost, dachte er und schaute Karina weiter hinterher. Ein paar Schneeflocken wirbelten durch die Luft. Vor dem Eingang von Sutter Chocolat drehte Karina sich um und schaute zu dem Gebäude hoch, in dem er wohnte.

Alex konnte den Ausdruck in ihren Augen nicht erkennen, doch er wusste, dass sie ihn am Fenster entdeckt hatte. Sie versteifte sich, als würde sie tief durchatmen, um ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Verlangen breitete sich in ihm aus.

Er zog das Rollo wieder herunter, bevor Karina seine Reaktion spüren konnte und sich entschloss, einen zweiten Annäherungsversuch zu wagen. Es war schon beim ersten Mal schwer gewesen, Nein zu sagen. Sie ein zweites Mal zurückzuweisen, das würde er niemals schaffen.

Und das konnte sich als tödlicher Fehler erweisen.

„Was ist passiert?“ wollte Debby wissen.

Karina trat ein und streifte sich die Handschuhe ab. Einen Moment lang betrachtete sie ihre zitternden Hände und wünschte, sie könnte sie um Alex Andersons Hals legen … oder um seine Erektion.

Wie bitte? Karina schoss erneut die Röte in die Wangen. Was war nur los mit ihr? So dachte sie doch normalerweise nicht!

Daran sind die Trüffeln schuld, dachte sie. Doch eine kleine Stimme in ihrem Kopf flüsterte: Nein, es liegt an dem Mann.

Sie stöhnte. „Ich stecke in Schwierigkeiten.“

„Was? Wie?“ Debby war verwirrt. „Bist du dem geheimnisvollen Mann begegnet? Habt ihr ein Date?“

Sie gingen in Karinas Büro und schlossen die Tür.

Karina zog ungeduldig ihren Mantel aus. Ihre Kleidung kam ihr schwer und unangenehm auf der Haut vor.

Sie atmete tief durch, um ihr pochendes Herz zu beruhigen. „Sein Name ist Alex Anderson, und er hat mir die Tür vor der Nase zugeschlagen.“

„Nein!“, hauchte Debby.

„Oh ja.“

„Was hat er gesagt?“

„Fast nichts. Ich gab ihm die Trüffeln, er nannte mir seinen Namen, wir schüttelten uns die Hände. Dann habe ich mich ihm an den Hals geworfen …“

„Nein!“

Obwohl Karina es selbst nicht glauben konnte, ärgerte sie sich. Musste Debby denn so geschockt klingen? Sicher, sie war keine Femme fatale, aber langweilig war sie nun auch wieder nicht. Sie hatte Sex-Appeal, auch wenn man es nicht gleich beim ersten Hinschauen bemerkte.

„Ich habe eine von seinen Trüffeln gegessen.“

Debby formte die Lippen zu einem stummen Oh. „Warum hast du das getan?“

„Er reagierte kaum, also versuchte ich ihm einen Bissen zu geben, und ehe ich wusste, was geschah, hatte ich die ganze Trüffel selbst gegessen.“ Karina strich sich über Hüften und Schenkel. Ihre Haut fühlte sich an wie bei einer Katze, der die Haare zu Berge standen.

„Das hättest du nicht tun sollen. Sie waren doppelt stark.“

„Ich weiß.“ Ich kann es fühlen. Mittlerweile fragte sie sich, ob ihre Reaktion auf Alex vielleicht noch etwas anderes als auf die Schokolade zurückzuführen war.

Debby beobachtete misstrauisch, wie Karina einen weiteren Knopf ihrer Bluse aufmachte, den Kragen weit öffnete, mit den Fingern unter einen BH-Träger fuhr und ihn herunterstreifte. „Was machst du da?“

„Nichts. Ich fühle mich nur so … eingezwängt.“

Debby verzog das Gesicht. „Hast du einen Vibrator?“

„Debby!“ Karina fächelte sich Luft zu. „Nein, ich besitze keinen.“

„Warum nicht? Nun, dann musst du eben die Vibrationen des Wäschetrockner ausnutzen.“

„Ich habe kein Interesse an sexuellen Experimenten mit Haushaltsgeräten. Ich werde einfach …“ Karina ließ sich in ihren Bürosessel fallen, konnte jedoch nicht lange still sitzen. „Ich werde warten, bis es aufhört. So lange kann die Wirkung ja nicht anhalten. Ich werde es schon überstehen.“

„Ich fasse es nicht. Wie konnte der geheimnisvolle Mann dich zurückweisen?“

„Er war sehr unfreundlich“, sagte Karina.

„Warte, bis er die Trüffeln gegessen hat. Es wird ihm noch leid tun, dass er dich so schnell weggeschickt hat.“

Karina schaute abrupt auf. „Du hast recht. Nur hat er gesagt, er mag keine Schokolade.“

„Aber er hat sie noch?“

„Ja.“

„Meiner Schokolade widersteht keiner lange“, prophezeite Debby. „Er wird eine Trüffel essen. Sei bereit, wenn er das tut.“

Karina schüttelte den Kopf. „Ich habe es dir doch schon erklärt. Er war nicht nett. Die Schokolade ist nicht stark genug, um das zu ändern. Ich bin nicht mal in seine Wohnung gekommen. Soweit ich sehen konnte, war sie ganz hübsch, aber praktisch leer.“

„Er ist gerade erst eingezogen.“

„Vor drei Wochen. Die meisten Leute besorgen sich eine Couch oder wenigstens einen Futon. Sie haben Vorräte und lächeln ihren Nachbarn zu.“

„Was kümmert es dich, solange er Kondome hat?“

„Nein, da gehe ich nicht mehr hin. Irgendetwas stimmte mit ihm nicht.“ Karina wollte genauer erklären, wie unheimlich es ihr war, dass er sie von seinem dunklen, leeren Apartment aus beobachtete, doch sie verkniff es sich. Schließlich war sie zum Teil auch selbst schuld, weil sie versucht hatte, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Jetzt, wo sie wusste, dass er kein Interesse hatte, litt natürlich ihr Stolz.

„Wie wirkt er aus der Nähe?“

Karina schluckte. „Argwöhnisch. Hart. Gehetzt. Sexy.“

„Also noch immer ein Geheimnis“, stellte Debby fest und schien bereits einen neuen Plan zu schmieden.

„Vergiss es“, sagte Karina.

„Möchtest du lieber leiden?“

„Ich werde mir einen verdammten Vibrator kaufen, falls es zu schlimm wird.“

3. KAPITEL

Karina blieb nicht lange bei der Arbeit. Debby meinte, dass die Wirkung der Trüffel nach einigen Stunden nachlassen würde. Am frühen Nachmittag war Karina jedoch noch immer unruhig und aufgewühlt von ihrer Begierde und den Bildern in ihrem Kopf. Nachdem sie Janine angefahren hatte, weil sie vergessen hatte, die Eiswasserkaraffe aufzufüllen, wusste sie, dass sie entweder nach Hause gehen oder Alex’ Tür eintreten musste.

Janine hob Kopf, als Karina mit ihrem Mantel über dem Arm durch das Vorzimmer rauschte. „Sie gehen schon wieder?“

„Ich mache heute früher Feierabend.“

„In Ordnung. Was soll ich für den Rest des Tages machen?“

„Sie wissen schon …“, Karina konnte sich nicht mehr konzentrieren, „… das Übliche.“

„Mit den Lieferungen bin ich fertig. Ich werde die Akten ordnen.“

Karina gab einen Laut der Zustimmung von sich, obwohl ihre Akten in ordentlichem Zustand waren, nach Alphabet geordnet und mit Querverweisen versehen.

Der Weg vom Eingang von Sutter Chocolat bis zum Flur, der zu den darüber liegenden Wohnungen führte, war zehn Schritte weit. Sie zählte jeden einzelnen, während sie sich zwang, nicht zu Alex’ Fenstern hochzusehen.

Im Hausflur begegnete ihr Frederick Alonzo, der im ersten Stock ihr gegenüber wohnte und seine Post holte. „Miss Sutter“, sagte er. Er war Anfang fünfzig, mit braunem Haar, das von grauen Strähnen durchzogen war, und einem schüchternen Lächeln. Seit knapp einem Jahr, war er ihr Mieter, immer nett, höflich und leise. „Guten Tag.“

Karina schloss die Augen und tastete nach der Wand, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. „Hallo, Mr. Alonzo.“

„Ist Ihnen schwindelig?“, erkundigte er sich besorgt.

Sie hob abwehrend eine Hand. „Mir ist nur ein bisschen warm.“

„Ich glaube, Sie haben Fieber. Sie sollten nach oben gehen und sich ins Bett legen.“

„Ja, danke. Das werde ich machen.“

Mr. Alonzo bot ihr seinen Arm. „Ich werde Ihnen helfen.“

„Danke, nicht nötig.“

Mr. Alonzo ging zur Treppe. „Na schön, wenn Sie meinen.“

„Ich muss noch meine Post holen“, sagte sie. „Ich komme gleich nach.“

„Passen Sie auf sich auf, Miss Sutter. Klingeln Sie, falls Sie etwas brauchen.“

Wenn es dazu kam, würde sie Alex SOS flaggen. Zweifellos würde er sie wieder heimlich beobachten, besonders nachdem sie sich so zum Narren gemacht hatte.

Karina hielt inne. Wenn Debby recht hatte und Alex tatsächlich eine der Trüffeln gegessen hatte, bestand doch noch die Chance auf eine Verführung heute Nacht. Oder zumindest darauf, es ihm ein wenig heimzuzahlen.

Entschlossen stieg sie die Treppe hinauf. Nachdem sie das Gebäude als Investition gekauft hatte, um nicht ständig Miete zahlen zu müssen, hatte sie sich den Luxus erlaubt, zwei Wohnungen zu einer zusammenzulegen. Sie hatte einen Teil der Decke wegnehmen und eine Wendeltreppe aus Metall einbauen lassen. Die Zimmer waren groß und schlicht, aber modern und elegant eingerichtet. Es gab helle Holzfußböden und Regale, viel Creme- und Elfenbeinfarbenes. Geschmackvoll, bis auf ein paar ausgefallene Akzente aus ihrer Jahrmarktsammlung, zu der auch eine Wahrsagemaschine gehörte, die neben dem bogenförmigen Eingang zum Wohnzimmer stand.

Esmeralda, die Zigeunerin, war eine knallbunte Kreatur hinter Plexiglas. Die obere Hälfte der lebensgroßen Schaufensterpuppe steckte in einem Glitzerkostüm mit Fransen. An den Ohren trug sie große Kreolen. Oben auf dem Kasten lagen immer ein paar Münzen für Karinas Gäste, die sich ständig das Schicksal vorhersagen lassen wollten.

Jetzt griff Karina nach den Münzen. „Ich brauche Antworten, Esme“, sagte sie und schob fünfzig Cent in den Schlitz. „Werde ich heute Nacht einsam sein?“

Die bunten Glühlampen um den Kasten flackerten abwechselnd rot und golden. Auf einer mit Samt drapierten Plattform, hinter der Esmes untere Hälfte verborgen war, leuchtete eine Kristallkugel. Dann erwachte die Puppe zum Leben. Sie öffnete die Augen und hob einen Arm. „Gib mir deine Hand“, sagte die Automatenstimme. „Ich werde dir dein Schicksal vorhersagen.“

Karina legte ihre Hand an die Berührungsfläche, die grün leuchtete und warm war. Aus Spaß hatte sie ihren Freunden erklärt, dass Esme sich niemals irrte, aber natürlich war das purer Unsinn.

Nach einigen Takten Jahrmarktgeklimper blinkten Esmes schwarze Marmoraugen, und eine Karte fiel in den Behälter neben dem Münzeinwurf. „Schicksal vorhergesagt.“

Das sagte Esme jedes Mal – ihr Wortschatz war eben sehr begrenzt. Nur die Karten variierten. Karina hatte schon einmal überlegt, die Maschine mit individuell gestalteten, selbst gedruckten Karten aufzufüllen, war aber bisher nie dazu gekommen. Ohne große Erwartung las sie die Prophezeiung.

Ein geheimnisvoller Fremder wird in dein Leben treten.

Wow! Wie standen wohl die Chancen?

Lachend tätschelte sie Esmes Kasten. Sie hatte nie darauf geachtet, wie oft sich die Karten wiederholten, konnte sich jedoch nicht daran erinnern, dass jemand schon einmal diese Karte erhalten hatte. Vermutlich war es aber so.

„Purer Zufall“, sagte sie und dachte auf dem Weg zum Fenster an den Mann, der kein völlig Fremder mehr war. Das Nachmittagslicht schwand bereits. Diese Dezembertage waren kurz. Trotzdem schaltete sie keine Lampen ein. Noch nicht.

Die dünnen Vorhänge waren offen, die Leinenjalousien hochgezogen. Sie hielt die Schicksalskarte hatte noch in der Hand. Sie wollte nur einen kurzen Blick nach gegenüber riskieren, um zu sehen, ob er zu Hause war.

Ein geheimnisvolle Fremder wird …

„Unsinn“, murmelte Karina und sah rasch zu Alex’ Apartment. Seine zerfledderten Rollos waren heruntergezogen, sodass sie nicht wusste, ob er sie beobachtete.

Das Spiel hatte eine Woche nach seinem Einzug begonnen, nachdem sie ihn zum ersten Mal auf der Straße bemerkt hatte. Eigentlich war sie keine Exhibitionistin, es hatte sie einfach so überkommen.

Zuerst sah sie ihn ein paar Mal tagsüber am Fenster stehen. Er schaute auf die Straße hinunter, was nichts Ungewöhnliches war, bis auf die Tatsache, dass er jedes Mal zurückwich, sobald ein Fußgänger nach oben sah. Manchmal winkte sie ihm sogar zu, wenn sie samstags die Fenster putzte. Er sah sie, wandte sich aber ab, ohne die freundliche Geste zu erwidern. Karina nahm es leicht.

Dann fiel er ihr abends auf, wenn seine Rollos öfter halb hochgezogen waren. Das kam ihr merkwürdig vor, sodass sie genauer darauf achtete. Dabei entdeckte sie, dass er nur selten das Licht in seiner Wohnung anmachte. Er saß im Dunkeln, eine schemenhafte Gestalt neben dem Fenster, kaum zu erkennen. Er saß nur da und beobachtete.

Was beobachtete er? Wen? Sie?

Karinas erste Reaktion war Wut über die Verletzung ihrer Privatsphäre. Von da an achtete sie sorgfältiger darauf, ihre Jalousien herunterzulassen. Aber der geheimnisvolle Fremde war ein Teil ihres Lebens geworden, selbst ihrer Träume. Plötzlich stellte sie fest, dass sie ständig an ihn denken musste.

Sie begann die Jalousien länger als gewöhnlich oben zu lassen. Sie wusste, dass er einen ausgezeichneten Blick auf ihre Wohnung hatte, wenn ihre Lampen eingeschaltet waren.

Karina atmete tief durch und stieß sich von der Wand ab. Sollte er doch ruhig so viel sehen, wie er wollte. Heute Nacht würde sie ihre Hemmungen ganz ablegen und ihm etwas bieten, was das Zusehen lohnte.

Alex trommelte mit den Fingern auf seinem Knie. Es gab nicht viel zu tun, wenn man Nacht für Nacht allein in einem kleinen Apartment herumsaß. Lange konnte er nicht still sitzen, dann lief er wie ein Tiger im Käfig auf und ab.

Mark Lexmond war ein aktiver Mann gewesen, der joggte, surfte, Volleyball spielte und sich mit Freunden in den Bars von Venice Beach traf. Er machte viele Überstunden in der Anwaltskanzlei und wollte daher in der Freizeit seinen Spaß haben.

Plötzlich kam ihm Karina Sutter wieder in den Sinn. Wenn ein Mann buchstäblich ein Gefangener war, bekam selbst die geringste Berührung große Bedeutung. Er hatte ihren Besuch den ganzen Nachmittag rekapituliert, bis diese unbedeutende Episode übertriebene Ausmaße annahm.