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San Stefano ist ein verschlafenes kleines Dorf in der Toskana,unweit von Siena, wo die Zeit langsam und gemächlich dahinzieht. Die idyllische Ruhe wird jedoch jäh gestört durch tödliche Schüsse auf Gianbattista Belloni, den Bürgermeister des Dorfes. Als sich die junge Anna Albertin der Polizei stellt, ahnen die Dorfbewohner das Tatmotiv: Es findet sich in der Vergangenheit, die alle vergessen wollten. Doch Carlo Rienzi, ein junger Anwalt, übernimmt die schwierige Aufgabe, den im Verborgenen liegenden Motiven und Zusammenhängen der Tat nachzuspüren...
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Seitenzahl: 356
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Morris L. West
Tochter des Schweigens
Roman
Ins Deutsche übertragen von Ernst Laue
Edel eBooks
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Es war heller Sommermittag in den Hochtälern der Toskana. Eine träge Zeit, die Jahreszeit von Staub und Schlaffheit, von abgeerntetem Flachs und Lerchen in Stoppelfeldern, von neuem Wein, der heranreifte im Land der alten Götter.
Es war eine Stunde des Glockenschlags – träge schwingend über die Gräber toter Heiliger und vergessener Landsknechte. Eine Stunde der Dunkelheit hinter geschlossenen Läden, denn wer anders als Hunde und törichte Amerikaner würde sich der heißen Augustmittagssonne aussetzen?
Im Dorf San Stefano klangen die ersten Schläge des Angelus über die Piazza. Still lag das Dorf, schläfrig und satt von einer guten Ernte, in der Hitze.
Ein alter Mann blieb stehen und bekreuzigte sich mit gesenktem Kopf. Vor der Tür des Restaurants stand ein dicker Bursche mit weißer Schürze und einem karierten Tuch über dem Arm und stocherte mit einem Streichholz in den Zähnen. Ein Polizist mit einem Eselsgesicht trat vor seine Tür, spähte träge über den Platz, spie aus, kratzte sich und kehrte zu seinem Wein und Käse zurück.
Aus den Mäulern müder Delphine rann ein dürftiger Wasserstrahl in das flache Becken des Brunnens, in dem ein dünner kleiner Bursche ein Boot aus Papier schwimmen ließ. Ein Mann zog einen Karren klappernd über das Kopfsteinpflaster, hochbeladen mit Reisigbündeln und braunen Beuteln Holzkohle, auf denen hoch oben ein winziges kraushaariges Mädchen thronte. Eine barfüßige Frau, ein Baby im Arm, trat aus der Weinhandlung und ging über die Piazza zur Allee am anderen Ende. Ein paar Kilometer entfernt ragten die Türme und Dächer Sienas in den kupfernen Dunst.
Es war eine friedvolle Szenerie, mit wenig Menschen, seltsam antik anmutend und bewegt nur vom langsamen Pulsschlag des Landlebens. Hier floß die Zeit träge dahin, wie das Wasser des Brunnens, und der einzige Wechsel war der von Alter und Jahreszeit. Es war ein Platz, wo Tradition viel wichtiger schien als Fortschritt, wo Überliefertes gepflegt und verehrt wurde wie alte Liebe und alter Haß.
Eine Straße führte hinein und eine hinaus, von Arezzo nach Siena. Doch nur im Sommer gab es auf ihr spärlichen Verkehr. Handel und Tourismus hatten San Stefano nie berührt. Die Güter in den Tälern waren klein und wurden von ihren Bauern eifersüchtig vor Fremden bewahrt. Wer fortging, galt als ruhe- oder wurzellos oder von Ehrgeiz geplagt. Das Dorf war froh, solche loszuwerden.
Noch ehe das letzte Echo der Glocke verhallte, war die Piazza menschenleer. Die Läden waren geschlossen, die Vorhänge zugezogen, und der Staub setzte sich in die Pflasterritzen, während das Zirpen der Zikaden sich grell und monoton aus den Feldern der Umgebung erhob.
Knapp zehn Minuten später trat der Glöckner aus der Kirche, ein älterer Mönch in der staubigen Kutte der Franziskaner, mit weißem Haar, in das eine Tonsur geschnitten war, und einem roten Gesicht, so rund wie ein Winterapfel. Einen Augenblick stand er im Schatten des Portals und trocknete sich das Gesicht mit einem roten Taschentuch. Dann zog er die Kapuze über den Kopf und ging mit klappernden Sandalen über die glühendheißen Steine der Piazza.
Er hatte noch keine zehn Schritte getan, als ein höchst ungewöhnlicher Anblick ihn stehenbleiben ließ. Ein Taxi aus Siena kam langsam auf die Piazza gerollt und blieb vor dem Restaurant stehen. Eine Frau stieg aus, bezahlte den Fahrer und sah dem Wagen nach, bis er verschwunden war.
Sie war jung, bestimmt nicht älter als fünfundzwanzig, und ihre Kleidung war die einer Städterin: ein Schneiderkostüm, weiße Bluse, modische Schuhe und eine Tasche an einem Lederriemen über der Schulter. Sie trug keinen Hut, und ihr dunkles Haar fiel in Wellen über ihre Schultern. Ihr Gesicht war blaß, still und von einzigartiger Schönheit, wie das einer wächsernen Madonna. In der menschenleeren, im Sonnenglast liegenden Piazza wirkte sie unsicher und vereinsamt.
Eine Weile stand sie da und sah sich um, als suche sie sich in einer einst vertrauten Gegend zurechtzufinden. Dann ging sie mit entschlossenen Schritten zu einem Haus zwischen Weinhandlung und Bäckerei und zog die Glocke. Eine dicke Matrone in Schwarz mit weißer Schürze öffnete die Tür. Sie wechselten ein paar Worte, und die Matrone bat sie mit einer Geste einzutreten. Sie lehnte ab, und die Matrone ging, die Tür offenlassend. Das Mädchen wartete und suchte etwas in ihrer Tasche, während der Mönch, neugierig wie jeder Landbewohner, beobachtete, was geschah.
Eine halbe Minute verging. Dann tauchte ein Mann in der Tür auf, ein großer, kräftiger Bursche in Hemdsärmeln, mit grauem Haar und blassem faltigem Gesicht. Eine Serviette steckte in seinem offenen Hemd. Er kaute noch, und in dem klaren Mittagslicht konnte der Bruder einen Tropfen Soße an seinem Mundwinkel herunterlaufen sehen. Ohne ein Zeichen des Erkennens sah er das Mädchen an und stellte ihr eine Frage.
Sie schoß ihn in die Brust.
Die Wucht der Kugel schleuderte ihn gegen den Türstock, und schreckgelähmt sah der Mönch, wie sie ihn noch viermal traf, sich dann abwandte und ohne Eile auf die Polizeistation zuging. Noch dröhnte das Echo der Schüsse über die Piazza, als der Mönch zitternd und stolpernd losstürzte, um einem Mann Absolution zu erteilen, dessen Seele schon nicht mehr auf dieser Erde weilte.
Im fünf Meilen entfernten Siena saß Doktor Alberto Ascolini für sein Porträt – eine Belanglosigkeit, der er sich mit Ironie unterzog.
Er war ein großer Mann von fünfundsechzig Jahren, mit einem lebhaften rosigen Gesicht und einer schneeweißen Mähne, die betont wirr über seinen Kragen floß. Er trug einen seidenen Anzug, makellos geschnitten, doch wohlberechnet unmodern, die seidene Krawatte schmückte eine Brillantnadel. Er sah wie ein Schauspieler aus – ein äußerst erfolgreicher Schauspieler. Doch er war Rechtsanwalt. Einer der erfolgreichsten Anwälte Roms.
Die Malerin war schlank und dunkel, Ende Zwanzig, mit braunen Augen, offenem Lächeln und ausdrucksvollen, schönen Händen. Sie hieß Ninette Lachaise. Ihr Atelier überblickte die Dächer Sienas, bis hin zum Campanile der Assunta. Es war geteilt in Studio und Wohnraum und eingerichtet mit ausgesuchten Stücken einheimischer Handwerkskunst. Ihre Bilder waren Spiegel ihres Wesens – lichtüberflutet, wenig detailliert und voller Bewegung. Eine Fortentwicklung der primitiven toskanischen Tradition zur Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts.
Sie fertigte mit Kohle eine Anzahl lebendiger Skizzen von ihrem Modell, das, halb im Schatten, halb in der Sonne sitzend, Skandalgeschichten aus römischen Prozessen erzählte.
Es war eine Glanzleistung – von ihr wie von ihm. Die Geschichten des alten Mannes waren voll Witz, Bosheit und raffinierter Schlüpfrigkeit.
Die Skizzen waren lebendig und echt – es schien, als steckten ein Dutzend Männer in der rosa Haut dieses ungemein intelligenten Lebemannes.
Ascolini beobachtete sie mit seinen klugen Augen und sagte schließlich unvermittelt und voller Scheinpathos: »Wenn ich bei Ihnen bin, Ninette, trauere ich stets meiner Jugend nach.«
»Wenn Sie nichts anderem nachtrauern müssen, dottore«, sagte sie mit leiser Ironie, »dann sind Sie ein sehr glücklicher Mensch.«
»Was gibt es sonst noch, das des Nachtrauerns wert wäre – ausgenommen die Torheiten, die man nicht begangen hat?«
»Vielleicht die Folgen der Torheiten, die man begangen hat.«
»Aber, aber, Ninette.« Ascolini gestikulierte mit seinen ausdrucksvollen Händen und lachte trocken. »Keine Vorlesungen, bitte. Heute ist mein erster Urlaubstag. Ich bin hergekommen, um abgelenkt zu werden.«
»Nein, dottore«, sie lächelte und zeichnete mit raschen kräftigen Strichen weiter, »ich kenne Sie zu gut und zu lange. Wenn Sie mit mir Kaffee trinken oder mich zum Essen einladen, dann sind Sie mit der Welt zufrieden. Wenn Sie mir einen Auftrag geben oder mir zuviel für meine Landschaften bezahlen, dann haben Sie irgendein Problem. Sie bieten mir ein Honorar, um es zu lösen. Eine schlechte Gewohnheit ist das, nicht? Macht Ihnen gar keine Ehre.«
Sein glattes, noch immer jugendliches Gesicht umwölkte sich flüchtig, dann lächelte er verlegen. »Aber Sie nehmen das Honorar trotzdem, Ninette. Warum?«
»Ich verkaufe Ihnen meine Bilder, dottore, nicht meine Sympathie. Die haben Sie umsonst.«
»Sie beschämen mich, Ninette«, sagte der alte Mann.
»Nichts beschämt Sie, dottore. Und das ist auch die Wurzel all Ihrer Kümmernisse. Mit Valeria, mit Carlo und mit sich selbst. Fertig!« Sie machte einen letzten Strich und wandte sich ihm mit ausgestreckter Hand zu. »Genug der Worte. Die Sitzung ist zu Ende. Kommen Sie und sehen Sie sich’s an.
« Sie führte ihn zur Staffelei und hielt ihn bei der Hand, während er die Skizzen ansah. Er schwieg lange und sagte schließlich ohne jeden Spott:
»Sind das alles meine Gesichter?«
»Nur die, die Sie mir zeigen.«
»Sie glauben, ich habe noch mehr?«
»Ich weiß es. Sie sind ein zu vielschichtiger Mann, dottore, zu verwirrend in jeder Gestalt.«
»Und wo ist der wahre Ascolini?«
»In allen – und in keinem.«
»Erklären Sie sie mir, Kind.«
»Das hier: der große Jurist. Der Mann, der Roms Gerichte beherrscht. Er ist recht wandlungsfähig, wie Sie sehen. Hier ist er der Liebling der Salons, der Spaßmacher, der die Männer erröten läßt und die Damen zum Kichern bringt, wenn er in ihre bereitwilligen Ohren flüstert. Und hier? Ein Schnappschuß im Sordello: Ascolini beim Wein mit seinen Studenten, traurig, keinen eigenen Sohn zu haben. Hier ist er, der Schachspieler, der Menschen rückt wie Bauern und sich selber noch mehr verachtet als sie. Im nächsten ist eine Erinnerung. An die Jugend vielleicht, und an eine alte Liebe. Und das letzte, der große Anwalt. Was wäre aus ihm geworden, hätte ihn nicht ein Dorfpriester aus dem Graben gezogen und ihm die Welt geöffnet? Ein Bauer mit einem Reisigbündel auf dem Rücken und lebenslanger Eintönigkeit in den Augen.«
»Es ist einfach zuviel«, sagte der alte Mann. »Von einem so jungen Menschen. Zuviel und zu erschreckend. Wieso wissen Sie das alles, Ninette? Wieso sehen Sie hinter so viele Geheimnisse?«
Einen Augenblick sah sie ihn mit dunklen mitleidigen Augen an. Dann schüttelte sie den Kopf.
»Das sind keine Geheimnisse, dottore. Wir sind, was wir tun. Es steht in unseren Gesichtern geschrieben – und jeder kann es lesen. Ich? Ich bin eine Fremde hier. Ich bin von Frankreich gekommen – wie die alten Glücksritter, die Reichtümer des Südens zu plündern. Ich lebe allein. Ich verkaufe meine Bilder – und warte auf einen Menschen, dem ich mich anvertrauen kann. Ich weiß, was es heißt, allein zu sein und voll Angst. Ich weiß, was es heißt, die Hand nach Liebe auszustrecken und eine Illusion zu greifen. Sie sind gut zu mir gewesen – und haben mir mehr von sich gezeigt, als Sie wissen. Ich habe mich oft gefragt, warum.«
»Das ist doch einfach genug.« Ein harter Ton schwang in seiner vollen Stimme mit. »Wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre, Ninette, dann würde ich Sie fragen, ob Sie meine Frau werden wollen.«
»Wenn ich zwanzig Jahre älter wäre, dottore«, sagte sie leise, »würde ich wahrscheinlich sagen: ja. Und Sie würden mich fortan dafür hassen.«
»Nie könnte ich Sie hassen, meine Liebe.«
»Sie hassen alles, was Sie besitzen, dottore. Sie lieben nur, was Sie nicht haben können.«
»Sie sind hart heute, Ninette.«
»Es gibt harte Tatsachen, denen man ins Gesicht sehen muß, nicht wahr?«
»Wahrscheinlich.«
Er ließ ihre Hand los, ging zum Fenster und ließ seinen Blick über die sonnenbeschienenen Türme und Dächer der alten Stadt schweifen. Seine hohe Gestalt schien zusammengesunken, sein kühnes Gesicht zerfurcht und eingefallen, als wäre er unversehens alt geworden. Eine Welle des Mitgefühls überflutete Ninette. Nach einer Weile sagte sie: »Es ist Valeria, nicht wahr?«
»Und Carlo.«
»Erzählen Sie mir von ihr.«
»Wir waren noch keine zwei Tage hier, da fing sie schon ein Verhältnis an. Mit Basilio Lazzaro.«
»Es ist nicht das erste, dottore. Sie selber haben sie ja ermutigt. Was stört Sie gerade an diesem?«
»Es ist schon ziemlich spät für mich, Ninette. Ich will Enkelkinder in meinem Haus und Aussicht auf Beständigkeit. Und dieser Lazzaro ist ein Lump, der sie zerstören wird.«
»Ich weiß«, sagte Ninette Lachaise leise. »Ich weiß es nur zu gut.«
»Ist es in Siena schon stadtbekannt?«
»Das glaube ich nicht. Aber ich war einmal selber in Lazzaro verliebt. Er war meine große Illusion.«
»Das tut mir leid, Kind.«
»Ich brauche Ihnen nicht leid zu tun – nur sich selber und Valeria sollten Sie bedauern. Und Carlo, freilich. Weiß er es schon?«
»Ich glaube kaum.«
»Aber von den anderen – von denen hat er doch gewußt?«
»Das nehme ich an.«
»Ich erinnere mich, dottore, Sie haben darüber gelacht. Sie haben einen Witz daraus gemacht, daß Ihre Tochter einem Narren von Ehemann Hörner aufsetzt. Sie sagten, sie folge Ihren Spuren, Sie waren stolz auf ihre Eroberungen – und auf ihre Schlauheit.«
»Er ist ein Narr«, sagte Ascolini bitter, »ein sentimentaler junger Narr, der niemals wußte, was die Uhr geschlagen hat. Er hat eine Lektion verdient.«
»Und jetzt?«
»Jetzt redet er davon, daß er mich verlassen will und eine eigene Praxis eröffnen.«
»Und das ist Ihnen nicht recht?«
»Natürlich nicht! Er ist zu jung, zu unerfahren. Er wird seine Karriere ruinieren, noch ehe sie richtig begonnen hat.«
»Sie haben seine Ehe ruiniert, dottore – was machen Sie sich um seine Karriere Gedanken?«
»Das tu’ ich nicht. Nur insofern, als es auch die Zukunft meiner Tochter betrifft. Und die Zukunft ihrer Kinder, falls sie je welche haben sollte.«
»Sie lügen, dottore«, sagte Ninette Lachaise traurig. »Sie belügen mich – und Sie belügen sich selber.«
Der alte Anwalt lachte auf und hob in beinah komischer Verzweiflung die Arme.
»Selbstverständlich lüge ich! Ich kenne die Wahrheit besser als Sie, Kind. Ich habe mir meine eigene Welt geschaffen – und mag sie nicht mehr leiden. Nun brauche ich jemanden, der sie mir auf dem Kopf zerschlägt und mir die Trümmer überläßt.«
»Vielleicht will Carlo eben grade das versuchen?«
»Carlo?« explodierte Ascolini voll Verachtung. »Er ist ja nicht einmal Manns genug, seine eigene Frau zu beherrschen. Wie kann er es da mit einem perversen alten Bullen wie mir aufnehmen? Nichts würde mich mehr freuen, als wenn er mir’s heimzahlen würde. Aber dazu ist er viel zu fein! Ha!« Er zuckte die Achseln und nahm ihre Hände wieder in die seinen. »Vergessen Sie das und malen Sie weiter Ihre Bilder, meine Liebe. Wir sind nicht wert, daß man uns hilft. Keiner von uns ist es wert. Nur eins...«
»Was denn, dottore?«
»Sie müssen heute mit uns zu Abend essen. Draußen in der Villa.«
»Nein – bitte!« Die Ablehnung war scharf und voller Nachdruck. »Sie sind hier jederzeit willkommen, das wissen Sie – nur, bitte, halten Sie mich aus Ihrer Familie. Sie paßt nicht zu mir – ich passe nicht zu ihr.«
»Ich habe Sie nicht unseretwegen gebeten. Nur Ihretwegen. Ich habe einen Gast – den sollten Sie kennenlernen.«
»Wer ist das?«
»Mein Hausgast. Peter Landon. Er ist Arzt und kommt von Australien. Über London.«
»Ein barbarisches Land, was man so hört, dottore, voller fremder Tiere und Riesenkerlen in Hemdsärmeln.«
Ascolini lachte.
»Wenn Sie diesen Landon kennenlernen, werden Sie zunächst geneigt sein, das zu glauben. Er füllt ein ganzes Zimmer. Und wenn er redet, kommt er einem zu brüsk und selbstsicher vor. Dann merkt man, daß er reines Toskanisch spricht und daß das, was er sagt, Hand und Fuß hat – und daß er ein bewegteres Leben hinter sich hat als wir beide. In ihm ist, glaube ich, eine gewisse Kraft lebendig – und auch so etwas wie Unzufriedenheit.« Er legte eine Hand auf ihre Wange. »Er könnte so gut für Sie sein, meine Liebe.«
Sie wurde rot und wandte sich ab.
»Wollen Sie den Heiratsvermittler spielen, dottore?«
»Ich habe Sie lieber, als Sie ahnen, Ninette«, sagte er. »Ich möchte Sie so gern glücklich sehen. Bitte, kommen Sie.«
»Also gut, dottore, ich komme, aber vorher müssen Sie mir etwas versprechen.«
»Alles, was Sie wollen, Kind.«
»Sie dürfen keine Komödien mit mir aufführen, keine Ränke schmieden, wie Sie das mit Ihrer Familie machen. Das könnte ich Ihnen nie verzeihen.«
»Ich könnte es mir selber nicht verzeihen. Glauben Sie mir, Ninette.« Er nahm ihr Gesicht zwischen seine alten Hände und küßte sie flüchtig auf die Stirn. Dann ging er, und sie stand lange unbeweglich und blickte über die Dächer der Stadt auf die Hügel der Toskana, wo das Blut uralter Opfer den Wein süßte und die Zypressen aus den Gräbern toter Prinzen wachsen.
In der Villa Ascolini, hoch oben auf dem terrassenförmigen Hügel des Dorfes San Stefano, schlummerte Valeria Rienzi hinter geschlossenen Läden. Sie hatte keine Glocken gehört, keine Schüsse und nichts von dem anschließenden Tumult. Die einzigen Laute, die ihr Zimmer erreichten, waren das Zirpen der Zikaden, das Klappern der Schere des Gärtners und die zarte, quälende Musik, die Carlo am Flügel im Salon spielte.
Sie dachte nicht an den Tod an diesem Sommermittag. Ihr Blut strömte zu drängend für solch traurige Gedanken. Sie brauchte nur ihren Körper auf dem Bett zu strecken, die Seide auf ihrer Haut zu spüren, um die Süße und den Reiz des Lebens zu empfinden. Sie dachte an die Liebe, die für sie nichts anderes war als eine angenehme, wenn auch vergängliche Unterhaltung. Und an die Ehe, die sie als einen dauerhaften, wenn auch mitunter lästigen Zustand betrachtete.
Ehe hieß Carlo Rienzi, der hübsche jungenhafte Mann, der unten seine traurigen Melodien spielte. Ehe hieß Ergebenheit und Takt, Wohlanständigkeit und mütterliche Sorge um des Ehemannes Karriere. Ehe hieß Aufgabe der Freiheit, ein Aufwand von Zärtlichkeit, die sie kaum je empfand, und Forderungen an einen Körper, den Carlo nie hatte wecken können. Ehe hieß die Zügelung eines Geistes, der zu eigensinnig und zu lebhaft war, um seiner Melancholie und seinem unsicheren Temperament zu entsprechen. Ehe hieß Rom und römische Selbstgerechtigkeit – Dinners und Cocktailpartys für die, die ihrem Vater und seinem halbflüggen Schwiegersohn reizvolle Fälle übergaben.
Liebe, eingebettet in einen Sommerurlaub in der Toskana, hieß Basilio Lazzaro; der dunkle leidenschaftliche Junggeselle, der kein Geheimnis aus seiner Vorliebe für junge Ehefrauen machte. Liebe war ein Gegenmittel gegen Langeweile, eine Bestätigung der Unabhängigkeit. Sie war ein herrlicher Spaß, an dem auch ein verständnisvoller Vater seine Freude hatte, ein Stachel, mit dem man einen zu jungen Gatten zur Männlichkeit treiben konnte.
Mit dreißig Jahren war Valeria Rienzi bereit, Gesundheit, gutes Aussehen, keine Kinder, einen gefügigen Mann, einen drängenden Liebhaber und einen Vater, der alles sah, alles verstand und alles mit der Befriedigung des Zynikers verzieh, für Segnungen zu halten.
Es waren angenehme Gedanken, die sie in der zwielichtigen, wohligen Wärme ihres Zimmers beschäftigten, wo gemalte Pfauen und Dryaden über ihr an der Decke schwebten. Sie hörte Musik, deren Traurigkeit sie nicht im geringsten anrührte, und vor ihr lag das Versprechen eines ganzen Sommers. Sollte Basilio jemals zu anspruchsvoll werden, dann war da immer noch der Gast, Peter Landon. Noch hatte sie sich nicht mit ihm beschäftigt, doch war reichlich Zeit, den Mann aus der Neuen Welt in die trickreichen sardonischen Spiele der Alten zu verwickeln.
Und doch – und doch. Eine dunkle Unruhe hatte begonnen, sich ihrer unter der Oberfläche zu bemächtigen. Veränderungen gingen in ihr vor, die sie noch nicht völlig verstand. Ein Gefühl der Leere, ein Wunsch nach Führung, ein Drang nach neuen, leidenschaftlichen Begegnungen, unbestimmte Furcht und gelegentliches schmerzhaftes Bedauern. Einst hatte die Einigkeit mit ihrem Vater Vergebung selbst ihrer wildesten Torheiten bedeutet. Jetzt war es keine Vergebung mehr, sondern eher eine Art zögernder Duldung, als wäre er weniger von ihr als von sich selber enttäuscht. Er machte kein Geheimnis daraus, daß er wünschte, sie würde ruhig werden und eine Familie gründen. Das Problem war nur, daß er noch immer keinen Respekt vor Carlo hatte und ihr nicht helfen konnte, den eigenen wiederherzustellen. Was er verlangte, war eine neue Verschwörung: die Verführung eines Ehemannes, der durch die Gleichgültigkeit seiner Frau selber gleichgültig geworden war – durch eine lieblose Gemeinschaft, die nur dazu da war, einem alten Epikureer Liebe zu bescheren; ihm, Ascolini, der sein Leben lang vorgegeben hatte, sie zu verachten.
Es war zuviel für zuwenig. Zuwenig für sie, zuviel für ihn. Und für Carlo eine Täuschung zuviel.
Einst hatte er um ihre Liebe gebettelt und um Kinder, die ihm Erfüllung schienen. Einst war er bereit, die letzten Überreste seines Stolzes zu opfern für einen Kuß und einen Augenblick der Gemeinsamkeit. Doch die Zeit war vorüber. In diesen letzten Monaten war er älter geworden und kälter. Unabhängiger und mehr von eigenen Plänen in Anspruch genommen. Einen Teil davon hatte er ihr verraten.
Er war entschlossen, aus Ascolinis Praxis auszuscheiden und eine eigene zu gründen. Dann würde er ihr ein eigenes Heim bieten können, einen Haushalt, von dem ihres Vaters getrennt. Und dann...?
Es war dieses Dann, das sie beunruhigte – dann, wenn sie auf sich selber gestellt sein würde, ohne Stütze, ohne Vergebung, dem Urteil eines betrogenen Gatten ausgeliefert und dem Zwang ihrer eigenen wirren Sehnsüchte.
Das war das eigentliche Problem. Was ersehnte man so sehr, daß der Wunsch zum Schmerz werden konnte? Was brauchte man so nötig, daß man bereit war, alles andere dafür zu opfern? Vor vierundzwanzig Stunden hatte sie die gleiche Frage von Basilio Lazzaros Lippen gehört. Von Lippen, denen sie eine solche Frage nie zugetraut hatte.
Vollständig angezogen, mit Handschuhen und Tasche, hatte sie in seiner Schlafzimmertür gestanden und zugesehen, wie er sein Hemd über seiner mächtigen braunen Brust zuknöpfte. Sie hatte die schlaffe, befriedigte Leichtigkeit seiner Bewegung bemerkt und seine plötzliche Gleichgültigkeit ihr gegenüber. Und sie hatte gefragt: »Warum, Basilio, warum muß es immer so sein?«
»Wie sein?« fragte Lazzaro gereizt und griff nach seiner Krawatte.
»Wenn wir uns treffen, ist es wie die Ouvertüre zu einer Oper. Wenn wir uns lieben, ist alles Drama und Musik. Wenn wir uns trennen, ist es, als ob wir ein Taxi bezahlten.«
Lazzaros dunkles hübsches Gesicht zeigte Verwirrung. Er runzelte die Stirn.
»Was erwartest du, cara? So ist das nun mal. Wenn du den Wein getrunken hast, dann ist die Flasche leer. Wenn die Oper zu Ende ist, bleibst du nicht da und wartest auf die Putzfrau. Du hast dein Vergnügen gehabt und gehst nach Haus und wartest auf die nächste Vorstellung.«
»Und das ist alles?«
»Ich frage dich, was sollte denn sonst noch sein?«
Es war ein hübsches Rätsel, auf das sie weder früher noch jetzt eine Antwort gefunden hatte. Sie rätselte noch immer daran, als die Standuhr Viertel vor zwölf schlug und es Zeit war, zu baden und sich zum Mittagessen anzuziehen.
Die Piazza von San Stefano war belebt wie ein Ameisenhaufen. Das ganze Dorf war auf den Beinen und drängte sich aufgeregt schwatzend um das Haus des Toten. Eine Gruppe Männer stritt mit dem Polizisten, der vor der Polizeistation Wache stand, doch war nichts Aufrührerisches in ihrem Benehmen, keine Feindseligkeit in ihrem Verhalten. Sie waren nur Zuschauer, durch Neugier in ein dramatisches Spiel verstrickt.
Aus dem Fenster seines Büros beobachtete Sergeant Fiorello die Menge mit scharfen Augen. So weit, so gut. Sie waren aufgeregt, doch harmlos wie Schafe in der Hürde. Es drohte kein gewalttätiger Ausbruch. In einer Stunde würden die Beamten von Siena den Fall übernehmen. Die Familie des Ermordeten war mit ihrem eigenen Schmerz beschäftigt. Er hatte Zeit, sich um die Gefangene zu kümmern.
Sie saß zusammengesunken und mit gebeugtem Kopf auf einem Stuhl. Zuckungen erschütterten ihren Körper. Fiorellos schlankes ledernes Gesicht wurde sanft, als er sie ansah. Er goß Brandy in einen irdenen Becher und hielt ihn an ihre Lippen. Am ersten Schluck drohte sie zu ersticken, dann nippte sie langsam. Nach einer kleinen Weile beruhigte sie sich, und Fiorello bot ihr eine Zigarette an. Sie lehnte ab und sagte mit tonloser Stimme: »Nein, danke, es geht mir schon besser.«
»Ich muß Ihnen Fragen stellen. Das wissen Sie doch?« Für einen so massigen Mann war seine Stimme seltsam sanft. Das Mädchen nickte teilnahmslos.
»Ich weiß.«
»Wie heißen Sie?«
»Das wissen Sie ja schon. Anna Albertini. Ich war früher Anna Moschetti.«
»Wem gehört die Pistole?« Er hob die Waffe auf und hielt sie ihr auf der flachen Hand hin. Sie zuckte nicht zusammen und wandte sich auch nicht ab. Sie sagte einfach:
»Meinem Mann.«
»Wir müssen ihn benachrichtigen. Wo ist er?«
»In Florenz. Vicolo degli Angelotti Nummer sechzehn.«
»Ist da Telefon?«
»Nein.«
»Weiß er, wo Sie sind?«
»Nein.«
Ihre Augen waren leer, sie saß steif und bleich auf ihrem Stuhl. Ihre Stimme klang mechanisch und metallisch wie die eines Menschen unter Hypnose. Einen Augenblick zögerte Fiorello, dann fragte er:
»Warum haben Sie das getan, Anna?«
Zum erstenmal erschien eine Spur von Leben in ihrer Stimme und ihren Augen.
»Sie wissen, warum. Es kommt nicht darauf an, wie ich es sage oder wie Sie es aufschreiben.«
»Dann sagen Sie mir etwas anderes, Anna. Warum haben Sie diesen Zeitpunkt gewählt, Anna? Warum haben Sie es nicht vor einem Monat getan oder vor fünf Jahren? Warum haben Sie nicht noch länger gewartet?«
»Ist das denn wichtig?«
Fiorello spielte abwesend mit der Pistole, die Gianbattista Belloni getötet hatte. Auch seine Stimme nahm einen nachdenklichen Ton an, als erlebe auch er noch einmal Ereignisse, die längst vergangen waren.
»Nein, es ist nicht wichtig. Sehr bald wird man Sie von hier fortbringen. Sie werden angeklagt und verurteilt und für zwanzig Jahre in ein Gefängnis geworfen werden, weil Sie einen Mann kaltblütig ermordet haben. Ich fragte nur, um die Zeit auszufüllen.«
»Zeit.« Sie griff nach dem Wort, als wäre es der Schlüssel zu einem lebenslangen Mysterium. »Es war nicht wie auf eine Uhr sehen oder die Seiten von einem Kalender abreißen. Es war... es war wie ein Weg eine Straße entlang, immer dieselbe Straße, immer dieselbe Richtung, dann endete die Straße, hier in San Stefano, vor Gianbattista Bellonis Haus. Sie verstehen es, nicht wahr?«
»Ja, ich verstehe es.«
Doch das Verstehen war zu spät gekommen. Er wußte es, sechzehn Jahre zu spät. Die Straße war im Kreis verlaufen, der Kreis hatte sich geschlossen. Jetzt stolperte er über Meilensteine, die er längst überholt und vergessen glaubte. Er legte die Waffe aus der Hand und griff nach einer Zigarette. Als er das Zündholz daranhielt, merkte er, daß seine Hände zitterten. Beschämt stand er auf und begann, Brot, Käse und Oliven auf einen Teller zu legen. Dann goß er ein Glas Wein ein und stellte die karge Mahlzeit vor Anna Albertini auf den Tisch. Er sagte barsch:
»In Siena werden sie Sie weiter verhören. Stundenlang, wahrscheinlich. Sie sollten versuchen, etwas zu essen.«
»Ich bin nicht hungrig, danke.«
Er wußte, sie litt unter einem Schock. Doch ihre Teilnahmslosigkeit reizte ihn unvernünftigerweise. Er fuhr sie an: »Mutter Gottes! Verstehen Sie denn nicht! Ein paar Häuser weiter liegt ein Toter. Sie haben ihn umgebracht. Er ist der Bürgermeister des Ortes. Und draußen die Menge würde Sie in Stücke reißen, wenn nur einer das Stichwort gäbe. Die Männer von Siena werden Sie braten wie einen Fisch in der Pfanne. Ich will Ihnen doch nur helfen, aber ich kann Sie nicht zwingen zu essen!«
»Warum wollen Sie mir helfen?«
Es war kein Mißtrauen in der Frage, nur die erstaunte milde Neugier des Leidenden. Fiorello wußte die Antwort nur zu gut. Doch er konnte sie um sein Leben nicht geben. Er wandte sich ab und ging zum Fenster, während sie nun doch ein wenig von dem Essen zu sich nahm.
Auf der Piazza entstand plötzlich Bewegung. Der Mönch war aus dem Haus des Toten getreten und eilte auf die Polizeistation zu. Die Menschen umdrängten ihn, zupften an seiner Kutte und überschütteten ihn mit Fragen. Doch er winkte nur ab und stolperte atemlos in Fiorellos Büro. Als er das Mädchen erblickte, blieb er unbeweglich stehen, und seine alten Augen füllten sich mit Tränen. Fiorello sagte:
»Sie wissen, wer sie ist, nicht wahr?«
Fra Bonifazio nickte müde:
»Ich glaube, ich habe es schon erraten, als ich sie auf der Piazza stehen sah. Ich hätte das alles erwarten sollen, aber es ist schon so lange her.«
»Sechzehn Jahre. Und jetzt platzt die Bombe.«
»Sie braucht Hilfe.«
Fiorello hob die Schultern und breitete die Hände zu einer verzweifelten Geste aus.
»Was gibt es da schon zu helfen? Der Fall liegt klar auf der Hand. Vendetta, vorsätzlicher Mord. Die Strafe ist zwanzig Jahre.«
»Sie braucht einen Rechtsbeistand.«
»Der wird bedürftigen Häftlingen vom Staat gestellt.«
»Das ist nicht genug. Sie braucht den besten, den wir finden können.«
»Und wer bezahlt das? Falls Sie für diesen hoffnungslosen Fall überhaupt jemanden finden.«
»Die Ascolinis sind den Sommer über in der Villa. Der alte Herr ist einer der bedeutendsten Strafverteidiger. Zumindest kann ich ihn bitten, sich für den Fall zu interessieren. Und wenn nicht er zu gewinnen ist, dann vielleicht sein Schwiegersohn.«
»Und warum sollten sie?«
»Ascolini ist in dieser Gegend geboren. Er muß doch so etwas wie Anhänglichkeit und Loyalität empfinden.«
»Loyalität!« Fiorello stieß das Wort mit einem verächtlichen Lachen hervor. »Wir haben selber so wenig davon. Weshalb sollten wir sie von den Herren erwarten!«
Einen Augenblick schien der kleine Priester zu resignieren. Dann kam ihm ein neuer Gedanke, und als er sich Fiorello wieder zuwandte, waren seine Augen hart. Er sagte langsam:
»Auch für Sie gibt es hier eine Frage, mein Freund. Wenn Anna angeklagt wird – was wollen Sie für ein Zeugnis geben?«
»Den Tatbestand«, sagte Fiorello knapp, »was sonst?«
»Und was die Vergangenheit angeht? Was die Wurzel des ungeheuerlichen Falles?«
»Das steht in den Akten.« Fiorellos Gesicht war leer, seine Augen kalt wie Steine.
»Und wenn die Akten lügen?«
»Dann ist mir das nicht bekannt, Pater. Ich werde dafür bezahlt, die Ordnung aufrechtzuerhalten, und nicht, die Geschichte umzuschreiben.«
»Ist das Ihr letztes Wort?«
»Das muß es wohl sein«, sagte Fiorello mit verzweifeltem Humor. »Ich kann mich nicht in einem Kloster verstecken wie Sie, Pater. Ich kann es mir nicht leisten, mich auf die Brust zu schlagen und der heiligen Catarina Gelübde abzulegen, wenn mal nicht alles so geht, wie ich es wünsche. Das hier ist meine Welt. Die Leute draußen sind meinesgleichen. Ich muß mit ihnen leben, so gut es geht. Die da«, er wies auf das Mädchen, »was wir auch tun, sie ist ein hoffnungsloser Fall. Ich nehme an, das macht sie zu einem Fall für die Kirche.«
Sekunden verstrichen, während die beiden einander ansahen, Priester und Polizist, jeder seinem eigenen Weg verschrieben, verstrickt in eine gemeinsame Geschichte, während Anna danebensaß, entrückt, wie von einem anderen Stern. Dann, ohne ein weiteres Wort, wandte sich der Pater ab, hob den Telefonhörer ans Ohr und bat, mit der Villa Ascolini verbunden zu werden.
In der Mittagsstille des Salons spielte Carlo Rienzi Chopin für den Gast Peter Landon.
Sie waren ein seltsames Paar: der stämmige Australier mit seinem sommersprossigen ruhelosen Gesicht, eine der gewaltigen Fäuste um den Pfeifenkopf geklammert; der Italiener schlank, blaß, fast schön, mit empfindsamen Lippen und verträumten Augen voller Unzufriedenheit und Geheimnisse.
Landon beobachtete ihn mit abschätzenden Blicken und bemerkte, wie jung er doch sei, wie verletzlich. Und wie wenig passend zu seiner kühlen, zivilisierten Frau und dem weltgewandten, brillanten alten Anwalt, der sein Chef und Schwiegervater war. Und doch war er nicht nur ein Junge. Seine Hände waren stark und doch beherrscht. Er hatte Falten auf der Stirn und Krähenfüße um die Augen. Er war Mitte Dreißig und verheiratet. Er mußte seinen Teil am Leben gelitten haben. Er spielte Chopin wie ein Mann, der um die Hoffnungslosigkeit der Liebe wußte.
Auch in Landon rief die Musik Gefühle der Unzufriedenheit hervor. Als Mann der Neuen Welt hatte er ohne weitere Schwierigkeiten die Sitten der Alten angenommen. Sein Ehrgeiz hatte ihn eine vielversprechende Praxis in seinem eigenen Land aufgeben lassen und ihn auf Londons gefährlichen Boden gelockt. Ein Rebell von Natur, hatte er seine Zunge und sein Temperament gezügelt und sich auf die Fährnisse des eifersüchtigsten Berufs in der eifersüchtigsten Stadt der Welt eingestellt. Fleiß, Talent und Diplomatie hatten ihn zu einem der bedeutendsten Spezialisten der Kriminal-Psychopathologie werden lassen. Das war viel für einen Mann von Neununddreißig, doch immer noch um einiges vom eifersüchtig verteidigten Gipfel entfernt. Man brauchte ein Sprungbrett, ihn zu erreichen: den geeigneten Fall, die glückliche Begegnung mit einem Ratsuchenden, den Augenblick der Eingebung.
Noch hatte sich ihm diese Gelegenheit nicht geboten, und er drohte langsam in die Enttäuschung und die Unzufriedenheit derer zurückzufallen, die gewöhnt sind, sich selbst stets das Äußerste abzufordern.
Es war eine Art Krise, und er war klug genug, sie zu erkennen. Es gab sie in jeder Karriere: eine Zeit der Unentschlossenheit, der Gefahr und der Überempfindlichkeit. Der Mangel an Geduld und Besonnenheit hatte manchen vom Pech verfolgten Politiker seinen Posten gekostet. Manch ausgezeichneter Gelehrter hatte ein Amt nicht bekommen, weil er eine Spur zu brüsk mit seinem Vorgesetzten umgegangen war. In der engen, eifersüchtigen Organisation der englischen Ärzteschaft mußte man seinen Stolz hintanstellen und Freundschaften pflegen. Das galt um so mehr für einen Ausländer.
Landon hatte sich seine eigene Strategie zurechtgelegt: sich zunächst für ein Jahr zu den Großen seines Faches in Europa zu begeben. Drei Monate bei Dahlin in Stockholm zum Studium der Kriminal-Psychologie, dann Gutmann in Wien und jetzt ein kurzer Aufenthalt bei Ascolini, der berühmt war für die Verwendung von gerichtsmedizinischen Gutachten.
Und dann? Auch ihn bewegte die Frage, was nun kommen sollte. Die Frage, wieviel ein Mann für die Erfüllung seines Ehrgeizes zahlen sollte. Und wenn er bezahlt hatte, wie sollte er die Früchte genießen und mit wem?
Die alte, traurige Musik bewegte ihn mit ihrer Melodie aus verlorener Hoffnung, vergangener Liebe und dem Widerhall vergessener Triumphe.
Als der letzte Ton verhallt war, schwang Rienzi auf seinem Stuhl herum und sah ihn an. Seine Lippen verzogen sich zu einem jungenhaften unsicheren Lächeln.
»Los, Peter. Die Musik ist vorbei. Jetzt heißt es zahlen.«
Landon nahm die Pfeife aus dem Mund und lächelte zurück.
»Was kostet’s denn?«
»Einen Rat. Einen beruflichen Rat.«
»Worüber?«
»Über mich selbst. Du bist jetzt eine Woche hier. Ich glaube, wir sind Freunde geworden. Du kennst einen Teil meiner Probleme und bist klug genug, den Rest zu erraten.« Er streckte mit einer unvermittelten flehenden Geste die Hände aus. »Ich bin ein Gefangener, Peter. Ich bin in einem Land verheiratet, in dem es keine Scheidung gibt. Ich liebe eine Frau, die nichts von mir wissen will. Ich arbeite für einen Mann, den ich außerordentlich verehre und der mich so wenig achtet wie den jüngsten Bürogehilfen. Was kann ich dagegen tun? Was ist los mit mir? Du bist Psychiater. Du siehst deinen Patienten ins Herz. Was steht in den Herzen meiner Frau und ihres Vaters?«
Landon runzelte die Stirn und steckte die Pfeife wieder in den Mund. Sein Berufsinstinkt warnte ihn vor so unzeitigen Intimitäten. Ihm fielen ein Dutzend Ausflüchte ein, mit denen er sich herausreden konnte. Aber das Unglück dieses Mannes war offenkundig und seine Einsamkeit im eigenen Haus seltsam schmerzlich. Auch hatte er dem Hausgast seines Schwiegervaters mehr als bloße Höflichkeit bezeigt, und Landon fühlte sich nun zu seiner eigenen Überraschung zur Dankbarkeit verpflichtet. Er zögerte einen Augenblick und sagte dann vorsichtig:
»Du kannst den Kuchen nicht gleichzeitig essen und behalten, Carlo. Wenn du einen Psychiater brauchst – und das glaube ich nicht –, dann solltest du einen Landsmann konsultieren. Mit dem hast du die Sprache und bestimmte Vorstellungen und Begriffe gemein. Wenn du dagegen einem Freund dein Herz ausschütten willst, dann ist das ganz was anderes. Gewöhnlich das bessere Rezept, würde ich sagen.« Er lachte belustigt vor sich hin. »Aber sag das nicht meinen Patienten, sonst bin ich in einer Woche ruiniert.«
»Sagen wir also Herz ausschütten, wenn du’s so willst«, sagte Rienzi in seiner traurigen Art. »Aber siehst du nicht: Ich bin gefangen wie ein Eichhörnchen im Käfig.«
»Durch die Ehe?«
»Nein – durch Ascolini.«
»Du magst ihn nicht?«
Rienzi zögerte, und in seiner Antwort lag viel Müdigkeit, Verdruß und Resignation:
»Ich verehre ihn ungemein. Er ist eine einmalige Begabung und ein großer Anwalt.«
»Aber?«
»Aber ich bin einfach zuviel mit ihm zusammen, nehme ich an. Ich arbeite in seinem Büro. Meine Frau und ich leben in seinem Haus. Und seine ewige Jugend bedrückt mich.«
Es war ein seltsamer Gedanke, doch Landon verstand ihn. Die Erinnerung an die erste Cocktailparty in Ascolinis Haus in Rom tauchte vor ihm auf, als Ascolini und seine Tochter ihre distinguierten Gäste unterhielten, während Carlo verloren im Mondschein auf der Terrasse hin und her ging. Sein Gefühl für den jungen alten Mann mit dem zu empfindsamen Mund und den beherrschten Künstlerhänden wuchs. Er fragte leise:
»Mußt du denn mit ihnen leben?«
»So heißt es«, sagte Rienzi mit resignierter Bitterkeit. »Es heißt, ich schulde es ihm. Für meine Karriere, die er mir bietet. In Italien ist der Anwaltsberuf überbesetzt und die Förderung eines Großen selten zu finden. Auch für meine Frau schulde ich ihm Dank. Und sie schuldet ihm als einziges Kind Dank dafür, daß er ihr seine Liebe, Sicherheit und das Versprechen einer großen Erbschaft gegeben hat.«
»Und Ascolini besteht auf Bezahlung?«
»Von uns beiden.« Er hob ergebungsvoll die Schultern. »Von mir Loyalität und Einverständnis mit seinen Plänen für meine Karriere. Von meiner Frau eine – eine Art Verschwörung, in der sie ihm ihre Jugend schenkt statt mir.«
»Wie empfindet deine Frau die Lage?«
»Valeria ist eine einzigartige Frau«, sagte Rienzi matt. »Sie kennt ihre Pflichten, die Anhänglichkeit einer Tochter, und ihre Schulden. Auch hat sie ihren Vater sehr gern und liebt seine Gesellschaft.«
»Mehr als deine?«
Er lächelte wieder sein jungenhaftes unsicheres Lächeln, das ihm soviel Charme verlieh.
»Er hat viel mehr zu bieten als ich, Peter«, sagte er leise. »Ich kann die Welt nicht mit den Fingerspitzen lesen. Ich bin weder selbstbewußt noch erfolgreich – so gern ich beides wäre. Ich liebe meine Frau – aber ich fürchte, ich brauche sie mehr als sie mich.«
»Die Zeit mag das ändern.«
»Das bezweifle ich«, sagte Rienzi scharf. »In diese Verschwörung sind andere verwickelt.«
»Andere Männer?«
»Verschiedene. Aber das beunruhigt mich viel weniger als meine eigene Unzulänglichkeit als Ehemann.« Er stand auf und ging zu den Glastüren, die über die Terrasse in den Garten führten. »Laß uns ein Stück gehen, ja?«
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander die Zypressenallee entlang, zwischen deren grünen Säulen der Himmel zum Greifen nah zu sein schien und die Landschaft sich in einer Farbenvielfalt aus dunklen Oliven, grünen Weingärten, braunem Brachland und reifem, windgekämmtem Korn zum hügeligen Horizont hin erstreckte. Die Zeit, dachte Landon zynisch, heilt Wunden allzu langsam – und Carlo Rienzi brauchte schnellere Hilfe. Er verschrieb sie in aller Kürze:
»Wenn deine Frau dir Hörner aufsetzen will, dann mußt du sie ja nicht tragen. Gib sie doch ihrem Vater zurück und erwirke eine Trennung von Tisch und Bett. Wenn du deinen Posten nicht magst – und deinen Chef: dann wechsle sie. Kehre Straßen, wenn nötig – aber mach dich frei. Jetzt, sofort!«
»Ich frage mich«, sagte Rienzi mit düsterem Humor, »warum immer die Sentimentalen die passenden Antworten zur Hand haben? Ich habe etwas Besseres von dir erwartet, Peter. Du als Psychiater solltest doch wohl die Komplikationen von Liebe und Eigentum besser verstehen als andere Leute: warum manchmal ein halber Laib Brot viel besser ist als ein Korb voll Kuchen; warum vertröstete Hoffnung oft stärkender ist als halbe Erfüllung.«
Landon wurde rot und erwiderte schroff:
»Wer sich gern kratzt, will seinen Juckreiz nicht geheilt bekommen.«
»Aber muß man ihm das Herz herausreißen, um ihn zu heilen? Muß man ihm den Kopf abschneiden, um ihn zur Vernunft zu bringen?«
»Durchaus nicht. Man versucht, ihn so weit zu bringen, daß er sein Heilmittel selber wählen kann. Oder – falls es kein Heilmittel gibt – seinen Kummer mit Würde zu tragen.«
Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als er sie auch schon bedauerte. Er tat sich etwas auf eine Toleranz zugute, die er gar nicht besaß, und schämte sich einer Schroffheit, zu der eine lange klinische Praxis ihn verleitet hatte. Das war die Strafe für Ehrgeiz: Man konnte mit nichts Mitgefühl empfinden, ohne sich selber zu erniedrigen. Es war die Ironie der Eigenliebe: Er konnte für nichts Mitleid empfinden, was er nicht selber durchlebt hatte: den unerwiderten Kuß, die Leidenschaft ohne Gegenliebe.
Rienzis milde Antwort war der bitterste aller Vorwürfe:
»Wenn es mir an Würde fehlt, Peter, darfst du mir das nicht allzusehr verübeln. Der billigste Schauspieler kann einen König spielen. Man muß schon ein großer Mann sein, wenn man mit seinen Hörnern das Publikum zum Schluchzen bringen will. Wenn ich nicht schon früher rebelliert habe, dann, weil es an Gelegenheit fehlte – nicht an Mut. Es ist nicht ganz so leicht, wie du glaubst, die Zwiespältigkeiten von Loyalität und Liebe zu erdulden. Aber ich denke an Veränderungen, glaube mir. Ich weiß besser als du, daß meine einzige Hoffnung bei Valeria ist, ihren Vater in seinem eigenen Felde zu schlagen – die Legende zu zerstören, die er für sie geschaffen hat und die die Wurzel und Quelle seiner Macht über sie ist. Seltsam, nicht wahr? Um mich als Mann zu beweisen, muß ich mich zunächst als Anwalt bewähren. Ich brauche einen Fall, Peter – nur einen guten Fall. Aber wo zum Teufel kriege ich den her?«
Noch bevor Landon antworten konnte, rief ein Diener Rienzi ans Telefon, und der Arzt blieb allein mit dem Problem der Liebe in einem alten Land, wo die Leidenschaften seltsame Wege gehen und die jungen Menschen schwer an einer zweitausendjährigen Vergangenheit voller Gewalt und Brutalität tragen.
Landon war froh, allein zu sein. Als Mann, der dem Mechanismus des Erfolgs ergeben war, empfand er zuviel Gesellschaft, zu viele neue Eindrücke als eine Belastung seiner Einbildungskraft. Er verspürte ein Bedürfnis nach Erholung, bevor er sich seinem anspruchsvollen Gastgeber weiter widmete.
Carlo Rienzi war ein anziehender Bursche, und man konnte nicht anders, als Mitgefühl für seine Lage zu empfinden. Es war nun einmal das Problem bei allen italienischen Freundschaften: Man erwartete hier, daß ein Freund sich dem anderen mit Haut und Haaren verschrieb und in allen Dingen genauso leidenschaftlich Partei ergriff wie der Betroffene. Man konnte nicht genug auf der Hut davor sein.
Es war eine Erleichterung, allein zu sein und sich der schlichten Freude des Besuchers hinzugeben, einfach die Landschaft zu bewundern.
Der Blick vom Garten war atemberaubend: eine klare, belebende Luft, die dem Betrachter das Herz höher schlagen ließ, Hügel in Augenhöhe, nackt gegen den Himmel, mit Kiefern und Kastanienbäumen betupft, dazwischen uralte Felsen und die verfallenden Ruinen alter Burgen der Guelfen und Ghibellinen. Ein Falke zog hoch am Himmel seine Kreise, und dunkle Pinien standen wie Lanzenträger die Hänge hinauf.
Obgleich er den Anschein von Egoismus und Ehrgeiz erweckte, war Landon doch durchaus kein primitiver Mensch. Man konnte nicht auf den geheimen Pfaden der menschlichen Seele wandeln ohne die Gabe, sich wundern zu können, und ohne die Gnade des Mitgefühls. Und eben jetzt stiegen Tränen auf in ihm, angesichts des unvermittelten Wunders, das dieses Land der Geister am hellen Tag bereithielt.
Das war das Land des Mystizismus, wild und zart, vom Pflug gezähmt und dennoch erfüllt von den Überresten alter blutiger Konflikte.
Hierher kamen die Landsknechte des Kaisers Barbarossa, Lanzenträger von England, Bogenschützen aus Florenz, Banditen von Albanien, bunt zusammengewürfelt und schrecklich bei dem Massaker von Montalcino. Hier starb im Jahre 1313 der Dichterkaiser Heinrich VII. aus Luxemburg unter Zypressen. Hier, auf den Hügeln von Malmarenda, von vier Bäumen gekrönt, wurde das gewaltige Fest aller Feste gefeiert, das mit der Abschlachtung der Tolomei und Salimbeni endete. Und hier, unter den uralten Dächern Sienas, enthüllte die heilige Catarina die Süße ihres Geistes. »Mildtätigkeit ist nicht Selbstzweck – sie ist für Gott. Seelen sollten sich wandeln und vereinen durch sie. Zwischen Dornen müssen wir finden den Duft knospender Rosen...«