9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Fidelma in Lebensgefahr .
Irland 672. König Colgú und Prinzessin Gelgéis wollen in wenigen Wochen heiraten. Doch kurz vor dem Fest erreicht Colgú die Nachricht, dass die Prinzessin spurlos verschwunden ist. Mit zwei Begleitern ist sie aus rätselhaftem Grund aufgebrochen – einen von ihnen hat man ermordet in den Bergen gefunden. König Colgú wendet sich an seine Schwester Fidelma und bittet sie um Hilfe. Als Pilger verkleidet, macht sie sich mit Bruder Eadulf auf die fieberhafte Suche nach der Prinzessin – und begibt sich tief hinein in Feindesland ...
„Absolut mitreißend.“ Literaturmarkt, Susann Fleischer.
„Wer einen Roman von Peter Tremayne gelesen hat, der möchte sie alle lesen.“ NDR.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 562
Irland 672: Ein Hausierer von zweifelhaftem Ruf bringt einen Toten in eine abgelegene Abtei im Cuala-Gebirge. Der Tote erweist sich als der Brehon von Prinzessin Gelgéis, der Verlobten von König Colgú von Muman. Die Prinzessin selbst ist spurlos verschwunden. Diese Nachricht stürzt den König in große Verzweiflung, denn in wenigen Wochen sollte seine Hochzeit mit der Prinzessin sein. Er schickt Fidelma und Bruder Eadulf, als Pilger verkleidet, zur Abtei, die tief im Feindesland liegt. Eine gefährliche Suche voller vieler Abenteuer im düsteren Gebirge beginnt.
Peter Tremayne ist das Pseudonym eines anerkannten Historikers, der sich auf die versunkene Kultur der Kelten spezialisiert hat. Seine im 7. Jahrhundert spielenden Romane mit Lady Fidelma sind zurzeit die älteste und erfolgreichste historische Krimiserie auf dem deutschen Buchmarkt. Fidelma, eine mutige Frau von königlichem Geblüt, ehemalige Nonne und Anwältin bei Gericht, löst darin auf kluge und selbstbewusste Art die schwierigsten Fälle. Wegen des großen internationalen Erfolgs der Serie wurde Peter Tremayne 2002 zum Ehrenmitglied der Irish Literary Society auf Lebenszeit ernannt.
Einmal im Monat informieren wir Sie über
die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehrFolgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:
https://www.facebook.com/aufbau.verlag
Registrieren Sie sich jetzt unter:
http://www.aufbau-verlage.de/newsletter
Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir
jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!
Peter Tremayne
Tod den finsteren Mächten
Historischer Kriminalroman
Aus dem Englischen von Bela Wohl
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
Newsletter
Widmung
Motto
Anmerkung des Autors
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Erläuterungen
Impressum
Wer von diesem historischen Kriminalroman begeistert ist, liest auch ...
Für Maria V. Soteriades
Jahre sind vergangen, und die Zeiten haben sich geändert seit 1969.
Doch unsere Freundschaft blieb bestehen.
Danke, dass Du da bist.
Tiagaid thra in lucht sin isidaib. Ocus tiagaid fo muirib agis tiagaid in conrechtaibh ocus tiagaid eo hamaide, ocu tiagaid eo tuath clingtha. Is as sin is bunadas doibh uile, i muintir deamain.
Lebor Gabála Érenn
Sie kommen also auf den Schwingen des Windes. Sie kommen aus den Tiefen des Meeres, sie kommen in Gestalt von Wölfen, sie kommen zu den Einfältigen und zu den Mächtigen. Daher sind sie alle ihrem Wesen nach Anhänger des Teufels.
Marginalie eines christlichen Kopisten im
Lebor Gabála Érenn1
Schwester Fidelma von Cashel, eine dálaigh oder Anwältin bei Gericht im Irland des 7. Jahrhunderts
Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham aus dem Lande des Südvolks, ihr Ehemann
Colgú, König von Muman, Fidelmas Bruder
Enda, Krieger der Nasc Niadh, Leibwache des Königs Colgú
Prinzessin Gelgéis von Osraige
Spealáin, ihr Verwalter
Cétach, ein fahrender Händler
Abt Daircell Ciotóg
Bruder Aithrigid, rechtaire oder Verwalter
Bruder Dorchú, dorseóracht oder Pförtner
Bruder Lachtna, Arzt
Bruder Eochaí, echaire oder Stallmeister
Bruder Gobbán, Schmied
Bruder Cuilínn, Stallbursche
Iuchra, eine Wahrsagerin
Brehon Rónchú, Richter des Ortes, vermisst
Beccnat, eine baran, seine Stellvertreterin und Assistentin
Serc, eine Prostituierte
Síabair, Arzt
Teimel, Jäger und Fährtenleser
Muirgel, Witwe von Murchad, einem Binnenschiffer
Corbmac, Befehlshaber von Dicuil Dónas Kriegern
Dicuil Dóna, Herrscher des Cuala-Gebirges
Scáth, Verwalter und Sohn von Dicuil Dóna
Aróc, Tochter von Dicuil Dóna
Garrchú, Verwalter der Minen im Cuala-Gebirge
Brehon Brocc, der ermordete Brehon
Alchú, Sohn von Fidelma und Eadulf
Tuaim Snámha, König des Kleinkönigreichs Osraige, 660–678 n. Chr.
Fianamail von den Uí Máil, König von Laighin, 660–680 n. Chr.
Das Cuala-Gebirge Königreich von Laighin im 7. Jahrhundert
Die Geschichte spielt im Jahr 672 n. Chr. während des Zeitabschnitts, den man Laethanta na Bó Riabhai nennt (die Tage der gefleckten Kuh); im heutigen Kalender entspricht er den letzten drei Tagen im März und den ersten drei im April. Schauplatz sind die einsamen und unheimlichen Gipfel des Cuala-Gebirges – heute als Wicklow Mountains bekannt –, dem längsten Gebirgszug Irlands mit einigen seiner höchsten Erhebungen.
Dort fand man, wie die Annales Ríoghachta Éireann (die Annalen des Königreichs Irland) berichten, im Jahr 3656 des Weltzeitalters, während der Herrschaft von Hochkönig Tigernmas, in einem bewaldeten Tal östlich des Flusses Liffey zum ersten Mal Gold; man ließ das Golderz von Uchadan, einem Schmied der Feara Cualann, der Männer des Cuala, schmelzen. Tigernmas, der Sohn von Fothal mac Ethriel, regierte demnach von 1621 bis 1544 v. Chr. Er starb während einer wilden, ausschweifenden Orgie zu Ehren von Cromm Cruach2; alljährlich während des Samhain-Festes brachte man dem heidnischen Gott vor einem goldenen Standbild Menschenopfer dar. War das vielleicht schon eine erste Warnung, ein Gleichnis dafür, wie sich die Gier nach Gold und Macht auf die Menschen auswirkt?
Die Schmiede in Irland hatten schon seit Langem Gold verarbeitet. Ein goldener Halsreif, der sogenannte Blessington Lunala, der wie eine Mondsichel geformt ist, datiert vermutlich aus der Zeit zwischen 2400 und 2000 v. Chr. Blessington liegt am Rand des Cuala. Der Goldhort von Broighter stammt aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. Noch bis ins 18. Jahrhundert n. Chr. fand man Gold in den Ausläufern der Wicklow Mountains, etwa am Croghan Kinsella, wo man im Nachhinein einen Fluss in Gold River umbenannte.
Zur besseren Übersicht über die Schauplätze der Handlung ist eine Karte beigefügt. Die Abtei des heiligen Cáemgen liegt im Gleann Dá Loch (heute anglisiert als Glendalough), dem Tal der Zwei Seen. Die Abtei wurde ein Jahrhundert vor den dargestellten Ereignissen von Cáemgen gegründet, dem heiligen Kevin. Der unheimliche Log na Coille (anglisiert als Lugnaquilla), der Waldberg, ist mit seinen 905 Metern der vierthöchste Berg Irlands. In seiner Nähe liegt der Mullach Cliabháin (Mullagh Cleevaun) oder Gipfel des Ursprungs, mit 849 Metern der achthöchste Berg Irlands.
Meine Leserinnen und Leser mag es interessieren, dass die Hintergründe des Konflikts in Durlus Éile und Osraige, der in der Geschichte erwähnt wird, im Band Die Pforten des Todes (2012) erzählt werden. Wie Fidelma eine frühere Liebesbeziehung aus ihrer Studienzeit bewältigt, ist Thema in Tod auf dem Pilgerschiff (2002). Wie Eadulf in Laighin im letzten Moment vor der Hinrichtung gerettet wird, erfahren Sie in Vor dem Tod sind alle gleich (2003). Der Zwischenfall, bei dem Fidelma ihre Freundin Liadin verteidigt, die wegen Mordes an ihrem Ehemann angeklagt ist, wird in der Kurzgeschichte Vor dem Zelt des Holofernes geschildert, die im Sammelband Der falsche Apostel. Schwester Fidelma ermittelt (2009) enthalten ist.
Abt Daircell blickte von dem Schriftstück auf, von dem er gerade eine Kopie anfertigte. Wäre er nicht ein so gottesfürchtiger Mann gewesen, hätte er sich womöglich zu einem Fluch hinreißen lassen. Allein schon bei dem Gedanken bekam er Schuldgefühle. Deshalb presste er seine schmalen Lippen fest zusammen und machte ein strenges Gesicht, bevor er nach seinem Verwalter rief. Dass er überhaupt die Stimme erhob und so laut rief, dass ihr Echo von den Wänden der kleinen Schreibstube widerhallte, in die er sich immer zum Arbeiten zurückzog, und bis zu seinem Verwalter ins Nebenzimmer drang, zeigte, wie ungehalten er war.
»Bruder Aithrigid, um Himmels willen, sieh sofort nach, wer diesen heillosen Lärm verursacht, und sorg dafür, dass er aufhört!«
Der Lärm entstand durch das anhaltende Läuten der Glocke am Tor der Abtei, mit der Reisende und wichtige Gäste ihre Ankunft vermeldeten. Normalerweise waren solche Besucher eine Seltenheit, denn die einsame Abtei im Tal der Zwei Seen inmitten der hoch aufragenden Berggipfel ringsum lag ja nicht gerade an einer Hauptverbindungsstrecke zwischen mehreren Ortschaften. Doch es war nicht nur das Bimmeln der Glocke, das den Abt erboste, sondern vor allem ihr verzweifelter Klang, der ihn fast in Panik versetzte, sowie die Tatsache, dass Bruder Dorchú, der dorseóracht oder Pförtner der Abtei, der lautstarken Aufforderung offenbar keine Beachtung schenkte. Der Abt beschloss, Bruder Dorchú streng zu bestrafen, falls er keine überzeugenden Gründe für seine Pflichtvergessenheit anführen konnte. Man hatte ihn erst vor einem Jahr in die Abtei aufgenommen, nachdem er seinen Dienst in der Leibwache des Herrschers über das Cuala – das Gebirge, in dem die Abtei lag – an den Nagel gehängt hatte. Der Abt hatte Bruder Dorchú als Pförtner eingesetzt, da ihm ein ehemaliger Krieger am besten geeignet schien, um das Tor zur Abtei zu schützen. Abt Daircell lehnte sich zurück und blickte finster drein, so dass sein raubvogelartiges Gesicht noch Furcht einflößender wirkte. Das klatschende Geräusch von Ledersohlen auf dem Steinfußboden draußen auf dem Flur verriet ihm, dass der Verwalter sich eiligst an die Erledigung seines Auftrags gemacht hatte. Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis die Torglocke nur noch wenige Male halbherzig schlug und dann vollends verstummte.
Abt Daircell wandte sich mit einem Seufzer der Erleichterung wieder dem Schriftstück zu, über dem er zuvor gegrübelt hatte. Er versuchte, sich erneut zu konzentrieren, doch seine Stimmung war umgeschlagen. Es war schon schwer genug, die lateinischen Buchstaben des Briefs zu entziffern, den er von Abt Failbe mac Pipáin aus Iona erhalten hatte, ganz zu schweigen von den darin vorgetragenen Argumenten zugunsten der Methoden, die Rom erstmalig anwandte, um den Termin für die Osterfeierlichkeiten neu zu berechnen. Die komplizierten Argumente von Abt Failbe waren einfach zu hoch für ihn. Er hatte weder Astronomie noch Mathematik studiert und sich längst eingestehen müssen, dass er nicht über das nötige Wissen verfügte, um derart grundlegende Veränderungen des Kalenders zu beurteilen. Hatte nicht der heilige Augustinus von Hippo dereinst in einem Brief solche Themen weit von sich gewiesen und erklärt, der Heilige Geist habe die Menschen zu Christen machen wollen, nicht zu Mathematikern? Er seufzte erneut und schob das Blatt beiseite.
In diesem Augenblick hörte er, wie sein Verwalter eilends zurückkehrte; das klatschende Geräusch seiner Sandalen klang jetzt genauso verzweifelt wie zuvor das Läuten der Glocke. Sehr zur Verwunderung des Abts flog die Tür zur Schreibstube plötzlich auf. Im Türrahmen stand jedoch nicht Bruder Aithrigid, sondern ein hoch aufgeschossener junger Bursche, unter dessen Mönchskutte sich kräftige Muskeln abzeichneten. Abt Daircell starrte ihn entgeistert an. Vor allen anderen Regeln lehrte man die Mönche hier Respekt und Anstand; an die Gemächer des Abts hatten sie dreimal anzuklopfen und erst nach erteilter Erlaubnis einzutreten. Abt Daircells Miene verdüsterte sich vor Zorn, während er sich an den Namen des Jungen zu erinnern suchte. Er war einer der Stallburschen und noch nicht lange bei ihnen. Bevor er ihn ermahnen konnte, kam der Junge wieder zu Atem.
»Der Verwalter schickt mich«, stieß er keuchend hervor. »Ein Mann … ein Mann …«, stotterte er. »Ein Mann am Tor …«
Abt Daircell atmete tief durch und unterdrückte seinen Drang, den Jungen zu tadeln. Jetzt fiel ihm endlich sein Name ein.
»Beruhige dich, Bruder Cuilínn. Da ist also ein Mann am Tor? Ich habe auch nicht angenommen, dass ein verirrtes Schaf diesen ohrenbetäubenden Lärm verursacht hat.« Abt Daircell liebte es nun mal, ironische Bemerkungen zu machen. »Wer ist der Mann, und was will er hier?«
Bruder Cuilínn rang noch immer nach Luft, so schnell war er mit seiner Nachricht zum Abt gerannt.
»Er ist ein fahrender Händler. Bruder Aithrigid trug mir auf, dir mitzuteilen, dass Cétach, der Hausierer, hier ist.«
Abt Daircell legte die Stirn noch mehr in Falten. Er kannte Cétach und seinen Ruf. Cétach kam aus dem nahe gelegenen Städtchen und war bei allen als Schlitzohr verschrien. Er galt als hinterlistig und verlogen, doch gelegentlich kaufte die Abtei ihm trotzdem etwas ab.
»Na und? Warum taucht Cétach hier auf und kündigt seine Ankunft auf so ungewöhnliche und aufdringliche Art und Weise an? Warum läutet er die Glocke, als wolle er die Toten aufwecken und zum Jüngsten Gericht rufen? Bringt er wichtige Neuigkeiten? Und weißt du vielleicht, warum unser Pförtner nicht auf das Anschlagen der Glocke reagiert hat?«
Der Junge stand einfach da, ohne zu antworten, so dass der Abt ungeduldig wurde.
»Rede endlich«, sagte er streng. »Muss ich mich wiederholen? Bringt der Händler Neuigkeiten? Er gehört nicht zu den Personen, die hier gern gesehen sind, nicht mal in guten Zeiten – ein Mensch, dem es an Moral und noch mehr am Glauben mangelt –, doch falls er Neuigkeiten …?«
Die Miene des Stallburschen und seine Stimme verrieten, wie aufgeregt er war. »Er bringt einen Leichnam, Vater Abt. Der Verwalter, Bruder Aithrigid … er … ähm … bittet dich, ihn dir anzusehen.«
»Einen Leichnam? Und ich soll …?« Abt Daircell zügelte seinen Zorn, als ihm bewusst wurde, dass Bruder Cuilínn schließlich nur der Überbringer der Botschaft war.
Ohne ein weiteres Wort erhob er sich abrupt von seinem Stuhl, verließ, gefolgt von dem Jungen, die Schreibstube und eilte durch die Gebäude der Abtei und über das weitläufige Gelände zum inneren Tor. Dieses Tor befand sich am Ende einer Holzbrücke, die über ein Flüsschen zu einem zweiten Tor führte, dem Haupteingang der Abtei.
Draußen vor dem Haupteingang stand der untersetzte, beleibte Hausierer Cétach neben einem Eselskarren und spielte nervös mit den Zügeln seines Maultiers. Cétachs Erscheinungsbild war nicht gerade vorteilhaft. Das Haar über seiner Stirn hatte sich zu lichten begonnen, doch weiter hinten stand es schmutzig rot, verdreckt und verfilzt vom Schädel ab. Sein dichter Bart wirkte genauso ungepflegt und überwucherte seine rauen, geröteten Wangen. Als der Abt sich näherte, senkte er unterwürfig den Kopf.
»Was höre ich da für einen Unsinn, Bruder Aithrigid?«, wandte sich Abt Daircell sogleich an seinen Verwalter, ohne von dem fahrenden Händler Notiz zu nehmen. »Man sagte mir, du möchtest, dass ich mir einen Leichnam ansehe.«
Bruder Aithrigid war ein hoch gewachsener älterer Mann mit silbernem Haar. Er redete leise und strahlte selbst in Momenten größter Aufregung Ruhe aus. Bevor er in die Abtei eingetreten war, hatte er Recht studiert. Er hatte nicht den höchsten Abschluss erreicht, aber immerhin den Grad eines áire árd erworben, der ihn dazu befähigte, Urteile vorzubereiten. Dank dieser Qualifikation kümmerte er sich um die Rechtsangelegenheiten der Abtei.
»Das soll der Händler lieber selbst erklären«, antwortete er besänftigend. »Er hat den Leichnam hergebracht.«
Als Abt Daircell sich an Cétach wandte, schlug dieser einen devoten, wehleidigen Ton an.
»Wenn es dir beliebt, Herr Abt, ich habe ihn hergebracht, so schnell ich konnte, und …«
Abt Daircell hob eine Hand, um seinen Redefluss zu stoppen.
»Du hast einen Toten hergebracht? Wo hast du ihn denn gefunden?«
»Nicht weit von hier. Auf meinem Weg durchs Gebirge fuhr ich durch das Tal des Glasán und folgte dem Flussufer. Dort, wo der Weg durch den Wald hinauf zum Eichenpass führt und zum See des Wasserungeheuers … Dort habe ich ihn gefunden …«
»Aber warum hast du ihn hierher in die Abtei gebracht? Warum hast du ihn nicht dort begraben? Das ist doch bestimmt ein Umweg für dich, da du vermutlich nach Hause willst, nach Láithreach … oder glaubst du vielleicht, der Tote müsse unbedingt ein christliches Begräbnis bekommen?«
Wieder gelang es Abt Daircell nicht, seinen Sarkasmus zu zügeln.
»Das glaube ich, Herr Abt«, antwortete der Händler.
Der Abt starrte ihn verblüfft an; er hatte erwartet, dass Cétach verneinen würde.
»Und wieso?«, fragte er, als er sich wieder gefasst hatte.
»Ich dachte auch, dass du eine Belohnung für meine Mühen für angemessen hältst.«
Der Abt wusste, dass Cétach kein Mann mit hohen Moralvorstellungen war und sich mit List und Tücke durchs Leben schlug. Trotzdem verwunderte es ihn, dass er eine Belohnung erwartete, weil er einen Leichnam in die Abtei gebracht hatte.
»Warum sollte ich dich dafür belohnen, dass du mir einen Toten bringst?«
Ganz im Gegensatz zu seinen derben, harten Gesichtszügen begann Cétach nun einfältig zu lächeln.
»Ich habe den Toten erkannt; er gehörte zu einer Gruppe von Reisenden, die vor wenigen Tagen in Durlus Éile aufgebrochen sind. Sie waren auf dem Weg hierher.«
Ein Schatten verdunkelte die Miene des Abts, während alle schweigend dastanden.
»Sie waren auf dem Weg von Durlus Éile hierher?«, wiederholte der Abt leise. Durlus Éile lag mehrere Tagesritte entfernt westlich des hohen Gebirges – ein Handelsstädtchen im kleinen Königreich Osraige, jenseits der Grenzen des Königreichs Laighin, zu dem die Abtei gehörte.
»Willst du damit sagen, dass du selbst soeben aus Durlus Éile kommst?«, fragte der Abt ungläubig. »Bist du etwa der Gruppe von Reisenden gefolgt, mit der dieser Tote unterwegs war? Wo sind die anderen? Ich verstehe das nicht.«
»Ich hatte in Durlus Éile geschäftlich zu tun«, erklärte der Händler eifrig. »Während ich dort noch warten musste, sah ich, wie die Gruppe aufbrach. Sie bestand aus zwei Männern und einer Frau. Das war vor neun Tagen. Sie nahmen die Straße, die nach Osten durch die Berge führt. Ich verließ die Stadt ein paar Tage später und wählte denselben Weg. Auf dieser Strecke habe ich den Leichnam gefunden. Ich wusste, dass es sich bei den Reisenden um adlige Personen handelte, denn ich bin schon öfter mal in Durlus Éile gewesen.«
»Adlige Personen?« Die Stimme des Abts klang eiskalt. Eine schreckliche Vorahnung beschlich ihn. »Zeig mir den Toten.«
»Er ist hier, Herr Abt.« Der Händler deutete mit dem Daumen über seine Schulter und auf etwas, das, in braunes Sackleinen gehüllt, auf seinem Wagen lag.
Abt Daircell trat vor, und sein Verwalter half ihm, ein Stück Stoff umzuschlagen. Er stand einen Augenblick reglos da und starrte auf das bleiche Gesicht des Toten, der bereits in Verwesung überging. Am Hals war getrocknetes Blut zu sehen. Der Abt konnte nicht verhindern, dass ihm ein Laut des Erkennens entfuhr.
»Du kennst ihn, mein Herr?«, fragte ihn der Händler beunruhigt und beobachtete sein Mienenspiel.
Abt Daircell antwortete ihm nicht und wandte sich stattdessen an seinen Verwalter. »Ich nehme an, du weißt, wer das ist?«
»Selbstverständlich«, bestätigte Bruder Aithrigid ernst. »Stamme ich etwa nicht aus Osraige, und bin ich nicht dein Cousin? Das ist der Leichnam von Brehon Brocc.«
»Brocc, der Brehon unserer Cousine, Prinzessin Gelgéis aus Durlus Éile«, wiederholte Abt Daircell bedrückt. Er drehte sich zu dem Händler um, doch obwohl ihm zahllose Fragen durch den Kopf schossen, war er unfähig zu sprechen.
»Ja, mein Herr«, sagte Cétach und kam damit den ungestellten Fragen zuvor. »Ich habe den Brehon noch in Durlus Éile erkannt. Er hat zusammen mit der Prinzessin und ihrem Verwalter Spealáin die Stadt verlassen.«
»Und wo sind die anderen? Wo ist Prinzessin Gelgéis?«, herrschte ihn Abt Daircell an.
»Der Tote lag ganz allein am Wegesrand. Außer ihm war niemand zu sehen.«
Abt Daircell presste die Lippen zusammen und musterte Cétach. Es kostete ihn sichtlich Mühe, seine Gefühle unter Kontrolle zu bringen.
»Wann, hast du gesagt, sind Prinzessin Gelgéis und ihre Begleiter in Durlus Éile aufgebrochen? Wann warst du dort?«
»Vor neun Tagen«, wiederholte Cétach. »Sie reisten alle zu Pferd. Ich bin erst vor wenigen Tagen mit meinem Wagen von da losgefahren und habe dieselbe Strecke genommen.«
Abt Daircell schüttelte den Kopf, als könne er einfach nicht begreifen, was passiert war. Es gelang ihm nicht, die nächste Frage zu stellen, obwohl sie doch auf der Hand lag.
»Gab es keine Spuren von ihren Pferden oder andere Hinweise? Auch nicht darauf, wer das getan hat?«, schaltete sich Bruder Aithrigid ein.
Cétach schüttelte den Kopf. »Nichts. Keine Spur. Nur diesen Leichnam; er lag auf dem Boden.«
»Und du hast gesagt, du hast ihn unmittelbar unterhalb des Sliabh Céim an Doire gefunden?«
»Genau unterhalb vom Eichenpass«, bestätigte der Händler. »Die Berge sind dort sehr hoch, und in den Tälern mit ihren undurchdringlichen Wäldern hausen den alten Legenden zufolge Wesen, die man Cumachtae nennt – Gestaltwechsler. Mir haben sie noch nie was getan«, fügte er abschätzig hinzu.
Der Céim an Doire war einer der höchsten Gipfel im ganzen Cuala, dem mächtigen Gebirgszug im Norden des Königreichs Laighin. In den bewaldeten Tälern dieser Gegend gab es viele verlassene Bergwerke.
Der Abt hatte sich offenbar wieder gefasst und winkte einen kleinen kahlköpfigen Mann heran, der zwischen den Neugierigen stand, die sich mittlerweile versammelt hatten.
»Bruder Lachtna, komm her und sag uns, seit wann der Brehon deiner Meinung nach schon tot ist.«
Bruder Lachtna war der Arzt der Abtei. Er trat zögernd vor, doch anstatt den Toten anzuschauen, schnaubte er angewidert.
»Die Verwesung hat bereits ein Stadium erreicht, das erst nach mehreren Tagen im Freien eintritt«, sagte er.
»Ich erwarte, dass du den Leichnam eingehend untersuchst«, entgegnete Abt Daircell unwirsch.
Der Arzt rümpfte angeekelt die Nase und schob schließlich das Sackleinen zur Seite, das den Toten bedeckte, um ihn gründlich in Augenschein zu nehmen.
»Der Mann trägt immer noch seine Kleidung, und seine Ledertasche ist auch noch da. Das ist merkwürdig, denn wenn ihn Räuber überfallen hätten … Man hat ihm die Kehle durchgeschnitten … Ach, was ist das denn für ein Pfeil?«
»Der steckte in seinem Rücken«, antwortete der Händler. »Ich habe ihn rausgezogen und erst danach die durchgeschnittene Kehle gesehen.«
»Das Wetter war in den letzten Tagen recht mild, zumindest für diese Jahreszeit«, murmelte Bruder Lachtna nachdenklich. »Aber wie gesagt, vielleicht lag die Leiche mehrere Tage im Freien.« Er schien noch etwas hinzufügen zu wollen, hielt jedoch inne.
»Ist das alles?«, fragte der Abt, dem nichts entging.
Bruder Lachtna zögerte. »Er ist offensichtlich seit ungefähr einer Woche tot … Aber ich finde es seltsam …« Er betrachtete den Toten, ohne den Satz zu vollenden.
»Seltsam? Was ist seltsam an einem Toten?« Es war Bruder Aithrigid, der Verwalter, der diese Frage stellte.
»Der Grad der Verwesung, an dem man erkennen kann, wie viel Zeit seit dem Eintritt des Todes vergangen ist, stimmt nicht mit den Bedingungen überein, unter denen der Leichnam die ganze Zeit dagelegen hat.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte Abt Daircell.
»Wir alle kennen das Tal des Glasán und die umliegenden Berge. In der Gegend wimmelt es von Wölfen, Füchsen und anderen Aasfressern. Aasvögel kreisen ständig am Himmel. Ich finde es seltsam, dass sich keins dieser Tiere über den Leichnam hergemacht hat.«
»Worauf willst du hinaus?«, fragte der Abt ungeduldig.
Der Arzt zuckte die Schultern. »Ich bin noch nicht so weit, Schlussfolgerungen zu ziehen. Ich sage nur, was ich sehe. Es gibt keine Spuren von Aasfressern – weder von Säugetieren noch von Vögeln. Sie haben sich nicht für den Toten interessiert – falls er überhaupt die ganze Zeit, also ungefähr eine Woche, da draußen am Hang gelegen hat. Der Verwesungsgrad des Leichnams deutet eher darauf hin, dass er vor Wind und Wetter geschützt war. Und dieser Widerspruch bereitet mir Kopfzerbrechen.«
Es entstand ein längeres Schweigen, bis der Abt sich erneut an Cétach wandte.
»Du sagst, du hast nichts gesehen, keine Spuren, nur den Leichnam am Berghang? Keine Spur von einem Kampf oder Streit, keine Fährten? Du hast sonst nichts entdeckt, keinen Hinweis darauf, was mit Prinzessin Gelgéis und ihren Begleitern passiert ist?«
»Nein, absolut nichts«, antwortete Cétach und blickte sich nervös um. »Der Tote lag einfach da, ohne irgendwelche Gegenstände in seiner Nähe: kein abgerissener Stofffetzen, kein rostiger Dolch, nichts, was nach einem Kampf zurückbleiben könnte.«
»Der Tote lag also ganz allein da?«, fragte der Abt zum wiederholten Mal. »Du hast weiter nichts gesehen?«
»Nichts weiter«, erwiderte der Händler und nickte. »Es war, als wären die Aos Sí – die Bewohner der Anderwelt, die Gestaltwechsler – von den Gipfeln herabgeschwebt und hätten alles fortgetragen in die Nebel ihrer Anderwelt.«
Mehrere der versammelten Mönche begannen beunruhigt zu murmeln, und einige von ihnen schlugen ein übergroßes Kreuzzeichen, als könnten sie so den heiligen Cáemgen, den Gründer der Abtei, herbeirufen, damit er sie beschützte.
»Unsinn!«, schnauzte der Arzt, Bruder Lachtna, den Händler an. »Beschränke dich auf die Fakten.«
Cétach drehte sich herausfordernd zu ihm um. »Heißt es denn nicht, dass Dallahan von den Aos Sí die Bergpässe heimsucht? Dass Dallahan, der kopflose Reiter, dort umherstreift, um leichtgläubige Seelen aufzulesen und sie in die dunkle Unterwelt in den Tiefen der Berge mitzunehmen?«
»Dieser Mann hier ist keineswegs durch übersinnliche Kräfte zu Tode gekommen«, schnaubte der Arzt. »Der Pfeil, den du angeblich aus seinem Rücken gezogen hast, hat rein gar nichts mit der Anderwelt zu tun. Auch der Schnitt durch seine Kehle, der ihn getötet hat, ist nicht das Werk übernatürlicher Mächte.«
»Aber es waren nicht die geringsten Spuren, Hinweise oder Ähnliches zu entdecken«, widersprach ihm der Händler stur. »Es war, als wäre die Leiche plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht. Hätte jemand den Brehon und seine Begleiter überfallen, dann hätte man doch irgendetwas sehen müssen. Doch es war, als hätte ein gewaltiger Nebel alles andere verschluckt und nur den Leichnam zurückgelassen.«
»Einen Leichnam mit einem Pfeil im Rücken und durchgeschnittener Kehle«, sagte Bruder Lachtna spöttisch. »Seit wann greifen die Aos Sí zu solchen Mitteln?«
»Bist du sicher, dass die Spuren nicht durch das Wetter verwischt wurden?«, fragte Abt Daircell.
»Ich bin Händler, kein Fährtenleser«, entgegnete Cétach gereizt. »Aber es waren keine Spuren zu sehen, obwohl das Gelände so nah am Fluss ziemlich schlammig ist.«
Abt Daircell war sichtlich besorgt. »Bruder Lachtna, bring den Leichnam in die Apotheke und untersuche ihn sorgfältig; vielleicht findest du noch irgendwelche Hinweise. Danach kannst du den Toten waschen und für die Beerdigung vorbereiten, die heute um Mitternacht stattfinden muss, wie es die Tradition vorschreibt. Als Brehon gebührt ihm Respekt. Sag Bescheid, wenn du so weit bist, damit der Verwalter vor der Beerdigung das Läuten der Totenglocke anordnen kann.«
»Sollte man nicht auch eine Nacht lang Totenwache halten, bevor man den Leichnam beerdigt?«, fragte Bruder Aithrigid spitz, denn als Rechtskundiger konnte er nicht umhin, den vorschriftsmäßigen Ablauf zu erwähnen.
»Darauf dürfen wir verzichten«, widersprach ihm Abt Daircell ungehalten. »Der Leichnam hat lange genug draußen in den Bergen gelegen. Wir werden einfach nur ein Fürbittgebet sprechen, damit Broccs Seele Ruhe findet.«
Der Arzt wollte den Toten gerade zudecken und wegbringen, als ihm etwas ins Auge fiel.
»Er hat immer noch seinen Gürtel um. Daran ist ein kleiner Lederbeutel befestigt.«
Der Abt musterte den Händler streng.
»Ich nehme an, den hast du dir schon näher angesehen?«, fragte er sarkastisch.
»Ich? Nein, ganz bestimmt nicht.« Cétach war ein schlechter Schauspieler und seine Empörung wenig überzeugend. Doch der Arzt schaltete sich aufgeregt ein.
»Da scheint noch etwas drin zu sein.«
»Und was?«, fuhr Abt Daircell ihn an.
Bruder Lachta beugte sich über den Leichnam, ohne einen Hehl aus seinem Ekel vor dem Verwesungsgestank zu machen, schob eine Hand in den Beutel und zog einen kleinen Gegenstand heraus. Er sah aus wie ein Steinchen.
»Das ist nichts. Nur ein Kieselstein«, sagte er und wollte ihn schon wegwerfen.
Doch der Abt streckte ihm seine geöffnete Handfläche entgegen. »Ein Kieselstein? Vielleicht wollte er ihn nach jemandem werfen«, murmelte er, während er ihn in Augenschein nahm.
»Dafür taugt er wohl kaum«, bemerkte Bruder Aithrigid. »Und warum hätte er ihn dann in den Beutel stecken sollen?«
»Er ist schwer genug, um jemanden zu verletzen, wenn man ihn mit Wucht wegschleudert«, antwortete der Abt und wog das Gewicht des Steins in der Hand. Er bedeutete dem Arzt, sich auf den Weg zu machen, und entdeckte dann, als er sich umdrehte, das hagere Gesicht von Bruder Dorchú, der sich zu ihnen gesellt hatte. Der Pförtner stand verlegen da und wartete darauf, dass der Abt ihn rügte, weil er nicht auf die Torglocke reagiert hatte. Er war groß und kräftig und wirkte nicht im Entferntesten wie ein Mönch. Der Abt hatte nicht vergessen, dass der frühere Krieger seine Pflichten am Tor vernachlässigt hatte.
»Kümmere dich um den Händler«, wies er ihn an. »Gib ihm etwas zu essen, aber keinen Alkohol.« Ob dieser Unterstellung machte Cétach ein beleidigtes Gesicht. »Nach dem leeren Beutel zu urteilen, hast du dich vermutlich bereits selbst belohnt.« Der Händler empörte sich erneut, er habe nichts angerührt, doch der Abt hob eine Hand und brachte ihn zum Schweigen. Er wandte sich wieder an den Pförtner. »Schau dir seine Waren an. Wenn etwas Brauchbares dabei ist, darfst du es kaufen.«
Bruder Dorchú führte den aufgebrachten Händler weg.
Bruder Aithrigid wartete auf weitere Anweisungen. »Wir sollten dafür sorgen, dass die Mönche das Gerede über die Aos Sí unterlassen«, sagte der Abt jetzt zu ihm. »Sie erzählen sich einfach zu viele Ammenmärchen über die Dämonen, die angeblich in diesen Bergen herumspuken.«
»Es gibt nach wie vor diesen oder jenen, der an die überlieferten Geschichten glaubt.«
Abt Daircell musterte seinen Verwalter nachdenklich. Er suchte zu ergründen, ob in seinen Worten ein versteckter Vorwurf lag. Denn Bruder Aithrigid kannte das Steckenpferd des Abts: Er sammelte genau diese Art von Geschichten und fügte sie einem Werk hinzu, das er in der Bibliothek der Abtei aufbewahrte und laufend erweiterte.
Nach kurzem Schweigen schnaubte Abt Daircell ungeduldig: »Schick Bruder Eochaí zu mir.«
»Bruder Eochaí?« Der Verwalter zögerte. »Warum möchtest du den Stallmeister sehen? Willst du verreisen?«
Abt Daircell wurde allmählich ärgerlich. »Du weißt, dass ich mich nur ungern wiederhole, Bruder Aithrigid«, erwiderte er kalt und betonte dabei jedes einzelne Wort. »Ich werde mich eine Weile in meinen Kräutergarten zurückziehen. Schick Bruder Eochaí dorthin.«
Bruder Aithrigid machte sich mit säuerlicher Miene auf den Weg. Er wusste sehr wohl, dass der Kräutergarten ein verschwiegener Ort war, an dem niemand heimlich lauschen konnte, ohne bemerkt zu werden. Ganz offensichtlich hatte der Abt etwas zu sagen, bei dem er keine Zuhörer wünschte.
Abt Daircell setzte sich auf eine Holzbank und spielte geistesabwesend mit dem schweren Steinchen, kaum größer als ein Kiesel, das der Arzt ihm gegeben hatte. Er versuchte, sich seine Ungeduld nicht anmerken zu lassen und war froh, dass er nicht lange warten musste.
Bruder Eochaí war klein und eher schmächtig; seine durchtrainierten Muskeln waren dennoch nicht zu übersehen, und sein Gesicht strahlte eine unerwartete Willensstärke und Zielstrebigkeit aus. Normalerweise betrachtete er die Welt mit einem schiefen Grinsen oder heiterem Schmunzeln. Dem Abt gegenüber verhielt er sich wie ein Gleichgestellter, nicht wie jemand, der auf Anweisungen wartet oder sich darüber wundert, dass der Abt ihn sprechen will.
Abt Daircell hörte auf, mit dem Stein zu spielen. Er wollte ihn schon wegwerfen, steckte ihn jedoch kurzentschlossen in seine lederne Gürteltasche. Dann schaute er sich um; er musste sichergehen, dass sie im Garten allein waren.
»Geht es dir gut, echaire?«, fragte er und sprach sein Gegenüber mit dessen Titel an.
»Ja, dem Himmel sei Dank«, antwortete der Stallmeister.
»Und die Pferde, um die du dich kümmerst … sind sie alle gesund und stark?«
»Alle außer einem Cob, der heute Morgen ein Hufeisen verloren hat. Bruder Gobbán, der Schmied, ist gerade dabei, ihn neu zu beschlagen. Und natürlich haben wir eine Stute, die in wenigen Tagen ihr Fohlen bekommt.«
»Aber du hast doch bestimmt auch mehrere kräftige Pferde in deinem Stall, die sofort verfügbar sind? Pferde, die weite Strecken zurücklegen können, ohne zu ermüden?«
Nur durch ein kaum merkliches Anheben der Augenbrauen ließ der Stallmeister erkennen, dass der Abt ihm soeben eine ungewöhnliche Frage gestellt hatte.
»Mein Stall kann sich mit den besten im ganzen Land messen, Vater Abt. Ich habe einen zweijährigen Hengst, der es an Ausdauer und Schnelligkeit mit jedem anderen in den Fünf Königreichen aufnehmen kann.« Das sagte er ohne Prahlerei, sondern so, als stelle er lediglich eine Tatsache fest.
Abt Daircell schwieg und saß, tief in Gedanken versunken, da. Dann schaute er dem Stallmeister direkt in die Augen.
»Ich weiß, dass du, genau wie ich, ein Mann aus Osraige bist. Deshalb habe ich dich rufen lassen.«
Bruder Eochaí sah seinen Vorgesetzten missbilligend an.
»Zunächst und vor allem bin ich ein Mann Gottes, Vater Abt. Wohin auch immer Er mich schickt, besteht meine erste Pflicht darin, Ihm zu dienen. Ich bin ein einfacher Mann und stamme nicht aus einer Adelsfamilie wie du oder Bruder Aithrigid. Doch ich bin sicher, dass wir alle dieselben Überzeugungen teilen – wir dienen dem Glauben und der Abtei und nicht einzelnen Prinzen oder Königreichen.«
Der Abt rang sich ein gezwungenes Lächeln ab. »So sollte es jedenfalls sein«, antwortete er frömmelnd. Es klang nicht ganz aufrichtig. »Dennoch, mein Sohn, müssen wir akzeptieren, dass wir als Diener des Glaubens auch der Wahrheit und Gerechtigkeit verpflichtet sind. Du hast vermutlich schon von den Neuigkeiten gehört, die Cétach uns gebracht hat?«
»Soweit ich weiß, hat der Händler den Leichnam von Brehon Brocc gefunden.«
»Brehon Brocc gehörte zu einer Gruppe, die Prinzessin Gelgéis auf dem Weg hierher in diese Abtei begleitet hat.«
Bruder Eochaí zuckte die Schultern. »Schlechte Nachrichten pflegen sich wie ein Lauffeuer zu verbreiten, besonders dann, wenn ein paar Dummköpfe sie obendrein noch mit Ammenmärchen über die Aos Sí ausschmücken, die angeblich auf den Bergpässen herumspuken.«
Der Abt verzog wütend das Gesicht. »Also hat sich auch das bereits herumgesprochen? Dummköpfe! Dummköpfe!«
»Verängstigte Dummköpfe«, erwiderte der Stallmeister bedrückt.
»Verängstigt? In der Tat, verängstigt. Genau deshalb brauche ich dich jetzt, und zwar vor allem, weil du aus Osraige stammst.«
»Wenn du mich nach meinem Geburtsort fragst, Vater Abt, muss ich zugeben, dass ich zu den Uí Dróna gehöre und am Westufer des großen Flusses Fheoir geboren bin. Doch ich möchte noch einmal betonen, dass ich dem Glauben diene und nicht Osraige oder dem Königreich Laighin.«
»Ich denke, dass das eine das andere nicht ausschließt«, entgegnete der Abt verständnisvoll. »Aber du wirst dich daran erinnern, dass es gerade mal ein Jahr her ist, seit der König von Laighin, Fianamail von den Uí Máil, kurz davor war, mit seinem Heer gegen das Königreich Muman zu marschieren und Osraige als Rechtfertigung für diesen Angriff zu missbrauchen.«
Natürlich wusste jeder davon. Osraige befand sich genau zwischen den zwei wesentlich größeren Königreichen Muman und Laighin. Seit jeher beanspruchten alle beide die Herrschaft über Osraige und lagen deshalb im Streit miteinander. Die jeweiligen Herrscher des unbedeutenden Osraige dagegen versuchten, ihre Unabhängigkeit zu wahren, indem sie den einen König gegen den anderen ausspielten. Laighin – dessen Herrscher der Dynastie der Uí Máil entstammten – hatte schon unzählige Pläne zum Einmarsch in das kleine Grenzland entwickelt, um damit Druck auf Muman und seinen König auszuüben.
Zum jüngsten Konflikt war es gekommen, weil ein Adliger aus Osraige gemeinsam mit Angehörigen des Königs von Muman ein Komplott schmiedete, um diesen zu stürzen. Interne Machtkämpfe sollten Muman so weit destabilisieren, dass Fianamail von Laighin einen Angriff wagen konnte. Prinzessin Gelgéis hatte zusammen mit König Colgú von Muman wesentlich dazu beigetragen, die Bedrohung abzuwenden, so dass Fianamail schließlich widerstrebend seine Truppen zurückzog. Tuaim Snámha, dem König von Osraige, war es gelungen, seine Mitschuld herunterzuspielen, doch der Hochkönig und der Oberste Brehon der Fünf Königreiche verlangten Geldbußen und Tribute von ihm, und auch König Colgú hatte – sozusagen als Wiedergutmachung – seine Tributforderungen erhöht.
»Dieser Konflikt ist allen bekannt«, räumte Bruder Eochaí ein, noch ohne recht zu wissen, worauf der Abt hinauswollte.
»Es ist ebenfalls allen bekannt, dass Prinzessin Gelgéis inzwischen mit König Colgú von Muman verlobt ist und dass beide es kaum erwarten können, ihre Familien möglichst bald zu vereinen.«
Bruder Eochaí hob erneut kaum merklich die Augenbrauen und zuckte die Schultern.
»Ja, auch das weiß jeder. Tuaim Snámha scheint davon nicht sehr begeistert zu sein, da er schon jetzt – weil er ja in die Verschwörung verstrickt war – höhere Tribute an Muman entrichten und nach der geplanten Heirat auch noch die Oberherrschaft der Eóganacht anerkennen muss.«
»Was den Uí Máil ebensowenig gefällt wie gewissen Adligen in Osraige. Man darf nicht vergessen, dass unsere Abtei mitten im Gebiet der Uí Máil liegt.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte Bruder Eochaí.
»Ich will Folgendes damit sagen: Prinzessin Gelgéis galt damals als Schlüsselfigur für das Scheitern von Fianamails Plan, sein Herrschaftsgebiet mithilfe von Tuaim Snámha auszuweiten. Jetzt ist sie auf dem Weg zu mir verschwunden, und ihr Brehon wurde ermordet. Erst vor neun Tagen habe ich per Brieftaube eine Nachricht von ihr erhalten, in der sie ankündigt, mich mit ihren Begleitern zu besuchen, weil sie bestürzende Neuigkeiten erfahren habe.«
Der Stallmeister dachte über das Gehörte nach.
»Soll das heißen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen den erwähnten Neuigkeiten und der Tatsache, dass sie und ihre Begleiter verschwunden sind und einer von ihnen, ihr Brehon, ermordet wurde?«
»Genau. Ich kenne die Neuigkeiten, die sie meinte, bisher nicht, doch ihr dürfte klar gewesen sein, dass sie sich auf eine gefährliche Reise begab. Da sie sich über mögliche Gefahren hinwegsetzte, muss es sich um etwas äußerst Wichtiges handeln. Ihr Name wird vom Stamm der Uí Máil geschmäht, nicht zuletzt vom König von Laighin und seinen Verwandten. Hier im Cuala, dem persönlichen Lehnsgut der Uí Máil-Familie, ist sie verschwunden. Ich befürchte das Schlimmste. Dazu kommt, dass kein Brehon, der mit dieser Dynastie verbunden ist, sich ernsthaft bemühen wird, ihr Verschwinden aufzuklären. Verstehst du jetzt, warum ich jemanden beauftragen muss, der weder für Laighin Partei ergreift noch für die Bestrebungen von Osraige?«
»Ich möchte noch einmal betonen, dass ich nur für den Glauben Partei ergreife«, sagte der Stallmeister vorwurfsvoll. »Allerdings ist mir das Leiden meines Volkes in Osraige keineswegs gleichgültig. Ich habe Gerüchte von dort gehört, nach denen Tuaim Snámha erst kürzlich wieder angestachelt wurde, Muman erneut die Stirn zu bieten und sich dafür die Unterstützung von Laighin zu sichern. Das wäre verhängnisvoll für Osraige.«
»Ich wusste doch, dass dir das Wohlergehen unseres Volkes am Herzen liegt«, rief der Abt nun erleichtert aus. »Und ich weiß, dass du unsere Pferde gut versorgst, Eochaí.«
»Ich bin seit drei Jahren Stallmeister in der Abtei und habe noch keine Beschwerden von dir gehört«, erwiderte Eochaí. Er sagte das nicht selbstgefällig, sondern nüchtern und sachlich. »Das sollte als Empfehlung genügen.«
»Aber wie ist es mit dem Reiten? Giltst du nicht auch als ausgezeichneter Reiter?«
»Das zu beurteilen überlasse ich anderen.«
»Wie lange würdest du brauchen, um in einer dringenden Angelegenheit von hier nach Cashel zu reiten?«
Der Stallmeister spitzte die Lippen und überlegte.
»Ich möchte kein Pferd bis zum Äußersten treiben, aber wenn ich Zeit für unvorhergesehene Ereignisse und Ruhepausen einplane, würde ich sagen, zwei Tage.«
»Welche Strecke würdest du nehmen? Nach Westen, über die Berge?«
Bruder Eochaí ging nicht auf die Frage ein. »Warum sollte ich nach Cashel reiten? Falls es darum geht, eine Botschaft zu überbringen, wäre es dann nicht auf jeden Fall schneller, eine der Brieftauben zu schicken, die du züchtest und ausbildest?«
Wie viele andere bedeutende Einrichtungen hatte auch die Abtei ihre eigenen Brieftauben, worauf der Abt besonderen Wert legte.
Abt Daircell schüttelte den Kopf. »Es geht hier um eine Nachricht, bei der ich sichergehen möchte, dass sie nur Colgú von Cashel erfährt und sonst niemand. Eine Reihe von Adligen in unserer Gegend haben ihren Falken beigebracht, Brieftauben abzufangen.«
»Richtig, nicht nur der Herrscher des Cuala ist dafür bekannt, dass er Wanderfalken abrichtet, sondern auch zahlreiche andere. Und wir sollten vielleicht besser nicht über die Strecke sprechen, die ich nehmen werde. Möglicherweise beobachtet jemand meine Abreise.«
Abt Daircell rieb sich nachdenklich das Kinn. »Du bist ein guter Mann, Bruder Eochaí. Wähle also selbst die Strecke, die du für die beste hältst.«
»Welche Botschaft soll ich überbringen, wenn ich in Cashel eintreffe?«
»Überbringe König Colgú meine Grüße und wiederhole einfach, was du heute hier erfahren hast: Seine Verlobte, Prinzessin Gelgéis, ist vor über einer Woche aus Durlus Éile aufgebrochen, um unsere Abtei zu besuchen. Ihr Brehon, der sie begleitet hat, wurde unterwegs ermordet aufgefunden, und von ihr und ihrem Verwalter fehlt jede Spur. Sag dem König, dass ich um ihre Sicherheit fürchte. Das ist alles.«
»Mehr nicht?«, fragte Bruder Eochaí überrascht, weil die Botschaft des Abtes überaus kurz und knapp war.
Der Abt schüttelte den Kopf. »Colgú wird schon wissen, was zu tun ist, wenn er das erfährt.«
»Gesetze! Immer nur langweilige Gesetze!«
Eadulf hob erstaunt den Kopf, als Fidelma plötzlich aufsprang und so ärgerlich den Kopf schüttelte, dass ihr langes rotes Haar hin und her flog, während die Papiere, die sie gerade durchgesehen hatte, zu Boden flatterten. Sie sah sich kampfbereit in ihrem Privatgemach um, als könnte jeden Augenblick jemand auf sie zustürzen und sie für ihren Ausbruch zurechtweisen. Eadulf war klug genug, sich zurückzuhalten, nachdem sie ihn so abrupt aus seiner eigenen Lektüre aufgeschreckt hatte. Verblüfft musterte er seine Ehefrau. Sie hatten friedlich zusammengesessen, jeder in seine Unterlagen vertieft. Als das Licht des kalten Winternachmittags dahinschwand, hatte man Kerzen und Öllampen entzündet, und ein knisterndes Holzfeuer sorgte für Wärme. Unter diesen Bedingungen war Lesen nicht unbedingt eine ideale Beschäftigung. Trotzdem mussten die neuen Entscheidungen, die der Rat der Brehons, der alle drei Jahre zusammentrat, erst kürzlich getroffen und Fidelma zugestellt hatte, sorgfältig durchgearbeitet werden.
»Meinst du das ernst?«, fragte Eadulf schließlich. Es gelang ihm allerdings nicht ganz, den Schalk in seinen Augen und das verschmitzte Lächeln zu verbergen.
Fidelma drehte sich gereizt zu ihm um.
»Gesetze, Gesetze, Gesetze … dieses Urteil, jener Einspruch, wieder eine neue Auslegung. Und das alles nur, um sicherzustellen, dass der Gesetzestext nicht durch irgendeine merkwürdige Entscheidung längst überholt ist. Einsprüche von Richtern, die vollkommen vergessen haben, dass die Menschen das Gesetz machen und nicht umgekehrt. Ich hab das alles so satt …«
»Das ist ja eine interessante Feststellung von einer Anwältin, die als Rechtsberaterin des Königs von Muman fungiert«, erwiderte Eadulf, um ihren Wutausbruch zu stoppen. »Aber Menschen ändern sich nun mal. Wofür sie sich dieses Jahr entscheiden, das verwerfen sie nächstes Jahr schon wieder, wenn neue Gesichtspunkte auftauchen. Nach deinem Studium an Brehon Moranns Hoher Schule für Rechtskunde hast du Jahre damit verbracht, dir einen Ruf aufzubauen. Inzwischen zieht dich sogar der Hochkönig der Fünf Königreiche zurate. Aufgrund deines großen Wissens hast du zahlreiche Länder bereist und bist an vielen Orten zwischen hier und Rom zu einer Art Berühmtheit geworden. Ich kann mir vorstellen, dass Gesetze langweilig sind, aber in deinem Beruf wäre dir jede Stelle sicher gewesen, um die du dich beworben hättest.«
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, da erkannte er auch schon seinen Fehler.
»Ganz im Gegenteil«, herrschte ihn Fidelma an. »Du weißt genau, dass man mich abgelehnt hat, als ich mich um den Posten des Obersten Brehon von Muman beworben habe. Ja, ich wurde abgelehnt von einem Gremium von Kollegen, von lauter Brehons, die mich nicht für qualifiziert genug hielten, trotz meines angeblichen Rufs.« Dann fügte sie höhnisch hinzu: »Mein Bruder fühlte sich schließlich verpflichtet, meine Enttäuschung zu lindern, und ernannte mich deshalb zu seiner Rechtsberaterin.«
»Er hat dich dazu ernannt, weil er eine geeignete juristische Beraterin brauchte, die seine Interessen vertritt.«
»Nein, er hat mich aus Mitleid dazu ernannt!«, rief sie wütend.
Ihre Einstellung stimmte Eadulf traurig. »Eine solche Ernennung ist eine große Ehre, würden viele sagen. Dein Bruder Colgú hätte dich niemals auf diesen Posten berufen, wenn er dich nicht für kompetent hielte. Und du hast seine Erwartungen erfüllt.«
Fidelma war noch nicht besänftigt. Sie deutete auf die verstreuten Papiere, die am Boden lagen.
»Eine Ehre? Ist es eine Ehre, dass man seine Zeit damit vergeuden muss, sich durch diesen ganzen Müll zu wühlen? Durch Rechtsansprüche, die jeder Dos beurteilen könnte.« Eadulf wusste, dass man den Grad eines Dos erwarb, wenn man vier Jahre an einer weltlichen Hochschule studiert hatte. »Jeder, der sich mit dem Bretha Nemed auskennt, dem Privilegrecht, könnte die Fälle bearbeiten, zu denen man mich hier zurate zieht. Meine Qualifikation …«
Eadulf unterdrückte ein Stöhnen und unterbrach sie genervt. »Deine Qualifikation ist die einer anruth, das ist der zweithöchste Rang, den man an einer weltlichen oder kirchlichen Hochschule erwerben kann. Daran musst du deine Mitmenschen doch nicht ständig erinnern.«
Fidelma wirbelte wütend zu ihm herum, aber dann riss sie sich zusammen. »O doch, ich musste schon manch einen, der mir begegnet ist, daran erinnern – vor allem, als ich mich nach meinem Abschluss an der Hochschule für Rechtskunde im Berufsleben zu behaupten versuchte. Und jetzt hat es den Anschein, als müsste ich das wieder tun.«
»Was ist denn eigentlich los?«, fragte Eadulf freundlich und deutete auf die verstreuten Papiere auf dem Fußboden. »Vermutlich geht es um ein kniffliges Rechtsproblem, das dich durcheinandergebracht hat?«
»Mich durcheinandergebracht hat?«, wiederholte sie drohend. »Nein, das ist nichts Kniffliges. Es geht um einen belanglosen Streit über Eigentumsrechte, den jeder Berufsanfänger hätte beilegen können. Es gibt nicht den geringsten Grund, die Rechtsberaterin des Königs damit zu behelligen.«
»Und warum hat man sich dann an dich gewandt?«
Fidelma zuckte die Schultern, setzte sich wieder hin und hob eins der Papiere auf.
»Jede Angelegenheit, die mit dem Fund von Silbererz in diesem Königreich zusammenhängt, muss dem König gemeldet werden. Das darf ich nicht außer Acht lassen; überdies hat der Rat der Brehons kürzlich neue Einschränkungen beschlossen. Ich habe sie zweimal gelesen, doch sie ergeben immer noch keinen Sinn für mich.«
Die Erwähnung von Silbererz weckte Eadulfs Interesse.
»Das klingt doch wichtig«, sagte er und legte endlich das Manuskript beiseite, das er sich vorgenommen hatte.
»Aber nicht wichtig genug, um meine Zeit mit derartigen Querelen zu verschwenden«, antwortete sie. »Man hätte die Angelegenheit direkt an Colgú herantragen und den Streit von einem Brehon vor Ort beilegen lassen können, ohne dass ich sämtliche Aussagen noch einmal gegenprüfen müsste.«
»Doch das hat man nicht getan. Wie lange wirst du dafür brauchen?«
Fidelma fuhr mit der Hand scharf durch die Luft. »Jede Minute ist reine Zeitverschwendung. Stattdessen hätte ich mit unserem kleinen Alchú spielen und der alten Muirgen ein bisschen Ruhe gönnen können. Da du neuerdings am Morgen mit ihm ausreitest, sehe ich ihn ja kaum noch.«
Eadulf lächelte gequält. »Ich bin gern bereit, auf den morgendlichen Ausritt mit ihm zu verzichten«, entgegnete er. »Ich dachte nur, du wolltest …«
Fidelma musterte ihn gereizt. »Ich sage dir schon, was ich will; du musst deine Zeit nicht mit Vermutungen vergeuden«, erwiderte sie bissig. »Ich will jedenfalls keine Zeit mit derart stumpfsinnigen Aufgaben vertun.«
»Nun, bestimmt wird sich Muirgen freuen, wenn du mehr Zeit mit unserem Sohn verbringst«, antwortete Eadulf ungewohnt sarkastisch. »Vergiss nicht, dass sie langsam alt wird. Wir waren in den letzten Jahren so häufig auf Reisen, dass unser Sohn uns vermutlich gar nicht als seine Eltern betrachtet. Er sieht Muirgen und Nessan viel öfter als uns. Gönn ihr mehr Ruhe. Häng die Juristerei an den Nagel.«
Schon als Alchú noch ein Baby war, hatte Fidelma Muirgen als Kindermädchen eingestellt. Ihr Ehemann Nessan arbeitete ebenfalls am Königshof und kümmerte sich um Colgús Herden. Fidelma und Eadulf waren oft lange abwesend, um Rechtsangelegenheiten zu regeln, so dass Muirgen inzwischen fast eine Art Pflegemutter für den Jungen war. Das war Eadulf seit jeher ein Dorn im Auge, nicht, weil er Muirgen nicht schätzte, sondern weil er sich als Elternteil ausgeschlossen fühlte und vielleicht sogar ein wenig Eifersucht verspürte. Sein Sohn war der Neffe des Königs von Muman, und er selbst, ein Angel aus dem Königreich der Ostangeln, fand keine Gelegenheit, seine eigenen kulturellen Traditionen an Alchú weiterzugeben.
»Die Juristerei an den Nagel hängen? Mach dich nicht lächerlich!«, entgegnete Fidelma scharf.
»Aber …«, protestierte Eadulf, der seinen Vorschlag logisch fand.
»Das ist immer noch besser als das, wofür sich der Mann entschieden hat, der diesen Prozess führt.« Sie wedelte mit einem Blatt Papier herum. »Er vergeudet sein Leben damit, auf der Suche nach Silber einen tiefen Brunnen zu bauen. Du kennst doch die Berge nördlich von hier – die Sliabh Eibhlinne? Sie sind reich an Erzen. Manche Bauern, die an den Hängen leben, behaupten, die Flüsse, die dort oben entspringen, hätten wegen der Bergwerke ihren Lauf verändert. Deshalb vereinbarte einer der Bauern mit seinem Nachbarn, einen Brunnen zu bauen. Er lag an der Grenze ihrer beiden Anwesen, weil das die beste Stelle war, um nach Wasser zu suchen. Beim Abteufen des Brunnens fand der erste Bauer nicht nur Blei und Kupfer, sondern auch ein paar Brocken Silbererz. Der Brunnen liegt auf seinem Land. Doch der zweite Bauer verlangt nun, sämtliche Erzfunde als gemeinschaftliches Eigentum zu betrachten.«
»Der Brunnen liegt auf dem Gelände des ersten Bauern? Und sie haben gemeinsam vereinbart, den Brunnen zu bauen, um Wasser zu suchen?«
»Sie hatten vereinbart, das Wasser zu teilen. Hat nun der zweite Bauer zwangsläufig auch Anspruch auf das Silber?«
»Es gab keinen Konflikt, solange das gemeinschaftliche Eigentum das Wasser war?«
»Nein, erst als das Silber gefunden wurde, kam es zum Streit.«
»Dann bin ich der Meinung, für das Silber sollte die gleiche Aufteilung gelten.«
Fidelma lächelte matt. »Du verstehst unser Rechtssystem und seine Grundprinzipien inzwischen ausgezeichnet, Eadulf.«
»Ich habe mich an dem Urteil über die Bienen orientiert, von dem du mir erzählt hast. Wie heißt das Gesetz noch gleich – das Bechbretha? Es legt fest, dass ein Bienenzüchter einen Teil des Honigs an seine Nachbarn abgeben muss, weil seine Bienen den Nektar ebenso auf ihren Pflanzen sammeln wie auf seinen. Gilt hier nicht dasselbe Prinzip: Dinge, die auch den Nachbarn betreffen, müssen geteilt werden, selbst wenn sie sich auf dem Gelände eines anderen befinden? Wenn das so ist, verstehe ich nicht, warum du so frustriert bist oder wo du ein Problem siehst. Das ist doch eine einfache Entscheidung.«
Fidelmas Lächeln wurde breiter, aber ihr war nicht nach Lachen zumute. »Das Bienengesetz schreibt vor, dass alles, was man auf einem Anwesen findet – insbesondere Erz –, dem König zu melden ist oder dem örtlichen Stammesfürsten oder Abt. Allerdings muss man den Fund nicht mit dem König teilen, es sei denn, er oder der Stammesfürst wären unmittelbare Nachbarn des Finders.«
»Dann verstehe ich noch weniger, warum du so frustriert bist? Das Urteil liegt doch auf der Hand.«
»Es geht nicht um das Prinzip des Teilens. Für jedes Urteil muss ein Präzedenzfall vorliegen, damit man zeigen kann, dass frühere Instanzen bereits zu ähnlichen Schlüssen gekommen sind. Nimmt man das erwähnte Bienengesetz als Beispiel, dann verfügen wir über zwei verschiedene Urteile. Der Bienenzüchter muss, wie du sagst, einen Teil des Honigs mit seinen vier nächstgelegenen Nachbarn teilen, oder er muss – einer anderen Auslegung zufolge – ihnen alle vier bis fünf Jahre einen Bienenschwarm abtreten, damit sie ebenfalls Bienen züchten können. Die zwei Urteile beruhen auf unterschiedlichen Interpretationen: Im ersten Fall ist der Bienenzüchter der Besitzer der Bienen und daher für sie verantwortlich, im zweiten kann man Bienen gar nicht besitzen, weil sie sich nicht einsperren lassen, und folglich sind sie für sich selbst verantwortlich.«
Eadulf wunderte sich. »Ich hätte nicht gedacht, dass sich hinter den Gesetzen derart tiefe philosophische Überlegungen verbergen.«
»Gesetze entwickeln sich nicht rein zufällig und nicht ohne die Berücksichtigung vorausgehender Fälle. Deshalb kommt sogar den scheinbar einfachsten Urteilen große Bedeutung zu. Im vorliegenden Fall muss ich mich zudem wieder in die Bergbaugesetze einarbeiten, die ich seit dem Studium nicht mehr gelesen habe. Was mich wirklich frustriert, ist, dass ich mich regelmäßig mit den neuesten Entscheidungen beschäftigen muss, die der Rat der Brehons getroffen hat.«
Fidelma kniete sich auf den Boden und begann, die verstreuten Unterlagen einzusammeln. Als sie sich hingesetzt hatte, um sie zu ordnen, klopfte jemand laut an die Tür. Nach Eadulfs Aufforderung wurde sie geöffnet, und Enda, der junge Krieger vom Goldenen Halsreif, der Elite-Leibwache des Königs von Muman, trat ein. Enda hatte sie bei zahlreichen Abenteuern begleitet. Seine sonst meist heitere Miene wirkte heute zutiefst besorgt. Fidelma bemerkte das sofort.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte sie ihn.
Enda zögerte einen Augenblick. »Dein Bruder, der König, wünscht dich und Freund Eadulf zu sehen.«
»Ist was passiert mit meinem Bruder?«, fragte Fidelma sofort erschrocken.
»Nicht wirklich, aber er scheint übelster Laune zu sein. Er verlangt, dass ihr auf der Stelle zu ihm kommt.«
»Dann muss etwas geschehen sein, das diesen Stimmungswandel verursacht hat«, brummte Eadulf. »Noch heute Morgen war er ausgesprochen fröhlich.«
»Dazu kann ich nichts sagen«, antwortete Enda verlegen, »aber vor Kurzem ist ein Reiter hier in Cashel eingetroffen und hatte eine Unterredung mit dem König. Danach rief mich Colgú herein und befahl mir, euch zu holen.«
»Wir sind schon unterwegs«, sagte Fidelma und legte ihre Unterlagen beiseite.
»Hast du eine Ahnung, woher der geheimnisvolle Reiter kam?«, fragte Eadulf beim Hinausgehen.
»Da gibt es kein Geheimnis, Freund Eadulf. Er musste sich den Wachen zu erkennen geben, bevor man ihn zum König vorließ. Er heißt Bruder Eochaí und überbrachte Colgú eine persönliche Nachricht von Abt Daircell aus der Abtei des heiligen Cáemgen.«
»Aus Cáemgens Abtei? Die liegt doch im Tal der Zwei Seen«, sagte Fidelma.
»Wo ist das denn?«, fragte Eadulf.
»Mitten im Cuala-Gebirge. Ich habe davon gehört, bin aber noch nie dort gewesen. Ich weiß nur, dass es sich um ein kleines Tal handelt, weitab von jeder größeren Ansiedlung.«
»Im Cuala? Dieser Gebirgszug erhebt sich im Norden des Königreichs Laighin.« Eadulf verzog unwillig das Gesicht, als er sich daran erinnerte, wie man ihn bei einer Reise durch Laighin gefangen genommen hatte und beinahe hingerichtet hätte. »Laighin ist kein besonders gastfreundlicher Ort.«
Wäre Fidelma damals nicht gewesen und Enda mit einigen seiner Kameraden, dann hätte Laighin Eadulfs Ende bedeutet.
Fidelma schwieg, während sie Enda mit eiligen Schritten über den Hof zu den Räumlichkeiten des Königs folgten. Am Eingang zum Gebäude standen zwei Krieger vom Goldenen Halsreif und salutierten respektvoll; sie traten ein und gingen den eichengetäfelten Flur entlang, der zu den königlichen Privatgemächern führte. Ein Diener, der vor der Tür postiert war, sah sie kommen und klopfte dreimal an. Er wartete, bis er die Stimme des Königs hörte, öffnete dann die Türflügel und machte einen Schritt beiseite, um Fidelma und Eadulf vorbeizulassen. Enda blieb mit dem Diener draußen.
Colgú erhob sich aus seinem Sessel, der vor einem knisternden Holzfeuer stand, und begrüßte sie. In seinem Gesicht – dem männlichen Gegenstück zu Fidelmas – spiegelte sich höchste Beunruhigung. Mit ihren roten Haaren sahen Fidelma und Colgú aus wie Zwillinge, doch Fidelma war die Ältere von beiden. Colgús Frisur war zerzaust, was darauf schließen ließ, dass er sich vor lauter Sorge die Haare gerauft hatte; eine Angewohnheit, die er schon als Kind gehabt hatte. Er ging auf seine Schwester zu und streckte ihr beide Handflächen entgegen – eine ungewöhnliche Geste für ihn. Nachdem er ihre Hände kurz gedrückt hatte, ließ er die Linke los und umfasste damit Eadulfs Schulter. Er hatte die gleichen blaugrünen Augen wie Fidelma. Im Augenblick waren sie vor Angst weit aufgerissen. Colgú brachte kein Wort heraus. Er bedeutete ihnen, auf der Bank Platz zu nehmen. Dann trat er zu seinem Stuhl mit den Armlehnen, blieb unentschlossen daneben stehen und setzte sich jedoch schließlich hin. Weder Fidelma noch Eadulf sagten etwas, so fassungslos waren sie angesichts seiner Beklommenheit. Es dauerte eine Weile, bis er endlich anfing zu reden.
»Es geht um Gelgéis: Sie ist verschwunden, und ihren Brehon hat man tot aufgefunden.«
»Ist das die Nachricht, die der Bote aus Laighin dir überbracht hat?« Fidelma war die Erste, die sich von dem Schreck erholte.
»Sie hat Durlus Éile mit zwei Begleitern verlassen, um Cáemgens Abtei aufzusuchen. Doch sie sind niemals dort angekommen, und man hat den Leichnam ihres Brehon am Wegesrand gefunden. Er wurde ermordet.«
Fidelma machte große Augen. »Willst du damit sagen, dass Gelgéis allen Ernstes zu dieser Abtei unterwegs war? So etwas würde sie doch niemals tun? Die Abtei liegt im Cuala-Gebirge im Königreich Laighin. Für Gelgéis ist das heutzutage feindliches Gebiet. Die Leute dort hassen sie, weil sie seinerzeit entscheidend dazu beigetragen hat, Cronáns Verschwörungspläne zu vereiteln.«
»Der Abt ist ihr Cousin«, erwiderte Colgú. »Anscheinend musste sie ihn dringend sprechen. Ein fahrender Händler hat gesehen, wie sie in Durlus Éile losgeritten sind. Ein paar Tage später hat er dieselbe Strecke genommen, denn er verkauft regelmäßig Waren an die Abtei. Unterwegs entdeckte er den Leichnam von Brehon Brocc. Von den anderen fehlt jede Spur. Sie sind nie in der Abtei angekommen. Abt Daircell hat einen Boten zu mir geschickt.«
Eadulf fragte verblüfft: »Was erwartet er denn von dir?«
Colgú breitete verzweifelt beide Arme aus. »Du weißt, dass Gelgéis und ich am Festtag des heiligen Ciarán von Saigir, dem Schutzheiligen von Osraige, heiraten wollen? Also in einer guten Woche. Und wenn ich mein ganzes Heer durch Osraige und in die Berge schicken muss, um Gelgéis zu finden, dann werde ich das tun.«
»Das solltest du lieber lassen, Bruder«, widersprach ihm Fidelma. »Falls du ohne die Erlaubnis des Hochkönigs und seines Obersten Brehon zu solchen Maßnahmen greifst, hättest du eine Menge zu verlieren. Seit Jahrhunderten hat dieses Königreich immer nur dann seine Krieger eingesetzt, wenn es sich verteidigen musste, aber nie, um ein Land anzugreifen. Damit riskierst du, dass die Fünf Königreiche und der Hochkönig persönlich dich dafür verurteilen, wie es Fianamail von Laighin mehrmals passiert ist. Ich muss dich nicht an die Entschädigung erinnern, an den bóroma, den Tribut, der Laighin in den letzten sechshundert Jahren auferlegt wurde. Laighin wird ihn so lange zahlen müssen, bis es seine Angriffe und Verschwörungen aufgibt. Willst du etwa, dass Muman von den Brehons der Fünf Königreiche zu einer ähnlichen Strafe verurteilt wird?«
Colgú hob hilflos die Arme. »Falls König Fianamail Gelgéis gefangen genommen und ihren Brehon ermordet hat, was bleibt mir dann anderes übrig? Ich muss sie befreien.«
»Dafür gibt es geeignetere Wege als den, deine Krieger nach Laighin zu schicken«, erwiderte Fidelma. »Zunächst einmal musst du herausfinden, ob Fianamail tatsächlich dahintersteckt. Du darfst nichts unternehmen, bevor du nicht beweisen kannst, wer sie entführt hat und zu welchem Zweck und wo man sie gefangen hält. Aus deinen Worten schließe ich, dass Abt Daircells Bote uns nicht viel sagen konnte. Nur dass man den Brehon, der zu ihren Begleitern gehörte, ermordet hat und dass von ihr und den anderen jede Spur fehlt. Reicht das etwa, um in den Krieg zu ziehen? Ich sage dir das als deine Rechtsberaterin.«
Colgú sank in seinem Sessel zusammen. »Ich kann in die Schlacht ziehen, wenn ich weiß, wer der Feind ist, aber mit so einer Situation kann ich nicht umgehen. Die Frau, die ich liebe, schwebt in Gefahr, und ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich bin völlig nutzlos.«
Fidelma sah ihren Bruder mitfühlend an und legte ihm kurz eine Hand auf den Arm.
»Bruder, du bist der König und darfst außerhalb dieses Zimmers keinerlei Schwäche zeigen. Nur deine Familie – nur Eadulf und ich – sollten dich in derart verstörtem Zustand sehen. Deinem Volk gegenüber musst du immer stark wirken. Das erwartet man von dir. Wenn dir das nicht gelingt, bist du verloren.«
Colgú schniefte und wischte sich mit der Handfläche übers Gesicht, bevor er Eadulf einen entschuldigenden Blick zuwarf. »Verzeih mir, Ehemann meiner Schwester. Ich vergesse manchmal, dass ein König sowohl Pflichten hat als auch Verpflichtungen. Sei unbesorgt, Fidelma, ich habe mich unter Kontrolle. Was denkst du, was wir in dieser Sache unternehmen sollten?«
»Lass Abt Daircells Boten holen, damit ich seine Geschichte aus erster Hand hören kann.«
Während ihr Bruder das Zimmer durchquerte, um Enda, der die Tür bewachte, Anweisungen zu erteilen, schaute Fidelma Eadulf nachdenklich an.
»Bist du bereit, eine längere Reise zu Pferd zu unternehmen?«, fragte sie ihn leise.
Eadulf seufzte. »Vermutlich denkst du daran, nach Laighin zu reiten und diese abgelegene Abtei aufzusuchen?«
»Genau daran denke ich«, antwortete sie und nickte. »Wie soll man sonst an Informationen herankommen?«
Colgú hatte ihre letzten Worte gehört. »Das ist Wahnsinn, Fidelma. Du sagst, Gelgéis würde niemals die Grenze nach Laighin überschreiten, weil man sie dort hasst, seit sie an der Niederschlagung von Cronáns Aufstand beteiligt war. Um wie viel mehr hasst man dich in Laighin? Du warst schließlich diejenige, die die Verschwörung aufgedeckt und seine Niederlage herbeigeführt hat. Falls Laighin sich an Gelgéis rächen will, dann würde man sich an dir gleich dreifach rächen.«
Fidelma zuckte gelassen die Schultern. »Du vergisst eins, Bruder: Gelgéis mag zwar Prinzessin von Osraige sein, aber ich bin eine dálaigh der Fünf Königreiche, ich habe den Rang eines Brehon, bin Mitglied der Gerichtsbarkeit und genieße einen gewissen Ruf«, erwiderte sie mit gequältem Lächeln. »Ich möchte mir keine unberechtigten Verdienste zuschreiben, aber Eadulf hat mich erst kürzlich daran erinnert, dass mich der Hochkönig persönlich zurate gezogen hat. Du weißt, dass seine Rache jeden ereilt, der meinen Rang und meine Rolle missachtet.«
Eadulf spitzte höhnisch die Lippen.
»Dann wollen wir mal hoffen, dass die Leute in Laighin, die in diese Sache verstrickt sind, das nicht vergessen haben.«
Fidelma ignorierte seine Bemerkung. »Zuerst müssen wir herausfinden, was Gelgéis zugestoßen ist«, sagte sie voller Mitgefühl. »Irgendetwas muss im Gange sein, wenn sie es trotz der Ereignisse in jüngster Vergangenheit als notwendig erachtet hat, nach Laighin zu reisen; sie würde niemals leichtfertig ein Risiko eingehen.«
»Hast du denn einen Plan, Schwester, außer den, Cáemgens Abtei aufzusuchen?«
»Die Abtei ist der Ausgangspunkt für meine Ermittlungen.«