Top Secret 12 - Die Entscheidung - Robert Muchamore - E-Book

Top Secret 12 - Die Entscheidung E-Book

Robert Muchamore

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Top Secret: Das Finale

James ist alles andere als begeistert, als er von seiner letzten Mission als CHERUB-Agent erfährt: Er soll den Babysitter für die Familie eines korrupten südostasiatischen Ministers spielen, der in London zu Besuch ist – ein Mann, der über Leichen geht und aus einer Tsunami-Katastrophe rücksichtslos Kapital geschlagen hat! Als Ex-Cherub Kyle ihn in einen höchst riskanten, inoffiziellen Plan einweiht, muss James sich entscheiden – zwischen seiner Loyalität zu CHERUB und seinem besten Freund ...

Überzeugende, sympathische Charaktere und temporeiche Action: "Top Secret" ist brillante Action mit Tiefgang und aktuellen Themen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 374

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DER AUTOR

Robert Muchamore, Jahrgang 1972, lebt in London und arbeitet dort als Privatdetektiv. Er hasst das Landleben, bärtige Frauen, Ketchup und Mayonnaise, Schnulzfilme und Leute, die zehn Minuten lang an der Bushaltestelle warten und erst dann anfangen, nach Kleingeld zu kramen, wenn sie vor dem Busfahrer stehen. Er hat einen sehr schwarzen Humor und seine Lieblingsfernsehserie ist Jackass.

Inhaltsverzeichnis

DER AUTOR
Was ist CHERUB?Warum Kinder?Wer sind die Kinder?Das CHERUB-PersonalDie CHERUB-T-Shirts
Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36EpilogCopyright

Was ist CHERUB?

CHERUB ist Teil des britischen Geheimdienstes. Die Agenten sind zwischen zehn und siebzehn Jahre alt. Meist handelt es sich bei den CHERUB-Agenten um Waisen aus Kinderheimen, die für die Undercover-Arbeit ausgebildet wurden. Sie leben auf dem Campus von CHERUB, einer geheimen Einrichtung irgendwo auf dem Land in England.

Warum Kinder?

Kinder können sehr hilfreich sein. Niemand rechnet damit, dass Kinder Undercover-Einsätze durchführen, daher kommen sie mit vielem durch, was Erwachsenen nicht gelingt.

Wer sind die Kinder?

Auf dem CHERUB-Campus leben etwa dreihundert Kinder. Unser Held James Adams ist siebzehn Jahre alt. Er ist ein angesehenes Mitglied von CHERUB und hat bereits mehrere Missionen erfolgreich abgeschlossen. Kerry Chang aus Hong Kong ist seine Freundin. Zu seinen engsten Freunden zählen Bruce Norris und Shakeel Dajani.

James’ Schwester Lauren ist vierzehn und gilt bereits als eine der besten Agentinnen von CHERUB. Ihre besten Freunde sind Bethany Parker und Greg »Rat« Rathbone.

Das CHERUB-Personal

Die Größe des Geländes, die speziellen Trainingseinrichtungen und die Kombination aus Internat und Geheimdienststelle bringen es mit sich, dass CHERUB mehr Personal als Schüler hat. Dazu gehören Köche und Gärtner ebenso wie Lehrer, Ausbilder, Krankenschwestern, Psychiater und Einsatzspezialisten. CHERUB wird von der Vorsitzenden Zara Asker geleitet.

Die CHERUB-T-Shirts

Den Rang eines CHERUB-Agenten erkennt man an der Farbe des T-Shirts, das er oder sie auf dem Campus trägt. Orange tragen Besucher. Rot tragen Kinder, die auf dem Campus leben, aber zu jung sind, um schon als Agenten zu arbeiten. (Das Mindestalter ist zehn Jahre.) Blau ist die Farbe während ihrer hunderttägigen Grundausbildung. Ein graues T-Shirt heißt, dass man auf Missionen geschickt werden darf. Dunkelblau tragen diejenigen, die sich bei einem Einsatz besonders hervorgetan haben. Lauren und James haben ein schwarzes T-Shirt, die höchste Anerkennung für hervorragende Leistungen bei mehreren Einsätzen. Wenn man CHERUB verlässt, bekommt man ein weißes T-Shirt, wie es auch das Personal trägt.

Mai 2009

1

Die gewalttätigen Auseinandersetzungen während der Rebel Tea Party, eines Biker-Musikfestivals, im August 2008 führten zu einem brutalen Bandenkrieg zwischen demBandits-Motorradclub und seinen Erzrivalen, denVengeful Bastards. Die Messerstechereien, Schießereien und Verwüstungen fanden ihren Höhepunkt im Oktober, als der Landespräsident der Bandits, Ralph Donnington, »der Commander«, eine Reihe von erfolgreichen Anschlägen auf die Clubhäuser der Vengeful Bastards befahl.

Allerdings war die Freude der Bandits von kurzer Dauer. Bei einer Polizeikontrolle eines auffälligen Fahrzeugs wurden selbst gebaute Zünder gefunden, die für einen weiteren Anschlag vorgesehen waren. Zwei Mitglieder der South-Devon-Bandits wurden verhaftet. Bei der Durchsuchung ihres Hotelzimmers in London wurden Schusswaffen, sechzigtausend Pfund in bar und ein Laptop mit belastenden E-Mails beschlagnahmt. In diesen Mails wurden Anschläge auf mehrere Clubhäuser erwähnt, außerdem enthielten sie Aufzeichnungen über Finanztransaktionen bezüglich des illegalen Waffenschmuggels der South-Devon-Bandits.

Acht der neunzehn Bandits-Vollmitglieder von South Devon wurden verhaftet und angeklagt. Die Fortsetzung der Durchsuchungen förderte noch mehr Beweise ihrer kriminellen Aktivitäten zutage und zog die Verhaftung von zwanzig weiteren Bikern aus anderen Bandit-Clubs und ihren verbündeten Gangs nach sich. Trotz dieses Erfolgs ist der Commander immer noch das Oberhaupt der Bandits. Allerdings kann er sich jetzt, da so viele seiner engsten Verbündeten im Gefängnis sitzen, nicht länger von den alltäglichen Straftaten seiner Gang fernhalten. Nachdem er sich jahrelang einer Verhaftung entziehen konnte, ist der Commander nun verletzbarer als je zuvor.

Auszug aus einem internen Polizeibericht von Chief Inspector Ross Johnson, dem Leiter der britischen Sondereinheit für Bikerkriminalität.

James Adams hielt die Hände unter den Wasserhahn, spritzte sich lauwarmes Wasser ins Gesicht und betrachtete sich im Spiegel des Badezimmers. Er hatte sich die Haare lang wachsen lassen und auf seinen Wangen stand ein strohblonder Drei-Tage-Bart. Die Pickel hielten sich in Grenzen, abgesehen von dem dicken roten Ding auf seinem Adamsapfel.

Sein Biker-Look mit ausgetretenen Nikes, ölverschmierten Jeans und einem ärmellosen AC/DC-T-Shirt wurde noch durch eine überdimensionale Totenkopf-Gürtelschnalle aus Chrom vervollständigt.

Er winkelte seine kräftigen Arme an und war äußerst zufrieden mit dem, was er im Spiegel sah: muskulöse Schultern, großer Bizeps und dichte Haarbüschel unter den Achseln. Nachdem er einen erneuten Wachstumsschub gemacht hatte  – wahrscheinlich zum letzten Mal  –, war er jetzt genau einen Meter fünfundachtzig groß.

»Na, Sweetie?«, begrüßte er sein Spiegelbild. Dann verzog er das Gesicht zu einer drohenden Grimasse, ließ eine Faust auf den Spiegel zuschießen und rief: »Was glotzt du so? Willst du dich mit mir anlegen? Na, dann pass mal gut auf, was du davon hast, du Tottenham-Trottel! Peng!«

James musste lachen, als der imaginäre Tottenham-Fan zu Boden ging, aber es war niemand da, der ihn hätte hören können. Im vorigen Sommer hatte er das Haus mit einer Einsatzleiterin und zwei jüngeren Agenten bewohnt, um seine Identität als James Raven aufzubauen, aber während dieser zweiten Phase der Mission hatte er es ganz für sich allein. Laut seiner Coverstory hatte er sich mit seinen Eltern gestritten, die Schule kurz vor dem Abschluss geschmissen und sich nach Devon in das Ferienhaus seiner Familie verdrückt, um sich dort seiner Karriere als Vollzeit-Biker zu widmen.

James schnappte sich seine schwarze Lederjacke und schlüpfte hinein, während er die Treppe hinunterpolterte. Aus einer Kristallschale neben der Tür angelte er sich die Schlüssel und sein Handy. Mit # 69 gelangte er zum geheimen Telefonbuch und wählte die Nummer seines Einsatzleiters John Jones.

»Noch keine Spur vom Commander«, erklärte James. »Es wird mindestens fünfzehn Minuten später werden.«

John klang nicht im Mindesten aufgeregt. »Wann war der Kerl denn jemals pünktlich?«

»Ist bei euch alles bereit?«, fragte James. »Geht es Kerry gut?«

»Perfekt«, antwortete John. »Kerry weiß, was sie tut.«

»Wir dürfen den Commander jetzt nicht mehr vom Haken lassen«, warnte James eindringlich. »Ich klebe ihm jetzt schon seit mehr als zehn Monaten am Arsch.«

»Kriegst du das Flattern?«, fragte John amüsiert.

»Feuchte Hände und Grummeln im Bauch«, gab James zu. »Ich hab ja schon genügend Einsätze hinter mir, aber es gibt immer wieder aufs Neue echt spannende Situationen.«

John lachte. »Nur dass das hier, wenn alles gut geht, dein letztes Mal sein wird.«

»Ich gehe jetzt lieber, sie werden gleich hier sein«, sagte James. Wie betäubt ließ er das Handy in seine Jackentasche fallen.

Dein letztes Mal.

Die drei Worte trafen ihn wie ein Hammerschlag. Er musste an all seine Einsätze denken: Help Earth, KMG, Arizona Max, Leon Tarasov, die Survivors, die AFA, Denis Obidin, die Mad Dogs, die Street Action Group. War der Commander wirklich seine letzte Zielperson? War heute wirklich der letzte Tag seiner CHERUB-Karriere?

Bei dieser Vorstellung durchzuckte James ein schmerzhafter Stich, und wenn er daran dachte, was er eben im Badezimmerspiegel gesehen hatte, wurde er noch trauriger. CHERUB-Agenten waren Kinder, klein und unschuldig und deshalb so wirkungsvoll einsetzbar, weil Erwachsene ihnen nicht misstrauten. Aber James war kein Kind mehr. Er war siebzehn und von so beeindruckender Statur, dass die Leute bei seinem Anblick lieber die Straßenseite wechselten. Mit seinem unrasierten Gesicht und der schiefen Nase sah er in etwa so unschuldig aus wie ein russischer Panzer.

James spürte, wie ihm die Tränen kamen, die jedoch von einem plötzlichen Adrenalinstoß zurückgedrängt wurden, als er den Mercedes des Commanders hörte. Der Wagen schoss an den eleganten Villen vorbei in die Sackgasse, in der James wohnte, und kam dann in der Einfahrt zum Stehen; eine Edelkarosse, E-Klasse, die neueste AMG-Sport-Version mit V8-Motor, abgedunkelten Scheiben, breiten Reifen und schicken Radkappen.

Als er die hintere Tür öffnete, konnte James erkennen, wer alles darin saß. Der Commander auf dem Fahrersitz, klein und giftig, mit seinem idiotischen Bärtchen, das ihn als Hitler-Fan kennzeichnete; neben ihm Rhino, ein Biker und langjähriger Verbündeter der Bandits, der dem Club jedoch nie wirklich beigetreten war; und auf der Rückbank Dirty Dave, kahlköpfig und mit einem dicken Schnurrbart. Ihm gehörte die Hälfte der Stripclubs und Massagesalons in South Devon.

»Hallo zusammen«, grüßte James und ließ sich auf das helle Leder sinken. Doch zu seiner Überraschung stieß ihn Dirty Dave wieder aus dem Wagen.

»Was ist denn das da auf deinem Rücken?«, kläffte Dave ihn zornig an.

James geriet in Panik, als er begriff, dass er noch seine Bikerjacke trug, auf der das Abzeichen des Monster Bunch prangte, jenes Clubs, als dessen Mitglied er zu den Bandits gekommen war.

»Das Abzeichen in einem Auto tragen«, knurrte der Commander und schüttelte verächtlich den Kopf, während er einen Hebel unter dem Armaturenbrett betätigte, um den Kofferraum zu öffnen. »Dir hat man wohl ins Gehirn geschissen!«

Das farbige Abzeichen auf dem Rücken ihrer Jacken war den Outlaw-Bikern heilig. Allerdings verstieß es gegen die Regeln, es zu tragen, wenn man auf mehr als zwei Rädern unterwegs war.

James beeilte sich, zum Kofferraum zu kommen, der einfach riesig war und bereits die pinkfarbene Golftasche der Frau des Commanders sowie zwei Bandits-Lederjacken beherbergte, die liebevoll so zusammengelegt waren, dass die Abzeichen nach oben wiesen. Doch noch viel bezeichnender war die Fracht von zwei Baseballschlägern, zwei Brechstangen und einer Crickettasche voller Waffen und Munitionsschachteln.

»Los geht’s, Geld verdienen!«, rief Rhino fröhlich, als James endlich im Auto saß und seine Tür zuknallte. Die Achtzehn-Zoll-Reifen knirschten auf dem Kies.

Das Ziel war Kams Surf Club etwa zwölf Kilometer östlich von Salcombe. Das zweistöckige Restaurant lag gefährlich nahe am Rand einer Klippe, und die blauen Bretter der Holzveranda waren von der Gischt des darunter schäumenden Meeres verwittert. Hinter einer Bar im Fünfziger-Jahre-Stil wurden verschiedene Nudelgerichte und Burger serviert. Zur Einrichtung gehörten alte Jukeboxen und Surfzubehör, das an den Wänden hing.

Während der Urlaubssaison war der Laden gerammelt voll, aber da diese nur ein paar Monate dauerte, waren an einem Dienstagnachmittag um zwei Uhr ein deutsches Rucksacktouristen-Pärchen die einzigen Gäste, die sich in verträumter Verliebtheit einen Teller Calamares teilten und die Wellen beobachteten, die auf die Felsen unter ihnen donnerten.

»Bedienung!«, tönte der Commander beim Hereinkommen. »Kam, hör auf, Ratten zu braten, und schwing deinen gelben Hintern hier raus!«

Die beiden Deutschen wirkten beim Anblick der vier furchteinflößenden Biker etwas nervös. James trat als Letzter ein und bemerkte die gebräunten Beine des Mädchens, die aus ihren abgeschnittenen Jeans ragten. Die Jukebox spielte Johnny Cashs Ring of Fire.

Der Koch und Besitzer des Ladens kam aus der Küche. Kam war untersetzt, hatte sein glattes schwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und trug eine gestreifte Schürze. Er lächelte den Commander an, doch seine Körpersprache verriet allzu deutlich, dass dieser der letzte Mensch war, den Kam sehen wollte.

Der Commander wandte sich an James. »Hol das Band.«

Während James zum Tresen ging, trat Dirty Dave auf die beiden Rucksacktouristen zu. Das Mädchen sah seinen Freund ängstlich an. Er war kräftig gebaut und trug ein kariertes Hemd und einen Pullover im Holzfäller-Look, hatte aber mit Sicherheit noch nie im Leben jemanden geschlagen.

»Ich will keinen Ärger«, sagte er in schlechtem Englisch und hob abwehrend die Hände.

Dirty Dave blieb einen halben Schritt vor dem Tisch stehen. Die Deutschen wichen zurück, als er die Hand ausstreckte und sich ein Stück der Calamares in den Mund steckte. »Lecker«, sagte er mit vollem Mund und nickte. »Dirty Dave mag Octopus.«

Das Mädchen flüsterte seinem Freund hastig etwas zu. James sprach zwar kein Deutsch, aber man musste kein Genie sein, um ihre Worte als Lass uns bloß von hier verschwinden zu interpretieren.

Dirty Dave griff nach seiner Hose, doch statt eine Waffe hervorzuholen, hakte er nur die Daumen in die Gürtelschlaufen und zerrte seine Hose nach unten. Das Mädchen erhaschte einen Blick auf sein schlaffes Geschlecht und sprang kreischend auf.

»Wie wär’s mit einem englischen Würstchen?«, höhnte Dirty Dave. »Soll ich dir mal zeigen, warum wir den Krieg wirklich gewonnen haben?«

Der Tourist fingerte hastig zwanzig Pfund aus seinem Geldbeutel, warf sie auf den Tisch, packte seine Freundin und die Rucksäcke und lief zum Ausgang.

»Oh, nicht doch, Baby!«, rief Dirty Dave dem Mädchen nach und watschelte mit der Hose um die Knie hinterher. »Hab dich doch nicht so!«

Rhino und der Commander bogen sich vor Lachen. James ging hinter den Tresen, wo zwischen den Spülmaschinen und den Zapfanlagen ein alter Videorecorder für die Sicherheitsüberwachung stand, nahm das Band heraus und hielt es hoch.

»Ich hab’s, Boss«, rief er.

»Vergiss es bloß nicht«, befahl ihm der Commander und wandte sich mit einem sarkastischen Grinsen an Kam. »Warum ziehst du denn so ein finsteres Gesicht?«

»Wie soll ich denn bezahlen, wenn ihr meine Gäste vertreibt?«, fragte Kam wütend.

Der Commander lachte. »Kommt es etwa auf diese beiden an? Letzten Sommer war hier die Hölle los. Du schuldest mir drei Wochen. Das macht ganze siebenhundert.«

»Vierhundertfünfzig«, korrigierte Kam.

»Die Preise schießen in die Höhe, wenn man mich nicht pünktlich bezahlt«, sagte der Commander drohend, packte Kam an der Schürze und zerrte ihn zu sich heran. »Glaub ja nicht, dass ich die Dinge schleifen lasse, nur weil ein paar meiner Männer eingebuchtet worden sind.«

»Ich kann im Winter nicht so viel zahlen«, wand sich Kam. »Ihr seht doch, wie viele Gäste ich habe.«

»Alte Holzschuppen wie diese brennen sehr leicht«, drohte der Commander und deutete mit den Händen eine Explosion an. »Peng!«

»Wer ist sonst noch hier?«, wollte Rhino wissen.

»Nur meine Frau und die Dolmetscherin, nach der ihr verlangt habt«, antwortete Kam. »Sie sind hinten in der Küche.«

»Bring sie hier raus, wo ich sie sehen kann!«, befahl Rhino James.

James stopfte das Videoband in die Tasche seiner Lederjacke, die er jetzt wieder trug, und ging durch den Bogengang in die große und makellos saubere Küche.

Als Erstes sah er Kams Frau Alison, die zum Servieren weiße Pumps und ein hellblaues Minikleid trug. Die andere Person war Kerry Chang, sechzehn, CHERUB-Agentin und James’ aktuelle Freundin, aber um nicht zu verraten, dass er sie kannte, vermied er jeglichen Augenkontakt mit ihr.

»Raus mit euch, ihr zwei Schlampen«, befahl James aggressiv.

Alison ging in das Restaurant, und James sah sich um, ob sich nicht noch jemand irgendwo versteckte. Im Vorbeigehen warf Kerry ihm ein winziges Lächeln zu und hauchte: »Alles klar.«

»Mann, sieh dir mal diese kleine Schnecke an«, lachte Dirty Dave dreckig, als Kerry aus der Küche kam. »Verdammt klasse Körper, eine Brust-OP könnte aber nicht schaden.«

James wusste, dass Kerry ziemlich empfindlich war, was ihren kleinen Busen anging, und hatte gute Lust, Dirty Dave eine zu verpassen, als der schnurrbärtige Biker sich an seine Freundin heranmachte.

»Du bist also unsere kleine Ching-Chang-Chinesisch-Übersetzerin?« , fragte Dave, legte ihr eine Hand auf den Rücken und ließ sie langsam immer tiefer gleiten. »Willst du meine Nummer, Baby? Ich steh auf Asiatinnen.«

In Dirty Daves Nähe drehte sich Kerrys Magen um. Nicht nur weil er nach Schweiß und Zigarren stank, sie kannte auch die Polizeiberichte über die Mädchen, die in seinen Clubs missbraucht worden waren, aber zu viel Angst hatten, gegen ein Mitglied der Bandits auszusagen. Kerry wäre natürlich in der Lage gewesen, Dirty Dave wie einen Pfannkuchen auf den Rücken zu schleudern, aber da sie sich im Einsatz befand, durfte sie nicht aus der Rolle fallen und verzog nur angewidert die Lippen.

»Die ist ein bisschen jung«, sagte Rhino zu Kam. »Bist du sicher, dass sie übersetzen kann?«

»Und warum kannst du das eigentlich nicht?«, fügte Dirty Dave hinzu.

»Weil ich verdammt noch mal kein Chinesisch kann!«, gab Kam wütend zurück. »Ich bin in Exeter aufgewachsen, verstanden? Und meine Mutter kommt von den verdammten Philippinen, nicht aus China!«

Kerry trat einen Schritt zurück, als Dirty Daves Hand ihren Hintern erreichte. Er riss sie an sich und war drauf und dran, sie zu küssen, doch noch bevor sie sich gezwungen sah, ihn wegzustoßen, schritt glücklicherweise der Commander ein.

»Finger weg, Dave«, befahl er. »Du hast genug Miezen. Die hier brauchen wir für unser Treffen da oben.«

Dirty Dave war sichtlich verärgert darüber, sich vom Commander maßregeln lassen zu müssen, doch da er seine Wut nicht an ihm auslassen konnte, ging er rasch auf Kam zu und rammte ihm die Faust in den Bauch.

»Guter Treffer«, lachte Rhino, als sich Kam vor Schmerz krümmte.

»Wo ist unser Geld, du kleiner gelber Scheißer?«, wollte der Commander wissen. »Ich wette, du hast hundert Riesen unterm Bett versteckt, was?«

»Ich zahle, sobald ich kann«, stieß Kam hervor.

»Siehst du den Typen hier?«, fragte der Commander und zeigte auf James, während er Kam finster ansah. »Er ist zwar noch jung, aber stahlhart und ich setze ihn auf dich an. Er wird ab jetzt regelmäßig herkommen, um deine Zahlungen einzutreiben. Und wenn du nicht zahlst, kannst du dich auf einige Schmerzen gefasst machen.«

»Warum lasst ihr ihn denn nicht in Ruhe?«, rief Alison, als der Commander ihren Mann in James’ Richtung stieß.

»Zeig ihm, was du kannst«, befahl der Commander.

Zwei Eigenschaften hatten es James in den letzten Monaten ermöglicht, in den engen Kreis des Commanders vorzudringen: Als ausgezeichneter Kämpfer war er genau die Person, die man bei einem Bandenkrieg auf seiner Seite haben wollte, und seine Jugend ließ den Commander glauben, er sei zu jung für einen Undercover-Cop.

James hatte keinerlei Skrupel, jemanden aus einer anderen Gang zu verprügeln, aber bei einem ganz normalen, hart arbeitenden Bürger wie Kam lag die Sache anders.

»Was soll ich denn tun?«, fragte er unsicher.

»Mach ihn fertig«, verlangte Dave. »Was du willst. Zerquetsch ihm die Finger oder so.«

James musste schnell überlegen. Die meisten jungen Biker würden alles tun, um den Commander zu beeindrucken. Er wollte Kam nicht schwer verletzen, war sich aber zugleich im Klaren darüber, dass er seine Glaubwürdigkeit nicht verlieren durfte.

»Ich kann ihm ja schlecht die Finger brechen, oder?«, gab er beiläufig zurück, um Zeit zu gewinnen. »Ein Koch mit gebrochener Hand wird kaum Geld verdienen.«

Plötzlich hatte er die Lösung. Er packte Kam am Nacken und griff nach seinem rechten Arm. Kam war fast so kräftig wie James, aber er hatte keinerlei Kampferfahrung und somit auch keine Ahnung, wie er sich verteidigen sollte, als James ihm geschickt den Arm auf den Rücken drehte.

In dieser Position hätte er ihm leicht den Arm brechen können, aber stattdessen packte er ihn am Bizeps und drehte den Oberarm kräftig herum. Ein hässliches Geräusch erklang, als er ihm die Schulter auskugelte.

Diese Verletzung hatte James selbst vor einigen Jahren beim Combat-Training davongetragen. Eine ausgekugelte Schulter sah sehr beeindruckend aus und war extrem schmerzhaft, aber lange nicht so schlimm wie ein gebrochener Knochen. Ein Arzt konnte sie ihm einfach wieder einrenken. Kam würde danach zwar noch ein paar Tage lang steif sein, innerhalb einer Woche wäre er aber wieder völlig genesen.

Allerdings zeigte Kam keinerlei Verständnis für diese Rücksichtnahme, als er zusammenbrach.

Alison schoss kreischend auf James zu, während Rhino, Dirty Dave und der Commander anerkennend lachten. James wollte Alison nichts tun, daher packte er nur ihre Hände mit den lackierten Fingernägeln, die sie ihm ins Gesicht stoßen wollte, und schubste sie nach hinten. Sie stolperte rückwärts gegen einen Tisch, stieß ihn um und Salz, Pfeffer und Serviettenspender fielen zu Boden.

Kerry eilte zu ihr, um sie zu beruhigen, während James sich drohend aufplusterte, direkt vor Kams Nase auf den Boden spuckte und sich mit der Faust in die Handfläche schlug.

»Wenn ich du wäre, würde ich unten bleiben«, warnte er ihn. »Und wenn ich dich das nächste Mal sehe, hast du hoffentlich das Geld, sonst steckt deine Hand in der Friteuse!«

2

Kam saß in der Küche des Surf Clubs auf einem umgedrehten Eimer und hielt sich einen Eisbeutel an die verletzte Schulter, während ihm die Tränen übers Gesicht liefen. Dirty Dave stand draußen am Tresen, die anderen Bandits waren in den ersten Stock gegangen.

»Sie ist nur ausgekugelt«, flüsterte Kerry Kam zu. »Wenn die Bandits mit ihrem Meeting fertig sind, bringen wir Sie gleich ins Krankenhaus.«

Alison gefiel es nicht, dass die Bandits in ihrem Lokal waren, und es gefiel ihr ebenso wenig, dass sich ein attraktives junges Mädchen um ihren Mann kümmerte.

»Was weißt du denn über seinen Arm?«, fuhr sie Kerry an. »Du kommst mir nicht gerade wie eine Ärztin vor!«

Kerry unterdrückte einen Anflug von Zorn und Nervosität. »Ich kenne mich mit Erster Hilfe aus«, antwortete sie beschwichtigend. »Ich bin zwar keine Expertin, aber ich glaube, es ist eine ausgekugelte Schulter.«

Alison wandte sich an ihren Mann und deutete zugleich mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Kerry: »Woher kennst du die eigentlich?«

»Das erkläre ich dir, wenn das hier alles vorbei ist«, erwiderte Kam und zuckte vor Schmerz zusammen. »Bleib ruhig und vertrau mir.«

»Dir vertrauen?«, zischte Alison. »Du wurdest fertiggemacht und zusammengeschlagen. Du hast Schulden bei den Bandits und jetzt halten diese Irren bei uns ein Treffen ab. Wie kannst du da von mir erwarten, ruhig zu bleiben? Ich hab dir schon vor Monaten gesagt, dass du zur Polizei gehen sollst!«

»Bitte sprechen Sie leiser!«, ermahnte Kerry sie. »Wenn einer von denen hört, dass Sie mit der Polizei drohen, bringen sie uns um.«

»Vertrau mir, Alison«, beharrte Kam ernst. »Beim Leben deiner Töchter, wenn das hier schiefgeht, lasse ich mich von dir scheiden und du bekommst alles.«

»Lächerlich !«, schnaubte Alison. »Was kriege ich denn dann? Die Hypotheken für das Haus? Die Schulden für das Restaurant? Du bist so dumm, dass ich deinen Anblick nicht länger ertrage!«

Alison stürmte aus der Küche ins Restaurant, wo Dirty Dave an der kleinen Bar stand und sich am Wild Turkey bediente.

»Hübsch«, fand Dave und hob sein Glas. »Sexy, mit dem blauen Kleid.«

Alison rümpfte die Nase und zeigte Dave den Mittelfinger, dann ließ sie sich an einen der Tische fallen und vergrub den Kopf in den Händen.

»Hast wohl deine Tage«, spottete Dave und lachte über seinen eigenen Witz.

In der Küche sah Kerry Kam vorwurfsvoll an. »Sie hätten Ihrer Frau sagen sollen, was los ist«, flüsterte sie.

Kam seufzte. »Eigentlich hätte Alison heute gar nicht gearbeitet, aber meine Bedienung hat sich krankgemeldet.«

»Wir müssen dafür sorgen, dass sich Alison beruhigt«, sagte Kerry eindringlich.

»Ich fasse es nicht, was dieser Mistkerl mit meinem Arm gemacht hat«, stöhnte Kam. »Ich hoffe, sie buchten den kleinen Scheißer für lange Zeit ein!«

Kerry lächelte in sich hinein. Kam hatte sich bereit erklärt, mit der Polizei zusammenzuarbeiten, um die Schutzgelderpressung der Bandits zu stoppen. Man hatte ihm die junge, gut aussehende Kerry als neunzehnjährige Polizeischülerin vorgestellt, aber er hatte keine Ahnung, dass auch James undercover arbeitete  – und dass es James’ Idee gewesen war, sein Restaurant als Einsatzort zu nutzen.

Draußen stiegen zwei Chinesen aus einem großen Lexus. Der ältere der beiden ging langsam und in gebeugter Haltung auf den Eingang des Surf Clubs zu und klopfte an die Milchglasscheibe über dem Schild: Restaurant wegen technischer Störungen geschlossen. Sein Sohn öffnete den Kofferraum der Limousine und nahm zwei Louis-Vuitton-Taschen heraus.

»Mr Xu«, begrüßte ihn der Commander herzlich, als er die Schwingtüren öffnete und dem alten Mann die Hand reichte. »Kommen Sie mit nach oben. Ich hoffe, der Verkehr war nicht zu schlimm?«

Mr Xu sprach kaum Englisch und gab keinen Laut von sich, abgesehen von einem Seufzer beim Anblick der Treppe.

Xus Sohn Liam war ein völlig anderer Typ, wenngleich sein Englisch ebenfalls kaum über Grußworte und Speisekarten-Kenntnisse hinausging. Mitte vierzig, mit maßgeschneidertem Anzug, dunkler Sonnenbrille und diamantbesetzter Breitling-Uhr am Handgelenk, sah er aus wie der perfekte Filmbösewicht.

»Wie geht’s?«, fragte Liam und stellte sein Designer-Gepäck ab.

Da der Commander ihn schon mehrmals getroffen hatte, vollführten die beiden als Gesprächsersatz eine Art männlichen Ritualtanz mit Schulterklopfen, Grinsen und Lachen.

Kerry kam hinzu und stellte sich förmlich vor, die Füße nebeneinander, die Hände auf dem Rücken. »Ich bin hier, um bei möglichen Sprachschwierigkeiten zu helfen«, erklärte sie, verneigte sich leicht und wiederholte den Satz dann in fließendem Mandarin.

Nach der Begrüßung folgte Kerry Liam und dem Commander nach oben, von wo aus ihnen James entgegenkam und dem dankbaren Mr Xu seinen Arm reichte. Da der Surf Club nur im Sommer viele Gäste hatte, war das Obergeschoss des Restaurants im Winter geschlossen. In dem L-förmigen Saal herrschte eine trübe Atmosphäre. Durch die geschlossenen Fensterläden fielen nur wenige Lichtstrahlen, über der Bar hing eine Plastikabdeckung und die Stühle waren auf die Tische gestapelt.

Mitten im Raum hatte sich Rhino neben zwei zusammengeschobenen Tischen platziert, auf denen fünf Automatikwaffen, Magazine und Munitionsschachteln lagen. Die anderen Tische waren zur Wand gerückt worden, um den Weg zu einem metallenen Zielscheibenkasten am Ende des Saales frei zu machen.

Liam lief auf die Waffen zu, während James dem Vater half, sich auf einen Stuhl zu setzen.

»Die neuesten Modelle«, stellte Liam erfreut fest. Rhino reichte ihm ein Paar weiße Handschuhe, damit er keine Fingerabdrücke hinterließ.

»Sie haben ein gutes Auge«, schmeichelte Rhino, als er sah, wie Liam eine kleine Maschinenpistole vom Tisch nahm. Kerry eilte herbei, um zu übersetzen. »Das ist die MP7, die Sie verlangt haben. Abnehmbarer Schaft und mehrfache Zieloptik, sodass man sie auf mehrere Arten einsetzen kann: als Sturmgewehr und als Maschinenpistole. Die speziellen Kleinkaliberpatronen haben eine Reichweite bis zu zweihundert Metern. Ein großer Mann wie Sie kann die Waffe leicht unter der Jacke verbergen, aber sie hat genügend Power, um dreißig Lagen Kevlar zu durchschlagen und alle im Raum umzubringen, die Ihnen nicht passen.«

»Wunderbar«, nickte Liam anerkennend. »Ich kenne eine Menge Leute, die mir Waffen verkaufen könnten, aber nur ihr besorgt einem dieses ganz besondere Zeug.«

»Niemand außer uns hat solche Kontakte«, brüstete sich Rhino. »Die Bandits in den Staaten stehlen schon Waffen, noch bevor sie auf ihre erste Harley steigen. Gewöhnliche Waffenhändler haben einen Verbindungsmann. Aber wir haben Dutzende und mit den meisten machen wir seit Jahren Geschäfte.«

Liam drehte die Waffe in der Hand. »Und wie sieht es mit der Spezialmunition aus? Können Sie die besorgen?«

Jetzt übernahm der Commander das Verkaufsgespräch. »Ich würde Ihnen doch keine Waffe verkaufen, mit der Sie nicht schießen können, oder?«, lächelte er. »Die hier werden von der deutschen Armee verwendet. Ich will nicht behaupten, dass man diese Patronen genauso leicht bekommt wie die Standard Neun-Millimeter-Geschosse, aber alles, was die deutsche Armee verwendet, lässt sich auf die eine oder andere Art beschaffen.«

»Und wir liefern jede Waffe mit tausend Schuss Munition«, fügte Rhino hinzu. »Nur für den Anfang.«

Liam zielte mit der MP7 auf den Zielscheibenkasten und verlangte übermütig nach einem Spiegel, damit er seine Pose bewundern konnte. Mr Xu neigte sich zu Kerry und flüsterte ihr etwas ins Ohr.

»Mr Xu erkundigt sich nach Ihren Schwierigkeiten mit der Polizei in der letzten Zeit«, übersetzte Kerry förmlich. »Er ist daran interessiert zu erfahren, wie Sie nach den Verhaftungen Ihre Geschäfte weiterführen können und ob es für ihn sicher ist.«

»Das sind alles nur Strafzettel«, wehrte der Commander ab. »Ich spiele dieses Spiel jetzt seit über dreißig Jahren. Ich habe Leute kommen und gehen sehen, und die einzigen Schwierigkeiten, mit denen ich mich je herumschlagen musste, waren Bußgeldbescheide wegen Parkens im Halteverbot und Geschwindigkeitsübertretungen. Und glauben Sie mir, Gefängnisse sind etwas für junge Menschen. Ich habe nicht die Absicht, mich in meinem Alter noch einbuchten zu lassen.«

Der Commander klang selbstbewusst und zuversichtlich, doch James wusste, dass das gelogen war. Vor dem Krieg mit den Vengeful Bastards und den Verhaftungen, die seine Männer beträchtlich dezimiert hatten, hatte sich der Commander bei Waffenverkäufen im Hintergrund gehalten. Er hatte es stets seinen Untergebenen überlassen, sich in einen Raum mit Waffen zu stellen und mit zwei Männern mit Geldtaschen zu reden. Aber Bandenkriege waren nicht billig, daher musste der Commander jetzt gewisse Risiken eingehen.

»Nun, sind wir alle zufrieden?«, fragte Rhino und ließ ein Munitionsmagazin über den Tisch gleiten. »Der Zielscheibenkasten steht, falls jemand einen Schuss probieren möchte. Der Junge hat diesen Ort ausgewählt, weil es hier meilenweit keine Nachbarn gibt.«

Liam war begeistert und legte die MP7 erneut an, doch sein Vater wollte nicht, dass er einen Schuss abgab. Herrisch wandte sich der alte Mann an Kerry, die übersetzte: »Mr Xu sagt, die Waffen seien ausgezeichnet. Er möchte das Geschäft gerne so schnell wie möglich zum Abschluss bringen und nach London zurückkehren. Er geht davon aus, dass auch der Rest der Lieferung diesem Niveau entspricht, und bittet Sie, schnell das Geld zu prüfen, um sicherzugehen, dass Sie zufrieden sind.«

Rhino bückte sich nach einer der Louis-Vuitton-Taschen und zog den Reißverschluss auf, doch der Commander winkte ihn zurück.

»Wir vertrauen Ihnen«, sagte er.

»Selbstverständlich«, lächelte Liam.

Während der Zusammenarbeit mit dem Commander hatte James gelernt, dass das gegenseitige Vertrauen der Gangster mit zunehmender Kriminalität wuchs. Die Chancen, dass sich Straßendealer untereinander wegen eines kleinen Drogengeschäfts übers Ohr hauten, waren ziemlich hoch. Doch bei einem Waffenhandel für eine halbe Million Pfund zwischen dem Commander und dem chinesischen Verbrechersyndikat, für das die Xus arbeiteten, baute man auf die Integrität des Geschäftspartners, da bei Streitigkeiten die Konsequenzen für beide Seiten verheerend wären.

»Hier sind ein Schlüssel und eine Karte, die Ihnen sagt, wo der Rest gelagert wird«, erklärte der Commander und reichte Liam einen gepolsterten Umschlag. »Möchten Sie Ihre Taschen wiederhaben?«

Mr Xu lächelte und schüttelte dem Commander die Hand.

»Es sind ausgezeichnete Fälschungen, einer unserer lukrativen Geschäftszweige«, übersetzte Kerry. »Mr Xu sagt, dass sich Ihre Frau vielleicht darüber freut und dass sie von den Originalen nicht zu unterscheiden sind.«

»Außerordentlich freundlich«, lächelte der Commander, während Kerry Mr Xu wieder auf die Beine half.

James’ Herz begann schneller zu schlagen, als er sah, wie die Xus zur Treppe gingen. Alles verlief nach Plan, dennoch war er nervös. Die Polizei hatte versteckte Kameras und Mikrofone im Surf Club angebracht. Sie hatten den ganzen Deal auf Band, und für die Prahlerei des Commanders, dass er seit mehr als dreißig Jahren Waffen schmuggelte, hätte es gar keinen günstigeren Zeitpunkt geben können.

Doch jetzt kam der unangenehme Teil. Die Polizei wollte verhindern, dass jemand Beweise vernichtete oder Waffen einsetzte. Sie plante einen Überraschungsangriff, bei dem bewaffnete Beamte eindrangen, alle bei dem Treffen Anwesenden verhafteten und sich das Bargeld sowie den Umschlag mit der Ortsangabe zum Waffenlager schnappten.

Keiner der Cops da draußen wusste, dass James undercover arbeitete, also machte er sich auf eine raue Behandlung gefasst. Und da Waffen und Munition offen herumlagen, konnte die Situation schnell in eine Schießerei ausarten, wenn die Polizei einen Fehler machte.

3

Kerry half Mr Xu nach unten, gefolgt vom Commander und Liam. Das Klappern zweier Aluminiumleitern an der Seite des Gebäudes war das erste Anzeichen für die Anwesenheit der Polizei. Von Kopf bis Fuß in schwarzer Schutzkleidung, mit Kevlar-Helmen und Maschinenpistolen sprangen die Cops auf den Balkon im ersten Stock und zerrten an den Holzläden vor den Fenstern, von denen zwei bereits vor dem Angriff hätten gelockert werden sollen, was offensichtlich fehlgeschlagen war. Während sich die Männer draußen mit den Sperrholzläden befassten, schnappte sich Rhino eine MP7 vom Tisch und warf ein Magazin mit zwanzig Schuss ein.

Gleichzeitig stürmten zwei weitere Polizisten durch die Schwingtüren im Erdgeschoss.

Draußen ertönte es durch ein Megafon: »Hier spricht die Polizei! Alles auf den Boden!«

»Scheiße!«, schrie der Commander wütend, doch dann reagierte er mit gewohnter Entschlossenheit.

Er versetzte Mr Xu einen kräftigen Stoß und rannte die Treppe wieder hinauf. Da Kerry den alten Mann am Arm hielt und sich nicht von ihm befreien oder am Geländer festhalten konnte, stürzte sie mit ihm zusammen sieben Stufen hinunter  – und direkt in die beiden Beamten hinein, die sich am Fußende der Treppe befanden.

Die Polizistin sollte ihre Waffe auf die Männer richten, die die Treppe herunterkamen, während ihr Kollege sich um Dirty Dave kümmern sollte. Doch stattdessen wurden die beiden nun von Kerry und Mr Xu in eine Nische mit einem längst abgeschalteten Münztelefon gestoßen.

Die Panne mit den Fensterläden und der Sturz von der Treppe hielten die Beamten nur wenige Sekunden auf, was jedoch völlig ausreichte, um einen entschlossenen Zugriff in totales Chaos umschlagen zu lassen.

James war entsetzt. Er wollte nicht in der Nähe von Rhino und den bewaffneten Polizisten stehen, wenn die Schießerei begann, also rannte er los und hechtete hinter die Bar im oberen Stockwerk. Als die Fensterläden endlich nachgaben, strömte Tageslicht in den Raum.

Rhino zögerte mit der MP7. Wollte er sich wirklich mit professionellen Schützen in voller Montur anlegen? Doch er hatte keine Chance mehr, die Waffe fallen zu lassen, bevor sie auf ihn schossen.

Also schoss er zuerst. Er war kein guter Schütze und verpulverte mit zwei kurzen Feuerstößen seine zwanzig Schuss in den Fußboden, die Decke und alles dazwischen  – bis auf den Polizisten, der ihm gegenüberstand. Der behielt die Nerven, zielte und jagte Rhino zwei Kugeln in die Brust, die ihn auf der Stelle töteten.

James konnte hinter der Bar nicht erkennen, was geschah. Er erwartete, entweder Rhino oder die Beamten zu hören, wie sie durch das Fenster vom Balkon hereinkamen, doch alles, was er hörte, war das metallische Geräusch von Patronen, die über den Boden rollten, weil eine Munitionsschachtel vom Tisch gefallen war.

»Ich bin unbewaffnet«, schrie James und tauchte mit erhobenen Händen auf, um sich zu ergeben.

Dann sah er Rhino. Die Wucht der Kugel hatte den Biker rückwärts zu Boden gerissen. Auf seiner Brust sammelte sich das Blut, sein Mund war geöffnet, seine Augen zeigten einen letzten erschrockenen Ausdruck.

Von den Beamten war nichts zu sehen. James wusste, warum. Anders als Soldaten waren Polizisten auf besondere Vorsicht trainiert. Sie betraten keinen Raum, ehe sie nicht wussten, was sie dort erwartete, und waren gleich wieder vom Balkon herabgesprungen.

»Hier spricht die Polizei«, verkündete das Megafon von draußen. »Das Gebäude ist von Scharfschützen umstellt!«

»Verpisst euch, ihr Arschlöcher!«, schrie der Commander, als er oben an der Treppe auftauchte. Er sah Rhino an, ohne mit der Wimper zu zucken. »Der arme Kerl. Alles klar, James?«

»Hatte schon bessere Tage«, gab James vorsichtig zurück.

Der Commander lief geduckt zwischen den Tischen hindurch, nahm sich eine der MP7 und ein paar Magazine und zerrte dann ein Bündel Zwanzig-Pfund-Scheine aus einer der Geldtaschen.

»Was machen Sie denn da?«, stieß James hervor. »Das sind absolute Scharfschützen! Die bringen Sie um!«

James hatte zwar nichts dagegen, wenn sich der Commander erschießen ließ, aber er hatte keine Lust, ins Kreuzfeuer zu geraten.

»Sieg oder Tod!«, schrie der Commander. »Der Führer hat sich auch nicht ergeben, und der Teufel soll mich holen, wenn ich das jetzt tue. Jetzt schnapp dir eine Waffe und hilf mir verdammt noch mal hier raus!«

Als er Schritte auf der Treppe hörte, wandte er sich um.

»Bleibt weg!«, brüllte er und feuerte ein paar ungezielte Schüsse zur Treppe hinunter. Dann sah er James wieder an. »Was stehst du da noch rum? Nimm dir gefälligst ein Gewehr!«

Trotz seines jahrelangen Trainings war James in einem kritischen Moment unkonzentriert gewesen. Er hatte die Gelegenheit verpasst, den Commander außer Gefecht zu setzen, bevor dieser an eine Waffe gekommen war.

»Wenn es okay ist, dann bleibe ich lieber hier«, stieß er hervor. »Ich lasse es darauf ankommen und gehe lieber für ein paar Jahre in den Jugendknast.«

Daraufhin richtete der Commander die MP7 mit einem drohenden Grinsen auf ihn. »Ehrlich gesagt war das keine Bitte! Kämpf oder stirb, du feiger Hund!«

James lief ein Schauer über den Rücken. Es war nicht das erste Mal, dass jemand eine Waffe auf ihn richtete, aber noch nie war er sich so sicher gewesen, dass der Mann am Abzug ihn beim geringsten Anlass umbringen würde, vielleicht sogar auch nur zum Spaß.

Als James langsam hinter der Bar hervorkam, ertönten von unten weitere Schreie. Es hörte sich an wie Kerry. Vorsichtig trat er über das Blut um Rhino herum und griff nach der letzten MP7 auf dem Tisch. Plötzlich prallte hinter ihnen etwas auf den Boden, und der Raum begann, sich mit Rauch zu füllen.

»Rauchgranaten !«, schrie James.

»Ihr haltet euch wohl für superschlau!«, brüllte der Commander wütend und feuerte mit der Maschinenpistole aus dem Fenster.

James brannten die Augen und die Kehle, als der Rauch um ihn herumwirbelte. Er hatte das Gefühl, heiße Suppe zu atmen, doch der Commander schaffte es, ihn am Kragen seiner Lederjacke zu packen, und schleifte ihn ans andere Ende des Raumes.

Dort öffnete er mit einem kräftigen Tritt eine Feuertür und James atmete wieder frische Luft. Sie befanden sich auf der hölzernen Veranda über den Wellen. Bei schönem Wetter war das der beliebteste Platz in Kams Restaurant, aber heute herrschte ein schneidend kalter Wind und das Meer brandete dreißig Meter unter ihnen gegen die scharfe Klippe.

Die Polizei hatte das Gebäude von drei Seiten umstellt. Man war davon ausgegangen, dass niemand verrückt genug sein würde, ausgerechnet über die vierte Seite zu fliehen und von der Veranda aus auf die Klippe zu springen. Und durch das Rauchgas, das aus dem Fenster im ersten Stock quoll, konnten die Polizisten nicht genau sehen, was dort oben vor sich ging.

»Ist wahrscheinlich weniger schlimm, als es aussieht«, sagte der Commander und sah James mit schiefem Grinsen an. »Du springst zuerst.«

Kerry verdrehte sich den Knöchel, als sie zwischen den beiden Beamten landete, und stieß sich das Kinn am Münztelefon. Für eine Schrecksekunde glaubten die beiden Cops, dass sie angegriffen würden. Deshalb zog sich der eine Beamte in der ganzen Aufregung wieder aus dem Haus zurück, während seine Kollegin aufstand. Sie zielte jetzt wie geplant mit ihrer Waffe die Treppe hinauf, doch Liam hatte bereits die Hände gehoben, um sich zu ergeben.

Kerry befreite sich von Mr Xu und sah, dass Dirty Dave Alison an der Kehle gepackt hatte. Er holte aus und schlug sie mit seiner riesigen Faust ins Gesicht.

»Ihr habt uns reingelegt, stimmt’s?«, brüllte er und schlug sie erneut. »Aber das hier ist noch nicht vorbei! Wir kriegen euch! Dafür verbrennen wir eure Töchter!«

Dave war kräftig gebaut und warf Alison wie eine Puppe herum. Kam stand in der Tür und schrie ihn an, aufzuhören, doch mit seiner ausgekugelten Schulter konnte er sich kaum bewegen.

Kerry sah sich nach Verstärkung um, doch die Polizistin hielt Liam weiter in Schach und so musste sie selbst handeln.

»He, Schlappschwanz!«, rief Kerry und stürmte auf Dave zu, als sie von oben Schüsse hörte. Sie duckte sich automatisch. Es war die Schießerei, bei der Rhino starb, aber in diesem Moment hatte Kerry Angst, dass James etwas passiert sein könnte.

Dave lachte über Kerrys entschlossenen Gesichtsausdruck. Alison war nach seinen Schlägen kaum mehr bei Bewusstsein und Dave hielt sie wie eine schlaffe Trophäe nur an den Haaren aufrecht.

»Warst du auch mit dabei?«, schrie er Kerry entgegen. »Komm her, dann kriegst du, was du verdienst!«

Das ließ sich Kerry nicht zwei Mal sagen. Sie sprang vor und drehte sich auf dem linken Fußballen. Ehe Dave reagieren konnte, hatte sie ihn mit dem rechten Fuß an der Schläfe getroffen. Alison brach auf dem Boden zusammen, als Dave benommen gegen den Tresen taumelte.

»Na, jetzt kommst du dir wohl nicht mehr so groß vor, was?«, schrie Kerry aufgebracht und teilte den härtesten Karateschlag ihres Lebens aus. Er traf Dave mit solcher Wucht in den Nacken, dass sein Kopf zurückflog und ein Halswirbel ausgerenkt wurde.

Dave lag auf dem Boden zwischen zwei Barhockern und schnappte verzweifelt nach Luft, als er merkte, dass er seine Beine nicht mehr spüren konnte. Endlich war auch der bewaffnete Polizist wieder zur Stelle und trat durch die Schwingtür.

»Hände dorthin, wo ich sie sehen kann!«, verlangte er mit der Waffe im Anschlag.

»Hier ist alles in Ordnung«, rief Kerry und hob die Hände hoch.

»Ich kann meine Beine nicht bewegen«, jammerte Dave.

Kerry atmete auf, als drei weitere Polizisten hereinkamen, um die Kontrolle zu übernehmen. Dann blickte sie ängstlich zur Decke, denn sie wusste nicht, ob James noch lebte.

James schrie auf, als er die drei Meter von der Veranda heruntersprang und hart auf den Felsen landete. Das dicke Leder seiner Jacke schützte seine Arme, aber die Jeans zerrissen, und er blutete an beiden Beinen, als er endlich auf einem Felsvorsprung Halt fand. Fünfundzwanzig Meter trennten ihn noch von den Wellen.

Im Training hatte James schon steilere Klippen bewältigt, aber diese hier waren gefährlich. Die Gischt des Meeres ließ glitschige grüne Algen gedeihen, die fast den gesamten Felsen bedeckten. Es war unglaublich rutschig und festhalten nahezu unmöglich.

Über ihm steckte sich der Commander die kompakte Maschinenpistole in den Gürtel und schwang die Beine über die Veranda. »Wer will schon ewig leben?«, rief er und sprang.

Das war allerdings kein guter Plan. James war siebzehn, in ausgezeichneter Verfassung und konnte klettern. Der Commander war fast sechzig und schleppte eine Menge überflüssiges Gewicht mit sich herum. Er prallte heftig von der Klippe ab, griff nach einem Felsvorsprung, konnte sich aber nicht halten und rutschte immer schneller nach unten.

James warf sich zur Seite und entging nur knapp dem Stiefel des herunterschlitternden Commanders. Er hätte sein letztes Hemd darauf verwettet, dass der Präsident der Bandits ins Meer stürzen würde, doch plötzlich verhakte sich sein Stiefel in einem schmalen Spalt zwischen zwei Felsbrocken und blieb dort stecken, während sein volles Körpergewicht an dem eingeklemmten Fuß zerrte.

Mit einem Ruck wurde der Fuß noch tiefer in den Spalt gezogen und der Oberschenkelknochen brach. Das Bandits-Abzeichen auf seiner Jacke flatterte im Wind, als er kopfüber an seinem Bein hing. Der zersplitterte Knochen ragte aus den Jeans hervor.

Sowohl auf Missionen als auch beim Training hatte James schon viele böse Verletzungen gesehen, doch diese hier sah bei Weitem am schlimmsten aus.

»Bitte!«, jammerte der Commander. »Helft mir!«

James überlegte, ob er hinunterklettern sollte, aber die algenbedeckten Felsen waren tödlich und von dem Rauchgas brannten ihm immer noch Augen und Lungen. Und selbst wenn er es nach unten geschafft hätte, hätte er den Commander niemals hochheben können. Also suchte er die Felsen lieber nach einer Möglichkeit ab, um wieder nach oben zu kommen.

»Hilfe!«, heulte der Commander. »So hilf mir doch jemand!«

Oben erwarteten James bereits drei Polizisten, um ihn zu verhaften, sobald er die Klippe wieder hinaufgeklettert war. Er hob seine zerschundenen Hände und sie legten ihm sofort Handschellen an. James baute auf seinen Einsatzleiter John Jones, der ihn hoffentlich noch vor Ankunft auf der Polizeiwache befreite.

Kerrys Lächeln entschädigte ihn etwas für die schmerzhaften Risse an seinen Oberschenkeln, als er zu einem Polizeiauto eskortiert wurde.

»Wie zum Teufel sollen wir den da raufbekommen?«, hörte er einen der Polizisten im Vorbeigehen sagen. »Mit einem Hubschrauber vielleicht?«

»Lasst ihn ruhig ein wenig schmoren«, erwiderte ein älterer Beamter gut gelaunt, der beim Mercedes des Commanders stand. »Genau das hat er verdient.«

James dachte an all das, was der Commander getan hatte  – insbesondere daran, wie er die ganze Familie seines CHERUB-Kollegen Dante Welsh ausgelöscht hatte  – und kam zu demselben Schluss. Es machte gar nichts, wenn sich das Rettungsteam Zeit ließ.

4

Als Kerry auf die Automatiktür des South-Devon-Krankenhauses zuging, war es bereits dunkel. Der Stress der Mission war vorbei. Sie war müde, aber gut gelaunt, als sie über die abgenutzten blauen Fliesen zum Empfangstresen ging und die Krankenschwester anlächelte, die in einem Klatsch-Blättchen las.

»Ich möchte zu James Raven«, erklärte Kerry. »Er liegt auf Zimmer 16J.«

Manchmal weiß man sofort, wann man in eine Sackgasse geraten ist, und die zusammengekniffenen Lippen und hochgezogenen Augenbrauen der Schwester verrieten Kerry, dass das hier so eine Situation war.

»Besuchszeit ist zwischen zwei und halb sieben.«

»Aber ich habe zwei Busse nehmen müssen!«, log Kerry. In Wahrheit wurden ihr alle Ausgaben bezahlt, die eine Mission erforderte, und sie hatte ein Taxi genommen.

»Vorschriften sind Vorschriften. Die Patienten brauchen Ruhe.«

»Aber man hat mir gesagt, ich könne James jederzeit sehen, weil er in einem Privatzimmer liegt.«

»Wer hat das gesagt? Das ist auf jeden Fall falsch. Keine Besuche nach halb sieben!«

Kerry biss die Zähne aufeinander. »Aber ich habe auf der Webseite des Krankenhauses nachgesehen, bevor ich losgefahren bin.«

»Oh ja, die Webseite«, lächelte die Krankenschwester schadenfroh. »Darauf darf man sich nicht verlassen. Die ist nicht mehr aktualisiert worden, seit wir vor drei Jahren eröffnet haben.«

Mit einem Seufzer wandte sich Kerry von der Rezeption ab. »Vielen Dank für Ihre große Hilfe«, murrte sie.

Die Krankenschwester war unzufriedene Besucher gewohnt und achtete nicht weiter auf sie. Kerry hockte sich draußen auf einen Poller und nahm ihr Handy, um James Bescheid zu geben, dass sie nicht zu ihm kommen konnte. Doch noch bevor sie wählte, wurde sie von einem Krankenwagen abgelenkt, der vor der Unfallstation anhielt.

Die Sanitäter rollten eine Patientin mit ihrer Sauerstoffflasche durch die Automatiktür der Notaufnahme. Kerry erhaschte einen Blick auf wartende Menschen hinter der Tür. Ein weiterer Blick nach oben zeigte ihr, dass die Notaufnahme zwar in einem anderen Gebäude lag als die Krankenzimmer, allerdings waren beide Bauten durch einen überdachten Gang miteinander verbunden.