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Sein siebter Fall – seine härteste Zerreißprobe
Ein neuer Auftrag führt James nach Russland – und endet in einem Desaster: Der Hauptverdächtige wird erschossen und James gerät in die Hände russischer Verbrecher, die ihn übel misshandeln. Zwar kommt er frei – erstaunlicherweise mithilfe der CIA. Doch sein Scheitern hat bittere Folgen, denn James wird von allen weiteren Missionen suspendiert! Der CHERUB-Agent versteht die Welt nicht mehr: Spielt etwa sein Vorgesetzter Ewart ein falsches Spiel mit ihm? James ermittelt auf eigene Faust und macht eine überraschende Entdeckung ...
Überzeugende, sympathische Charaktere und temporeiche Action: "Top Secret" ist brillante Action mit Tiefgang und aktuellen Themen.
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Seitenzahl: 418
Der Verdacht
© Hodder Children’s Books
Robert Muchamore, Jahrgang 1972, lebt in London und arbeitet dort als Privatdetektiv. Er hasst das Landleben, bärtige Frauen, Ketchup und Mayonnaise, Schnulzfilme und Leute, die zehn Minuten lang an der Bushaltestelle stehen und erst dann anfangen, nach Kleingeld zu kramen, wenn sie vor dem Busfahrer stehen. Er hat einen sehr schwarzen Humor und seine Lieblingsfernsehserie ist Jackass.
Von Robert Muchamore ist bei cbt bereits erschienen:
Top Secret – Der Agent (30184)Top Secret – Heiße Ware (30185)Top Secret – Der Ausbruch (30392)Top Secret – Der Auftrag (30451)Top Secret – Die Sekte (30452)Top Secret – Die Mission (30481)
Weitere Titel sind in Vorbereitung.
Top Secret Der VerdachtAus dem Englischen vonTanja Ohlsen
1. Auflage
Deutsche Erstausgabe November 2010
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform
© 2007 der Originalausgabe by Robert Muchamore
Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »CHERUB: The Fall« bei Hodder Children’s Books, London.
© 2010 der deutschsprachigen Ausgabe bei cbt/cbj, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Übersetzung: Tanja Ohlsen
Lektorat: Birgit Gehring
KK · Herstellung: AnG
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-04977-5
www.cbt-jugendbuch.de
Was ist CHERUB?
CHERUB ist Teil des britischen Geheimdienstes. Die Agenten sind zwischen zehn und siebzehn Jahre alt. Meist handelt es sich bei den CHERUB-Agenten um Waisen aus Kinderheimen, die für die Undercover-Arbeit ausgebildet wurden. Sie leben auf dem Campus von CHERUB, einer geheimen Einrichtung irgendwo auf dem Land in England.
Warum Kinder?
Kinder können sehr hilfreich sein. Niemand rechnet damit, dass Kinder Undercover-Aktionen durchführen, daher kommen sie mit vielem durch, was Erwachsenen nicht gelingt.
Wer sind die Kinder?
Auf dem CHERUB-Campus leben etwa dreihundert Kinder. Unser fünfzehnjähriger Held heißt James Adams. Er ist ein angesehenes Mitglied von CHERUB und hat bereits mehrere Missionen erfolgreich abgeschlossen. Kerry Chang ist eine Karatemeisterin aus Hongkong und James’ Freundin. Zu James’ besten Freunden auf dem Campus gehören Bruce Norris, Shakeel Dajani und Kyle Blueman.
James’ Schwester Lauren ist zwölf und gilt bereits als eine der besten Agentinnen von CHERUB. Ihre besten Freunde sind Bethany Parker und Greg »Rat« Rathbone.
Das CHERUB-Personal
Das große Gelände, die speziellen Trainingseinrichtungen und die Kombination aus Internat und Geheimdienststelle bringen es mit sich, dass CHERUB mehr Personal als Schüler hat. Dazu gehören Köche und Gärtner ebenso wie Lehrer, Ausbilder, Krankenschwestern, Psychiater und Einsatzspezialisten. CHERUB wird von der neu ernannten Vorsitzenden Zara Asker geleitet.
Die T-Shirts bei CHERUB
Den Rang eines CHERUB-Agenten erkennt man an der Farbe des T-Shirts, das er oder sie auf dem Campus trägt. Orange tragen Besucher. Rot tragen Kinder, die auf dem Campus leben, aber zu jung sind, um schon als Agenten zu arbeiten. (Das Mindestalter ist zehn Jahre.) Blau ist die Farbe während ihrer hunderttägigen Grundausbildung. Ein graues T-Shirt heißt, dass man auf Missionen geschickt werden darf. Dunkelblau tragen wie James diejenigen, die sich bei einem Einsatz besonders hervorgetan haben. Lauren hat ein schwarzes T-Shirt, die höchste Anerkennung für hervorragende Leistungen bei mehreren Einsätzen. Wenn man CHERUB verlässt, bekommt man ein weißes T-Shirt, wie es auch das Personal trägt.
Ein Ford Focus hielt auf einem leeren Parkplatz, als eine mächtige Welle gegen die angrenzende Ufermauer donnerte. Die Gischt brandete über die hölzerne Promenade, während unten auf dem Kiesstrand eine Zeile teilweise überfluteter Hütten auseinanderzubrechen drohte.
Hinter dem Steuer saß ein fünfzigjähriger Mann mit einem Bierbauch und einem Gesicht, dessen Röte wie ein permanenter Sonnenbrand anmutete. Er hieß George Savage.
»Das ist vielleicht ein Sturm«, rief George. Er musste die Stimme erheben, um den Regen zu übertönen, der auf das Metalldach hämmerte. »Ich hab seit Ewigkeiten keinen mehr so wüten sehen.«
Die junge Frau auf dem Beifahrersitz trug die gleiche Uniform wie der Fahrer. Es war die der Zollbehörde: schwarze Hosen, weißes Hemd mit Schulterklappen und darauf die Aufschrift HM Customs & Excise. Sie nahm aus dem Handschuhfach eine starke Taschenlampe, dann zog sie eine Regenjacke vom Rücksitz.
»Kommst du mit?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort bereits kannte.
»Hat doch keinen Sinn, wenn wir beide nass werden, oder, Vet?« George grinste.
Yvette Clark hasste ihren Partner. George war alt, faul, roch nach einer Nacht im Pub und hatte besonderes Vergnügen daran, sie nie bei ihrem richtigen Namen zu nennen. Sie war Vet, Vetty, Vetto, Vetster, Süße oder gelegentlich sogar Schnittchen, aber falls das Wort Yvette je über George Savages Lippen gekommen war, dann jedenfalls nicht in ihrer Gegenwart. Sie hätte ihn gerne in die Eier getreten, hätte das nicht eine unschöne Spur in ihrer dreimonatigen Karriere als Zollbeamtin hinterlassen.
Der Wind riss ihr fast den Regenmantel aus den Händen, als sie aus dem Wagen hinaus in die Dunkelheit trat. Bis sie den Reißverschluss zugezogen hatte, war sie schon völlig durchweicht, und die grässliche Vorstellung befiel sie, wie George ihr später auf den schwarzen, sich unter dem weißen Hemd abzeichnenden BH schielen würde.
Yvette fühlte sich erbärmlich, als sie an die Ufermauer trat. Sie war direkt von der Uni zum Zoll gegangen in der Erwartung, dort tagtäglich große Betrugsverbrechen aufzudecken und Drogendealer zur Strecke zu bringen. Von zehnstündigen Patrouillefahrten entlang der Küste in Begleitung eines widerlichen Schweins hatte nichts in der Rekrutierungsbroschüre gestanden.
Gerade als es so schien, als könne das Leben nicht mieser werden, traf die Welle ein. Sie war größer als ihre Vorgänger; ihre Spitze rauschte über die Mauer und kam näher. Yvette wandte sich zur Flucht, aber die Welle war schneller, und schon watete sie in eiskaltem Wasser. Sie rutschte auf der glitschigen Promenade aus und schürfte sich die Hand auf, die sie schützend ausgestreckt hatte, als das Wasser sie bis zum Hals überflutete. Sie konnte gerade noch den Kopf über Wasser halten.
George drückte triumphierend auf die Hupe, als sie sich keuchend vor Kälte wieder aufrichtete. Es war ein Uhr morgens, doch die Promenade war von einer Lichterkette erhellt, und Yvette konnte deutlich erkennen, wie sich ihr Kollege in seinem Kokon hinter den laufenden Scheibenwischern vor Lachen ausschüttete. Zu gerne wäre sie hinübergestürmt und hätte ihm ordentlich die Meinung gesagt, aber ihr war klar, dass Gezeter nur weitere Würze für die Geschichte wäre, die er bei erstbester Gelegenheit jedem erzählen würde, sobald sie ins Büro zurückkamen.
Den Tränen nahe und mit vom Salzwasser brennenden Augen stolperte Yvette wieder zur Ufermauer und holte die starke Taschenlampe aus der Jackentasche. Da sie mit einem weiteren Wasseransturm rechnete, hielt sie sich am Geländer fest, bevor sie den Strahl der Lampe hinaus auf die See richtete.
Zu ihrem größten Erstaunen entdeckte sie genau das, wonach sie gesucht hatte.
*
Das schmale Fahrwasser zwischen Großbritannien und Frankreich ist die meistbefahrene Wasserstraße der Welt. Ständig befinden sich über tausend Schiffe im Ärmelkanal, von Hunderttausend-Tonnen-Tankern bis hin zu kleinen Einhandsegelbooten. Bei so viel Verkehr kommt es häufig zu Unfällen – und wenn eines der großen Schiffe mit einem der kleinen kollidiert, trifft es Letzteres immer am schlimmsten.
Drei Stunden bevor George und Yvette an der Küste bei Brighton anhielten, hatte eine Fünfzehntausend-Tonnen-Schnellfähre mit zweihundertdreißig Passagieren an Bord der Küstenwache über Funk die Kollision mit einem kleinen Motorboot gemeldet. Das kleine Boot schien angeschlagen zu sein, darum wurden ein Rettungsschiff und ein französischer Marinehubschrauber zu einer Rettungsaktion ausgeschickt. Obwohl das Boot starke Schräglage hatte und Wasser übernahm, weigerte sich der Kapitän, Hilfe anzunehmen, und versuchte, sich davonzumachen. Er hatte ganz offensichtlich etwas zu verbergen.
Der Hubschrauber verfolgte das angeschlagene Boot neunzig Minuten lang, während es sich in internationale Gewässer flüchtete, musste schließlich aber umkehren, um aufzutanken. Unter normalen Umständen hätte eine Patrouille der Küstenwache das Boot abgefangen und gegebenenfalls gewaltsam gestoppt. Doch das schreckliche Wetter hatte noch andere Schiffe in Seenot gebracht, und die Kapazitäten der Küstenwache waren erschöpft.
Als letzte Maßnahme versuchte man, das leckgeschlagene Boot auf dem Radarschirm zu verfolgen. Doch ein kleines Boot auf dem stürmischen Meer im Auge zu behalten, ist fast unmöglich, und so gab die Küstenwache schließlich einen Funkspruch an alle Schiffe heraus mit der Bitte, nach einem angeschlagenen weißen Motorboot Ausschau zu halten.
Kurz nach Mitternacht hatte der Kapitän eines Containerfrachters gemeldet, dass er an einem Boot vorbeigekommen war, auf das die Beschreibung passte. Es schien gefährlich nahe daran, zu sinken, und versuchte verzweifelt, die englische Küste zu erreichen.
Da niemand das Boot auf See abfangen konnte, wurden Polizei, Zollbehörden und Küstenwache an einem Küstenabschnitt von zehn Meilen aufgefordert, zum Meer zu fahren und nach dem beschädigten Boot Ausschau zu halten.
*
George Savage klang verärgert, als seine tropfnasse Kollegin sich ins Auto beugte. »Zum Teufel, bist du sicher?«
Typisch George, dachte Yvette. Er war offensichtlich sauer, dass seine ruhige Nachtschicht unterbrochen wurde.
»Am Ende des Piers hat ein Boot angelegt. Die Beschreibung passt, und es krängt stark zur Seite.«
»Könnte auch irgendein Boot sein, das einfach hier festgemacht wurde«, überlegte George und fuhr sich mit dem Finger über die Bartstoppeln.
»Drinnen brennt Licht, George. Ich bin sicher, es ist das Boot … Ich meine, man muss schon ziemlich verzweifelt sein, um bei diesem Wetter außerhalb eines Hafens festzumachen.«
»Wir warten lieber. Ich rufe Verstärkung.«
Das war zu viel für Yvette. »Soweit wir wissen, hat das Boot gerade erst angelegt«, schrie sie. »Die bösen Jungs könnten in diesem Moment noch da draußen sein!«
»Schmuggler tragen Waffen, mein Zuckerstück. Wir wissen nicht, mit wem wir es zu tun haben.«
Zuckerstück …
»Ich hab es satt mit dir!«, brüllte Yvette und schlug mit der Hand auf das Wagendach. »Ich sag dir was, George: Bleib ruhig auf deinem fetten Hintern sitzen, und warte auf Verstärkung. Ich gehe da raus und mache meinen Job!«
»Ruhig Blut, ruhig Blut.« Grinsend griff George nach dem Funkgerät. »Ich bin schon um einiges länger in diesem Geschäft als du …«
Yvette wusste, dass sie sich nur noch mehr aufregen würde, wenn sie blieb und sich einen weiteren Vortrag über den Vorteil von dreißig Jahren Diensterfahrung anhörte. Sie schaltete die Taschenlampe ein und lief schnurstracks die Promenade hinunter auf den stählernen Anleger zu.
Die rostige Konstruktion ragte fünfzig Meter weit ins Meer hinaus und war kaum drei Schritte breit. Nur an ihrem Kopfende verbreiterte sie sich so weit, dass ein Schiff anlegen konnte. Der Anleger war vor Jahrzehnten für Ausflugsboote gebaut worden, aber heutzutage nutzten ihn nur noch die Angler und ein paar mutige Schwimmer, die von dort ins Wasser sprangen.
Trotz des schrecklichen Wetters und der Regenböen, die über den Anleger fegten, funktionierten die Lampen, die längs der Metallkonstruktion angebracht waren, und Yvette konnte das Boot gut sehen. Es schien nur nachlässig an einem einzigen Punkt vertäut worden zu sein.
Die Crew war offenbar geflüchtet, ohne auch nur die Bordlichter auszumachen, und überließ es den Wellen, das Boot langsam zu zerschlagen. Auf einer Seite waren die Fenster geborsten, und das Heck ragte aus dem Wasser, als ob der Bug vollgelaufen wäre. Nur das Tau, mit dem es am Anleger festgemacht war, hielt es noch über Wasser.
Ein Teil von Yvette wollte der Crew entgegentreten, um ihre erste Verhaftung vorzunehmen, aber der vernünftigere Teil registrierte erleichtert, dass die bösen Jungs längst auf und davon waren.
Doch dann hörte sie einen Schrei.
Zuerst dachte sie, sie hätte es sich eingebildet, doch das Geräusch war in dem Augenblick erklungen, als eine besonders mächtige Welle über den Anleger spülte. Als das Wasser ablief, vernahm sie den gellenden Schrei erneut.
»Hallo?«, rief sie. »Ist da jemand?«
Eine Böe machte es ihr unmöglich, eine eventuelle Antwort zu hören, aber offenbar hatte ihr Ruf jemanden erreicht. Sie sah eine magere Gestalt, die die Arme um einen Laternenpfahl geschlungen hatte. Die Gestalt sah aus wie ein Kind, das kaum älter als zwölf Jahre sein konnte.
»Heilige Muttergottes«, stieß Yvette hervor und griff panisch nach dem Funkgerät. »George, bist du da? Hier steht ein kleines Mädchen am Ende des Piers und hält sich krampfhaft fest. Die Kleine ist zu verängstigt, um sich zu bewegen.«
»Ich komme!«, rief George. Ein Kind in Not konnte selbst er nicht ignorieren.
Nur konnte sich Yvette nicht vorstellen, dass ihr Partner ihr eine große Hilfe sein würde.
»Was ist mit der Verstärkung?«, fragte sie.
»Negativ«, erklärte George. »Zumindest in absehbarer Zeit. Da fliegen Ziegel von den Dächern, Bäume krachen auf die Straße, und der nächste Streifenwagen ist mit einem größeren Unfall auf der A 27 beschäftigt – der Sturm hat einen Sattelschlepper umgehauen. Es gab Schwerverletzte.«
»Verstanden«, sagte Yvette. »Dann muss ich das Kind selbst holen.«
»Bleib vernünftig, und warte, bis ich da bin!«, verlangte George. »Das ist ein Befehl!«
Doch trotz dreißig Jahren im Dienst Ihrer Majestät war George nie befördert worden und hatte keinerlei Befehlsgewalt über seine Partnerin.
Yvette war bis auf die Knochen nass. Ihr Körper hätte vor Kälte schlottern müssen, doch die Anspannung trieb ihr die Hitze ins Gesicht. Händeringend beobachtete sie die anstürmenden Wellen und versuchte, einen Augenblick abzupassen, in dem sie auf den Anleger hinausrennen konnte. Sie stellte sich vor, dass es so ähnlich wäre wie in den Videospielen, die sie mit ihrem kleinen Neffen spielte, und hoffte auf eine Art magisches Muster, eine Pause im Seegang, die es ihr erlauben würde, auf den Anleger hinauszurennen, das Kind zu schnappen und unversehrt zurückzukommen.
Aber die See machte keine Pause. Yvette konnte nur schnell loslaufen und sich am Geländer festhalten, wenn die Wellen versuchen sollten, sie mitzureißen. In der Annahme, barfuß besser zurechtzukommen als in ihren Schuhen mit den dünnen Sohlen, zog sie diese zusammen mit den Socken aus und schlüpfte aus dem Regenmantel. Sie war sowieso schon völlig durchweicht, und der wasserdichte Stoff, der sich im Sturm bauschte, würde sie nur behindern.
»Halt durch, Kleines!«, schrie Yvette, als der Wind den Mantel ergriff und fortriss. »Ich komme dich holen!«
Sie holte tief Luft und überlegte, ob sie beten sollte, doch George kam im Focus auf sie zugefahren. Da sie nicht wollte, dass er sie aufhielt, küsste sie nur schnell das goldene Kreuz um ihren Hals.
Als das wirbelnde Wasser sich zurückzog, lief Yvette die drei Stufen am Ende des Anlegers hinunter, griff nach dem Metallgeländer und rannte los. Die erste Welle schickte nur wenig Wasser über die hölzernen Planken, aber der starke Wind verlieh ihm erstaunliche Kraft, und Yvette musste die Zehen in die Lücken zwischen den Hölzern graben, damit ihr die Beine nicht fortgezogen wurden.
Die nächste Welle war riesig und jagte aus der entgegengesetzten Richtung über den Anleger, drückte Yvette rücklings gegen das Geländer, und Salzwasser schoss ihr die Nase hoch. Sie hustete und spuckte, als ein Wellental es ihr erlaubte, weitere dreißig Meter fast bis zum Kopf des Anlegers zu laufen, bevor der nächste Brecher anfegte.
Als das Wasser wieder ablief, war das Boot kaum mehr fünf Meter entfernt und das Kind deutlich zu erkennen. Es war ein Mädchen mit langen blonden Haaren. Sie trug Lederstiefel, Leggings und einen patschnassen Rollkragenpulli. Auch wenn das Mädchen zu verängstigt gewesen war, um den Laternenpfahl loszulassen und sich zum rettenden Ufer zu flüchten, hatte sie es doch geschafft, ihr Bein zum Schutz zwischen den Laternenpfahl und einen Mülleimer zu klemmen.
»Bist du so weit okay?«, rief Yvette.
Das Mädchen schüttelte den Kopf und sagte etwas in einer Sprache, die Yvette nicht verstand. Ihre blasse Hautfarbe und die billigen, aber warmen Kleidungsstücke ließen vermuten, dass sie aus Osteuropa stammte.
Yvette wurde klar, dass das Boot illegale Einwanderer geschmuggelt haben musste. Das verängstigte Mädchen war wahrscheinlich von ihren Gefährten getrennt worden, als sie über den Anleger flüchteten, und die anderen hatten entweder angenommen, dass sie von den Wellen ins Meer gerissen worden war, oder das Mädchen war ihnen nicht wichtig genug gewesen, um zurückzukehren und sie zu retten.
Der nächste Part war der schwierigste: Der Kopf des Anlegers war dafür gebaut, dass Schiffe anlegten, und hatte kein Geländer. Yvette würde auf eine Lücke zwischen den Wellen warten müssen und dann zu dem Mädchen rennen, sie packen und zurücklaufen. Wenn sie den falschen Moment erwischte, würde sie in den sicheren Tod gerissen werden: Entweder sie ertrank, oder sie wurde am Anleger oder der Ufermauer zerschmettert.
Das Meer war schwarz, und die unregelmäßigen Böen machten es schwer, die Wellen einzuschätzen. Yvette versuchte, der Kleinen zuversichtlich zuzulächeln, aber als sie sich duckte und am Ende des Geländers festhielt, klopfte ihr Herz, als wolle es sich einen Weg aus ihrem Brustkasten heraushämmern.
Sie zog den Kopf ein, als sich eine riesige Welle aufbaute. Die Metallkonstruktion ächzte wie ein singender Wal, dann erzitterte sie, als das Boot an dem Pfahl zerrte, an dem es vertäut war. Der Plastikrumpf krachte gegen den Anleger.
»Ich komme!«, rief Yvette.
Sie brauchte kaum drei Sekunden, um das Mädchen zu erreichen und einen Arm um sie zu legen. Der Kleinen klapperten die Zähne, und ihr magerer Körper war eiskalt. Yvette erkannte, dass sie bereits unterkühlt war und kaum in der Lage sein würde, ihr eigenes Gewicht zu tragen.
Als sie das Bein des Mädchens aus der Spalte zwischen Pfosten und Papierkorb zog, sah sie, wie sich eine fast mannshohe Welle über dem Ende des Anlegers brach. Sie wurde von dem herantosenden Wasser auf den Rücken geworfen, schaffte es aber, das Mädchen umklammert zu halten.
Blanker Schrecken überfiel sie, als das Wasser ihren Körper hob und auf den Rand des Anlegers zuschob. Sie hörte, wie das Boot erneut gegen den Anleger krachte, dann klatschte direkt vor ihr etwas Schweres auf die Planken.
»Halt fest!«, schrie George.
Yvette griff nach dem Ding, das sich als Rettungsring an einem Seil entpuppte. George hatte ein Bein um das Geländer geschlungen und das Nylonseil um die fleischigen Hände gewickelt. Er kämpfte und mühte sich ab, das Seil festzuhalten, als die nächste Welle die beiden Frauen fast vom Anleger wusch.
Sowohl Yvette als auch das Mädchen schrien auf, als sie nach Luft schnappend wieder auftauchten, während das Wasser durch die Ritzen in den Holzplanken verschwand. Immer noch den Arm um das Mädchen geschlungen, rollte Yvette sich auf den Bauch und stellte entsetzt fest, wie dicht sie davor gewesen waren, ins Wasser gerissen zu werden.
Schnell hechtete sie auf George und die relative Sicherheit des Geländers zu.
»Ich hab dir doch gesagt, du sollst warten!«, schrie George wütend, bevor sie sich alle duckten und an das Geländer krallten und eine kleinere Welle über den Anleger rollte.
»Ich wollte nicht, dass du mich aufhältst«, rief Yvette, die den Tränen nahe war und erschrocken erkannte, dass sie jetzt ihr Leben einem Mann verdankte, den sie nicht ausstehen konnte. Vielleicht würde sie George mit seinen sexistischen Anspielungen und den nikotinverfärbten Fingernägeln nie mögen, aber immerhin hatte er sich als besser erwiesen, als sie es ihm zugetraut hätte.
Als erneut Wasser über sie hinwegsauste, kauerte sich Yvette über das Mädchen und fühlte sich seltsam erleichtert, die fette Hand auf ihrer Schulter zu spüren. Das Nylonseil hatte Georges Haut aufgerissen, und Blut lief ihm über die Finger.
Nachdem das Wasser der letzten Welle abgelaufen war, sah Yvette über das Geländer und stellte fest, dass die See gespenstisch ruhig geworden war.
»Das ist die Ruhe vor dem nächsten Sturm«, erklärte George eilig. »Die dicken Dinger werden gleich wieder anrollen.«
Der Wind heulte in der Metallkonstruktion des Anlegers, während sie die kurze Unterbrechung nutzten, um ans Ufer zurückzurennen.
Aero City liegt in einer ländlichen Gegend 300 Kilometer nordwestlich von Moskau. Noch in der Sowjetzeit errichtet, war die Stadt ein Zentrum für Luftfahrtforschung, und viele russische Zivilflugzeuge, Militärtransporter und Lenkraketen waren in ihren riesigen Fabrikhallen gebaut worden.
1994 verkündete die Regierung, die gesamte russische Industrie im Rahmen der sogenannten »Massenprivatisierung« verkaufen zu wollen. Korruption im großen Stil begleitete den gesamten Prozess, und viele von Russlands wertvollsten Vermögenswerten fielen in die Hände einer kleinen Gruppe von Männern und Frauen, die als die »Oligarchen« bekannt wurden.
Einer dieser Männer war Denis Obidin, der seine Position als kleinerer Bankangestellter dazu benutzte, seiner Frau und seinen Eltern in betrügerischer Absicht große Kredite einzuräumen. Mit dem Geld kaufte Obidin Anteile auf, die die Regierung an Fabrikarbeiter ausgegeben hatte, die keine Ahnung von deren Wert hatten. 1996 gehörte ihm ein Anteil an der russischen Luftfahrtindustrie, der schätzungsweise über 800 Millionen Dollar wert war.
Heute herrscht Obidin nicht nur über alle Fabriken und das meiste Land in Aero City, er hat sich durch Wahlbetrug auch zum Bürgermeister machen lassen. Als ein örtlicher Polizeichef ankündigte, gegen Korruptionsfälle in Obidins Administration vorgehen zu wollen, wurde er tot in seiner Wohnung aufgefunden, und Obidin ernannte seinen Bruder Vladimir zum Chef der hiesigen Polizei.
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