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Ein Teenager im Kampf gegen einen milliardenschweren Clan
Ryan ist eben erst von Cherub als Agent angeworben worden. Er hat gerade einmal seine Grundausbildung hinter sich und jetzt bekommt er seinen ersten Auftrag. Der führt ihn nach Kalifornien: Dort soll er sich mit Ethan anfreunden, dem jüngsten Spross aus einem kriminellen Clan, der Geschäfte im Wert von Milliarden von Dollars macht. Noch ahnt niemand, dass diese Mission sich zu einer der größten in der Geschichte von Cherub entwickeln wird …
Knallharte Action, spannend bis zur letzten Seite!
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Seitenzahl: 475
Robert Muchamore
Top Secret - Die neue Generation
Der Clan
Aus dem Englischenvon Tanja Ohlsen
cbj
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cbt ist der Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Übersetzung: Tanja Ohlsen
Lektorat: Ulrike Hauswaldt
Covergestaltung: Molesch
KK · Herstellung: kw
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-12006-1
V005
www.penguinrandomhouse.de
CHERUB ist Teil des britischen Geheimdienstes. Die Agenten sind zwischen zehn und siebzehn Jahre alt. Meist handelt es sich bei den CHERUB-Agenten um Waisen aus Kinderheimen, die für die Undercover-Arbeit ausgebildet wurden. Sie leben auf dem Campus von CHERUB, einer geheimen Einrichtung irgendwo auf dem Land in England.
Kinder können sehr hilfreich sein. Niemand rechnet damit, dass Kinder Undercover-Aktionen durchführen, daher kommen sie mit vielem durch, was Erwachsenen nicht gelingt.
Auf dem CHERUB-Campus leben etwa dreihundert Kinder. Normalerweise werden sie im Alter von sechs bis zwölf Jahren rekrutiert; wenn sie zusammen mit älteren Geschwistern kommen, sind sie gelegentlich auch jünger. Ab zehn Jahren können sie als Agenten arbeiten, vorausgesetzt, sie überstehen die hunderttägige Grundausbildung.
Die wichtigsten Eigenschaften eines CHERUB-Agenten sind überdurchschnittliche Intelligenz und physische Belastbarkeit sowie die Fähigkeit, unter Stress zu arbeiten und selbstständig zu denken.
Die Größe des Geländes, die speziellen Trainingseinrichtungen und die Kombination aus Internat und Geheimdienststelle bringen es mit sich, dass CHERUB mehr Personal als Schüler hat. Dazu gehören Köche und Gärtner ebenso wie Lehrer, Ausbilder, Krankenschwestern, Psychiater und Einsatzspezialisten. CHERUB wird von der Vorsitzenden ZARA ASKER geleitet.
Juli 2011
Im Büro der Vorsitzenden auf dem CHERUB-Campus saßen drei Frauen. Trotz der wegen der tief stehenden Abendsonne heruntergelassenen Jalousien musste die Klimaanlage gegen die Hochsommerhitze ankämpfen.
»Erzählen Sie mir von ihm«, verlangte Dr. D. Sie hatte einen starken New Yorker Akzent und betrachtete das Foto eines zwölfjährigen Jungen. »Das ist ein gut aussehender Junge. Hat er einen arabischen Einschlag?«
Dr. D. war sehr klein und näherte sich der Siebzig. Trotz der Hitze trug sie einen karierten Umhang, dicke graue Strümpfe und kniehohe Stiefel. Sie sah aus wie eine schräge alte Sekretärin, aber in Wahrheit war sie eine hochrangige Agentin des amerikanischen Geheimdienstes CIA.
Auch Zara Asker sah nicht gerade aus wie eine Spionin. Die vierzigjährige Vorsitzende von CHERUB, die Dr. D. gegenübersaß, trug eine billige Plastikuhr, und an ihrem Kleid konnte man ablesen, was ihr jüngster Sohn gegessen hatte.
»Ryan ist vor vierzehn Monaten zu CHERUB gekommen«, erklärte Zara. »Seine Großeltern kamen aus Syrien, Deutschland, Irland und Pakistan.«
Dr. D. hob eine Augenbraue. »Hört sich an wie der Anfang von einem schlechten Witz.«
»Ryan wuchs hauptsächlich in Saudi-Arabien und Russland auf. Sein Dad war Geologe in der Ölindustrie, geriet aber durch Glücksspiel und Alkohol in Schulden und endete als Leiche unter ein paar Müllsäcken. Kein Mensch weiß, ob es Mord oder Selbstmord war. Ryan kam 2009 mit seiner Mutter und drei jüngeren Brüdern nach Großbritannien. Die Mutter erschwindelte sich einen Platz in einem privaten Behandlungsprogramm für eine seltene Art von Krebserkrankung, flog dort aber hinaus, als sie den Überziehungskredit ihrer Geldkarten ausgeschöpft hatte. Die Einwanderungsbehörde versuchte, die Familie wieder nach Syrien zu schicken, aber dazu war die Frau zu krank. Sie starb völlig mittellos in einem staatlichen Krankenhaus und hinterließ vier Jungen unter elf Jahren. Weitere Familienangehörige sind nicht bekannt.«
»Und die Jungen sind alle bei CHERUB?«, erkundigte sich Dr. D.
Zara nickte. »Wir trennen Familien nie. Ryan ist der Älteste. Er hat Zwillingsbrüder, die bald zehn werden, und Theo ist sieben.«
»Sie sagten, dass Ryan noch nicht viel Erfahrung bei Missionen hat«, bemerkte Dr. D.
»Er hat erst ein paar eintägige Einsätze gehabt«, erklärte Zara. »Aber er setzt sich voll ein, und für die Operation, die Sie vorhaben, sollte er durchaus geeignet sein.«
Dr. D. nickte und ließ Ryans Foto wieder auf den gläsernen Tisch fallen. »Also, wann kann ich ihn kennenlernen?«
Ryan verließ gerade die Leichtathletikbahn des Campus und hatte keine Ahnung, dass über ihn gesprochen wurde. Es war brütend heiß, und als er sich mit dem Saum seines T-Shirts den Schweiß vom Gesicht wischte, zeigte sich deutlich ein Sixpack.
Der Zwölfjährige war muskulös, aber nicht massig. Er hatte braune Augen, glatte dunkle Haare, die einen Schnitt nötig gehabt hätten, und seit Kurzem einen silbernen Ohrring in einem Ohr. Er nahm zwei Schluck Wasser an einem ziemlich drucklosen Trinkbrunnen und ging die drei Stufen zu einer baufälligen Hütte hinauf, die das Personal vom Sportplatz benutzte.
Drinnen herrschte Halbdunkel, da das Milchglasfenster nach einem Treffer von einem Fußball vernagelt war. Es war niemand da, aber der Geruch der Trainer hing in den Trainingsanzügen und der muffigen Allwetterkleidung an den Wandhaken.
An einem Klemmbrett auf dem Fenstersims stapelten sich die Formulare. Wenn man zurückblätterte, konnte man alle kleineren Verbrechen der letzten vier Monate nachlesen, die mit Strafrunden abgebüßt wurden.
Eine Schweißperle tropfte auf das Din-A4-Blatt, als Ryan nach einem angeketteten Kugelschreiber griff und die Kästchen auf der ersten Seite ausfüllte: Zeit, Datum, Name, Agentennummer, Strafrundenzahl und Grund der Strafe.
Das letzte Kästchen ärgerte Ryan und fast hätte er Kein richtiger Grund eingetragen.
Er hatte kein Problem mit den strengen disziplinarischen Maßnahmen für Agenten, die bei CHERUB die Regeln brachen, aber fünf Kilometer laufen zu müssen, weil er einen Lachkrampf bekommen hatte, war lächerlich. Besonders, da andere Kinder, die das Gleiche getan hatten, straffrei ausgegangen waren.
»Willst du dich die ganze Nacht lang daran festhalten?«, fragte jemand gereizt.
Da er so keuchte, hatte er nicht gehört, wie hinter ihm ein Mädchen mit rotem T-Shirt und pinkfarbenen Nikes eingetreten war. Widerwillig schrieb er Lachen während des Unterrichts hin, unterschrieb und reichte ihr das Klemmbrett weiter.
»Hier, bitte schön«, sagte er giftig.
Ryan lief den Kiesweg zum achtstöckigen Hauptgebäude auf dem Campus entlang. Auf dem Gelände war nicht viel los, weil viele Kinder im Sommerlager Ferien machten. Mit dem Aufzug fuhr er in den siebten Stock, bog aber vor seinem Zimmer in eine kleine Küche ab, um etwas zu trinken.
»Ryan, du stinkst!«, beschwerte sich Grace und wedelte sich mit der Hand vor der Nase, als er sich an ihr vorbeidrängte.
Sie war etwa so alt wie er selbst, aber einen ganzen Kopf kleiner. Ihre beste Freundin Chloe saß mit nackten Beinen auf der Arbeitsfläche zwischen der Mikrowelle und drei Dessertgläsern, in denen sich ein halb fertiger Schichtpudding befand.
Die Stimmung war ein wenig angespannt, denn Grace war so etwas wie Ryans erste Freundin gewesen, und ein Wochenende mit Händchenhalten und verlegenem Schweigen hatte damit geendet, dass Grace ihm einen Makkaroniauflauf an den Kopf geworfen hatte.
»Kann ich nicht ändern«, meinte Ryan, nahm sich ein großes Glas aus dem Schrank und füllte das untere Viertel mit Crush-Eis aus dem Eisbereiter in der Kühlschranktür. »Strafrunden. Und das bei der Hitze!«
Die Mädchen schienen interessiert. Ryan nahm sich eine Pepsi light aus dem Kühlschrank und goss sie über das Eis. Während er trank, zerstieß Grace rosa Biskuit und streute die Krümel über den Pudding in den Dessertgläsern.
»Das sieht dir gar nicht ähnlich, Ryan«, stellte Chloe leicht neckend fest. »Normalerweise bist du doch so ein braver Junge.«
»Max Black ist schuld«, erwiderte Ryan und stieß einen gewaltigen Pepsi-Rülpser aus.
»Du Schwein!«, kreischte Chloe, doch Ryan begann ungerührt mit seiner Geschichte.
»Wir hatten Mathe bei Mr Bartlett. Bartlett ist rausgegangen, um etwas zu holen. Max und Kaitlyn hatten sich schon während der ganzen Morgenpause gestritten. Kaitlyn nennt Max einen Mongo. Und ihr wisst doch, dass Orangen total einschrumpeln, wenn sie alt werden, oder?«
Die Mädchen waren von dem plötzlichen Themenwechsel irritiert, nickten aber trotzdem.
»Max hat jede Menge Müll in seinem Rucksack«, erklärte Ryan. »Ich meine, er hat seit Jahren dieselbe Schultasche, und ich glaube, er hat sie noch nicht ein einziges Mal sauber gemacht. Vollgerotzte Taschentücher, Socken, kaputte Kugelschreiber. Im Prinzip ist das eine biologische Gefahrenzone. Er greift also in seine Tasche und holt eine alte Orange heraus, die nur noch so groß ist wie ein Tischtennisball. Und damit wirft er echt hart nach Kaitlyn.
Kaitlyn duckt sich, kippt vom Stuhl und haut sich den Kopf am Tisch hinter ihr an. Die Orange fliegt weiter, trifft den Henkel von Mr Bartletts Teetasse auf seinem Schreibtisch, und weil Max so fest geworfen hat, explodiert die Orange und die Teetasse macht eine kleine Pirouette und fällt dann um.
Sie war noch fast ganz voll mit Earl-Grey-Tee, der überall hinläuft. Über die Papiere, und weil die Schublade offen steht, auch in den Locher, den Tacker, die Taschenrechner und über ganze Stapel von Karopapier und Übungsbücher. Als Bartlett wieder reinkommt, heult Kaitlyn und wedelt mit den Armen und stellt sich total an, und Bartlett fängt an, Max anzubrüllen.«
Grace und Chloe lauschten ihm gebannt, daher entspannte sich Ryan ein wenig. Es war das erste Mal seit dem Makkaronivorfall vor sechs Wochen, dass er mit den beiden sprach.
»Bartlett kriegt also den totalen Ausraster«, erzählte er weiter. »Er verpasst Max hundert Strafrunden und schickt Kaitlyn in die Krankenstation. Dann versucht er, uns andere zu beruhigen, aber ich kann einfach nicht aufhören. Ich schlucke und versuche echt, nicht zu lachen, aber Alfie und ich machen uns fast in die Hosen. Also schickt uns Bartlett beide auf den Gang und lässt uns fünf Kilometer laufen.«
»Krass«, fand Grace und krönte die Dessertgläser mit Sprühsahne und Maltesern. »Bartlett ist doch normalerweise ganz friedlich. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er auch nur einmal die Stimme erhoben hätte.«
Ryan goss noch mehr Pepsi über das Eis.
»Ich finde das gar nicht so lustig«, warf Chloe ernst ein. »Kaitlyn musste schließlich mit drei Stichen genäht werden.«
Ryan sah sie entsetzt an.
»Echt? Max ist ein Idiot. Er weiß nie, wann er aufhören sollte.«
Chloe hob eine Augenbraue und begann zu lachen.
»Reingefallen!«
Ryan schüttelte den Kopf, lächelte aber erleichtert.
»Hätte mich auch gewundert. Ihr Kopf hat den Tisch kaum gestreift. Gib mir mal ein paar Malteser. Für wen ist der dritte Nachtisch?«
»Auf jeden Fall nicht für dich«, erwiderte Grace und kippte Ryan ein paar braune Kugeln in die ausgestreckte Handfläche.
Ryan warf sich sechs Malteser in den Mund und biss zu, nahm sein halb leeres Glas Pepsi und wollte gehen.
»He!«, rief Chloe. »Wo willst du hin?«
Ryan drehte sich um und sah, dass sie auf die Pepsiflasche zeigte.
»Woran ist dein letzter Diener gestorben?«, fragte sie. »Stell das wieder in den Kühlschrank!«
Grollend kam Ryan zurück. Er war müde und die Mädchen hatten sowieso jede Menge Zeug in der Küche verteilt.
»Es wird euch schon nicht umbringen, eine Flasche mehr zurückzustellen«, knurrte er.
»Wir bringen dich um, wenn du es nicht tust«, erwiderte Chloe und sprang von der Arbeitsplatte. Sie war barfuß, und Ryan betrachtete ihre lackierten Zehennägel, als er die Kühlschranktür aufmachte und sich vorbeugte, um die Pepsi wieder zurückzustellen.
Hätte er sich umgesehen, hätte er Grace bemerkt, bevor sie den Elastikbund seiner Shorts wegzog und ihm einen langen Schuss Sprühsahne auf den Hintern sprühte.
»Ihh, das ist ja ganz verschwitzt da drinnen!«, krähte sie und schützte die Augen vor der spritzenden Sahne.
Ryan versuchte auszuweichen, aber Chloe drückte die Kühlschranktür zu und klemmte ihn ein, bis die Dose ihren gesamten Inhalt versprüht hatte.
»Foto, Foto!«, schrie Grace.
Chloe ließ die Kühlschranktür erst los, als die leere Dose auf den Boden schepperte. Als sich Ryan aufrichtete, schlug ihm Grace auf den Hintern, sodass die Schlagsahneladung aus seiner Hose herausschoss. Im gleichen Augenblick blitzte eine Handykamera.
»Ihr Psychos!«, schrie Ryan. »Was soll denn das?«
»Einfach nur so«, begeisterte sich Grace.
Das zweite Foto war noch besser, denn Ryans Gesicht zeigte ein Mischung aus Lachen und Wut, während ihm die Sahne aus der Hose über die Oberschenkel lief. Auf dem dritten Foto griff er nach dem iPhone, während Grace sich ins Bild lehnte und mit irrem Grinsen beide Daumen hochhielt.
»Wartet nur ab!«, schrie Ryan und watschelte auf sein Zimmer zu, als hätte er sich in die Hose gemacht. »Passt lieber auf in nächster Zeit!«
»Jetzt haben wir aber Angst, Rybo«, rief Grace lachend.
Sie wussten beide, wie sehr er es hasste, Rybo genannt zu werden.
»Rybo, Rybo, Ryboooooo!«, rief Chloe wie in einem Sprechchor auf dem Fußballplatz.
Ryan knallte seine Zimmertür zu und drehte den Schlüssel um, damit die Mädchen nicht hereinkommen konnten.
Waren das harte Training und die Strafen einer der Nachteile dabei, ein CHERUB-Agent zu sein, so zählten die Zimmer doch eindeutig als Pluspunkte. Ryan hatte ein gemütliches Zimmer mit einem Ledersofa und einem Fernseher auf der einen Seite der Tür und einem kleinen Kühlschrank und einer Mikrowelle auf der anderen. Er hatte ein Doppelbett und am Fenster stand ein großer Schreibtisch mit einem Laptop und einem Stapel Schulbücher.
Da er nicht wollte, dass die Sahne, die an seinen Beinen hinunterlief, auf dem Teppich landete, eilte er mit drei großen Schritten ins Bad. Anstatt den Boden einzusauen, ging er mit Kleidern in die Dusche, damit die Sahneklumpen aus seinen Sachen weggewaschen wurden, wenn er das Wasser anstellte.
Er zog seine Turnschuhe aus, drehte die Dusche an und zog sich aus, während das Wasser warm wurde, sodass die verschwitzten, vollgeschmierten Sachen in der Duschwanne durchgespült wurden.
Sein klebriges T-Shirt hing ihm halb über den Kopf, als das Telefon zu klingeln begann.
»Mist!«
An der Wand neben der Toilette befand sich ein Hörer. Er fragte sich, ob er überhaupt abnehmen sollte, denn wahrscheinlich waren es sowieso nur Grace und Chloe, die ihn aufziehen wollten, aber es hätte auch etwas Wichtiges sein können. Fast wäre er ausgerutscht, als er sich nach dem Hörer streckte und das gedrehte Telefonkabel durch das Bad spannte.
»Ryan, hier ist Zara.«
Ryan zuckte zusammen. Die Vorsitzende rief die einzelnen Agenten nur an, wenn es um ernsthafte Dinge ging, um wichtige Missionen oder um Ärger, bei dem man sich weit mehr einhandelte als einfache Strafrunden. Sie war schwer zu verstehen, daher stellte er die Dusche mit einem Fuß, der noch in der nassen Socke steckte, aus.
Ryan war nicht besonders unordentlich, aber dennoch schien es immer etwas Besseres zu tun zu geben, als in seiner Freizeit das Zimmer aufzuräumen. Er ließ seine Trainingssachen in der Wanne liegen, benutzte sein Deo und spülte sich kurz den Mund mit Mundwasser aus. Dann durchwühlte er die Haufen um sein Bett herum, bis er saubere Unterwäsche, ein sauberes graues CHERUB-T-Shirt und Cargohosen fand.
Bevor er nach unten lief, spielte er mit dem Gedanken, den Knopf aus seinem Ohrloch zu nehmen. Er hatte sich das Loch am Wochenende zuvor stechen lassen, in der Hoffnung, dadurch cooler und rebellischer auszusehen. Aber immer wenn er sein Zimmer verließ, war er sich des Ohrrings deutlich bewusst und hatte das Gefühl, dass ihn alle anstarrten und glaubten, dass er wie ein Idiot aussähe.
Doch am Ende ließ er ihn drin, denn schließlich wartete Zara auf ihn, und wenn er daran herumspielte, würde das Ohr nur wund werden.
Als er die Doppeltür zum Büro der Vorsitzenden erreichte, holte er tief Luft und bemerkte, dass seine Hände zitterten. Vielleicht hatte er Ärger, vielleicht war das aber auch die richtige Mission, nach der er sich sehnte, seit er vor acht Monaten die Grundausbildung geschafft hatte.
»Aha, der Mann der Stunde«, begrüßte ihn Zara und stand vom Sofa auf.
In dem Büro mit der hohen Decke standen auf der einen Seite ein Winkelschreibtisch und Aktenschränke und auf der anderen Ledersofas vor einem Kamin. Dankbar nahm Ryan die Klimaanlage zur Kenntnis, als er eintrat.
Zara stellte Ryan einer blendend aussehenden Frau Anfang zwanzig vor. »Ich glaube, du kennst Amy Collins noch nicht, oder?«
Ryan schüttelte Amy ehrfurchtsvoll die Hand. Sie hatte schulterlange blonde Haare, ein perfektes Gesicht, vorwitzige Brüste und einen göttlichen, sonnengebräunten Körper. Über dem Bund ihrer abgeschnittenen Jeans zeigte sich der Streifen eines Stringtangas.
»Hi«, sagte er.
»Hübscher Ohrring«, bemerkte Amy. »Ich habe deine Akte gelesen. Schön, dich persönlich kennenzulernen.«
»Hi«, wiederholte Ryan, dessen Gehirn sich gerade in Brei verwandelte. Als ihm Zara die Hand auf die Schulter legte, zuckte er zusammen.
»Du bist ja so nervös, Ryan«, bemerkte sie. »Aber ich verspreche dir, wir beißen nicht.«
Ryan ärgerte sich, dass man ihm seinen Gemütszustand so leicht ansehen konnte.
»Amy war früher CHERUB-Agentin«, erklärte Zara. »Sie ist 2005 ausgeschieden und arbeitet seit Kurzem für die TFU in Dallas – eine international einsetzbare Eingreiftruppe, die von Dr. Denise Huggan geleitet wird.«
Die Frau mit dem Cape stand auf, doch selbst mit ihren hochhackigen Stiefeln reichte sie Ryan kaum bis zu den Augenbrauen.
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Dr. Huggan«, sagte Ryan höflich und schüttelte ihr die knorrige Hand mit den altertümlichen Silberringen.
»Nenn mich Dr. D.«, erwiderte sie mit ihrem schrillen New Yorker Akzent. »Auf etwas anderes reagiere ich nicht.«
Sie stieß ein lautes, falsches Lachen aus und Zara forderte ihn auf: »Setz dich, Ryan. Amy und Dr. D. haben die höchste Sicherheitsstufe, daher darfst du offen über dein Training oder deine Erfahrungen als CHERUB-Agent sprechen.«
Als sich Ryan neben Amy auf das Ledersofa setzte, warf er einen Blick auf die Akten und Dokumente, die auf dem Tisch ausgebreitet waren. Insbesondere bemerkte er einen der markanten roten Ordner, in denen CHERUB-Agenten ihre Einsatzunterlagen bekommen.
»Ich kriege also endlich eine richtige Mission?«, stieß er hervor.
»Ja, endlich«, lachte Zara. »Du hast dir deswegen schon ein wenig Sorgen gemacht, nicht wahr?«
Verlegen bemerkte Ryan, dass Amy und Dr. D. in ihr Lachen mit einstimmten.
»Ich weiß genau, wie es Ryan geht«, meinte Amy mitfühlend. »Wenn man mit der Grundausbildung fertig ist, hält man sich für absolute Spitzenklasse. Aber dann will man auch raus und sich in der Realität beweisen.«
»Genau«, bestätigte Ryan. »Ein paar Jungs, die mit mir zusammen in der Grundausbildung waren, haben schon große Einsätze hinter sich, während ich hier seit acht Monaten auf dem Campus Däumchen drehe und mich frage, ob die von der Einsatzleitung vergessen haben, dass ich überhaupt existiere.«
»Ich habe auch acht Monate auf meinen ersten Einsatz warten müssen«, bekannte Amy, die über den Zufall lächeln musste.
»Das Problem ist, dass man nie die richtigen Agenten hat«, erklärte Zara. »Wir hatten zum Beispiel mal einen sehr begabten Agenten, der fließend Urdu und Pashto sprach und über ein Jahr auf dem Campus saß. Dann war er gerade zu einer Mission aufgebrochen, als ich eine zweite absagen musste, für die er ideal gewesen wäre.«
»Ich verstehe das«, sagte Ryan. »Ich will mich ja auch gar nicht beschweren.«
»Das weiß ich«, erwiderte Zara herzlich. Sie hielt inne, um einen Schluck Kaffee zu nehmen, und wechselte dann das Thema. »Dr. D. ist die Leiterin einer neuen internationalen Taskforce, die man TFU nennt. Das steht für Transnational Facilitator Unit. Es ist eine relativ kleine Einheit, die von der Regierung der Vereinigten Staaten finanziert und von befreundeten Ländern wie Großbritannien mit zusätzlichen Agenten und Ressourcen unterstützt wird.«
Amy bemerkte Ryans verdutzten Gesichtsausdruck und fragte: »Hast du eine Ahnung, was das sein soll?«
»Nicht wirklich.«
Dr. D. lachte kreischend.
»Das hat niemand!«, rief sie. »Die Hälfte meiner Bosse in Washington auch nicht. Im Prinzip geht es darum, dass es Terroristen gibt, die etwas in die Luft jagen wollen. Es gibt organisiertes Verbrechen wie die Mafia in Italien oder die japanische Yakuza, aber an deren Spitze stehen die transnationalen Facilitators oder Vermittler. Sie sind reich, gut organisiert und betreiben illegale Transport- und Schmugglernetzwerke, durch die Verbrechen auf globaler Ebene überhaupt erst möglich werden.«
»So eine Art FedEx für Verbrecher?«, fragte Ryan.
»Gar kein schlechter Vergleich«, fand Amy. »Bei einem transnationalen Vermittler kann es sich um ein oder zwei gut vernetzte Individuen handeln oder auch eine größere Gesellschaft mit eigenem Transportnetzwerk und mächtigen politischen Verbindungen. Was alle Vermittler gemein haben, ist die Fähigkeit, Verbrechen in allen möglichen Teilen der Welt durchführbar zu machen.
Sie können einen südamerikanischen Drogenfabrikanten mit einer Street-Gang auf den Philippinen in Verbindung bringen oder gefälschte Medikamente aus Indien an einen korrupten Beamten des Gesundheitswesens in Afrika verkaufen, der den Ausbruch einer Seuche kontrollieren soll.«
»Das Problem, das Rechtssysteme und Geheimdienste dabei haben«, fuhr Dr. D. fort, »ist, dass diese transnationalen Vermittler fast immer von armen und korrupten Staaten aus operieren, die nicht über die finanziellen oder rechtlichen Mittel verfügen, um mit ihnen fertig zu werden. Sie verdienen Milliarden, sind aber praktisch unantastbar. Die TFU ist die erste Einheit, die sich auf diese Spitze des organisierten Verbrechens spezialisiert hat.«
»Interessant«, fand Ryan und sah Amy an. »Du arbeitest also auch für die TFU?«
Amy nickte.
»Ich habe bis vor sechs Monaten in Australien gelebt, aber jetzt bin ich im Hauptquartier der TFU in Dallas. Wir sind nur ein kleines Team mit begrenzten finanziellen Mitteln, aber Dr. D. hat aus der ganzen Welt ausgezeichnete Mitarbeiter rekrutiert und wir können bereits erste Erfolge verzeichnen.«
»Und jetzt haben wir eine Spur, die zu einem der größten Vermittler von allen führt«, fügte Dr. D. dramatisch hinzu.
»Und wer ist das?«, wollte Ryan wissen.
»Man nennt diese Gruppe meist den Amarov-Clan«, erklärte Dr. D. »Sie haben ihr Hauptquartier in Kirgistan in Zentralasien. Den Kern ihrer Geschäfte bildet eine Flotte von siebzig Frachtflugzeugen. Damit transportieren sie zum Teil legale Ladung, aber das meiste Geld machen sie durch Schmuggel: Drogen, Waffen, hochwertige Fälschungen und illegale Einwanderer.«
»Warum kann man sie denn nicht aufhalten, wenn sie so viele Flugzeuge haben?«, wollte Ryan wissen. »Man muss doch nur ein paar Drohnen nach Ker … Kir … Kirgidingens da schicken und ihre Flugzeuge abschießen.«
Dr. D. lachte. »Wenn das nur ginge. Der Amarov-Clan hat weitreichende politische Verbindungen. Jeder weiß, was sie da treiben, aber Kirgistan liegt in der politisch sensiblen Zone zwischen Russland und China.
Irena Aramov besticht seit zwanzig Jahren Politiker, Militärs und Bürokraten in Russland und China. Sollten Amerika oder Europa gegen den Aramov-Clan in Kirgistan einschreiten, würde es gewaltigen Ärger mit den Russen und Chinesen geben.«
Ryan hatte zwar keine Ahnung, wo er Kirgistan auf einer Landkarte hätte suchen sollen, verstand aber von Amys und Dr. D.s Erklärungen genug, um zu bemerken: »Die einzige Möglichkeit, den Aramov-Clan zu Fall zu bringen, ist also, ihn zu infiltrieren und von innen heraus zu vernichten?«
»Genau!«, bestätigte Dr. D. fröhlich. »Ach, weißt du, Ryan, ich habe so ein gutes Gefühl bei deiner Aura! Ich spüre, dass wir sehr gut zusammenarbeiten werden!«
Ryan bemerkte, wie Amy und Zara verlegene Blicke tauschten. Dr. D. schien ein schräger Vogel zu sein.
»Und was spiele ich für eine Rolle?«, fragte Ryan.
Amy neigte sich vor und wandte sich zu Ryan, um ihm zu erklären: »Vor drei Wochen hat die CIA, die die Stationen in Afghanistan überwacht, ein verschlüsseltes Telefongespräch zwischen dem Hauptbüro des Aramov-Clans in Kirgisien und einer Frau namens Gillian Kitsell in Santa Cruz in Kalifornien aufgenommen. Für Kriminelle ist es eigentlich ungewöhnlich, verschlüsselte Auslandsgespräche übers Telefon zu führen.«
Ryan wusste, warum, und um das auch zu zeigen, warf er ein: »Weil das verschlüsselte Signal an sich schon verdächtig ist. Das Gespräch muss entweder sehr dringend oder ein Fehler gewesen sein.«
»Genau«, bestätigte Amy.
»Und was haben sie gesagt?«, wollte er wissen.
»Wunschdenken, Ryan«, lachte Amy. »Der Aramov-Clan benutzt einen hochkomplizierten Verschlüsselungs-Algorithmus. Man kann ihn nicht knacken, wenn man nicht acht Monate uneingeschränkten Zugang zu einem Hundert-Millionen-Dollar-Computer hat. Doch das FBI hat damit begonnen, das Haus und den Arbeitsplatz von Gillian Kitsell zu überwachen. Wir glauben, dass es sich bei ihr eigentlich um Galenka Aramov handelt. Sie ist die Tochter der Clanchefin Irena, doch die beiden haben sich entfremdet.«
Ryan überlegte.
»Eine entfremdete Tochter weiß womöglich nichts über die Familienangelegenheiten.«
»Das ist schon möglich«, gab Amy zu. »Aber Gillian Kitsell besitzt und betreibt eine Firma in Silicon Valley, die sich auf hochmoderne Datensicherung und Verschlüsselungssysteme spezialisiert hat. Also selbst wenn Kitsell nichts von den täglichen Geschäften des Clans weiß, dann hat sie doch auf jeden Fall das technische Wissen, mit dessen Hilfe wir anfangen könnten, die E-Mails und Telefongespräche des Aramov-Clans zu entschlüsseln.«
»Dabei müssen wir in ganz winzigen Schritten vorgehen«, fügte Dr. D. hinzu. »Wenn der Clan auch nur den leisesten Verdacht schöpft, dass Gillian Kitsell unter Beobachtung steht, werden sie innerhalb von Stunden die Codes und ihre Betriebsmethoden ändern. Gillian hat einen zwölfjährigen Sohn namens Ethan, und es ist deine Aufgabe, sein neuer bester Freund zu werden.«
»Weiß Ethan, wer seine Mutter ist?«, fragte Ryan.
»Da sind wir uns nicht sicher«, antwortete Dr. D. »Aber sie wohnen in einem Acht-Millionen-Dollar-Haus am Strand und haben kein Personal.«
Ryan nickte. »Reiche Leute machen nicht selbst sauber, es sei denn, sie haben etwas zu verbergen.«
Sechs Wochen später in Dandong, China
Fu Ning hasste vieles an ihrem Leben, aber es gefiel ihr, wenn sie sich morgens beim Weckerklingeln das Kissen über den Kopf ziehen und zur Wand drehen konnte. Sie stellte sich vor, dass ein Schlauch in ihren Arm hinein und ein anderer aus ihrem Po herausführte. Dann könnte sie für immer im Bett bleiben: Sie musste nie lernen, würde nie angemeckert werden, weil sie faul war, und musste sich nie damit abfinden, dass sich ihre Stiefeltern jeden Morgen stritten.
Aber wenn sich Ning auch nicht für ewig ins Bett kuscheln konnte, so konnte sie doch noch zehn Minuten weiterdösen, anstatt um sechs Uhr wie vorgeschrieben unter die Dusche zu gehen.
»Aufwachen, die Sonne scheint!«, rief ihre Zimmergenossin Daiyu fröhlich, als sie hereinkam.
Daiyu war spindeldürr und mit elf Jahren genauso alt wie Ning. Sie trug einen rosa Hello-Kitty-Bademantel und hatte tropfnasse Haare. Gleich hinter Daiyu kam ihre andere Zimmergenossin Xifeng herein und warf sanft mit ihrem Nylon-Toilettenbeutel nach Ning.
»Willst du, dass das alte Schlachtross hier hereinstürmt und herumbrüllt und unsere Unordnung tadelt?«
»Verzieh dich«, verlangte Ning und zog die Decke fester um sich.
»Können wir nicht mal einen Tag erleben, an dem du kein Theater machst?«, beschwerte sich Xifeng und nahm eine Bürste von dem Metallschrank neben ihrem Bett. »Miss Xu wird dich das büßen lassen.«
»Vergiss Miss Xu«, rief Ning. »Ich brauche meinen Schlaf!«
Xifeng und Daiyu setzten sich auf ihre Bettkanten wie Spiegelbilder, kämmten sich die Haare und zogen sich ihre Schuluniformen an.
»Ich habe gestern Abend die europäischen Hauptstädte und ihre Einwohnerzahlen auswendig gelernt«, sagte Daiyu und zog sich einen dicken weißen Strumpf bis zum Knie hoch. »Kannst du mich abfragen?«
Xifeng war gut in so etwas und freute sich, wenn sie ihre Freundin bei einem Fehler erwischen konnte.
»Frankreich?«, begann sie.
»Paris«, antwortete Daiyu. »Einwohnerzahl zwei Komma zwei Millionen.«
»Oslo?«
»Oslo, Oslo …«, wiederholte Daiyu und trommelte sich mit dem Finger an das Grübchen an ihrem Kinn. »Sag es nicht! Ich weiß es … Oslo: Norwegen, Einwohnerzahl vierhundertsiebzigtausend.«
»Nein, Dummchen!«, freute sich Xifeng. »Sechshunderttausend. Moldawien?«
In China müssen Elfjährige für ihre Schulprüfungen Tausende von Fakten auswendig lernen. Europäische Hauptstädte, chinesische Provinzen, die Geburtstage der Revolutionsführer und chemische Verbindungen. Mit einer guten Note konnte man in eine Eliteschule aufgenommen werden und damit stand einem der Weg zu einer der besten Hochschulen und zu führenden Universitäten offen.
Moldawien kannte Daiyu und lächelte.
»Die Hauptstadt heißt Kischinau, Einwohnerzahl sechshundertfünfzigtausend. Und jetzt eine für dich: Bosnien-Herzegowina?«
Xifeng antwortete wie aus der Pistole geschossen: »Das ist leicht: Sarajewo, fünfhunderttausend.« Dann lehnte sie sich zurück und pikte Ning in den Rücken. »Ning, Miss Xu reißt dich in Stücke!«
»Der Teufel soll die verlauste alte Kuh holen«, brummte Ning unter Decken und Kissen hervor. »Warum habt ihr solche Angst vor einer kleinen alten Frau?«
Xifeng wurde böse. »Wenn Miss Xu hereinkommt, dann schreit sie uns alle an. Jetzt steh endlich auf!«
Ning rollte sich von der Wand weg und schützte ihre Augen mit der Hand vor dem Licht.
»Noch zwei Minuten!«, stöhnte sie.
»Ich habe keine Lust mehr, wegen dir angemeckert zu werden«, sagte Daiyu und stand entschlossen auf. Sie ging zur Tür, steckte den Kopf auf den Gang hinaus und rief über den Lärm der zwischen dem Bad und ihren Zimmern hin und her eilenden Mädchen hinweg: »Miss Xu! Fu Ning will wieder nicht aufstehen!«
Wie von der Tarantel gebissen fuhr Ning aus ihren Decken hoch. Daiyu hatte eine Grenze überschritten. Sie waren noch nie gut miteinander ausgekommen, aber zu petzen, das war ein neuer Tiefpunkt.
»Was habe ich dir eigentlich getan?«, rief Ning.
Sie war groß für ihr Alter. Sie war nicht übergewichtig, wog aber wahrscheinlich genau so viel wie ihre beiden spindeldürren Zimmergenossinnen zusammen. Daiyu war eingeschüchtert und lief auf den Gang, doch Xifeng stand auf und stemmte die Hände in die Hüften.
»Wir haben es satt mit dir«, rief sie. »Immer stellst du deine Kopfhörer zu laut, wenn wir lernen wollen, und bringst uns in Schwierigkeiten, weil du auf dem Zimmer isst und Unordnung machst.«
Ning stand auf und überragte Xifeng um einen ganzen Kopf. Sie hatte zwar ein hübsches Gesicht, wirkte durch ihre breiten Schultern und muskulösen Arme aber ein wenig maskulin, was sie oft verlegen machte.
Xifeng fürchtete, eine Ohrfeige zu bekommen, war aber fest entschlossen, weiterzusprechen.
»Mr Fang sagt, wir hätten gemeinsam die Verantwortung. Eine Klasse kann nicht stärker sein als ihr schwächstes Glied.«
Ning stöhnte genervt.
»Jetzt plappere doch nicht die dummen Schulslogans nach«, verlangte sie. »Du hältst dich für schlau, weil du Listen auswendig lernen kannst, aber hast du schon mal versucht, selbstständig zu denken? Wen interessiert es, dass du dir den Kopf mit Fakten vollstopfst, nur damit du auf eine andere Schule gehen darfst, auf der du noch mehr lernen musst? Klassenstolz, Schulstolz, Landesstolz. Das ist doch alles Mist!«
Xifeng sah so erschrocken drein, als hätte man ihr die Nase abgehackt.
»Die Gesellschaft funktioniert nur, wenn man sich an Regeln hält. Ohne Regeln herrscht Anarchie.«
Ning lachte, trat ganz dicht an Xifeng heran, stieß die Faust in die Luft und schrie: »Es lebe die Anarchie, Baby!«
Xifeng begann zu zittern.
»Ich glaube, du bist geisteskrank. Du bringst Schande über unsere Klasse und über unsere Schule.«
»Ich scheiße auf unsere Schule«, entgegnete Ning.
»Fu Ning!«, erklang eine krächzende Stimme. »Du machst natürlich schon wieder Ärger, wen wundert′s!«
Miss Xu war zwar alt, aber robust genug, um mit den Mädchen fertigzuwerden, die in ihrem Wohnheim untergebracht waren. Sie packte Ning so hart hinten an ihrem Nachthemd, dass am Hals ein Knopf absprang. Als sie sie durch den nassen Gang zu ihrem Büro schleifte, sprangen ihr in Handtücher gewickelte Mädchen aus dem Weg.
Der winzige Raum war auch Miss Xus Zuhause und roch nach alter Dame. Unter einem metallenen Hochbett stand ein Schreibtisch. Miss Xu stieß Ning gegen das Fenster und schlug ihr hart ins Gesicht.
»Schande, Schande!«, rief sie. »Warum duschst du nicht wie die anderen Mädchen?«
Ning antwortete nicht, sondern starrte auf ihre nackten Füße.
»Du hast Talent und Möglichkeiten. Du wurdest von einer ausgezeichneten Familie adoptiert und führst dich auf wie der letzte Landstreicher! Du wurdest aufgrund deiner Kraft an der nationalen Schule aufgenommen, aber wegen deines unmöglichen Verhaltens hinausgeworfen. Fu Ning, sieh mich an, wenn ich mit dir rede!«
Miss Xu fasste Ning unter dem Kinn und zwang ihren Kopf hoch.
»Sag mir, warum dein Vater dafür bezahlt, dass du hier wohnen kannst?«
»Zum Lernen«, erwiderte Ning widerwillig.
»Wenn du nicht auf eine gute Mittelschule kommst, dann wirfst du schon mit elf Jahren dein Leben fort. Willst du versagen, Fu Ning?«
»Für das, was ich tun will, braucht man keine Schule«, sagte Ning trotzig.
Miss Xu holte scharf Luft.
»Tatsächlich? Und was ist das für ein Job, für den man weder Status noch Qualifikationen braucht?«
»Wenn es nicht zum Rockstar reicht, werde ich eben Terrorist«, antwortete Ning.
Miss Xu hob die Hand und drohte mit einer weiteren Ohrfeige.
»Vielleicht sollte ich deinen Vater anrufen und fragen, was er zu seinem kleinen Rockstar zu sagen hat?«
Die meisten chinesischen Mädchen hätten bei der Drohung mit dem väterlichen Zorn begonnen, zu weinen und zu flehen. Nings Stiefvater war noch strenger als die meisten anderen, aber sie wollte Miss Xu nicht die Genugtuung geben, Furcht zu zeigen.
»Wenn ich wirklich so schlimm wäre, würde mein Vater mich wegschicken, damit ich in einem winzigen Zimmer hausen muss, wo ich nicht hinausdarf, keinen Sport machen oder fernsehen darf und wo ich nur jeden Tag und das ganze Wochenende vor und nach der Schule für meine Prüfungen lernen muss. Oh nein, das hat er ja schon, oder?«
Miss Xu ertrug Nings Frechheiten nicht länger und hob die Hand zu einer neuen Ohrfeige. Doch Ning hatte vier Jahre lang an der nationalen Sportakademie von Dandong Boxen gelernt.
Sie duckte sich rasch unter der Hand weg. Miss Xu war so überrascht, dass sie das Gleichgewicht verlor, während Ning ihr mit zwei Fingern in die Rippen stieß, sodass sie vor Schmerz zusammenzuckte.
»Ka-wumm!«, schrie Ning, als Miss Xu sich die Seite hielt und zurückstolperte.
Die ältere Frau war zu überrascht, um zu reagieren, als Ning ausholte und mit einer Armbewegung über Miss Xus Schreibtisch fegte. Ein Tintenfass, Papiere, das Telefon und ein Topf mit Zebragras flogen auf den Boden. Ning riss die Tür auf, sodass die Mädchen, die davorstanden, erschrocken zur Seite sprangen.
»Du fiese alte Kuh!«, schrie Ning. »Kein Wunder, dass dich nie jemand geheiratet hat!«
Als sie wieder in ihr Zimmer kam, sah sie Daiyu auf dem Bett hocken, die Knie bis zum Kinn hochgezogen.
»Bist du verrückt geworden?«, fragte sie nervös.
»Das wäre alles nicht passiert, wenn du mich einfach in Ruhe gelassen hättest«, ereiferte sich Ning. »Aber keine Angst, ich glaube kaum, dass du dich noch länger mit mir herumärgern musst.«
Sie zerrte sich ihr Nachthemd über den Kopf und zog schnell ein T-Shirt mit dem Logo ihrer koreanischen Lieblingsband an, zerrissene schwarze Jeans, schäbige schwarze Schneestiefel und eine Lederjacke. Xifeng beobachtete sie von der Tür aus.
»Wohin gehst du?«
Ning zuckte mit den Achseln.
»Irgendwohin, nur weg von hier.«
»Mach keine Dummheiten«, warnte Xifeng. »Es gibt Leute, die dir bei deinen Problemen helfen können.«
»Mein einziges Problem ist, dass ich nicht jeden Tag vierzehn Stunden für eine blöde Prüfung lernen will!«, schrie Ning.
Xifeng suchte im nächsten Zimmer Zuflucht, und Ning überlegte, ob sie einen Rucksack packen sollte, aber da sie sowieso nirgendwohin gehen konnte, nahm sie nur ihr Telefon, ihre Brieftasche und eine Sonnenbrille mit. Als sie auf den Gang kam, verschwanden die Köpfe der anderen Mädchen in ihren Zimmern.
Miss Xu war am anderen Ende des Ganges wieder auf den Beinen. Anstatt sich ihr erneut zu stellen, lief Ning lieber zu den Duschen. Sie durchquerte den dampfenden Raum und trat eine blaue Feuertür auf, von der aus eine Betontreppe zu einem Hof voller Kinderfahrräder führte.
Die Neuigkeiten hatten sich bereits bis zu den Jungen im Stockwerk unter dem der Mädchen verbreitet und ein paar von ihnen schrien Parolen wie Zeig′s ihnen, Ning! oder Los, Ning! durch die Gitterstäbe. Einen Augenblick lang kam sie sich wie die Heldin in einem Film vor und im Hof drehte sie sich um und zeigte ihrer Paukschule mit beiden Händen den Mittelfinger.
»Scheiß auf die Welt!«, schrie sie.
Ning lief durch das Eisentor und eine Gasse entlang bis zu einer größeren Straße. Obwohl es erst zwanzig nach sechs war, herrschte auf der vierspurigen Straße schon viel Verkehr von Lastwagen und Fahrrädern. Sie überlegte, ob sie zum Frühstücken in ein Café gehen sollte, aber da Miss Xu ihr wahrscheinlich jemanden nachschickte, war es besser, in Bewegung zu bleiben.
Wie automatisch war Ning den kurzen Weg bis zu ihrer Schule gelaufen und stand vor dem Tor der Dandong-Grundschule Nummer achtzehn. Auf einer Leiter standen der Hausmeister und ein junger Lehrer und hängten ein Banner auf, das von den kleinen Kindern gemalt worden war:
Während China erwachte, war die Sonne am entgegengesetzten Ende der Welt noch lange nicht untergegangen. Ryan betrachtete seine Zehen, als er vom Strand hinaufging. Unter seinen Füßen klebte der weiße Sand. Seit dreieinhalb Wochen wohnte er nun schon in Santa Cruz, Kalifornien, und immer noch hatte er das Gefühl, in einen Fernsehwerbespot gezogen zu sein.
Die acht Betonhäuser standen auf Sanddünen hinter dem Strand. Sie hatten Panoramafenster zum Meer hin, und auf der Dachterrasse befand sich ein Swimmingpool mit gläsernem Boden, sodass man vom großen Wohnzimmer aus, das darunter lag, die Schwimmer über sich beobachten konnte.
Den Hausbesitzern gehörten mehrere Hektar privater Strand und ein Hafen. Ein elektrischer Zaun hielt den Plebs fern und die Wache am Tor hatte sicherheitshalber ein Gewehr.
Vom Meer her erklang ein Quieken, als der Ex-Basketball-Star aus Haus Nummer sechs seinen kleinen Sohn ins Wasser tunkte. Ryan lief in die andere Richtung zu ein paar Zwölfjährigen, die auf einem Holzdeck saßen.
Ryans Zielperson Ethan Aramov war ein magerer Junge. Trotz der warmen Herbstnacht trug er Jeans und ein ausgeleiertes Kapuzenshirt. Er hatte wirre schulterlange Haare und war trotz seiner Kontaktlinsen immerzu am Blinzeln.
Yannis war Ethans bester Freund und ständiger Begleiter. Er war unglaublich fett und hatte eine südländisch dunkle Haut. In der Schule wurde er aufgezogen, doch Ryan bemitleidete ihn nicht, denn er war ein Unsympath hoch zehn.
»Hi, Leute«, begrüßte er sie, als er sie erreichte, und tat so, als träfe er sie ganz zufällig. »Wie läuft es mit dem Roboter?«
Ethan und Yannis waren absolute Streber. Ihre einzige Schulaktivität war der Schachclub. Sie verbrachten ganze Wochenenden bei Computerspielen, und als ob das nicht schlimm genug wäre, bauten sie Roboter. Besser gesagt, Ethan, der schlauere der beiden, baute Roboter, während Yannis danebensaß, sich kratzte und Erdnussflips aß.
»Unser Roboter ist top secret«, behauptete Yannis.
Es klang wie Wir sind besser als du, doch die Tatsache, dass Yannis zwölf war, sich aber ausdrückte, wie man es vielleicht von einem Sechsjährigen erwarten würde, ließ es lächerlich klingen.
Der Roboter basierte auf einem ferngesteuerten Auto. Ethan hatte ihn mit optischen Sensoren und einem kleinen Handcomputer ausgestattet, sodass er selbstständig mit hoher Geschwindigkeit über den Strand fahren und einem Kurs folgen konnte, der mit kleinen Hütchen abgesteckt war, wobei er Pfützen und unerwarteten Hindernissen wie kleinen Kindern, die ihm in den Weg kamen, selbstständig auswich. Für vierhundert Dollar bekam man einen Staubsaugerroboter, der das Gleiche tat, aber für einen Zwölfjährigen war es eine beeindruckende Leistung.
Ryan ging an Yannis vorbei auf Ethan zu, der auf einem Knie hockte und die Steuerung des Roboterautos mit einer Zahnbürste säuberte.
»Muss ziemlich voll Sand sein«, meinte Ryan.
»Mann, es ist eben Sand, du Blödmann«, sagte Yannis.
Ethan war schüchtern und überließ gerne Yannis das Reden, aber er schien sich zu freuen, jemand anderem als Yannis von seinem Roboter erzählen zu können.
»Die Basis ist ein billiges ferngesteuertes Auto für fünfzig Dollar«, erklärte er mit leichtem Bedauern. »Ich hätte lieber ein richtiges Taimya-Teil mit wasserdichter Hülle nehmen sollen.«
Ryan versuchte seit drei Wochen, sich mit Ethan anzufreunden, doch dies war bei Weitem das längste Gespräch, das sie miteinander geführt hatten.
»Würde es viel Arbeit machen, es jetzt auf ein anderes Auto umzubauen?«, fragte Ryan.
Yannis hob seinen fetten Hintern hoch und schob sich vor Ryan, bevor Ethan etwas erwidern konnte.
»Lass uns das Zeug nach drinnen bringen«, sagte er und zeigte Ryan seinen wabbeligen Rücken. »Es wird dunkel, man sieht drinnen besser.«
Ryan trat an Yannis vorbei.
»Dieses Roboter-Zeug sieht gut aus. Geht ihr in einen Club oder so etwas?«
Ethan wollte ihm antworten, aber Yannis kam ihm zuvor.
»Wir haben das selbst aus Büchern und online gelernt. Es braucht Jahre, bis man so viel weiß wie wir. Und wir haben keine Lust, mit einem Möchtegern-Fuzzi zusammenzuarbeiten.«
Mit Ryan konnte man eigentlich gut auskommen, aber er hatte, seit er zu CHERUB gekommen war, eine Menge Combattraining absolviert, und im Augenblick hätte er gerne seine Schwarzgurt-Karate- und Kickbox-Technik dazu genutzt, um Yannis zu Brei zu schlagen.
»Schlaf schön, Ryan«, sagte Yannis und wedelte mit seiner feisten Hand, während er Ethan den Strand hinauf zu Nummer fünf folgte.
Ryan wandte sich wieder dem Meer zu und fluchte leise vor sich hin. Auf dem Rückweg nach Hause begegnete er dem kleinen Jungen, der stolz auf den Schultern seines übergroßen Vaters saß.
»Wie geht′s, Bruder?«, fragte der Ex-Basketball-Star.
»War schon schlimmer«, gab Ryan zurück, doch sein Lächeln war falsch, und als er bei Nummer acht ankam, wo er mit seiner angeblichen Halbschwester Amy und dem FBI-Agenten Ted Brasker, seinem angeblichen Vater, wohnte, grollte er.
Er stieß eine Schiebetür auf und betrat das Metallgitter einer Stranddusche. Nachdem er sich den Sand von den Füßen gespült hatte, ging er in einen großen Kellerraum, der eingerichtet war wie ein vollständiges Fitness-Studio.
Von CHERUB-Agenten wird erwartet, dass sie bei Undercover-Missionen ihre Fitness auf einem hohen Level erhalten. Ryan überlegte, ob er aufs Laufband oder an die Gewichtebank gehen sollte, doch für seinen Frust schien ihm der schwere Sandsack, der von der Decke hing, das beste Ventil.
Nach ein paar Aufwärmübungen und Dehnungen explodierte Ryan nach oben, traf den Sack in einer Pirouette und versetzte ihm dann einen mächtigen Roundhouse-Kick. Als der Ball auf ihn zufederte, wich er ihm aus und bearbeitete ihn mit einer Serie von rechten und linken Haken, begleitet von lautem Grunzen.
Nach fünf Minuten taten ihm die Fingerknöchel weh, seine Fußspitzen waren knallrot, sein Körper glänzte vor Schweiß und der Sack hatte eine große Delle von seinen Schlägen.
»Gönn dem armen Sack eine Pause!«, rief Amy, während sie die Treppe hinunterkam.
Ryan trat zurück und schnappte nach Luft. Amy gehörte zu der Sorte Mädchen, die auch in einem Kartoffelsack noch gut aussah, aber frisch aus dem Pool in einem limonengrünen Badeanzug war sie weit jenseits der Richterskala.
»Sorry, das musste eben mal sein«, meinte er.
Er versuchte, lässig zu klingen, wie ein Macho, aber Amy spürte seinen Ärger.
»Ich war oben im Pool«, sagte sie, »aber ich habe dich durch zwei Stockwerke hindurch ächzen hören.«
Sie betrachtete die Delle in dem schweren Sack und trat dann selbst heftig zu, wobei sie Ryan mit Chlorwassertropfen bespritzte.
»Du bist nicht schlecht«, meinte Ryan und ahmte ihre Bewegung nach.
Amy gefiel es überhaupt nicht, dass man ihre Combat-Fähigkeiten als nicht schlecht bezeichnete, und trat ein paarmal so heftig zu, dass der Sandsack nach oben geschleudert wurde. Als er wieder herunterkam und die Kette mit einem Knall straffzog, bog sich mit einem lauten Bumm die ganze Decke durch.
Ryan starrte entgeistert nach oben, ob er Risse darin entdecken konnte. Er hatte zwar schon früher mal gesehen, wie so ein schwerer Sack hochgeschleudert wurde, aber nur bei Trainern, deren Oberschenkel dicker waren als Amys Taille.
»Gnade Gott dem Kerl, der sich mit dir anlegt«, lachte er.
»Weswegen bist du so geladen?«, fragte Amy.
»Ach, nichts Besonderes«, gab Ryan zurück.
Doch das kaufte Amy ihm nicht ab.
»Als ich schwimmen war, habe ich dich mit Ethan und Yannis gesehen. Kann ich davon ausgehen, dass es immer noch nicht der Durchbruch war, auf den du gewartet hast?«
Ryan setzte sich deprimiert auf eine Gewichthebebank.
»Ich muss das gut machen, aber stattdessen versage ich völlig«, gab er zu. »Ein guter Agent sollte in der Lage sein, sich innerhalb von ein oder zwei Tagen mit seiner Zielperson anzufreunden – im Höchstfall innerhalb einer Woche. Ich habe stundenlang Rollenspiele gemacht, kenne alle psychologischen Tricks, wie ich jemanden dazu bringe, mich zu mögen. Aber wir sind jetzt schon seit fast vier Wochen hier und ich komme bei Ethan einfach nicht weiter, weder hier noch in der Schule.«
»Ist immer noch Yannis das Problem?«, fragte Amy.
»Ich hasse diesen Dickwanst«, nickte Ryan. »Aber sie passen ganz gut zueinander. Ethan ist richtig clever, aber ziemlich schüchtern. Er hat Yannis gerne um sich, denn der tut meist das, was Ethan ihm sagt, und so wie Yannis die Leute vertreibt, muss sich Ethan nicht mit seiner Schüchternheit auseinandersetzen. Das ist wie ein undurchdringlicher Spinnerschutzwall.«
Amy setzte sich rittlings auf eine Bankpresse und überlegte.
»Und wie sieht es physisch aus?«, erkundigte sie sich.
»Wie, physisch?«
»Yannis gibt Ethan, was er braucht, indem er Fragen abwimmelt. Aber wäre Yannis auch in der Lage, Ethan bei einer physischen Konfrontation zu schützen?«
»Ein bisschen schon. Ich meine, Yannis ist so ein Fettkloß, dass die meisten Kinder sich nicht mit ihm anlegen würden, weil sie fürchten müssen, er setzt sich auf sie.«
»Aber wie ist es mit den harten Kerlen an eurer Schule – die Macker, die Footballspieler oder was ihr da sonst noch so habt?«
Ryan lachte. »Keine Chance. Yannis könnte nichts gegen sie ausrichten. Du solltest ihn im Sportunterricht sehen. Er bewegt sich wie ein Gummibärchen mit Krampfanfällen und schwitzt wie ein Springbrunnen.«
»Nun, dann ist es das«, schlug Amy vor. »Problem gelöst.«
»Wie? Schlägst du vor, dass ich Yannis verprügle und seinen Platz als Ethans Beschützer einnehme?«
»Nein.« Amy ließ lachend die Zähne blitzen. »Wenn du Ethans einzigen Freund verprügelst, wird er dich dafür hassen. Du brauchst eine Situation, in der Ethan bedroht wird, Yannis ihm aber nicht helfen kann. Es ist zwar keine Garantie dafür, dass ihr beste Freunde werdet, aber Ethan bekommt das Gefühl, dass er dir etwas schuldig ist.«
»Also wird Ethan der Schwächling verprügelt und Ryan, der gutaussehende Held, wird ihn retten.« Ryan musste lächeln.
»Wir haben so etwas einmal auf einer CHERUB-Mission versucht, als ich etwa so alt war wie du«, erzählte Amy. »Ein Agent sollte sich mit dem Sohn eines irren saudischen Terroristen anfreunden, aber es klappte einfach nicht.«
»Hättest du das nicht schon vor einer Woche erzählen können?«, beschwerte sich Ryan.
»Ich habe gesagt, wir haben etwas Ähnliches versucht«, gab Amy zu bedenken. »Aber es hat nicht wirklich funktioniert.«
»Wie meinst du das?«
Es war Viertel vor acht, doch es war jetzt schon heiß. Ning saß in der hintersten Ecke einer Passage mit verschiedenen Imbissständen, kaum einen Kilometer von ihrer Schule entfernt. Trotz der leuchtenden Pastellfarben und der neuen Einrichtung hatte sich die Fressmeile nicht durchsetzen können. Sieben der zehn Stände waren pleitegegangen, und die einzigen regelmäßigen Kunden waren die Schüler der Highschools, die gerne kamen, weil sie sich dort stundenlang aufhalten konnten, ohne verscheucht zu werden.
Die Schüler bemühten sich unglaublich, cool auszusehen. Sie färbten sich die Haare, trugen gefälschte Designer-Taschen und Lederjacken über ihren Schul-Sweatshirts. Ning sah, wie ein Junge mit seinem neuen Handy angab, bevor es ihm die anderen wegnahmen und damit herumwarfen.
Doch die Gespräche, die sie mitbekam, waren kaum anders als die ihrer elfjährigen Schulkameradinnen: Prüfungen, Lehrer, Fernsehen. Ning beschlich das Gefühl, dass es in Zukunft auch nichts anderes geben würde. Deprimiert legte sie den Kopf auf ein Plastiktablett, während ihr frittiertes Krabbenbällchen hart wurde.
Sie versuchte, an nichts zu denken, aber wenn man in Schwierigkeiten steckt, die gerade immer größer werden, ist das schwierig. Miss Xus Zimmer waren privat und hatten keinerlei Verbindung zu Nings staatlicher Schule. Aber auch wenn sie dort keinen Ärger für ihr Verhalten am Morgen bekommen würde, würde sie doch ziemlich an Gesicht verlieren, wenn sie eine Stunde nach ihrem dramatischen Abgang brav zum Unterricht erschien. Außerdem hatte sie ihre Uniform und ihre Bücher nicht dabei, und um die Sache noch schlimmer zu machen, war heute der Elterntag, vor dem sie sich seit Wochen gefürchtet hatte.
Der Elterntag war eine große Sache. Mütter, Väter und Großeltern streiften am Morgen durch die Schule, sahen sich ausgestellte Arbeiten an und lauschten den Präsentationen der einzelnen Klassen. Am Nachmittag versammelten sich die Eltern im großen Saal und hörten sich lange Reden der Direktorin und des Repräsentanten der kommunistischen Partei an, denen eine Show folgte, in der jedes Kind an der Schule eine kleine Rolle spielte.
Für Ning war das Beste am Elterntag, dass ihre eigenen dort nie auftauchten. Ihr Stiefvater Chaoxiang leitete einen großen Betrieb und hatte nie Zeit, zu kommen, und ihre Stiefmutter Ingrid war Engländerin, die es vorzog, mit ihrem Wodka vor schlecht synchronisierten amerikanischen Krimisendungen sitzen zu bleiben.
Doch die Tatsache, dass Nings Stiefeltern nie zum Elterntag kamen, erlöste sie nicht von der Pflicht, sich in Strumpfhosen und Ballettschühchen durch eine zwölfminütige Vorführung zu stampfen, bei der sie in einer Reihe mit Mädchen stand, die fast alle nur halb so groß waren wie sie selber.
Ihr Vater würde sie für das, was sie heute getan hatte, sowieso zusammenfalten, also wie viel schlimmer konnte es noch kommen, wenn sie auch noch die Schule schwänzte?
Nings Blick verschleierte sich, als die High-School-Kinder loszogen, um zum Unterricht zu gehen. Sie begann einen Tagtraum, in dem ein ausgeflippter Highschool-Typ mit ihr flirtete und sie auf seinem Moped mitnahm. Oder sie blieben in seinem Zimmer und hörten echt laut Musik. Vielleicht rauchten sie auch ein wenig Gras.
Der Gedanke, einen Riesenskandal zu verursachen, und dass ihre Schulkameraden zu hören bekamen, dass sie zusammen mit einem hübschen, zugedröhnten Sechzehnjährigen auf einem gestohlenen Moped von der Polizei festgenommen wurde, gefiel ihr.
Mann, da würden alle echt ausflippen!
Aber daraus würde nichts werden. Zum einen standen hübsche Jungs immer auf so dürre Girlies wie Daiyu. Ning setzte sich auf. Sie fühlte sich hässlich und fragte sich, wie sie die Zeit herumbringen sollte. Sie würde sich von den Hauptstraßen fernhalten müssen, weil sie sonst von der Polizei aufgegriffen werden würde. Aber sie musste sich ein Buch kaufen oder sich ins Kino schleichen, sonst würde sie vor Langeweile sterben. Vielleicht war es aber auch am besten, gleich ihren Vater anzurufen und die ganze Sache hinter sich zu bringen. Vielleicht wurde er nicht ganz so böse, wenn er die Geschichte zuerst von ihr selbst hörte.
Sie nahm ihr kleines Samsung-Handy aus der Manteltasche, das sie stumm geschaltet hatte, falls jemand von der Schule anrief. Sie erwartete eigentlich, zu sehen, dass sie einige Anrufe verpasst hatte, doch sie hatte nur eine einzige Textnachricht von einem Jungen aus ihrer Klasse namens Qiang.
Ms Xu hat deine Sachen gepackt und in die Lobby gestellt. Tröste dich: Wenn dich dein Vater ins Gesicht schlägt, kannst du wenigstens nicht noch hässlicher werden.
Qiang machte nichts als Ärger. Er konnte sehr lustig sein, aber er war auch gemein zu den schwächeren Jungen. Ning mochte ihn nicht wirklich, aber zumindest war er nicht so ein Zombie wie die anderen in ihrer Klasse.
Ihren Vater hatte Ning auf der Kurzwahltaste 3 eingespeichert. Einen Augenblick lang wartete sie ab, um sich ihre Geschichte zurechtzulegen. Wenn sie ihren Vater bei guter Laune erwischte und es richtig anstellte, konnte sie sich eine Menge Dinge erlauben.
Sie entschied sich, so zu tun, als sei es gar keine große Sache. Sie würde sagen, dass sie sich gestritten hatte. Ms Xu hat meine Sachen gepackt und meint, es sei am besten, wenn ich gehe. Könntest du einen Fahrer schicken, damit er mich abholt? Und wenn Miss Xu später eine andere Geschichte erzählte, würde sie sagen, die alte Hexe sei wütend, weil sie einen zahlenden Gast verloren hatte.
Ning holte tief Luft, bevor sie die 3 drückte. Fast hätte sie Angst bekommen und wieder aufgelegt, aber es nahm sowieso niemand ab.
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Ning wusste nicht, was sie sagen sollte, und legte auf. Als sie das Telefon in die Tasche fallen ließ, sah sie einen Musiklehrer aus ihrer Schule zu einem der Stände gehen. Mr Shen war schlank und noch keine dreißig. Er trug Jeans, ein weißes Hemd und eine schmale Krawatte mit Klaviertasten darauf.
Ning sah sich nach einem Versteck um, doch da Mr Shen nur daran interessiert schien, Nudeln zu kaufen, blieb sie sitzen und wandte sich nur leicht zur Wand hin.
Dummerweise deutete der Mann vom Nudelstand zu ihr hin, als sich Mr Shen wieder umdrehte, und fragte laut: »Gehört die zu Ihnen?«
Mr Shen hatte Ning noch nie unterrichtet, schüttelte den Kopf und erklärte dem Nudelmann, dass er an einer Grundschule unterrichte, für die Ning zu groß sei. Ning atmete erleichtert auf, doch eine Viertelsekunde bevor der Lehrer die Rolltreppe erreichte, schaltete sein Gehirn. Schlitternd wirbelte er auf den glatten Fliesen herum und ging auf Ning zu, den Kopf auf dem mageren Hals vorgereckt wie ein neugieriger Vogel.
»Fu Ning?«, fragte er unsicher. »Warum bist du nicht im Unterricht?«
Ning überlegte, ob sie weglaufen sollte. Mr Shen sah nicht aus, als ob er schnell oder kräftig wäre, schon gar nicht mit einem dampfenden Nudelteller in der Hand. Vielleicht konnte sie sich zwischen den Tischen hindurchwinden und die Rolltreppe hinunterrennen. Oder Mr Shen sogar umrennen und ihn mit ihrer Kraft überraschen. Aber was war dann? Was würde sie den ganzen Tag lang tun? Wo sollte sie hingehen?
Ning war elf Jahre alt und wusste, dass sie nicht zu weit gehen durfte. Dass sie von Miss Xu hinausgeworfen worden war, würde ihren Vater wütend machen. Aber einen Lehrer anzugreifen, würde ihr ernsthafte Probleme mit der Schulbehörde bringen, und so weit reichte Nings Mut nun auch wieder nicht.
Also starrte sie Mr Shen nur achselzuckend an. »Ich hatte heute einfach keine Lust.«
»Ich auch nicht«, entgegnete Mr Shen und setzte sich Ning gegenüber.
Ning betrachtete den Dampf, der von den Nudeln aufstieg, als sich Mr Shen mit seinen Stäbchen eine Ladung davon in den Mund schob. Die meisten Lehrer an Nings Schule handelten streng nach der Devise Du tust, was man dir sagt! Sich hinzusetzen, um zu reden, war völlig unerhört.
»Müssen Sie nicht in der Schule sein?«, fragte Ning.
Mr Shen lachte. »Meinst du nicht, dass ich es bin, der dir diese Frage stellen sollte? Aber da du schon fragst: Ich unterrichte Musik und fange später an, weil ich bis neun Uhr abends Einzelunterricht gebe. Heute bin ich früh dran, weil ich den Saal vorbereiten und mit der Band für die Show heute Nachmittag üben muss.«
Ning hatte ihr Brötchen kaum angerührt und der Geruch der Nudeln machte sie auf einmal hungrig.
»Warum konntest du nicht in die Schule?«
Ning zuckte mit den Achseln. »Ich hasse es, ständig nur für Prüfungen lernen zu müssen. Und zum Elterntag muss ich mich als Katze verkleiden und einen dummen Tanz aufführen, dabei bin ich so viel größer als die anderen Mädchen.«
Mr Shen musste ein Lächeln unterdrücken, doch dann sagte er strenger: »Was soll denn aus dir werden, wenn du die Prüfungen nicht bestehst?«
»Ein Rockstar«, antwortete Ning.
»Ich wusste nicht, dass du ein Instrument spielst.«
Ning fühlte sich ertappt. »Tu ich auch nicht… Ich meine, ich werde Sängerin oder so.«
Mr Shen hatte für kurze Zeit wenn auch nicht cool, so doch zumindest einigermaßen locker gewirkt. Aber jetzt sah er Ning streng an.
»Du musst aufpassen«, warnte er sie. »An deiner Kleidung sehe ich, dass du dich von westlichem Fernsehen und westlicher Musik beeinflussen lässt. Aber im Westen herrscht eine sehr lasche Disziplin. Wenn du versuchst, hier die Rebellin zu spielen, wird dich die Schulbehörde als geisteskrank einstufen. Und dann wirst du in eine Reformschule geschickt, ohne dass deine Eltern etwas dagegen unternehmen können.
Ich habe an so einer Schule unterrichtet, als ich für das Lehramt studierte, und glaube mir, sie sind wirklich hart. Ich habe Jungen kommen sehen, die sich fühlten wie die jungen Götter. Aber ihnen wurden die Köpfe kahl rasiert, sie bekamen im Winter keine Decken oder eine Heizung und ihre Nahrung bestand aus kalter Brühe. Man hat ihren Willen nachhaltig gebrochen.«
Ning hatte schon fünfzig Versionen dieser Geschichte gehört. Sie hatte ihre frühe Kindheit in einem Waisenhaus verbracht und vier Jahre an einer Elite-Sportschule. Die langweiligen Tage an der Grundschule achtzehn gingen ihr zwar auf die Nerven, aber sie war bei Weitem nicht der schlimmste Ort, an dem sie gewesen war.
»Ich weiß, was ich in meinem Leben nicht machen will, aber ich weiß nicht recht, was ich machen will«, erklärte sie nachdenklich.
Ning saß hinter einem Vorhang auf einem Hocker. Sie trug ihr Katzenkostüm, das aus einem schwarzen Trikot und Leggins bestand, und zu ihren nackten Füßen lag ein Hut mit spitzen Ohren. Ihre Stiefel und anderen Sachen lagen auf einem Haufen auf dem Boden, und um sie herum schwärmten kleinere Mädchen im gleichen Kostüm, deren Nerven vor der bevorstehenden Aufführung flatterten.