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Kann es beim Bestatter zu viele Leichen geben? Wie bringt man einen Finnen dazu, mehr als drei Worte zu sagen? Ist man in einem Pyjama im Supermarkt underdressed oder kommt es auf die Accessoires an? Alles Fragen, die Maggie Abendroth nicht beantworten will. Sie hat definitiv andere Sorgen. Maggie ist 37, pleite und wohnt wieder in ihrer alten Heimat Bochum auf 22 qm - ohne Aussicht. Ihr neuer Job als Aushilfssekretärin bei einem Beerdigungsinstitut stellt ihre Nerven zusätzlich auf eine harte Probe. Bei "Pietät Sommer" ist alles unheimlich: der schweigsame Kollege Herr Matti, ihr blasierter Chef Herr Sommer - und die tote Kundschaft im Keller sowieso. Als dann auch noch ihre Lieblingsorganistin für Trauerfeiern plötzlich verstirbt, steckt Maggie ihre Nase in Dinge, die sie eigentlich nichts angehen. Gemeinsam mit Freundin Wilma, Herrn Matti und Ex-Kommissar Kostnitz begibt sie sich auf Spurensuche.
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Seitenzahl: 384
Veröffentlichungsjahr: 2024
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In dieser Reihe bisher erschienen
3501 Thomas Ziegler Überdosis
3502 Renate Behr Tod am Dreiherrenstein
3503 Alfred Wallon Sprung in den Tod
3504 Ulli B. Entschärft
3505 Udo W. Schulz Unter Blendern
3506 Alfred Wallon Die Escort-Lady
3507 Stephan Peters Die Hexe von Gerresheim
3508 Uwe Voehl Mörderisches Klassentreffen
3509 Andreas Zwengel Mörderisches Windeck
3510 Alfred Wallon Tod am Gaswerk
3511 Ralph Sander Semper und der tote Vulkanier
3512 Edda Minck totgepflegt
3513 Edda Minck abgemurkst
3514 Edda Minck umgenietet
3515 Edda Minck ausgeträllert
3516 Edda Minck totgequatscht
Maggie Abendroth
Buch 1
Copyright © 2024 BLITZ-Verlag
Ein Unternehmen der SilberScore Beteiligungs GmbH
Mühlsteig 10, A-6633 Biberwier
Covergestaltung: Helge Jepsen
Titelbild: Helge Jepsen
Lektorat: Dr. Meike Fritz
Satz: Gero Reimer
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 978-3-68984-136-2
3512 vom 12.10.2024
Ensemble
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Anmerkungen
Danksagung
Über die Autorin
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Meine Reise in die Bedeutungslosigkeit begann an einem dieser derart wunderschönen Spätsommertage, dass mir in meiner Situation zwangsläufig schlecht davon werden musste. Die Augustsonne schien laut und grell aus vollem Halse, während in meinem Innern die Königin der Nacht »Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen« skandierte, da klingelten schon die Studis vom Jobservice, die ich in einem Anfall von Luxussehnsucht engagiert hatte. Man kann nicht behaupten, dass an diesem Tag viel Hausstand bewegt werden musste. Da ich weder Kunstwerke noch Aktien oder Immobilien besaß, hatte ich bereits mein geliebtes Ligne Roset Schlafsofa und meinen Flachbildfernseher inklusive DVD-Player an einen geizigen Oberstudienrat veräußert, der mir mit jedem seiner Worte und Gesten vermittelte, was er von einer, im Penthaus wohnenden, Medienfuzzi-Liesel wie mir hielt.
Was ich dafür von ihm bekommen hatte, ging sofort für die zwei Germanisten mit den vier linken Händen drauf, damit sie, dank meines Geldes, in eine sorglose Oberstudienratzukunft mit der Lizenz zum Nörgeln blicken konnten. Wenn ich mein verbliebenes Budget durch eine vier Quadratmeter große rosa Brille betrachtete, reichte es gerade eben noch für einen Minifernseher aus dem Media Markt. Ich hatte mich entschieden, lieber das Sofa zu verkaufen und dafür meinen alten schwarzen Opel Kadett zu behalten. Mobilität ist Freiheit, auch wenn ich bald nicht mal mehr das Geld haben würde, mir Benzin zu kaufen. Das Auto, hatte ich beschlossen, musste bei mir bleiben, und wenn ich es nur jeden Tag anschauen und wissen würde, dass ich damit wegfahren könnte, wenn ich Benzin kaufen könnte.
Kaum, dass die beiden Grobmotoriker meinen arg zusammengeschrumpften Hausstand aus 150 Quadratmetern über den Dächern von Köln hinaus und 70 Kilometer weiter in Bochum in meine neuen 22 Souterrain-Quadratmeter, inklusive Küchenzeile und Duschbad, hinab getragen hatten, fing es prompt an zu regnen. Ich fühlte mich von meiner alten Heimat aufs Herzlichste willkommen geheißen.
Nachdem Dipl.-Paed. Beavis und Butthead endlich gecheckt hatten, dass ich weder zu Gesprächen noch zur Zubereitung von Kirschblütentee bereit und schon gar nicht auf Trinkgeld anzusprechen war, hatten sie sich endlich murrend getrollt.
Dann war ich plötzlich allein, stand an meinem vergitterten Souterrainfenster und sah den Regentropfen zu, wie sie in den Vorgarten, in den mein einzig möglicher Blick ging, klatschten. Genau drei Meter, um den Blick schweifen zu lassen, dann kam das Mäuerchen. Ich würde mich also auf Menschen ohne Füße und ohne Kopf einstellen müssen, die ich beobachten konnte, wenn mir nach sozialem Leben war. Knie, Rocksäume und Mantelfalten, weggeworfenes Bonbonpapier und abgefälschte Bananenflanken zukünftiger Fußballstars sollten ab jetzt mein ganzes Panorama sein. Gab es dafür eigentlich einen filmischen Fachterminus? Wahrscheinlich so: He, Kameramann, mach mir mal ’ne Unterirdische. Ich will, dass so voll fett die Beklemmung rüberkommt. Oscarverdächtig!
Ein Gutes hatte dieses Souterrain: Es war nur ein Katzensprung zur City und einen Steinwurf weit entfernt vom Wahrzeichen Bochums, dem berühmten türkisfarbenen Förderturm des Bergbaumuseums. Ein Trost, dass ich noch immer über eine gute Adresse verfügte. »Ich wohne am Stadtpark« hört sich besser an als »Ich wohne im Souterrain, Am-Arsch-der-Welt-Weg 17.« Wie schön, dass es bei den guten Adressen auch umgebaute Kohlenkeller gibt, in denen ein Loser wie ich sang- und klanglos verschwinden konnte. Und noch ein Pluspunkt durfte dem Kellerloch angerechnet werden: Es war möbliert. Küchenecke mit zwei Kochplatten, also nie mehr was Überbackenes, von Kuchen ganz zu schweigen; ein kleiner Esstisch, zwei Stühle, ein Ikea-Bett aus der Serie Zölibaten, sexy 90 Zentimeter breit und ein Schrank, 100 Zentimeter breit. Und beinahe hätte ich es übersehen: Ein Duschklo, auf weiteren 1,3 Quadratmetern verschwenderisch aufgeteilt, rundete die Wellness-Oase ab.
Kaum saß ich an meinem neuen kleinen Tisch auf meinem neuen kleinen Stuhl, machte sich Hoffnungslosigkeit, altbekannte Begleiterin der letzten Monate, so breit, wie es die 22 Quadratmeter zuließen. Tja, liebe Maggie, das soll‘s dann wohl mit deinem lustigen Leben als Drehbuchautorin und Produzentendarling gewesen sein. Dass ich schon seit Wochen Selbstgespräche führte, fiel mir schon nicht mehr auf.
Immerhin wusste ich, wer an dem ganzen Desaster schuld war, allerdings konnte ich mit diesem Wissen nicht mehr anfangen, als es einfach zu haben und mich damit unterirdisch mies zu fühlen.
Vor einem Jahr hatte mich der Mann verlassen, von dem ich glaubte, dass ich ihn schon immer geliebt hatte und immer lieben würde. Er liebte mich auch, ehrlich, bis ihm plötzlich und unerwartet klar wurde, dass es ihn zurück zu seiner Gattin zog, die er eigentlich nie hatte heiraten wollen. Da blieb er aber nicht lange, denn sogleich wirbelte ihn der Testosteronsturm zu einer bekannten Autorin, natürlich erfolgreicher als ich, um dann, da er eh nie ein Ziel hatte, bei einer unbedarften 25-jährigen Kostümbildnerin zu landen. Soweit war ich bei dem irrsinnigen Flug des losgelassenen Luftballons, der pfeifend durch die Luft mäanderte, noch mitgekommen. Schließlich verweigerte ich ihm aus reinem Selbstschutz das Interesse an weiteren Rechtfertigungen seines von Testosteron geblähten Gehirns. Kaum hatte er mitgekriegt, dass ich – statt meiner üblichen Tasse Kaffee – ein langes Fleischmesser in der Hand hielt, hatte er seine Hasselblad, seine Fotomappe und seinen Peter Lindbergh-Großbildfotoband mit persönlicher Widmung des Meisters in seinen Angeber-Volvo gepackt und war aus meinem Leben verschwunden.
Zunächst hatte ich das Penthaus behalten aus Trotz , die Zähne zusammengebissen und geschuftet wie ein Pferd. Ich übersah fehlendes Mobiliar, Lücken im Bücherbord und eine kahle Stelle beim Frühstück am provisorischen Campingtisch. Nachts schrieb ich lustige Comedy-Shows, und tagsüber verschlief ich meinen Gram auf der mir verbliebenen Gästecouch. Ich ernährte mich von Spaghetti mit Sahnesauce und gab vor, meine Lage völlig im Griff zu haben, bis mein Gehirn versagte – zumindest der Teil davon, der mir meinen Lebensunterhalt sicherte. Meine kreative Basisstation im Kopf verabschiedete sich eines Tages unvermittelt, ohne Vorwarnung. Eben noch hatte ich alle Freunde angerufen, um die mir zustehenden Ovationen wegen eines Tatort-Deals abzuholen, der mich in den Olymp der deutschen Fernsehautoren befördern sollte, und im nächsten Moment saß ich hilflos am Schreibtisch. Houston, ich habe ein Problem! Aber Houston meldete sich nicht mehr.
Noch ein paar Wochen und etliche Packungen Spaghetti später, die drohende Deadline für die Abgabe des Drehbuches vor meinen starren Augen, rief ich in Panik einen Freund in München an, der das Grauen, das mich erfasst hatte, gar nicht begreifen wollte. Er hatte sich nämlich soeben in die junge Frau von der Englischen Videothek in Schwabing verknallt, und daher wollte und konnte er weder von München nach Köln kommen, um mir zu helfen, noch war er, ebenfalls testosteronbedingt, in der Lage, mir dabei zu helfen, dieses mysteriöse Verschwinden einer ganzen Gehirndatei aufzuklären. Ich flehte ihn an, das Drehbuch für mich zu schreiben, natürlich gegen Überlassung des gesamten Honorars. Alles nur, weil ich mein Gesicht wahren wollte. Seine Antwort war Nein. Neben seinem äußerst anstrengenden Gebalze musste er schließlich noch monatlich drei Drehbücher für Marienhof abliefern. Das reichte ihm an Aktivität vollkommen. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, wechselte er abrupt das Thema und versuchte ernsthaft, mit mir darüber zu diskutieren, ob es sich für ihn überhaupt lohnen konnte, mit einer zehn Jahre jüngeren Frau was anzufangen. Mein ganzes Leben löste sich gerade in Luft auf, und der Kerl, genannt bester Freund, macht sich Sorgen um das Alter seiner neuen Tussi?
Ja klar, verstehe ich doch. Selbst-ver-ständ-lich! Natürlich freue ich mich für dich – krieg vierzehn Kinder mit der Schlampe, und rauft euch täglich die Haare über ausge-quetschte Zahnpastatuben! Zur Goldenen Hochzeit bringe ich dir einen Gutschein für die Prostatavorsorge beim Proktologen mit.
Nach dieser Abfuhr steckte ich bis Oberkante/Unterlippe tief in der Scheiße. Wenn jetzt noch ein Eimer voll von oben kommt ... ducke ich mich dann oder nicht? Der Pegel stieg unaufhörlich, und ich konnte mir noch nicht einmal mehr erlauben, mit den Zähnen zu klappern.
Weitere drei Wochen und unaussprechlich viele Spaghettipackungen später gab es keine Ausreden mehr. Ich nahm alles nur noch durch einen gnädigen Nebel wahr. Der Abgabetermin stand direkt vor meiner Nase. Ich konnte nicht mehr wegsehen, also wurde ich blind. Ich hatte diverse Anrufe der Redaktion nicht beantwortet und den Anrufbeantworter abgestellt. Als ich am frühen Morgen des 11. Juni 2001, nach einer durchwachten Nacht am Schreibtisch, komplett groggy in die Küche wankte, gab es kein Zurück mehr. Die Scheiße kam geflogen, und ich musste mich ducken, rief den verantwortlichen Redakteur an, legte meinen Kopf auf den Holzblock und beichtete, was das Zeug hielt. Ich sah es direkt vor mir, wie sich mit jedem meiner Sätze sein Gehirn immer mehr aufblähte. Ich erinnere mich nur, dass jedes seiner Worte klang wie dieses Zischschsch, wenn der Großmeister das Samurai-Schwert durch die Luft wirbeln lässt. Nicht nur würde ich zukünftig guten Gewissens kein Projekt mehr annehmen können nein, ich würde noch nicht mal mehr jemandem absagen müssen, weil mir niemand mehr ein Projekt anbieten würde. Und zwar von dieser Sekunde an.
Meine Befürchtungen bestätigten sich zu hundert Prozent. Die Geschichte, dass ich einen Tatort versägt hatte, war schneller als der Schall durch alle Redaktionsbüros geflitzt. Ich hatte mich ins Off katapultiert.
Würde mir bitte ein mitfühlender Freund mit einem Samurai-Schwert aus zwölffach gefälteltem Damaszenerstahl den Kopf abschlagen, damit ich nicht so lange leiden muss?
Ein paar Wochen lang hoffte ich, dass sich das Martyrium wieder legen würde. Ein paar Tage Urlaub, dachte ich – ich hatte wirklich zu viel gearbeitet, und das seit Jahren – und ich wäre wieder wie neu. Ich war schon insofern neu, als ich nichts mehr schreiben konnte. Noch mal neu oder besser gesagt auf den alten Zustand zurück, ging aber irgendwie nicht mehr. Um zu dieser tiefschürfenden Erkenntnis zu gelangen, gab ich für drei Wochen Flucht nach Paradise Island, Karibik, 7000 Mark aus. Zugegeben, das war ein spaßiger Urlaub unter Palmen. Alles, aber auch wirklich alles entsprach sowohl sämtlichen Karibik-Klischees als auch den Angaben im Reisekatalog. Aber kaum hatte der Flieger in Düsseldorf wieder aufgesetzt, wusste ich, dass dieser Luxus, den ich mir da gegönnt hatte, alles andere als hilfreich gewesen war. Kaum hatte das Flugzeug die Landebahn auch nur mit einem Gummireifen berührt, explodierte mein Kopf vor schlechter Laune, Melancholie und Depression. Vergessen war das Schwimmen mit Delphinen und Rochen und die Fressorgien ohne Reue am Pool mit Sonnenuntergang und die Bootsausflüge mit dem Speedboot zu Gilligans Island.
Wie meine Oma selig immer schon gesagt hat: Man nimmt sich beim Reisen leider immer selber mit. Meine Freundin Wilma, Friseurmeisterin von Gottes Gnaden, empfahl mir, die Hilfe eines Therapeuten in Anspruch zu nehmen. Hatte ich denn wirklich so schrecklich ausgesehen, als sie mich am Flughafen abgeholt hatte? Muss wohl. Wilmas Kommentar war: »Der braungebrannteste Zombie aller Zeiten.«
Meines Erachtens aber brauchte ich entschieden keinen Therapeuten – ich brauchte Geld. Was hätte mir ein Seelenklempner schon sagen können, das ich nicht sowieso schon wusste? Meine Diagnose lautete: Bredouille 2.0. Wilma aber versuchte mich davon zu überzeugen, dass es nicht reiche zu wissen, was man hat. Man müsse schließlich auch wissen, wie man das wieder loswird. Und um das zu wissen, hätten die Therapeuten doch jahrelang studiert. Sie war überzeugt davon, dass vor allem eine post-Beziehungsende-bedingte Depression nicht mehr und nicht weniger war als eine Geschlechts-krankheit und somit innerhalb von drei bis acht Tagen mit den richtigen Mitteln bekämpft werden konnte. Narkoleptische Anfälle würden schon reichen, dann könnte ich den mir ins Haus stehenden Hunger einfach überschlafen. Meinetwegen prä- oder post-was-auch-immer-bedingt, Hauptsache bewusstlos.
Der Schlaf des Vergessens stellte sich leider nicht ein, also erhöhte ich die Dosis der Spaghetti-Rationen. Nudeln machen glücklich, egal ob prä- oder post-.
Im Kellergeschoss meiner alten Heimatstadt Bochum angekommen, musste ich einsehen, dass unkontrollierte Nahrungsaufnahme bei gleichzeitiger Bewegungslosigkeit einfach zu indiskutablen Ergebnissen führte. Ich war immer noch unglücklich und zusätzlich bei Konfektionsgröße 44/46 angelangt. Deshalb war ich sehr froh, dass mein neuer Vermieter beim Mobiliar keinen Wert auf einen großen Spiegel gelegt hatte. Als allmorgendlicher Gruselfilm würde der Anblick meiner Hamsterbacken im Alibert-Singlemodell völlig ausreichen.
Zur Einweihung meiner kümmerlichen neuen Bleibe ging ich aufs Klo, pinkelte ausgiebig und hoffte, dass die Porzellanschüssel unter meinem Gewicht nicht zusammenbrechen würde. Das hätte nämlich auf einen Schlag eine große Population unschuldiger Silberfischchen ausgelöscht.
Danach stand ich ratlos auf 22 Quadratmetern herum, verbrauchte mit meiner Leibesfülle schon fast die Hälfte davon und versuchte, mich zu erinnern, in welchem der fünf Umzugskartons der kleine Bialetti Espressokocher wohl stecken könnte. Ich ging für meine Verhältnisse zielstrebig vor und kippte alle fünf Kartons auf dem Boden aus. Dabei zerbrach meine Lieblingstasse, die mit dem Gesicht von Prince Charles, aber sie war noch zu gebrauchen, nur der Henkel, sprich eines seiner Ohren, war abgebrochen. Ich kniete auf dem Boden, sammelte den abgesprungenen Henkel ein und begann zu flennen, als wäre Prince Charles beim Polo mit tödlichem Ausgang von Camilla gefallen.
Auf dem Fußboden hockend, mit der demolierten Tasse in der einen und den Überresten des royalen Ohres in der anderen Hand, hatte ich plötzlich das vage Gefühl, beobachtet zu werden. Jetzt bloß keinen Spanner zum Einstieg in mein neues Leben, von dem ich hoffte, dass es nur so lange dauern würde, bis ich aus diesem Albtraum endlich aufwachte. Und aufwachen würde ich, auch wenn grad alles dagegensprach, und zwar würde ich bei der Fernsehpreisverleihung aufwachen, genau in dem Moment, in dem ich den Preis für das beste Drehbuch des Jahres entgegennehme. Leider ließ das mit Johlen, Pfiffen und Hurrarufen angereicherte Crescendo der mir geltenden Standing Ovation auf sich warten. Also drehte ich mich langsam um, die Tasse als Wurfgeschoss in der rechten Hand. Ich blickte in zwei riesige Pupillen, auf fünf krumme Schnurrbarthaare, zwei pelzige Ohren, eins davon aussehend wie ein schlapper Kamm. Ich wuchtete meine 72 Kilo hoch, öffnete das Fenster, und der nasse schwarze Kater kam rein, setzte sich aufs Fensterbrett und fing an, sich zu putzen.
»Nett, Sie kennen zu lernen. Ich heiße Maggie«, schniefte ich ihn an.
Der Kater blickte von seinem Putzgeschäft kurz hoch, gähnte mich gelangweilt an und putzte sich weiter.
»Na toll, sieht aus wie der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Mistvieh.«
Für diese arrogante Missgeburt im Pelz fiel mir nur ein würdiger Name ein: Dr. Thoma.
Mit dem Inhalt der Umzugskartons war auch der Restinhalt meines ehemaligen Kühlschranks auf den Boden gerollt. Ich hob eine Packung Fleischsalat auf und kontrollierte das Verfallsdatum: Nur drei Tage drüber, genau das Richtige für meine Housewarming-Party mit meinem neuen Freund. Zum Kaffee wollte Dr. Thoma dann doch nicht bleiben. Nachdem er eine Runde mit den Silberfischchen Fangen gespielt hatte, saß er zwischen Gitter und Fensterbrett, blickte besitzergreifend im Vorgärtchen umher und schob von dannen.
Ich hätte ihn gerne gefragt, ob er sich noch mal melden würde, aber da ich mir geschworen hatte, Männer nie wieder zu fragen, ob sie mich anrufen oder ob ich sie noch mal wiedersehe, ersparte ich mir die Schmach einer möglichen Absage. Als die Bialetti vor sich hin gurgelte, fiel mir der Brief vom Arbeitsamt ein, den ich in der Hektik des Umzuges, die ja eigentlich nur darin bestanden hatte, so schnell wie möglich soviel Abstand wie möglich zwischen die alte und die neue Wohnung zu legen, in meine Manteltasche geknüllt hatte. Arbeitsamtmän geruhte, mir zu schreiben. Nicht, dass er das nötig gehabt hätte, denn als Freelancer im Autorengeschäft schreibt man Rechnungen und darf niemals in die Arbeitslosenversicherung einzahlen. Das ist die Strafe dafür, dass man hemmungslos Zeitschriften und Bücher in der Einkommenssteuererklärung absetzen kann; und wenn’s dann mal schief geht, wird man auf dem Arbeitsamt ordentlich ausgelacht. Die haben ja auch sonst nichts zu lachen. Trotzdem hatte der Herr Arbeitsvermittler meinen Antrag auf Arbeitssuche gnädig entgegengenommen, ohne mir viele Hoffnungen zu machen. Ich war für ihn schließlich so was wie eine »Kreative«. Dafür gab es in seinem Computer noch nicht einmal eine Kategorie, und die Schreibblockade fiel auch nicht unter anerkannte Berufskrankheiten.
Ich riss das Couvert auf und betete um ein Wunder. Wollten sie mir aus verschwiegenen Europafonds für kranke Tintenpisser etwa ein Scherflein bezahlen? Nein, so schön war es dann doch nicht. Ein kleines Wunder war es aber schon: Arbeitsamtmän hatte einen Jobvorschlag für mich. Ich sollte mich bei einer Firma namens Pietät Sommer vorstellen, als Bürokraft. Pietät? Bestattungsinstitut? Ich, Margret – genannt Maggie – Abendroth, 37 Jahre alt, soll acht Stunden am Tag in der Gesellschaft von Toten verbringen? Mir war sofort klar, dass ich spätestens nach den ersten 30 Minuten die nächste Leiche sein würde.
S c h o c k-H o r r o r! Ich hatte viel zu viel Fantasie für so einen Job.
Ich zählte das Geld in meinem Portemonnaie. Noch 430 Mark, heute war erst der 15. des Monats, und für den Fernseher brauchte ich mindestens 250 Mark. Das war Realität in Zahlen. Ich hatte definitiv zu viel Fantasie, um mir die nächsten Monate ohne Job vorzustellen. Na gut, man kann ja mal da anrufen, maulte ich vor mich hin. Automatisch griff ich in meine Handtasche, nur um festzustellen, dass ich gar kein Handy mehr hatte. Mein Festnetzanschluss würde frühestens morgen oder übermorgen aktiviert. Es sei denn, die Telekom hatte sich wieder kollektiv in die Meditation Kunst der Langsamkeit in Vollendung vertieft.
Ich beschloss, den Tatsachen ins Auge zu sehen – meine elegante Umschreibung von »sich ducken« –, holte mein schwarzes Businessjackett aus dem Kleidersack, zwängte mich hinein, bestieg mein Auto und fuhr in Richtung Pietät Sommer. Der Tod kommt immer unangemeldet, warum sollte für mich was anderes gelten? Herr Sommer würde schon damit umzugehen wissen. Um es kurz zu machen: Der Bestatter war geradezu entzückt, dass das Arbeitsamt ihm nach fünf Monaten Wartezeit auch schon jemanden geschickt hatte, der fehlerfrei drei Sätze hintereinander aufsagen und auch schreiben konnte. Besagter Herr Sommer war in mittelgrauen Zwirn gekleidet, klein und pummelig, und ich fand, seine angegrauten Haare könnten mal wieder einen ordentlichen Schnitt vertragen. Ich war etwas irritiert von seiner Art, sehr betont zu sprechen. Wahrscheinlich hatte er das auf dem Seminar Trauergespräche leicht gemacht gelernt. Er wählte seine Worte mit Bedacht, so wie jemand, der sich aus einer dargereichten Schale Obst ungeniert langsam das beste Stück heraussucht, während dem edlen Spender der Arm abfällt. Zu meiner Verwunderung wollte er weder Referenzen noch Zeugnisse sehen noch sonst viel von mir erfahren. Ob ich mit 10-Finger-System schreiben könne? Und wie! Zur Not auch mit 20. Und Rechnungen? Sollte ich wohl noch nicht vergessen haben! Mit dem Computer umgehen? Wer, wenn nicht ich! Er versprach mir hoch und heilig, dass ich nie mit Hand anlegen müsse und die werte, aber tote Kundschaft auch nie zu Gesicht kriegen würde. Dabei zitterten seine kleinen Fettbäckchen aufgeregt. Das Bisschen Einfühlungsvermögen am Telefon mit ...
Ich hörte nicht mehr richtig hin, denn ich stellte mir vor, wie er wohl aussehen würde, wenn man die Bäckchen etwas zusammenschöbe. Kugelfisch, genau, das war’s, aufgeregter Kugelfisch. Ich stieg beim Thema trauernde Hinterbliebene wieder in seinen dahinplätschernden Sermon ein und bekam gerade noch mit, dass Trauergespräche nicht mein Ressort sein würden. Vielleicht später mal. Falls es ein Später überhaupt geben würde. Ich war mir da nicht so sicher. Meine Garderobe fand er gelungen klassisch, aber etwas zu schwarz. Erzähl das mal Herrn Armani! Herr Wilbert Friedensreich Sommer bevorzugte gedeckte Farben, aber nicht zwingend schwarz, wie er mir erklärte: »Wir gehören ja nicht zu den Trauernden!«
Ach, is’ wahr?
Sollte mir das letzte Weihnachtsgeschenk von meinem Ex heute auch noch meinen Albtraumjob vermasseln? Beziehungsende hin oder her, einen Armani gibt man nicht in die Altkleidersammlung, auch wenn er unter den Armen ein bisschen spannt. Zugegeben – wäre es eine weiße Jacke gewesen, ich hätte ausgesehen wie das Michelin-Männchen.
»Zuhören, wissen Sie, zuhören ist das Allerwichtigste, und nicht vergessen, einen Termin machen. Sie notieren immer alles mit. Kommen Sie immer wieder auf einen Termin zurück, und fragen Sie sofort, wo ich die Leiche abholen soll. Den organisatorischen Kram mit Totenscheinen, Sterbeurkunden, Leichenpässen ...«
Hatte der Kugelfisch gerade Leichenpass gesagt?
»... Friedhofsterminen, Träger bestellen und Organisten usw. etc. pp. bringe ich Ihnen schnell bei. Kommt der Tod auch in Ihr Haus, Herr Sommer trägt ihn wieder raus ... hahaha!«
Kalauerpolizei! Zu Hilfe, nehmen Sie sofort diese Pointe fest!
Ich war erleichtert, als ich mich eingehender im Büro umschaute, denn es sah völlig normal aus. Es gab neben dem Empfangsraum, in dem mein zukünftiger Schreibtisch stand, noch einen angrenzenden Besprechungsraum mit einem großen Tisch und sechs Stühlen – für die Trauergespräche. Dort hingen an den Wänden die unvermeidlichen Bilder von Werden und Vergehen: Meereswelle, Wald im Herbst, Grabstein-Engel und Sinnsprüche aus dem Bibelkalender. Warum nicht Bilder von der Sahelzone oder den Slums von Sao Paulo oder von Verbrennungen am Ganges? Da war auch Werden und Vergehen – ohne Ende. Die Möblierung und der Wandanstrich machten auf mich den Eindruck, jemand sei auf dem schmalen Grat zwischen Funktionalität, Pietät und Modernität ins Schleudern geraten. Ein bisschen zu viel Blau und Gold für meinen Geschmack. Der Tisch und die Stühle waren das, was man in Mittelstandsmöbelhäusern vollmundig mit »Designer-Dies-oder-Das« anpries. Den Namen des oder der Designer erfuhr man aber nie.
Das einzige Möbelstück, das ich sofort ins Herz schloss, war ein alter Safe. Die Figur aus graugrün gesprenkeltem Speckstein, die auf dem Safe stand und aussah wie ein Verlegenheitskauf vom Weihnachtsbasar des anthroposophischen Volkshochschulkurses für sechsfingrige Designer-Mutanten, könnte ich in absehbarer Zeit locker irgendwann mit einem Ellbogencheck wie zufällig vom Safe kicken. Was auch immer es darstellen sollte, es hatte eine unheimliche Aura.
Während ich in Gedanken das Inventar kommentierte, fiel mir auf, dass hier gar keine Toten herumlagen. Wie es aussah, würde ich also zu hundert Prozent mit den Lebenden kommunizieren. Ich war gerade dabei, mich zu entspannen, als Sommer mit schwungvoller Geste eine Schiebetür öffnete und mein Blick auf einen Ausstellungsraum für Särge fiel.
»Hier, Frau Abendroth, falls jemand nachfragt, die Preise stehen dran, inklusive Mehrwertsteuer. Probeliegen ist nicht erlaubt. Wenn Sie Fragen haben, können Sie sich auch an Herrn Matti wenden, wann immer ich nicht da bin. Wann, sagten Sie, können Sie anfangen?«
Eigentlich wollte ich schnippisch antworten, dass er in diesem Jahrhundert bitte nicht mehr mit mir rechnen solle, aber dann dachte ich an Benzin und Essen und vor allem an Kaffee und Zigaretten.
»Nun, Herr Sommer, wir haben noch gar nicht über mein Gehalt gesprochen. Was zahlen Sie denn so?«
Er wurde besonders salbungsvoll. Schneidig wippte er auf seinen kurzen Beinchen hin und her. Die stoppeligen Bäckchen wippten mit. Er legte seine Fingerspitzen bedächtig aneinander. »Für den Anfang dreitausend Mark. Brutto, versteht sich. Wenn Sie sich gut einarbeiten, wird es schon die eine oder andere Mark mehr werden.«
Diese Kröte wollte erst mal geschluckt sein. Von verdauen wollte ich gar nicht reden. 3000 Mark sind bald nur noch knapp 1500 Euro, also nur noch die Hälfte. Komm jetzt, Margret, mach keine Witze, 1700 Mark netto zum Leben. Für einen ganzen Monat 1700 Mark, 850 Euro. Davon leben in Deutschland die meisten Familien. Und sie haben ein Auto, Kinder und einen Bausparvertrag. Ich versuchte die Stimme der Vernunft mit einem lauten »Hätätä« niederzumachen. Während sich mein innerer Dialog abspulte, tanzte Sommer um seine Särge herum und erklärte enthusiastisch deren Vorzüge, Holzarten und, und, und.
Mein Gehirn fraß sich an 1700 Mark fest. Soviel hatte ich vor meinem Schreibdebakel in zwei Tagen verdient. Na ja, da war ich den Öffentlich-Rechtlichen noch als Teamberater für Development-Projekte genehm.
Unweigerlich schob sich mein desolater Kontostand wieder in mein Bewusstsein, und ich zuckte innerlich zusammen, als sich vor meinem geistigen Auge die Szene abspulte, in der ich meine goldene Mastercard an die Bank hatte zurückgeben müssen. Als der Bankangestellte die Kreditkarte vor meinen Augen zerschnippelte, hatte ich das Gefühl, dabei zuzusehen, wie ein grausamer Mensch aus meiner Menschenwürde Konfetti machte. Seit ich die Bank verlassen hatte, prangte auf meiner Stirn ein Kainsmal. Nicht kreditwürdig! Die EC-Karte hatte mir der böse Mann von der Bank nach langem Bitten und Betteln dann doch gelassen. Meine 18.000 Mark Dispokredit waren in ein Darlehen umgewandelt worden, was mich jeden Monat 200 Mark kosten würde. Inklusive Zinsen und Bankbearbeitungsgebühr würde ich die kleine Ewigkeit von neun Jahren daran abzahlen, vorausgesetzt, ich hatte einen Job und konnte bezahlen.
Herr Sommer war mittlerweile bei den Designer-Särgen mit den Fantasienamen angekommen. Hatte ich es mir doch gedacht. Hauptsache Design. Die Preise für diese Designerstücke fand ich auch sehr fantasievoll. Nachdem ich aufmerksam die zahlreichen Nullen an einem Preisschild studiert hatte, hörte ich schon wieder nicht mehr richtig hin. Vielmehr sah ich mir dabei zu, wie ich aus reinem Selbstschutz an Schuhgeschäften vorbeispurtete, um nicht in Versuchung zu geraten, und an allen Buchläden vorbeirannte, die Nase zwei Millimeter über dem Bürgersteig. Wegen Schreibwarengeschäften mit exklusiven Auslagen von in Leder gebundenen Notizbüchern brachte ich es sogar fertig, die Straßenseite zu wechseln.
Sehr verehrtes Publikum, schalten Sie auch morgen wieder ein zu einer neuen Folge von: Maggie Abendroth – Auf der Flucht vor den schönen Dingen des Lebens.
Ich bäumte mich ein letztes Mal auf und unterbrach Sommers Vortrag über Mahagoni und Eiche: »Herr Sommer, da wäre noch eine Kleinigkeit. Ich rauche.«
»Nicht so schlimm, Frau Abendroth. Ich verbiete keinem Kunden, hier zu rauchen. Wenn Sie es nicht übertreiben, bitte schön«, sagte er und sein Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln. Vermutlich rechnete er sich schon aus, um wie viel früher Raucher, rein statistisch gesehen, sterben und somit ihre letzte Reise bei Pietät Sommer buchen könnten. Vielleicht sollte ich präventiv einen Mitarbeiterrabatt aushandeln.
Mit letzter Überwindung trieb ich meinen Lohn in die schwindelnde Höhe von 3200 Mark brutto und versprach, am folgenden Montag, samt meiner Steuerkarte, um 8.00 Uhr anzutanzen.
Herr Sommer, so schien es, freute sich einen Buckel über seine neue Mitarbeiterin und drückte mir zum Abschied stolz seine Firmenbroschüren und einen kleinen Stapel Zeitschriften in die Hand: »Hier, eine kleine Auswahl der Fachorgane des Bestattungswesens und der Thanatologen. Da bekommen Sie mal einen Eindruck.«
Völlig überrumpelt fand ich mich mit drei Kilo Bestatter-Vogue und Thanatologen-Amica unterm Arm vor der Tür wieder. Mir fiel auf, dass er im Schaufenster gar keinen Sarg ausgestellt hatte. Noch nicht mal eine Urne. Ein goldener Schriftzug auf der Schaufensterscheibe, als Hintergrund der unver-meidliche dunkelblaue Designervorhang mit goldenen Spratzern zur Auflockerung.
Während ich noch sinnend vor der Schaufensterdekoration stand, kam ein sehr blasser und sehr traurig aussehender Mann im dunkelgrauen Anzug heran, der mir kurz zunickte und dann seufzend durch die Tür schritt. Trauerfall, konstatierte ich professionell. Willkommen in der Twilight Zone.
Von einer Telefonzelle aus rief ich das Arbeitsamt an, um dem geliebten Lach-und-Sachverwalter von meinem exorbitanten Erfolg zu berichten. Er hatte keine Zeit, meinen Enthusiasmus zu teilen und wollte lieber ein korrektes Schreiben. »... oder ist Ihre Schreibblockade schon so weit fortgeschritten? Hahaha!«
Selten so gelacht. Zur Strafe kriegst du von mir einen handgekritzelten Wisch auf grauem Recyclingpapier! Denn, um nicht ständig an mein Martyrium erinnert zu werden, hatte ich meinen Laptop mitsamt der Transporttasche sofort unter dem Kleiderschrank geparkt. Ihn offen herumstehen zu lassen, hätte bedeutet, mir jeden Tag vorzuwerfen, dass ich ihn nicht verkauft hatte. Aber ihn zu verkaufen, hätte bedeutet, dass ich endgültig aufgegeben hatte, jemals wieder ans Schreiben auch nur zu denken. Den Hüter meiner kostbaren Gedanken mit einem Brief ans Arbeitsamt zu besudeln, empfand ich als Majestätsbeleidigung.
Um mein neues Leben zu feiern, eilte ich sofort zum Media Markt und erstand einen tragbaren Fernseher im Sonderangebot. Er war klein, handlich und bunt, und als ich am Abend frisch geduscht auf meinem Bett saß, um auf dem 28er Bildschirm Lawrence von Arabien in der vierhundertsten Wiederholung anzuschauen, hatte ich den nächsten Heulkrampf. Mir wurde schlagartig klar, dass alles, mein ganzes Leben ab jetzt so aussehen würde wie der Sonnenaufgang über der Wüste in diesem Billigmodell, das die Bezeichnung »Fernseher« kaum verdiente: unscharf, klaustrophobisch, klein und vor allem – nichtssagend!
Dr. Thoma schaute mir von draußen kurz beim Heulen zu und stolzierte dann mit leicht angewidertem Blick davon. Vielleicht hatte er ja an der nächsten Ecke eine wesentlich bessere Gesellschaft zu erwarten. Es regnete nicht mehr, und der Fleischsalat war auch alle. Ich ließ das Rollo herunter. Für heute war mein Bedarf am Weltgeschehen gedeckt.
Das Wochenende verbrachte ich, neben kleinen Aufräumarbeiten und der Reparatur von Charles’ Ohr, mit der Durchsicht der bunten Magazinwelt der Bestatter und Thanatologen sowie mit der Broschüre von Pietät Sommer.
Man macht sich ja keinen Begriff, was eine Bestattung so kostet! Allein ein Wahlgrab nur für mich allein würde mit 5000 Mille zu Buche schlagen. Für die Kohle würde ich mich lieber an Châteauneuf du Pape zu Tode saufen. Dann könnten sie mich auch getrost ein Jahr in meiner Wohnung liegen lassen und dann mit dem Kehrbesen in die Mülltonne befördern. Ich sollte mir deswegen schon mal einen grünen Punkt auf die linke Arschbacke tätowieren lassen. Das würde es den Müllmännern erleichtern, mich in den gelben Sack zu sortieren.
Sehr hübsch fand ich die Beschreibung eines Urnengrabes: Urnengrab inkl. Friedhofsunterhaltungsgebühr und Glockenläuten. All-inclusive-Beerdigungen, der letzte Schrei auf dem Bestattermarkt. Neben Glockenläuten könnte man doch auch noch die Klageweiber wieder an die Front bringen. Selber heulen verdirbt doch nur das Make-up. Sogar die Baumwollhandschuhe der Sargträger wurden einzeln berechnet. Die Konsultation eines Thanatopraktikers, also schlicht des Einbalsamierers, kostete einen Tausender extra. Dafür sah man dann aber nach der Behandlung besser aus als im richtigen Leben. Das Programm hieß Offene Aufbahrung. Nachdem sie einem das Blut gegen diverse, vermutlich streng riechende Flüssigkeiten ausgetauscht hatten, konnten die Angehörigen sich ordentlich Zeit lassen, mal im Kühlhaus vorbeizuschauen und Tschüss zu sagen. Dann wurde man mit einem sinnlos langen Haltbarkeitsdatum in der Gruft versenkt, was vor allem den traditionellen Nutznießern der Erdbestattung, sprich Maden und Würmern, geschmacklich nicht sehr entgegenkommen dürfte. Okay, für Überführungen mit dem Flieger konnte das nützlich sein. Sonst gäbe es bei der Ankunft von Onkel Freddy selig in Australien vielleicht eine böse Überraschung für den Zoll. Ob bei meinen Businessflügen oder Urlaubsreisen wohl auch schon mal eine Leiche im Gepäckraum mitgeflogen war? So, wie es hier beschrieben wurde, war das ein ganz alltäglicher Vorgang. Ich war froh, dass in dem Artikel betont wurde, dass es in den Fliegern extra abgetrennte Abteile für Leichentransporte gebe und dass die Särge speziell verschweißte Exemplare seien. Da bekam der Songtitel Knockin’ on Heaven’s Door doch gleich eine ganz andere Bedeutung. Am Sonntagnachmittag war ich komplett ins Bestatteruniversum eingetaucht. Ich musste einsehen, dass es eine Menge kostet, um heile in diese Welt zu fallen, aber auch einen schönen Batzen, um wieder aus ihr zu verschwinden, vor allem hygienisch einwandfrei.
»Frau Abendroth!«
Menschenskind! Was will der Mann denn? Ich wollte meine Nachmittagszigarette genießen und darüber nachdenken, wie ich für die Bestattung am nächsten Tag einen Organisten herbeizaubern könnte. Aus den Rauchkringeln, die ich blies, erschien leider keine zündende Idee. Vielleicht könnte sich – meine achtwöchige Probezeit, absolviert ohne nennenswerte Zwischenfälle, war abgelaufen – zur Feier des Tages aus dem Rauch eine gute Fee materialisieren, bei der ich drei Wünsche frei hätte. Also, Nummer eins wäre ein neuer Job, Nummer zwei wäre ein Einkaufsgutschein für London, Paris und Tokio, genau in der Reihenfolge, im Wert von unermesslich vielen Dollar, Phantasmillionen von Dollar. Numero drei ... eine funktionierende Beziehung? Nein, vielleicht doch zu früh. Obwohl, die Fee könnte mit der Recherche so langsam anfangen. Meine stillen Betrachtungen zum Thema Wenn-ich-wieder-reich-wär‘ wurden jäh unterbrochen.
»Frau Abendroth, kommen Sie doch bitte mal.«
Der Stimmlage nach zu urteilen, war der Kugelfisch mittelnervös. Ab mittelnervös bis hysterisch benutzte er unsere Gegensprechanlage nicht mehr, sondern schrie aus vollem Halse. Okay, okay… wenn der Sommer zweimal ruft ...
»Wo sind Sie denn?«, flötete ich zuckersüß.
»Ja, wo soll ich schon sein?! Hier unten. Kommen Sie doch bitte, es beißt Sie ja niemand«, blökte es zurück.
Das konnte man nicht wirklich wissen. Ich mochte »da unten« nämlich überhaupt nicht. Mein Terrain war »hier oben«. Herr Sommer hatte mir beim Einstellungsgespräch von »da unten« überhaupt nichts gesagt! Und gleich an meinem ersten Arbeitstag wäre ich am liebsten sofort auf dem Absatz umgekehrt, als er mir das Kellergeschoss und seine Nutzung vorführte. Nachdem ich diesen Schock überwunden hatte, tat ich alles dafür, um auch nicht eine Sekunde lang »da unten« verbringen zu müssen. Ich war als Bürokraft eingestellt und Ende der Durchsage!
Ich log einen Teil von Sommers Rechnungen zusammen und heuchelte am Telefon Mitgefühl und menschliche Wärme, ohne rot zu werden. Das war, knapp ausgedrückt, meine Arbeitsplatzbeschreibung.
Widerwillig zerquetschte ich meine halbgerauchte Zigarette im Aschenbecher und begab mich, so langsam wie möglich, die enge Wendeltreppe hinunter. Bevor seine Stimme das hohe C erreichen würde, sollte ich mich lieber blicken lassen. Als Sommer mich im Türrahmen stehen sah, blinzelte er mich mit seinen Karnickelaugen an. Seine gummihandschuhbewehrten Finger steckten im Mund einer Leiche. Da kann er ja auch die Gegensprechanlage nicht mehr benutzen!
»Halten Sie das bitte mal fest?«
»Was soll ich festhalten?« Ich stellte mich dumm, obwohl ich genau begriffen hatte, was ich festhalten sollte.
»Frau Abendroth, ich bitte Sie, nur ein einziges Mal. Herr Matti ist gerade beim Krematorium. Halten Sie mir doch einfach bitte mal den Faden hier fest, damit ich einen Knoten machen kann.«
Er zog ungeduldig die Schlaufe zu, die Kinnlade schnappte hoch, und die Zähne des Toten schepperten laut aufeinander.
»Ich glaube, das Telefon klingelt, Herr Sommer.« So schnell es meine überflüssigen Pfunde zuließen, rannte ich die Wendeltreppe nach oben, bereit, noch die ein oder andere Kerze mehr zu berechnen, als eigentlich notwendig war, wenn ich »da unten« nur bitte nie wieder betreten müsste. Faden festhalten – nicht mit mir! Es soll ja Menschen geben, die sich nichts daraus machen, an Leichen herumzufleddern. Einer davon war Herr Matti, und der wurde von Sommer dafür bezahlt. Warum soll ausgerechnet ich mich für Sachen interessieren, die mir Übelkeit bereiten? Da hätte ich auch Kindergärtnerin werden können, um den kleinen Frettchen täglich Rotze und Bananenreste aus dem Gesicht zu popeln.
Leise vor mich hin schimpfend, trommelte ich auf der Computertastatur herum. Was bildet der Kerl sich eigentlich ein? Was glaubt der, was er mit mir machen kann, nur weil ich momentan etwas angeschlagen bin? Bürokram – und keinen Schritt weiter, bitte!
Ich nahm mir vor, den Kugelfisch bei Gelegenheit an unsere Abmachung zu erinnern. Wenn es sein musste, auch laut. Erst heißt es, »Halten Sie mal kurz«, und dann, kaum dass man sich versieht, kämmt man einer Leiche schon die Haare. Oder Schlimmeres! Ich blies meine Wangen auf und hielt die Luft an. Das war eine schlechte Angewohnheit von mir. Bald würde ich aussehen wie Louis Armstrong.
Hab dich mal nicht so, meldete sich meine vernünftige innere Stimme. In Amerika sind vor zwei Monaten die Symbole der freien westlichen Hemisphäre dem Erdboden gleichgemacht worden, die ganze Welt trägt Schwarz, dozierte sie weiter.
Wie wahr. Ich hatte nächtelang in fasziniertem Grauen vor dem Fernseher verbracht und die Ereignisse in New York verfolgt. Zeit hatte ich für solche Eskapaden, denn ich war auf der nach unten offenen Sozialabstiegsskala fast unter die Marke eines Schiffschaukelbremsergehilfen gerutscht. Mein persönlicher Ground Zero. Sozusagen. Dafür stand ich, für meine Verhältnisse, dem Leben mittlerweile geradezu gelassen gegenüber. Aber Sommer dabei zu assistieren, einem Toten den Mund zuzunähen, überstieg meine Demutsgrenze um hundert Prozent. Überleg doch mal, wie die New Yorker Bestatter gerade an die Grenzen des Erträglichen kommen! An manchen Tagen hasste ich meine vernünftige innere Stimme. Ehrlich. Wenn sie mir jetzt noch mit »Das ist immer eine Frage der Relation« kommt, bringe ich sie um. Und zwar mit dem Kauf von Knopfstiefeletten für 598 Mark. Da kann sie mal sehen, wo sie mit ihrem Gequatsche bleibt.
Ach ja, schön wär’s, Maggie, aber noch sitzt du hier in Bochum, und was dich gerade beschäftigt, ist die Vorstellung, was der Kugelfisch »da unten« mit den Toten so anstellt.
Tackern oder nähen, zum Beispiel. Davon hatte ich mittlerweile schon viel zu viel mitgekriegt. Teils, durch Sommers Logorrhoe, wenn es um Leichen und Bestattungen ging, teils durch die bewusstseinserweiternde Lektüre der Bestatter-Vogue, die da postulierte: »Aus ästhetischen Gründen darf der Mund eines Toten nicht offen bleiben!« Also haben Bestatter so ihre Tricks, dem allgemeinen ästhetischen Empfinden der Lebenden nachzukommen. Der Tacker hörte sich an wie ein Bolzenschussgerät. Der Nachteil war, man konnte sozusagen die Einschusslöcher sehen, sollten sich die Lippen nachträglich wieder öffnen. Die Aktion mit Nadel und Faden hinterließ keine sichtbaren Spuren. Nähen war auch fast geräuschlos, bis auf das Knirschen der gebogenen Polsternadel, wenn sie durch den weichen Gaumen eines Toten gestoßen wird. Außer, Sommer fluchte dabei oder ließ Kinnladen klappern wie bei einer singenden Marionette, so wie er es gerade getan hatte. Das Allerübelste an meinem Chef war allerdings, dass er, wann immer er sich unbeobachtet fühlte, bei allem, was er tat, leise und unmelodisch vor sich hin pfiff wie ein kleiner Wasserkessel.
Auch nach Wochen fühlte ich mich in diesem Job definitiv als die größte Fehlbesetzung seit Marika Rökk in eigentlich jedem Film. Leichen waren mir schon immer unheimlich. Selbst bei meiner toten Oma hatte ich sekündlich damit gerechnet, dass sie sich im Sarg plötzlich aufrichten könnte und mich fragt, ob ihr Haar richtig sitzt. Ich hatte Oma dereinst auf Geheiß meiner Tante in ihrem Sarg zu fotografieren gehabt. Meine Tante hätte mir nie verziehen, wenn ich ihr diesen Wunsch abgeschlagen hätte. Man musste in dem winzig kleinen Aufbahrungsraum am Bochumer Zentralfriedhof nämlich auf einen Stuhl steigen, um überhaupt an einen vernünftigen Blickwinkel zu kommen, und da ich meiner Tante keine halsbrecherischen Klettereien hatte zumuten wollen, hatte ich es eben selbst gemacht. Vielleicht hatte mich aber auch nur die Angst getrieben, dass Oma mir im Traum erscheinen könnte, um die fehlenden Fotos für ihr Himmelsalbum einzufordern. »Schauen Sie mal, Herr Petrus, das bin ich im Sarg. Sieht doch gut aus, oder? Ich hab’ mein blaues Lieblingskleid an.«
Und Petrus würde weise nicken und Oma schleunigst ins Omaparadies befördert haben. Wenn er schlau war. Sonst hätte sie ihm noch die peinlichen Fotos von Weihnachten 1969 gezeigt. Ich, dralle fünf Jahre alt, im rosa Petticoat, mit schokoladeverschmiertem Mund und verschwitzten Locken, grinse in die Kamera, weil ich mich so freue, dass meine Cousine sich nach dem vierten Königsberger Klops unter den Gabentisch übergeben hatte. Meine Oma hatte im Omaparadies bestimmt viele Dönekes zu erzählen. Und wenn sie mir just in diesem Augenblick von oben zuschaute, kam sie wahrscheinlich aus dem Lachen nicht mehr heraus.
Zugegeben: Mein Job bei Pietät Sommer rettete mich fürs Erste vor dem Hunger, aber dafür konnte ich nun überhaupt nicht mehr schlafen, weil ich von Leichen träumte, die, während der Sarg in die Gruft herabgelassen wurde, Klopfzeichen von sich gaben. Schade, Tales of the Crypt hatte jemand anderer schon sehr erfolgreich geschrieben und produziert. Dummerweise hatte ich alle Folgen gesehen.
Ich hörte Sommer immer noch fluchen, und ab und zu ertönte ein unmelodisches Pfeifen. Ich beschloss, an meinem Schreibtisch sitzen zu bleiben, bis ich Feierabend hatte oder bis wirklich das Telefon klingeln würde. Bis dahin zündete ich mir eine neue Zigarette an, wartete auf das Erscheinen meiner persönlichen Fee und machte mir trübe Gedanken über das Weltgeschehen. Was sollte ich auch sonst tun? Alles in allem ereignete sich einfach nichts, das meinem zerrütteten Nervenkostüm auf irgendeine Art und Weise gutgetan hätte. Zwar war ich in der Lage, meine Kreditraten zu bezahlen, duschte aber verdächtig oft und kaufte Waschmittel in 12 kg-Familienpackungen, weil ich in der ständigen Angst lebte, nach Tod zu riechen. Ein bisschen süß und ein bisschen klebrig – Gruft No 5, für die finalen Momente im Leben.
Auch außerhalb meines persönlichen Wirkungskreises ging alles in Schutt und Asche. Die Twin Towers in New York waren umgefallen, die Welt war nicht mehr das, was sie mal war. Wildfremde Menschen quatschten einem bei Aldi an der Kasse die Ohren voll mit Prognosen und Vermutungen über den Verbleib international gesuchter Terroristen. Das sinnlose Gefasel der Halbinformierten bewegte sich auf Fußballweltmeisterschaftsexperten-Niveau. Nur waren alle derzeit keine selbsternannten Bundestrainer, sondern heimliche Berater der CIA. Al Quaida überholte Naddel, Verona und Dieter in Sachen Bekanntheitsgrad um Längen. Osama bin Laden hatte sämtlichen Teppichludern der Welt den Rang abgelaufen. Sein Bild prangte in allen Medien, überall auf der Welt war er gesehen worden, an vielen Orten gleichzeitig, obwohl er sich beharrlich weigerte, bei George W. Bush vorstellig zu werden. Endlich konnten alle mal wieder mitreden, denn, wie mir schien, alle wussten nix, und zwar aktuell im Minutentakt. Ich hatte irgendwann aufgehört, CNN zu schauen. Zu viel Patriotismus, zu viele Sternenbanner, zu viel Trauer, vor allem auf 28 Zoll.
Der sehr blasse Herr unbestimmten Alters, den ich schon nach meinem Einstellungsgespräch gesehen hatte, war, so stellte sich bald heraus, gar kein Kunde, sondern mein Kollege Herr Matti. Er machte alles, was Sommer ihm auftrug, sprach so gut wie nie und sah so aus, als sei er in Dauertrauer. Und vor allem, er pfiff nicht vor sich hin. Wenn er denn mal was sagte, hörte man einen harten Akzent. Finnisch, wie ich schon nach sechs Wochen herausbekommen hatte. Matti war so freundlich und so distanziert, wie ich selten jemanden erlebt hatte. Wenn ich es recht überlegte, eigentlich noch nie. Er bedankte sich für jede Tasse Kaffee, die ich ihm hinstellte, hielt mir bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Tür auf, nahm mir sogar den kleinen Poststapel ab, wenn ich vom Briefkasten kam, und bevor ich mit ihm ein Gespräch anfangen konnte, verschwand er nach »da unten«, wohin ich ihm, wie er sofort festgestellt hatte, niemals freiwillig folgen würde.
»Da unten«, in Mattis Reich, da lagen die Toten. Es gab ein Kühlhaus von immensen Ausmaßen, in dem man locker fünf Tote auf ihren Bahren ein paar Tage frisch halten konnte, bevor sie in dem direkt angrenzenden Raum, der aussah wie ein schlecht eingerichteter Operationssaal, von ihm und Herrn Sommer für ihren letzten Auftritt im Aufbahrungsraum aufgerüscht wurden. Sommer war stolz wie Oskar auf seine zwei airconditioned Aufbahrungsräume. »So ist auch im Hochsommer eine längere, durch nichts beeinträchtigte Abschiednahme gewährleistet«, stand in seinem Werbeprospekt. Abgesehen vom üblichen Blau und Gold gab es, wegen der Klimaanlage, nur elektrisches Kerzenlicht und als Dreingabe eine Musikanlage, auf der Sommer tagein, tagaus dieselben drei CDs mit sphärischen Klängen abdudelte. Schon allein, weil sich keine Leiche im Sarg jemals über die grässliche Musik beschwerte, konnte man erkennen, dass sie wirklich tot waren.
Die Anlieferung der Toten erfolgte dezent über den Hof. Dort gab es eine Rampe und eine schwere Stahlschiebetür, die direkt von der Rampe in den Arbeitsraum von Matti führte. Von da aus gelangte man dann entweder ins Kühlhaus, in das Sarglager, in die Aufbahrungsräume oder zur Wendeltreppe nach oben.
Der von Sommer pietätvoll Wirtschaftsräume genannte Arbeitsbereich war durch eine mit Eichenholz verkleidete Schiebetür von den Aufbahrungsräumen getrennt. Wenn sie geschlossen war, konnte man kaum erkennen, dass es eine Tür gab. Ich ging nur nach unten, wenn ich Angehörige zu ihren lieben Verblichenen geleiten musste. Meistens tat Matti mir den Gefallen, sie auf der Mitte der Wendeltreppe in Empfang zu nehmen, sodass ich erleichtert wieder nach oben gehen konnte. Schon allein die Geräusche, die manchmal von unten nach oben drangen, wenn Sommer vergessen hatte, die Eichentür zu schließen, bereiteten mir schweres Unwohlsein. Zu Anfang wurde mir sogar schon schlecht, wenn ich Sommer und Matti mit dem Wagen nur in die Hofeinfahrt einbiegen sah. Die beiden brachten garantiert nichts Spannendes, nichts Süßes und nichts zum Spielen mit.
Nach zwei Monaten bei Pietät Sommer kniff die Armani-Jacke auch gar nicht mehr so sehr. Aufgrund diverser Ekelattacken hatte sich meine unkontrollierte Nahrungsaufnahme von allein geregelt.
Da der Kugelfisch seinen Laden dank Matti und mir in sicheren Händen wusste, blieb er des Öfteren ganze Nachmittage lang weg. Ich mutmaßte, dass er seine Zeit nutzte, um lustig bei Kaffee und Kuchen im Altenheim zu sitzen, den Senioren von seinen beiden wohltemperierten Aufbahrungsräumen vorzuschwärmen und ihnen Eichensärge aufzuschwatzen. Ich beschloss, Matti irgendwann mal danach zu fragen. Im Augenblick war aber keine Zeit dazu, denn Sommer riss mich mit seinem Gepfeife und Gefluche, das zu mir nach oben drang, unsanft aus meinen Tagträumen. Sollte er doch fluchen. Ich bin es gewohnt, mich an Abmachungen zu halten.
Dann klingelte endlich das Telefon, und ich hob erleichtert ab. »Pietät Sommer, Sie sprechen mit Margret Abendroth, was kann ich für Sie tun?«, ließ ich meinen Standardspruch los. Ich hörte Schluchzer und dazwischen den Namen Becker und Feldsieper Straße 13. Ich versuchte, die Person zu beruhigen, aber es gelang mir nur insofern, als ich aus ihr herauskriegte, dass der Arzt schon da gewesen war, der Totenschein ausgestellt und man die Leiche bitte schleunigst abholen könnte. Zwischen den Schluchzern verstand ich noch: »Frau Dorfmann wartet schon auf mich.«