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Hunter Evans - ein Mann, der seinem Namen alle Ehre macht. Denn er jagt jedem Auftrag hinterher, den er von seinem Auftraggeber Sean erhält. Vom Ring bis zum Auto stiehlt er alles, um das Leben seiner Schwester und seiner schwerkranken Nichte zu finanzieren. Als er einen Millionenschweren Auftrag erhält, sieht er darin die Lösung all seiner Probleme. Doch das, was er stehlen soll, verbrigt sich an einem nahezu unerreichbaren Ort - denn kein Anwesen in England ist besser bewacht, als das der Adelsfamilie Middleton. Und nicht nu das zu stehlende Unikat wird dort gehütet, sondern auch die Tochter Janet Middleton, für die ihre Eltern jeden Pfund investieren, um aus ihr die perfekte Familienerbin zu machen. Hunters Auftrag erscheint ausweglos, bis das kleine Vögelchen aus seinem goldenen Käfig ausbricht und sich ihm eine einmalige Chance bietet. Janet ist mehr als erbost über ihr überwachtes Leben im Familienanwesen. Der Drang auszubrechen, da sie ihr Leben bisher nicht ausleben konnte, wie sie es wollte, wird von Tag zu Tag übermächtiger. Die Streitigkeiten mit ihrer besten Freundin Cassidy verleiten sie ebenfalls dazu, sich endlich gegen ihre Eltern zu wehren. Eines Nachts nutzt sie eine sich bietende Gelegenheit und flüchtet. Eine Nacht jung, frei und wild sein. Doch sie ahnt nicht, in wessen Fänge sie in dieser Nacht gerät.
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Seitenzahl: 435
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Triggerwarnung:
Vorwort
1 – Janet
2 – Hunter
3 – Janet
4 – Hunter
5 – Janet
6 – Hunter
7 – Hunter
8 – Hunter
9 – Janet
10 – Hunter
11 – Janet
12 – Janet
13 – Hunter
14 – Janet
15 – Janet
16 – Hunter
17 – Janet
18 – Hunter
19 – Janet
20 – Hunter
21 – Janet
22 – Hunter
23 – Janet
24 – Hunter
25 – Hunter
26 – Janet
27 – Hunter
28 – Janet
29 – Hunter
30 – Janet
31 – Hunter
32 – Janet
33 – Hunter
34 – Janet
35 – Janet
36 – Hunter
37 – Janet
38 – Hunter
39 – Janet
40 – Hunter
41 – Janet
42 – Hunter
43 – Janet
44 – Janet
45 – Hunter
46 – Janet
47 – Hunter
48 – Janet
Mein Herzensprojekt ist beendet.
Songtexte,
die dieses Buch begleiten:
Thinking out loud von Ed Sheeran
Wenn ihr auf dem Laufenden bleiben wollt
Weitere Werke von mir:
Impressum:
Wenn ihr glaubt, euch erwartet hier eine Cinderella-artige Liebesgeschichte, bei der sich ein reiches Mädchen in den sozialschwächeren Bad Boy verliebt, muss ich euch enttäuschen – diese Geschichte ist so viel mehr, als das.
Daher seid gewarnt – denn neben dem Druck und der Verzweiflung, die diese Charaktere zu spüren bekommen werden, geraten auch Drogen, Gewalt und Verlust in den Fokus. Dramatische Schicksale, die euch noch schneller in den Abgrund reißen werden.
Seid ihr also sicher, dass sie auch eure Seelen stehlen dürfen?
Every girl wants a bad boy,
to be good just for her.
Every boy wants a good girl,
to be bad just for him.
„Ms. Janet, wenn Sie bitte einsteigen würden“, ertönte Andres leicht drängende Stimme hinter mir. Ich hockte gerade auf der Rasenfläche neben unserem Vorplatz und kraulte eine streunende Katze hinter ihren kleinen Öhrchen. Sie schnurrte und schmiegte ihren Kopf nah an meine Hand. Jeden Tag tigerte sie über uns Grundstück und ich wollte es mir nicht nehmen lassen, ihr eine kurze Schmuseeinheit zu gewähren. Ich hatte sie Cookie getauft – denn so sah sie mit ihrem hellbraunen Fell und den dunklen Flecken darauf aus. „Ms. Janet, Sie werden zu spät zum Unterricht kommen.“ Genervt richtete ich mich auf und sah Andre an. Seine goldenen Manschettenknöpfe glänzten in der Sonne. Sein schwarzer Anzug saß wie angegossen, war faltenfrei und sah aus, als würde er frisch aus der Reinigung kommen. Seine schwarzen Lackschuhe waren auf Hochglanz poliert und seine Pagenmütze saß akkurat auf seinem Kopf. Er hielt die hintere Tür des dunkelblauen Rolls Royce auf und wartete darauf, dass ich einstieg. Ich hob meine beige Ledertasche vom Boden auf und ging schnaufend an ihm vorbei. Geschmeidig glitt ich auf das weiße Leder der Sitze und Andre schloss die Tür, bevor er sich hinter das Steuer setzte. „Sie wissen doch, dass Ihre Eltern es nicht für gut heißen, wenn Sie ständig diese Katze streicheln. Sie könnte Krankheiten haben.“ Andre warf mir einen tadelnden Blick über den Rückspiegel zu. Dann startete er den Motor und lenkte den Wagen die lange Auffahrt hinunter zum Tor. Ich ließ seine Aussage unkommentiert und schaute aus dem Fenster, während die grüne Landschaft unseres Anwesens an mir vorbeizog. Andre wusste genau, dass mein ganzes Leben von meinen Eltern bestimmt wurde. Ich hatte es satt, mir alles von ihnen vorschreiben zu lassen. Und selbst wenn es nur darum ging, eine Katze zu streicheln. Nachdem wir das Tor passiert hatten, fuhr Andre, wie jeden Morgen, den Weg hinunter in die Stadt. Es war fast ein Wunder, dass meine Eltern mir erlaubt hatten, an einer staatlichen University zu studieren. Aber natürlich war es nicht irgendeine University, sondern die Middleton Academy, die mein Urgroßvater gegründet hatte und seither im Familienbesitz war. Und niemand Geringeres als mein Vater, Lawrence Middleton, war der Direktor. Aber ich wollte mich nicht beschweren. Denn die Academy gab mir überhaupt erst die Möglichkeit am Tag auch mal etwas anderes zu sehen, als unser riesiges Anwesen, in dem ich stetig bewacht wurde. Denn ich war die Tochter der wohlhabendsten Familie Englands – Janet Middleton. Meine Eltern hüteten mich wie einen Schatz. Als junges Mädchen hatte das sicherlich seine Vorzüge gehabt. Aber mittlerweile war ich zweiundzwanzig Jahre alt und wollte Abenteuer erleben. Wollte mein Leben leben, Spaß mit Freunden haben, ausgehen, tanzen. Allerdings wurde mir das stets von meinen Eltern untergesagt. Janet tu dies nicht, tu das nicht. Lerne fleißig. Werde eine perfekte Familienerbin. Repräsentiere die Familie, blablabla. Es war wirklich anstrengend, wenn man nicht selbst über sich bestimmen konnte. Für die Außenwelt war ich ein Mythos. Bis jetzt. Meine Eltern hatten mich nie mit in die Öffentlichkeit genommen. Doch Morgen stand das große Wochenende bevor, wie sie es mir angekündigt hatten. In Knightsbridge eröffnete ein neues Museum, dem meine Eltern einige Familienerbstücke zur Ausstellung schenkten. Dorthin würden sie mich mitnehmen. An der Middleton Academy studierten fast nur Snobs aus anderen reichen Familien. Die meisten hier interessierten sich weder für mich, noch dafür, dass ich für die meisten Engländer ein Rätsel war. Die Einzige, die nicht ganz so abgehoben und steif war, war meine Freundin Cassidy. Andre lenkte gerade den Wagen durch die beiden großen Steinsäulen des Academyeingangs. Er fuhr die halbmondförmige Einfahrt entlang, bevor er direkt vor den Stufen des Gebäudes stehen blieb. Natürlich stieg er auch prompt aus und öffnete meine Tür. „Vielen Dank, Andre. Wir sehen uns dann später.“ Geschäftig tippte er sich an die Mütze, als ich mich an ihm vorbeischob. Cassidy lehnte am Eingang und rauchte eine Zigarette. Sie war wirklich die Einzige, die sich das hier traute. Andre hatte bereits den Wagen gestartet, aber wie immer wartete er darauf, dass ich im Gebäudeinneren verschwand. Ich konnte genau sehen, wie er wegen der Zigarette die Nase rümpfte und mir wieder einen mahnenden Blick zuwarf. „Hey Andre, Baby.“ Mit ihren langen schwarzmanikürten Fingernägeln winkte Cassidy ihm zu. Sie liebte es, ihn zu provozieren. Doch wie immer ließ er sich nicht aus der Reserve locken und sah uns stoisch an. Und natürlich liebte sie es auch, unsere Lehrer und meinen Vater zu provozieren. Denn sie trug nicht einfach nur unsere Schuluniform, die aus einer weißen Bluse, einem dunkelgrünen Faltenrock, weißen Kniestrümpfen und schwarzen Ballerinas bestand. Sie hatte die Bluse am Bauch zusammengeknotet, sodass ein schmaler Spalt Haut zwischen der Bluse und dem Rock zu sehen war. Unter dem Rock trug sie eine Netzstumpfhose, die an manchen Stellen große Löcher hatte und dazu schwarze Boots. Ihre langen schwarzen Haare, die ihr glatt bis zur Hüfte reichten, trug sie offen. Immer, wenn ich sie sah, musste ich schmunzeln. Denn ich bewunderte ihren Mut aus der Norm auszubrechen und ihr eigenes Ding durchzuziehen. Manchmal wünschte ich mir, dass ich ein bisschen mehr wie sie wäre. „Komm schon, lass uns reingehen. Du weißt doch, dass er nicht eher fährt, ehe wir drinnen verschwunden sind.“ Cassidy schnippte ihre Zigarette weg und ich zog sie am Arm mit mir. Ein Blick über die Schulter verriet mir, dass Andre nun wegfuhr. „Hast du eigentlich schon mal versucht, ihn rumzukriegen?“, plauderte sie fröhlich, während wir den langen Flur zu den Hörsälen entlang liefen. Erschrocken lachte ich auf und hielt mir die Hand vor den Mund. „Was redest du denn? Er ist mein Chauffeur. Und außerdem bestimmt zwanzig Jahre älter als ich.“ An unseren Spinden blieben wir stehen. „Ach, komm schon, Janet. Auf alten Pferden lernt man reiten“, raunte sie mir zu, während sie einige Bücher aus ihrem Spind nahm. Ich spürte, wie die Röte in mein Gesicht kroch. „Dir muss doch langweilig sein in deinem goldenen Gefängnis. Dann hab wenigstens mit ihm ein bisschen Spaß.“, lachte Cassidy. Etwas zu laut knallte ich meinen Spind zu, was sie aufsehen ließ. „Ich muss dich leider enttäuschen, Cass. Ich werde mich nicht an ihn ranmachen. Aber du, tu dir keinen Zwang an.“ Einen Moment starrten wir uns ernst an. Dann brachen wir in Gelächter aus und drängten uns etwas näher hinter ihre offene Spindtür. Die Dozenten hatten hier immer ein ganz besonderes Augenmerk auf mich. Unsere kleinen geheimen Unterhaltungen mussten sie nicht mitbekommen. „Na schön, na schön“, lenkte sie nun ein und wischte sich unter ihren nassen Augen entlang. „Aber du kommst am Wochenende mit uns ins Obsessed. Da finden wir sicherlich jemanden, den du aufreißen kannst.“ Nun schloss auch Cassidy ihren Spind und wir setzten unseren Gang weiter fort. „Du weißt doch, dass ich zu dieser Museumsgeschichte muss und meine Eltern mich sowie so nicht rauslassen“, flüsterte ich ihr zu. Niedergeschlagen sah sie auf den Boden. „Und du weißt, dass ich Geburtstag habe und ich ihn schon wieder ohne dich verbringen muss.“ Leicht berührte ich Cassidy an der Schulter, doch sie zuckte zurück. „Komm schon, Cass. Es tut mir leid. Aber du weißt, dass es unmöglich ist.“ Abrupt blieb sie stehen. Eine wütende Falte bildete sich auf ihrer Stirn. „Vergiss es einfach, Janet. Wenn du später auf dein Leben zurückblicken und feststellen willst, dass du die besten Jahre deines Lebens verpasst hast, dann bitte.“ Sie ließ mich einfach stehen und riss die Tür vom Hörsaal auf. Rayen fluchte, weil er sie fast ins Gesicht bekam. „Guten Morgen, Ms. Middleton“, grüßte er mich höflich. „Oh, bitte. Janet! Ich heiße Janet, Rayen!“ Lässig lehnte er sich an die Wand neben der Tür. „Meine Eltern und ich werden ebenfalls am Wochenende bei der Museumseröffnung sein. Ein kleines Vögelchen hat mir gezwitschert, dass du und deine Familie auch dort sein werdet.“ Gelangweilt betrachtete ich ihn. „Ich fände es gut, wenn wir unsere Eltern einander vorstellen. Dann besteht sicherlich die Möglichkeit, dass auch wir Zwei uns besser kennenlernen. Ich denke, deine Eltern würden es sehr schätzen, die Aussicht auf einen wohlhanden Schwiegersohn zu haben.“ Überheblich grinste er mich mit seinen wirklich perfekten weißen Zähnen an. Die konnten allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sein Hemd bis obenhin zugeknöpft war und er seine blonden Haare zu einem peniblen Seitenscheitel gegelt hatte. Jetzt war ich es, die ebenfalls wütend in den Hörsaal stapfte. Ich konnte diese ganzen arroganten Schnösel nicht ausstehen. Dieser Rayen maßte sich ständig an, dass er mir nur aufgrund des Reichtums seiner Familie Avancen machen konnte. Ich war es wirklich leid. Mein Leben war ein einziges Trauerspiel.
Völlig erschöpft parkte ich den Wagen vor unserem Haus. Hier in Hackney war das Leben noch nicht erwacht. Aus keinem der heruntergekommenen Häuser hörte man einen Mucks, geschweige denn, dass irgendeine Menschenseele über die Straße lief, um zur Arbeit zu hechten. Denn hier lebten die Junkies, die Schmarotzer. Sie lebten gerne im Dreck. Genau, wie ich. Ich fühlte mich wohl bei dem Gesindel. Aber dennoch wünschte ich mir für meine Schwester Scarlett und ihre Tochter Kylie ein besseres Leben. Deshalb hatte ich heute auch wieder den nächsten Job ausgeführt, den Sean für mich gehabt hatte. Ich lehnte meinen Kopf an den Sitz und betrachtete meine offenen Fingerknöchel, die am Lenkrad lagen. Der Job war nicht ganz nach Plan verlaufen und ich musste leider den Besitzer des Schmuckladens ausknocken. Konnte ja niemand ahnen, dass er im Hinterzimmer seines eigenen Geschäftes schlief. Wenigstens konnte ich die verlangte Beute und den Kasseninhalt vorhin trotzdem bei Sean abliefern. Für den Job hatte ich 2.000 Pfund bekommen. Damit konnte Scarlett nachher in Ruhe für die Woche einkaufen. Doch weit würden wir damit nicht kommen, denn der nächste Termin beim Lungenspezialisten für Kylie stand an und wir hatten keine Krankenversicherung. Dr. Frederickson war es gewöhnt, dass ich ihn bar bezahlte. Aber dafür musste ich noch ein, zwei Jobs durchziehen. Denn auch der Apothekenbesuch danach würde nicht günstig werden. Ich schwang meine müden Knochen aus dem Wagen. Mein weißes Tshirt klebte wie eine zweite Haut an meinem Körper. Die ganze Nacht war es schon wieder furchtbar schwül gewesen. Ein paar hübsche rote Blutspritzer von diesem dämlichen Ladenbesitzer zierten ebenfalls mein Tshirt. Ich stieg die knatschenden Verandastufen hinauf. Die Fliegengittertür stand an die Hauswand gelehnt neben der Eingangstür. Sie hatte letzte Woche den Geist aufgegeben. Doch das war unwichtig. In diese Bruchbude konnten wir aktuell kein Geld investieren. Ich schloss die Tür an dem wackligen Knauf auf und wurde von einem bellenden Husten empfangen. In dem engen Flur konnte man sich kaum drehen. Die Garderobe war völlig überladen mit Klamotten von Scarlett und Kylie. Und an der Wand lehnte Kylies kleines Fahrrad, welches sie zu Weihnachten bekommen hatte. Ich fluchte jeden Morgen darüber, wenn ich es im Halbdunkeln umrannte. Aber in der Gegend konnte man solche Dinge unmöglich auf der Veranda oder im Vorgarten stehen lassen. Ich trat durch den Durchgang in die Küche. Meine Schwester saß am Küchentisch und hatte Kylie auf dem Schoß. Mit streichenden Bewegungen über Kylies Rücken versuchte sie, ihren Husten zu beruhigen. Sie war schon hochrot im Gesicht und Tränen liefen über ihr Gesicht. Und meine Schwester? Die wurde immer mehr zu einem Hauch ihrer selbst. Jeden Morgen, wenn ich nach Hause kam, hatte ich das Gefühl, dass sie noch mehr abgenommen hatte. Ihre Klamotten passten ihr nicht mehr und schlackerten an ihrem Körper. Ich stellte mich hinter Scarlett und drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel. „Wie war die Nacht?“, raunte ich, bevor ich an ihr vorbeigriff, um ihre Kaffeetasse zu nehmen. „Sie hat ganz gut geschlafen. Aber heute Morgen ist der Husten besonders schlimm.“ Ich nahm einen großen Schluck aus der Tasse und stellte sie zurück. Dann griff ich einfach unter Kylies Arme und hob sie auf meinen Arm. „Okay, wie wäre es, wenn wir zwei gleich ein bisschen Peete and the Bear schauen und Mama sich ein bisschen ausruht?“ Kylie kicherte leicht, als ich sie am Bauch kitzelte und lehnte ihren kleinen Kopf gegen meine muskulöse Brust. „Du musst das nicht machen, Hunter. Ich komm schon klar.“ Gegenteilig ihrer Aussage, schnaufte Scarlett erschöpft. Ich überschaute sie mit einem mahnenden Blick. Dann ging ich ins angrenzende Wohnzimmer und setzte Kylie auf dem Sofa ab, bevor ich zu meiner Schwester zurückkehrte. „Wann bist du das letzte Mal rausgegangen, Scar? Hast du dich mal im Spiegel angesehen? Du bist überhaupt nicht mehr du selbst.“ Ich ging vor ihr in die Hocke und griff nach ihren Händen, doch sie zog sie harsch zurück. „Schon vergessen, dass du derjenige bist, der die ganze Nacht nicht da ist?“, zickte sie mich nun an. „Wie soll ich da ausgehen?“ Gestresst fuhr sie sich durch ihr sprödes, splissiges Haar. „Wenn du willst, kann ich mich den ganzen Tag um Kylie kümmern, bis sie ins Bett geht. In der Zeit kannst du machen, was du willst. Du musst es mich nur wissen lassen.“ Wieder versuchte ich nach ihrer Hand zu greifen und diesmal ließ sie es zu. Traurig senkte sie den Blick. „Und wann willst du dann schlafen?“, fragte Scarlett mich kleinlaut. Ich tippte unter ihr Kinn, damit sie mich ansah. Ihre ausdruckslosen Augen, in denen damals soviel Leben gefunkelt hatte, blickten mich an. Diese müden Augen sorgten dafür, dass mein Herz sich schmerzhaft zusammenzog. „Ich brauche keinen Schlaf, Scar. Aber du brauchst definitiv das Leben. Du weißt, dass ich dir die Nacht nicht geben kann. Ich muss diese Jobs machen, um uns über Wasser zu halten. Ich kann nunmal nicht im Büro sitzen, ein paar Zahlen in den Rechner tippen und dann um 15.00 Uhr nach Hause kommen. Das Geld würde vorne und hinten nicht reichen.“ Nun wurde ihr Blick wieder etwas weicher. „Aber ich kann dir am Tag soweit es geht den Rücken freihalten, okay?“ Langsam nickte sie. „Und deshalb gehst du jetzt hoch und schläfst noch ein bisschen. Und wenn du fit bist, gehen wir zusammen einkaufen. Gebongt?“ Ihre Lippen verzogen sich zu einem einseitigen Lächeln, bevor sie ein „gebongt“ flüsterte. Ich kam zurück in den Stand und reichte ihr meine Hand. Scarlett stand vom Stuhl auf und hauchte mir im Vorbeigehen noch einen Kuss auf die Wange. Während sie sich nach oben zurückzog, räumte ich die Küche auf. „Onkeeeel Huuunter“, ertönte die langgezogene Stimme meiner Nichte. „Was ist los, Baby?“ Sie stand auf dem Sofa und schaute über die Lehne zu mir. „Mir ist langweilig.“ Sie stützte ihr Gesicht in ihre kleinen Hände und starrte mich an. Dieses kleine bezaubernde Wesen erfüllte mein Herz. Mein Herz, welches ich draußen vor jedem versteckt hielt. Nur sie durfte es haben. Ich schnappte mir die Glasflasche mit dem Saft, den sie jeden Tag nehmen musste und ging zu ihr herüber. Als Kylie die Flasche sah, rümpfte sie die Nase. „Das will ich nicht!“ Zickig verschränkte sie die Arme vor der Brust und machte einen Schmollmund. Fast hätte ich gelacht. Ich ließ mich neben sie auf das Sofa fallen, was sie ins Wanken brachte. Dann zog ich sie einfach auf meinen Schoß. „Hat dir gerade die Brust wehgetan, als du so doll gehustet hast?“ Mit ihren großen Augen schaute sie zu mir hoch und nickte. „Und das ist nicht schön, oder?“ Wieder nickte Kylie. Dann öffnete ich die Flasche und gab etwas von dem Saft in die Kappe. „Also runter damit.“ Auffordernd hielt ich es ihr entgegen. Ich konnte in ihrem Blick genau erkennen, dass sie abzuwägen versuchte, einen Ausweg zu finden. Doch dann gab sie nach und schluckte den Saft. Angewidert verzog sie das Gesicht. Ich stellte die Flasche weg und zog Kylie eng in meine Arme. Wieder lehnte sie ihr kleines Gesicht an meine Brust. „Und jetzt Peete and the bear?“, fragte ich und schaltete den Fernseher ein. Die Sendung lief bereits und ich konnte deutlich spüren, wie Kylie sich auf meinem Schoß entspannte. Sie drückte sich noch etwas näher an mich. Ihre gleichmäßigen Atemzüge beruhigten auch mein Gemüt. Auch ich fing langsam an, mich nach dieser anstrengenden Nacht zu entspannen. Ich musste wirklich aufpassen, dass mir nicht die Augen zufielen. Jeder Tag hier war gleich. Ich schlug mich durch die Nacht, im wahrsten Sinne. Zumindest teilweise. Und tagsüber versuchte ich für Scar und Kylie da zu sein. Ich sah dabei zu, wie es meiner Schwester immer schlechter ging und ich nichts daran ändern konnte. Sie war erst neunzehn. Kylie war mittlerweile vier. Mit fünfzehn war Scarlett von ihrem ersten Freund schwanger geworden. Es war natürlich keine Absicht gewesen. Und was hatte mein Vater gemacht? Er hatte Scarlett vor die Tür gesetzt und sie als Schlampe bezeichnet. Seitdem unsere Mutter ihn vor einigen Jahren verlassen hatte und somit auch uns, war er wie ausgewechselt gewesen. Ständig gerieten wir aneinander. Natürlich hatte ich Scar nicht allein gehen lassen. Ich war mitgegangen. Und auch wenn unser Leben gerade miserabel war, war es immer noch besser, als bei diesem Schläger zu wohnen. Schon damals hatte ich kleine Jobs für Sean durchgeführt. Mit Zwanzig hatte alles angefangen. Mittlerweile war ich achtundzwanzig und führte seine Aufträge hauptberuflich durch. Wir waren damals bis zur Geburt von Kylie bei ihm untergekommen, bis wir das Haus hier gefunden hatten. Es hatte nicht viel gekostet. Und die Gegend war auch nicht die Beste. Aber immerhin hatten wir unser eigenes Reich. Und hoffentlich würde Sean bald mal einen richtig dicken Fisch an Land ziehen, woran er mich beteiligte und wir aus diesem Drecksloch hier ausziehen konnten.
Cassidy hatte den ganzen Tag nicht mehr mit mir gesprochen. Sie war wegen ihrem Geburtstag eingeschnappt. Es war jedes Jahr das Gleiche, nur das es von Jahr zu Jahr schlimmer wurde. Als der Tag in der Academy zu Ende war, stand Andre bereits mit der Klinke der hinteren Autotür in der Hand vor dem Gebäude und wartete auf mich. Wieder waren wir auf direktem Wege nach Hause gefahren. Bloß keinen Umweg. Bloß nicht in die Stadt oder sonst wohin. Immer nur zu unserem Anwesen. Hin und zurück. Strammen Schrittes lief ich durch die Eingangshalle in unserem Anwesen und wurde von den Angestellten gegrüßt. Ich lief die Wendeltreppe hinauf, wo meine Schritte von dem dicken, dunkelgrünen Teppich verschluckt wurden. Den Flur runter erreichte ich mein Zimmer und knallte die Tür hinter mir zu. Und wieder einmal stellte ich fest, wie lachhaft das hier alles war. Allein mein Zimmer war so groß, wie manche Wohnungen, die normale Menschen hier in London bewohnten. Ich hatte riesige Bücherregale, eine Schreibtischecke sowie eine Sofaecke, ein großes Himmelbett, einen begehbaren Kleiderschrank, ein eigenes Bad. Auch eine kleine Musikecke mit einem Keyboard und einem Mikro hatte ich hier eingerichtet. Erschöpft lehnte ich mich von innen an die Tür, als ich durch das Klopfen von außen zurückschreckte. Trudence öffnete in ihrem üblichen schwarzen Arbeitsoutfit und ihrer weißen Schürze die Tür. „Ms. Janet, Ihre Eltern erwarten Sie zum Mittagessen. Kommen Sie bitte mit in den Salon?“ Sie streckte ihren Rücken durch und faltete die Hände vor ihrem Schoss. Genervt warf ich meine Tasche auf den Schreibtisch. Ich hatte wirklich keine Lust, Zeit mit meinen Eltern zu verbringen. „Und was ist, wenn ich nicht mitkomme?“ Ich stemmte meine Hände in die Hüfte und starrte sie herausfordernd an. Nervös blickte Trudence von rechts nach links. „Nun, ich nehme an, dass Mrs. Middleton dann selbst nach Ihnen sehen wird.“ Geschlagen ließ ich meine Arme wieder hängen. Denn sie hatte Recht. Sie würden mich niemals in Ruhe lassen. Hauptsache ich machte, was sie wollten. Ergeben ging ich also an Trudence vorbei und wieder hinunter ins Erdgeschoss. Von dort in den Salon. Meine Eltern saßen an dem prall gedeckten Tisch. Ich würde mich nie daran gewöhnen können, dass wir an einer derart großen Tafel aßen. Ungefähr fünfzehn Leute fanden hier Platz. Meine Mutter saß an dem einen Ende vor Kopf, mein Vater an dem anderen. Tja, und für mich war in der Mitte gedeckt. Einer der Angestellten, die immer stoisch in der Ecke standen und darauf warteten, ob jemand noch etwas benötigte, kam herangeeilt und zog mir meinen Stuhl zurecht. Dann füllte er meinen Teller mit etwas Truthahn, Bohnen und Kartoffeln, bevor er sich zurückzog. „Du weißt, dass es in der Familie Middleton Pflicht ist, das Essen gemeinsam einzunehmen, Janet“, ertönte die pikierte Stimme meiner Mutter. Langsam ließ ich meinen Kopf in ihre Richtung gleiten und warf ihr einen trockenen Blick zu. „Entschuldigung, dass der Tag in der University heute anstrengend gewesen ist und ich gerne etwas Ruhe hätte.“ Etwas zu ruppig schnitt ich ein Stück von der Truthahnkeule ab und steckte es mir in den Mund. „Als angesehene Familie haben wir keine Zeit für ein wenig Ruhe, Janet“, mischte sich nun auch mein Vater ein. „Wir müssen Verpflichtungen nachkommen. So wie du. Denn Pierre ist bereits auf dem Weg für den Klavierunterricht.“ Pierre war mein privater Musiklehrer. Er war um einiges lockerer als meine Eltern, aber trotzdem tanzte er natürlich nach ihrer Pfeife. Was ich wollte, war ihm genauso egal, wie ihnen. Ich tupfte mir den Mund mit der Serviette ab, bevor ich sprach: „Aber heute ist Freitag. Klavierunterricht habe ich nur montags und mittwochs.“ Und Gesangsunterricht dienstags und donnerstags. Das Wochenende bot mir die einzige Möglichkeit, mich mal etwas für mich zurückzuziehen, auch wenn ich das Anwesen nicht verlassen durfte. „Dein Klavierspiel am Mittwoch war eine reine Farce. So viel Geld, wie wir ausgeben, um dein Talent zu fördern, dulde ich es nicht, wenn du dich nicht zunehmend verbesserst.“ Angriffslustig hielt mein Vater sein Besteck in der Hand und starrte zu mir herüber. „Ich weiß nicht, was daran so schlimm ist, wenn ich mal einen schlechten Tag habe. Dann wird die nächste Stunde wieder besser. Deswegen brauche ich noch lange keinen Extraunterricht“, brauste ich auf. Nun legte mein Vater das Besteck beiseite und stand auf. Mit gefalteten Händen hinter dem Rücken blieb er direkt neben mir stehen, sodass ich zu ihm hinauf blicken musste. „Ich dulde deine jugendliche Leichtigkeit nicht, Janet. Wir sind die angesehenste Familie in London und müssen uns in der Gesellschaft gut repräsentieren. Nächstes Wochenende sind wir zu einer privaten Feier des Bürgermeisters eingeladen worden. Und dort wirst du, ihm zu Ehren, Klavier spielen. Daher verstehst du sicher, dass ich dein halbherziges Geplänkel auf den Tasten nicht akzeptieren kann. Also isst du jetzt auf und begibst dich danach ins Musikzimmer. Haben wir uns da verstanden?“
******
Das restliche Mittagessen mit meinen Eltern war schweigend verlaufen. Denn ich hatte nichts mehr zu erwidern. Meine Eltern wollten mir nicht zuhören. Sie wollten nicht akzeptieren, dass ich eine bereits erwachsene Frau war, die immer noch im Anwesen ihrer Familie lebte. Und das nur, weil sie es so wollten. Wenn es nach mir ginge, hätte ich mir längst eine kleine Wohnung zusammen mit Cassidy genommen. Aber das würde natürlich niemals passieren. Wieder rutschte ich von den Tasten ab und erntete einen stechenden Blick von meiner Mutter. Sie saß in einem Sessel gegenüber des Flügels und beobachtete mich während des Unterrichts ganz genau. Auch das war neu. Ich stand so dermaßen unter Kontrolle, dass ich mich kaum konzentrieren konnte. „Ms. Janet, lassen Sie uns noch einmal von vorne beginnen. Die Mondscheinsonate von Beethoven ist sicherlich nicht das leichteste Stück. Aber ich weiß, dass Sie das besser können.“ Pierre lehnte sie gegen den Flügel und zählte leise bis Drei. Dann begann ich das Stück von vorne. Während meine Finger wieder über die Tasten flogen, verirrten meine Gedanken sich aber wieder woanders hin. Ich konnte gut Klavierspielen. Ich hatte es bereits mit sechs Jahren gelernt. Aber zwischen können und wollen lag ein himmelweiter Unterschied. Früher hatte mir das Spielen Freude bereitet. Heute war es nur eine weitere Strafe, die ich in diesem Familiengefängnis hier abarbeiten musste. „Erde an Ms. Janet. Also bitte, so wird das nichts.“ Genervt ließ Pierre sich plötzlich neben mich auf die Sitzbank sinken. Auch meine Mutter war derweil aufgestanden, was ich nicht mitbekommen hatte. „Scheinbar ist es dir nicht ernst genug, dass der Bürgermeister uns höchstpersönlich eingeladen hat.“ Ihre Stimme war mal wieder etwas zu hoch. Das ließ darauf schließen, wie sauer sie war. „Wenn du dich nicht mehr bemühst, wird Pierre die ganze Nacht hier mit dir üben, bis du es endlich begriffen hast. Ich werde nicht zulassen, dass du unseren Namen in der Öffentlichkeit ruinierst.“ Sie nahm die Tasse Tee entgegen, die Trudence gerade hereinbrachte und setzte sich wieder auf den Sessel. „Oh, nein. Wie könnte ich es wagen?“ Meine Stimme triefte nur so vor Sarkasmus. Pierre schaute mich mit großen Augen von der Seite an. Das Geschirr klimperte, als meine Mutter eingeschnappt ihre Tasse auf den Unterteller knallte. „Was hast du gerade gesagt? Ich denke, ich habe mich verhört!“ Wir lieferten uns ein Blickduell, bis ich letztlich, wie immer, nachgab und mich zu Pierre umdrehte. „Also, wenn Sie dann soweit sind. Ich beginne und Sie steigen ein.“ Er stimmte die ersten Töne an und ich stieg, wie er es wollte, mit ein. Diesmal konzentrierte ich mich ausschließlich auf die Tasten vor mir und den lieblichen Klang, der aus dem Flügel ertönte. Es war ein großartiges Stück. Das konnte ich wirklich nicht leugnen. Für einen Moment verlor ich mich dann doch im Spiel, was Pierre beeindruckt neben mir summen ließ. Ich machte das einzig und allein deswegen, um den restlichen Abend für mich allein genießen zu können. Ich musste meine Gedanken ordnen und konnte es wirklich nicht vertragen, noch länger für den heutigen Tag herumkommandiert zu werden.
„Wie kommst du drauf, dass sich hier illegale Drogenlieferungen abspielen?“ Es war mitten in der Nacht und Sean und ich saßen in meinem Wagen und beobachteten den Hintereingang des örtlichen Policedepartments. Sean nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette, bevor er den Rauch durch den schmalen Fensterschlitz nach draußen entließ. „Ich beobachte das hier schon ´ne Weile. Ist eines Abends von Zac entdeckt worden, als er mal wieder in der Ausnüchterungszelle gelandet ist. Hat mir die Idee für 500 Pfund verkauft. Scheint sich zu lohnen.“ Er deutete mit seinem Finger zum Hintereingang, als dieser sich plötzlich öffnete. Aus dem weißen Transporter, der schon eine Weile hier draußen stand, stiegen nun zwei Typen aus. Zwei wirklich brutal aussehende Typen. Ich war ebenfalls groß und breit gebaut. Mich konnte man nicht so leicht umhauen, aber so wie es aussah, mussten wir uns gleich jeder ein Eins-gegen-Eins liefern. Das würde mit diesen Hobbypumpern nicht gerade leicht werden. Wir beobachteten, wie sie mit einem Polizisten sprachen, bevor dieser wieder nach drinnen verschwand. „Bist du dir sicher, dass hier noch was passiert? Sieht nicht gerade vielversprechend aus.“ Auch ich nahm nun einen tiefen Zug von meiner Zigarette. „Warte ab. Der Bulle holt jetzt die konfiszierten Drogen dieser Woche. Ist meistens echt ´ne Menge. Und dann vertickt er das Zeug an die beiden.“ Sean schnippte seinen Stümmel aus dem Fenster und zog seine Lederhandschuhe über. Prompt ging auch wieder die Tür auf und der Polizist brachte eine große Box zu dem Transporter. „Und willst du jetzt die beiden oder den Polizisten überfallen? Dann sollten wir los, oder nicht?“ Irritiert sah ich zu Sean herüber, der ein überhebliches Grinsen nicht unterdrücken konnte. „Sie packen gleich die Kiste in den Transporter. Aber für die Bezahlung gehen sie immer rein. Haben also ein Zeitfenster von zwei Minuten, um den Transporter aufzubrechen.“ Das erklärte, was vorhin in der Sporttasche geklirrt hatte, als er sie auf meinen Rücksitz geworfen hatte. Da drin war wahrscheinlich ein Brecheisen und andere Werkzeuge. Tatsächlich schlossen die Typen die Kiste in dem Transporter ein und folgten dem Polizisten dann ins Policedepartment. Kaum war die Tür hinter ihnen zugefallen, sprang Sean aus dem Wagen. Er nahm die Tasche von der Rückbank und hechtete geduckt über die Straße zu der kleinen Einfahrt. Ich hingegen verließ gemächlich den Wagen und streckte meinen Rücken durch. Ich bereitete meinen Körper schon einmal darauf vor, gleich ein paar Schläge einstecken zu müssen. „Kommst du jetzt oder was?“, zischte er mir aus der Einfahrt entgegen. Sean hatte bereits die Brechstange in der Hand und machte sich an den hinteren Türen zu schaffen. Er war nicht schmächtig, aber auch nicht so breit, wie ich. Ich sah ihm genau an, wie viel Mühe es ihn kostete, sich mit seiner ganzen Kraft gegen das Eisen zu stemmen „Geh mal weg da.“ Ich schubste ihn leicht zur Seite und übernahm die Brechstange. Mit einem kräftigen Ruck verbeulte ich die Tür. Mit einem weiteren sprang sie auf. „Okay, Hulk. Hab´s verstanden“, lachte Sean leicht und stieg in den Transporter. „Ach du Scheiße. Das ist ja noch besser, als ich dachte.“ Auch ich warf nun einen Blick hinein. Die Kiste, die die Typen gerade bekommen hatten, war offenbar nicht die einzige. Denn es standen noch vier weitere im Transporter. „Scheinbar haben die Kerle nicht nur Verbindungen zu diesem Department hier“, schlussfolgerte ich. Sean stand bereits die Geldgier ins Gesicht geschrieben, als er zwei Kisten stapelte und sie mir reichte. „Los, bring das zum Auto. Ich komm nach.“ Verunsichert warf ich noch einen Blick zu der Hintertür, doch nach wie vor war alles ruhig. Also beeilte ich mich mit ausladenden Schritten zum Auto zu kommen. Ich trat aus den hohen Häuserwänden heraus, bevor ich die Straße zu meinem Wagen überquerte. Ich riss gerade die Hintertür auf, als Geschreie aus der Einfahrt zu mir herüberdröhnte. Mit dem Blick über die Schulter sah ich, wie die zwei Typen aus der Tür kamen und in den Transporter sprangen. FUCK. Schnell schmiss ich die Boxen auf die Rückbank und eilte zurück zur Einfahrt. Der Polizist verschloss hektisch die Hintertür. Er würde sich hier nicht einmischen. Denn dann würde ja schließlich auffallen, dass er ein korruptes Schwein war. Aus dem Transporter ertönten bereits die derbsten Beleidigungen und eindeutige Schläge waren ebenfalls zu hören. Ohne zu zögern riss ich den ersten Typen an seinen Shirt rückwärts aus dem Wagen. Er landete direkt vor mir auf dem Boden und rappelte sich schneller auf, als gedacht. Er war ein Stück größer als ich. Direkt ging er auf mich los, doch bevor er es kommen sah, verpasste ich ihm einen heftigen Schlag gegen seinen Kehlkopf. Er griff sich mit geweiteten Augen an den Hals, als ihm die Luft wegblieb. Aus dem Transporter ertönte weiterhin Gerangel. Mit einem kurzen Blick ins Innere sah ich, dass es für Sean nicht gerade gut aussah. Also setzte ich direkt nach und der Typ vor mir kassierte den nächsten Schlag gegen die Schläfe. Mit einem lauten Rumsen ging er zu Boden. Das würde ihn sicherlich aber nur für ein paar Sekunden ausknocken. Ich sprang ins Innere des Transporters und riss nun den anderen Typen zurück. Seans Gesicht war bereits blutüberströmt. Was hatte er sich bei diesem Überfallkommando bloß gedacht? Seine Jobs waren doch sonst nicht so schlecht durchdacht. Der Kerl wehrte sich heftiger als gedacht und wir landeten beide auf dem Asphalt, als er versuchte mir einen Schlag zu verpassen und wir aus dem Wagen stürzten. Dann gelang es ihm tatsächlich, mir einen Kinnhaken zu verpassen, der mich für zwei Sekunden Sternchen sehen ließ. Diese Sekunden ermöglichten es ihm, sich auf mich drauf zu setzen. Er presste seine Hände um meine Kehle und drückte zu. „Was habt ihr Pisser euch gedacht, uns zu überfallen? Wisst wohl nicht, mit wem ihr es zu tun habt, was?“ Ich boxte ihm mehrfach gegen die Rippen und man hörte es eindeutig knacken, doch er ließ sich nicht beirren. Sein Griff um meinen Hals wurde nicht lockerer und so langsam ging mir die Luft aus. Doch dann hallte plötzlich ein Schuss durch die Nacht. Meine Kehle wurde wieder freigegeben und der Typ auf mir fiel mit einem lauten Schmerzensschrei zur Seite. Er hielt sich dem Oberschenkel, aus dem das Blut sickerte. In der Dunkelheit der Nacht sah es fast schwarz aus. Ich kam auf die Beine und musterte Sean, der mittlerweile vor dem Transporter stand und weiterhin die Waffe auf den Typen richtete. „Nimm die anderen Kisten, Hunter.“, befahl er mir mit einem hasserfüllten Ton, den ich an ihm noch nie gehört hatte. In dem Moment ertönte von rechts ebenfalls das Entsichern einer Waffe. Der Typ, den ich zuvor K.O. geschlagen hatte, lag immer noch am Boden , aber richtete nun ebenfalls eine Waffe auf uns. Das würde definitiv nicht gut ausgehen. „Komm schon, Sean. Wir haben ohnehin schon mehr eingesackt, als wir geglaubt haben, zu bekommen. Lass uns abhauen.“ Langsam entfernte ich mich vom Transporter und auch Sean lief rückwärts aus der Einfahrt, immer noch die Waffe auf die beiden Typen gerichtet. Als wir den Bordstein erreichten, hechteten wir anschließend über die Straße in meinen Wagen. Mit quietschenden Reifen fuhr ich davon, bevor diese Typen sich noch überlegten, uns zu folgen. „Sah kurz mies für dich aus. Hättest auch deine Waffe ziehen können“, motzte Sean, während er sich das Blut unter seiner Nase wegwischte. „Dir ist aber schon klar, dass wir einen Transporter direkt neben einer Polizeistation überfallen haben, oder? Die Schüsse hätten echt unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich ziehen können“, knurrte ich nun zurück. Wir hatten wirklich mehr als Glück gehabt. Hätte ich nicht ein paar sitzende Schläge gelandet, hätten uns die beiden Kisten auf meiner Rückbank auch nicht weiter geholfen. „Schon gut, man. Fahr ins Temptation zu Bronco. Er kauft die Ware. Er wird sich freuen, dass er mehr bekommt, als erwartet.“ Ich trat ein bisschen mehr aufs Gas und nahm die Auffahrt zur Autobahn. Schweigend fuhren wir durch die Nacht und keine zehn Minuten später hielt ich bei Bronco vor dem Laden. „Willst du mitkommen?“ Sean hielt noch einmal seinen Kopf in den Wagen und musterte mich. „Ich warte hier. Beeil dich. Kylie ging es heute nicht gut. Jede Minute, die ich früher wieder zu Hause sein kann, hilft mir.“ Ich konnte genau sehen, wie der Blick in Seans Augen kurz weich wurde. Dann nahm er die Kisten und verschwand ins Temptation. Er hatte es noch nie laut zugegeben, aber in dem Jahr, als Scarlett und ich bei ihm gewohnt hatten, hatte ich gemerkt, dass er eine tiefere Bindung zu Scarlett aufgebaut hatte. Da sie sich nie hatte etwas anmerken lassen, konnte ich nicht genau sagen, ob es auf Gegenseitigkeit beruhte. Aber im Inneren hoffte ich, dass es nicht so war. Ich war Sean dankbar und er war ein guter Freund. Und natürlich auch ein guter Auftraggeber. Denn nur wegen ihm konnte ich unsere kleine Familie durchbringen. Aber wenn ich es mir aussuchen dürfte, würde ich mir für Scarlett einen Mann wünschen, der keine krummen Dinger drehte. Sondern einen vernünftigen Job hatte und ihr einen stabilen Alltag bieten konnte. Auch wenn ich nicht daran zweifelte, dass er mit seiner Art ein guter Mann für Scarlett und ein guter Ersatzvater für Kylie sein könnte. Denn das hatte er in dem Jahr eindeutig bewiesen. In Gedanken versunken ging die Beifahrertür wieder auf und Sean schmiss sich in den Sitz. Er zündete sich eine Zigarette an und hielt mir seine Schachtel hin. Auch ich nahm mir eine. „Wie geht es Scarlett?“, fragte er auf einmal mit ruhiger Stimme. Der Rauch umwaberte uns, während mein Blick nach wie vor auf der Straße vor uns ruhte. „Es ist schwer für sie. Sie ist nicht mehr sie selbst. Die Situation mit Kylie saugt sie aus.“ Diese Worte das erste Mal laut von mir selbst zu hören, ließ meinen Magen krampfen. „Kann ich was für euch tun?“ Nun sah ich zu Sean herüber. „Versorg mich weiter mit Aufträgen, damit ich weiterhin Geld nach Hause bringe. Das sollte fürs Erste reichen.“ Leicht verzog ich meine Lippen zu einem Lächeln. Sean nickte in sich hinein. „Ich hab einen Großauftrag. Wollte dir schon längst davon erzählen, wären diese Brüllaffen nicht gerade dazwischen gekommen.“ Ich wurde hellhörig. „Schon mal was von Familie Middleton gehört?“, fragte er mich dann. Überrascht riss ich die Augenbrauen nach oben. „Wer hat das nicht?“, stellte ich ironisch die Gegenfrage. „Besitzen ein Gemälde…ein Unikat von dem ersten Premierminister Englands. Robert Walpole aus 1721. Der Auftraggeber auf den Bahamas zahlt dafür 20.000.000 Pfund.“ Kurz klappte mir die Kinnlade runter. „Dass das Anwesen der Middletons das Bestbewachteste in England ist, ist dir aber klar, oder?“ Sean zuckte mit dem Schultern. „Lassen uns was einfallen. Haben´s doch immer irgendwie geschafft. Haben vier Monate Zeit.“
Ich stand vor dem bodentiefen Spiegel in meinem begehbaren Kleiderschrank und musterte meinen Körper in dem champagnerfarbenen Kleid. Trudence war hinter mir sehr bemüht, die aufwändige Schnürung am Rücken zu binden. Es war wirklich ein schönes Kleid. Es hatte schmale Träger und verlief eng, dennoch fließend an meinem Körper entlang. Die Farbe unterstrich das Strahlen meiner hellblauen Augen. Doch das Strahlen war nur äußerlich. Es kam nicht von innen. Heute war der Museumsabend. Und es war das erste Mal, dass meine Eltern mich mit in die Öffentlichkeit nahmen. Überall würden Kameras sein, nervige Reporter, die Fragen stellen würden. Auch wenn meine Eltern mich auf diesen Abend vorbereitet hatten, fühlte ich mich noch lange nicht bereit. Ich hatte keine Lust von irgendwelchen Fremden wie ein seltenes Kunstwerk betrachtet zu werden. Davon sollte es am heutigen Abend in den Museumshallen eigentlich genug geben. Mit einem erschöpften Schnaufen richtete sich Trudence hinter mir auf. „Ist es so in Ordnung, Ms. Janet?“ Ihr Gesicht war hochrot. Ich drehte mich seitlich zum Spiegel und bewunderte die Schnürung. Keine Schlaufe war enger oder weiter geknotet, als die andere. Sie saßen wirklich perfekt. „Vielen Dank, Trudence. Das wäre dann alles.“ Mit einem Nicken verabschiedete sie sich aus meinem Zimmer. Ich stieg derweil in die dazugehörigen goldenen Sandalen. Sie hatten einen mittelhohen Absatz und schmale Riemchen. Dazu nahm ich eine passende Clutch. Alles Sachen, die meine Mutter mir hatte besorgen lassen. Meine Haare fielen in meinen üblichen blonden, wilden Locken bis zur Schulter. Wenigstens eine Sache wollte ich von mir selbst behalten. Ich wusste ganz genau, dass es meinen Eltern ein Dorn im Auge sein würde, denn sie würden sicherlich eine aufwendige Hochsteckfrisur erwarten. Aber dafür war ohnehin keine Zeit mehr. Ich legte noch einen leichten Gloss auf den Lippen auf. Dann atmete ich noch einmal durch und straffte die Schultern, bevor ich mein Zimmer verließ. Ich lief die geschwungene Wendeltreppe in unserem Haus hinunter und traf auf meine Eltern in der Eingangshalle. Meine Mutter trug ein hellgrünes Damenkostüm. Ihre blonden Locken waren selbstverständlich zu einer Hochsteckfrisur frisiert. Mein Vater half ihr gerade in einen leichten weißen Sommermantel. Mit klackernden Schritte näherte ich mich ihnen, bevor ihr Blick auf mir strandete. „Janet, Kind. Du weißt ich liebe deine Locken, aber hättest du dir nicht, wie deine Mutter, eine glamouröse Frisur stecken lassen können?“, tadelte mich mein Vater direkt. Überraschenderweise legte meine Mutter ihre Hand an seinen Unterarm. „Schon in Ordnung, Lawrence. Ich finde unsere Tochter sieht bezaubernd aus.“ Tatsächlich streifte mich ihr warmer Blick, in welchem ein Funke Stolz aufkeimte. Soetwas hatte ich schon lange nicht mehr in ihren Augen gesehen. Mein Vater verbiss sich jeglichen Kommentar und wandte sich zur Eingangstür. Wir verließen unser Anwesen und prompt fuhr Andre mit unserer weißen Limousine vor. Natürlich konnte es keine schwarze Limousine sein, mit der man einfach in der Dunkelheit des Abends verschwand. Nein, sie musste weiß sein, damit auch alle sahen, dass Familie Middleton anrückte.
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Die Limousine hielt direkt vor dem neuen Museum The Old and Valuable. Weiße Steintreppen führten zum Eingang hinauf, wo eine große Drehtür, die von goldenen Verzierungen geprägt wurde, ins Innere führte. Das Gebäude war aus großen weißen Sandsteinen gebaut und der Name prangte ebenfalls in goldenen großen Buchstaben direkt über dem Eingang. Vier Steinsäulen zierten den Eingangsbereich, über denen eine Art weißes Zeltdach gespannt war. Vom Gehweg bis zu den Treppen und hinauf zum Eingang lag ein roter Teppich. Der Bereich war mit Absperrbändern abgetrennt und überall standen breit gebaute Männer in schwarzen Anzügen, die den Bereich im Blick hatten. Trotzdem tummelten sich direkt hinter den Absperrbändern neugierige Gäste und Reporter. „Wir werden würdevoll über den Teppich schreiten und uns nicht aufhalten lassen“, sprach mein Vater nun, als Andre den Motor abstellte und sich bereits vor unserer Tür positionierte. „Wir werden immer höflich lächeln, uns aber in kein Gespräch verwickeln lassen. Du wirst vorangehen, Janet.“ Schockiert riss ich die Augen auf. „Ich..ich werde vorangehen?“, stotterte ich. „Damit wir dich im Blick haben. Sollte sich ein Reporter rüpelhaft verhalten, können wir besser einschreiten, als wenn du dich hinter uns befindest.“ Ernst suchte er meinen Blick, dem ich versuchte, Stand zu halten. Dann klopfte er zweimal von Innen an die Scheibe, was Andre zum Anlass nahm, die Tür nun zu öffnen. Auf zittrigen Knien verließ ich den Wagen und wurde von einem Blitzlichtgewitter empfangen. Immer lächeln, betete ich mir innerlich vor. Ich streckte den Rücken durch und lief geschmeidigen Schrittes über den roten Teppich. Mein gekünzeltes Lächeln erreichte nicht meine Seele, aber es war für die anderen offenbar nicht sichtbar, denn sie konnten nicht genug Bilder von mir machen. Ich fokussierte meinen Blick auf die Drehtür, damit mich dieses penetrante Geblitze nicht ins Wanken brachte. „Ms. Janet. Eine Frage. Janet Middleton, wie ist es, dass Sie endlich das Anwesen verlassen können? Ms. Middleton stimmt es, dass Ihre Eltern einen Ehemann für Sie suchen werden? Wie fühlen Sie sich als Familienerbin?“ Zig Fragen wurden mir einfach zugeschrien, die ich ignorierte. So wie meine Eltern es mir zur Aufgabe gemacht hatten. Aber es war klar, dass mein erster Öffentlichkeitsbesuch so viel Aufmerksamkeit erregen würde. Ich stieg die Treppen empor und langsam ließ ich das Stimmengewirr hinter mir. Als ich durch die Drehtür trat, hatte ich endlich das Gefühl, wieder atmen zu können. Direkt bestaunte ich das imposante Gebäude von Innen. Die hohen Wände, die mit goldenen Verzierungen und Stuck übersäht waren, zogen meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich konnte dennoch die Blicke der anderen Anwesenden spüren. Sie stammten ebenfalls aus der feinen Gesellschaft, weshalb sie sich nicht so aufdringlich, wie die Reporter draußen verhalten würden, aber dennoch konnte ich sehen, dass sie hinter vorgehaltener Hand tuschelten. Mein Vater trat an meine Seite und legte seine Hand an meinen unteren Rücken. Mit einem leichten Druck trieb er mich weiter vorwärts. „Das hast du wirklich gut gemacht, Janet“, sprach er leise. Wir durchquerten die Halle, bis wir durch einen Durchgang, zu dessen Seiten dunkelblaue Vorhänge hingen, in eine Art Haupthalle traten. Auf einem Podium, welches ebenfalls von roten Absperrseilen an goldenen Ständern umringt wurde, standen vier gepolsterte Stühle. Ein älterer Herr, ebenfalls in einem maßgeschneiderten Anzug gekleidet, eilte auf uns zu. „Mr. Middleton. Ich freue mich, Ihre Familie und Sie hier begrüßen zu dürfen.“ Geschäftig reichte mein Vater ihm die Hand. „Das ist meine Frau, Mrs. Ophelia Middleton. Und das meine Tochter, Ms. Janet Middleton“, stellte mein Vater uns ebenfalls vor. „Meine Freude ist wirklich in allem Maße überschwänglich, meine Damen. Mein Name ist Gordon Daenburt, Leiter und Besitzer dieses fabelhaften Museums, in dem wir einige Ihrer wirklich wertvollen Familienerbstücke ausstellen dürfen.“ Meine Mutter und ich machten einen leichten Knicks. Denn das erwartete mein Vater von uns. „Kommen Sie doch bitte mit herüber und setzen sich.“ Wir folgten Mr. Daenburt zum Podium. „Darf ich Ihnen Wasser oder etwas Champagner anbieten? Bedienen Sie sich gerne.“ Er zeigte auf das Tablett, welches auf einem Tisch zwischen den Sitzen bereit stand. „Wir werden nun die Gäste hinzubitten und dann werde ich die Eröffnung einleiten. Wir werden Sie vorstellen und Sie dürfen gern selbst einige Worte an die Gäste richten. Wäre das in Ordnung für Sie?“ Mein Vater richtete seine Krawatte. „Aber selbstverständlich.“ Ich setzte mich kerzengerade in die Mitte meiner Eltern und beobachtete das Treiben in den Museumshallen. Ich würde nicht eher sprechen, bevor mein Vater mich nicht dazu aufforderte. Ich würde hier wie eine Statue sitzen. Immer freundlich lächeln, die Beine überschlagen und graziös von meinem Champagnerglas nippen. Eben genau so, wie meine Eltern es mir Tag um Tag eingebläut hatten. Ich sollte sie schließlich nicht enttäuschen, geschweige denn unsere Familie in der Öffentlichkeit bloßstellen. Das waren ihre verletzenden Worte an mich gewesen. Denn etwas anderes außer Ansehen zählte für sie nicht. Es zählte nicht, dass ich nie eine Jugend wie andere Frauen in meinem Alter gehabt hatte. Dass ich mich nicht so entdecken und ausleben konnte, wie andere. Dass ich mich auf diesem Event äußerst unwohl fühlte. Und vor allem, dass ich mich von meinen Eltern unverstanden und ungeliebt fühlte. Sie behandelten mich wie eine Marionette, ganz gleich, wie es wohl in meinem Inneren aussah. Manchmal fragte ich mich wirklich, aus welcher Intention heraus sie ein Kind gezeugt hatten. War es wirklich aus Liebe gewesen? Vielleicht war ich auch nur ein Unfall gewesen. Aber höchstwahrscheinlich hatten sie ohnehin einen Jungen zeugen wollen, der die Familiendynastie irgendwann übernahm. Ich spürte den leicht gereizten Blick meiner Mutter. Offenbar war mein perfekt einstudiertes Lächeln verrutscht, als ich in meine Gedanken abgedriftet war. Deswegen nahm ich einen erneuten Schluck von der prickelnden Flüssigkeit in meinem Glas, bevor ich wieder in die fremden Gesichter vor mir lächelte.
Ich stand in der Küche und hantierte für das Abendessen. Das war eindeutig ein ungewohntes Bild in diesem Haus, aber ich hatte heute Abend frei. Nach dem kleinen Desaster von heute Nacht hatte Sean mir tatsächlich 4.000 Pfund von den 6.000 Pfund überlassen. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass wir wegen seinem undurchdachten Plan einige Umstände hatten in Kauf nehmen müssen oder ob es daran lag, dass seine Gefühle durcheinander gekommen waren, weil es meiner Schwester schlecht ging. Diese saß mit Kylie auf dem Sofa und hatte den Fernseher eingeschaltet. Heute war sie etwas besser drauf als gestern. Sie würde es niemals laut zugeben, aber es tat ihr gut, dass wir den heutigen Abend zusammen verbringen würden. Zumindest, bis die beiden sich Schlafen legen würden. Ich hatte vor, mit Sean und Zac noch ins Obsessed zu gehen und mal wieder ein bisschen zu feiern. Endlich mal wieder eine Frau spüren. Denn es war klar, dass ich eine aufreißen würde. Ich lechzte geradezu danach, Sex zu haben. Schwungvoll wendete ich das Fleisch in der Pfanne, bevor ich den Ofen etwas runterdrehte. Normalerweise aßen wir zusammen an unserem kleinen runden Tisch in der Küche, aber Scarlett wollte unbedingt die Live-Übertragung der Museumseröffnung in Knightsbridge verfolgen. Die Eröffnung, wo selbstverständlich auch wieder die Middletons anwesend sein würden. Lawrence und Ophelia, wenn ich es richtig im Kopf hatte. Scarlett sprach ständig über diese Leute, weil sie jeden Klatsch und Tratsch verfolgte. Ausnahmsweise hatte ich mich dazu bereit erklärt, diesen Mist mit anzusehen. Schließlich war es das Anwesen jener, in welches in einsteigen sollte. Vielleicht konnte ich irgendwas über sie lernen. Ich verteilte die Schnitzel neben dem Salat auf den Tellern und schnitt für Kylie alles klein. Dann brachte ich den beiden ihr Essen. Beide saßen im Schneidersitz auf dem Sofa und hatten ein Kissen auf dem Schoß, auf den sie den Teller stellten. Wie auf Autopilot nahm Scarlett das Essen entgegen, weil sie schon viel zu gebannt vom Fernseher war. Im Bild war eine weiße Limousine zu sehen, die an einem roten Teppich hielt. Ich holte gerade meine Portion aus der Küche, als Scarlett quietschte: „Oh mein Gott. Hunter! Sieh dir das nur an!“ Gemächlich schlenderte ich wieder zurück zu den beiden. Scarlett war vor Aufregung soweit an die Kante gerutscht, dass ich aufpassen musste, dass sie nicht gleich runterfiel. Ich setzte mich in den Sitzsack neben sie und presste automatisch meine Hand gegen ihren Oberkörper. „Das ist sie! Die Tochter! Oh Gott, wie aufregend. Noch nie hat sie wer gesehen“, quietschte sie weiter. Auch Kylie machte große Augen und das Essen, welches sie bereits auf ihre Gabel gepiekst hatte, fiel wieder runter. „Mama, sie ist sooo hübsch!“ Nun wandte ich meinen irritierten Blick auch dem Fernseher zu. „Ja, Süße. Das ist sie. Aber nicht so hübsch wie du“, hörte ich die beiden hinter mir noch kichern. Über den roten Teppich schritt eine junge Frau. Ihre hellblauen Augen strahlten im Blitzlichtgewitter der vielen Kameras. Sie hatte blondes lockiges Haar und trug ein goldschimmerndes Kleid. Anmutig lief sie dem Museum entgegen, ohne die anderen zu beachten. Ihr Gesicht war bildschön. Das musste ich zugeben. Aber sie war vielleicht Anfang Zwanzig. Und trotz ihres aufgesetzten Lächelns konnte man genau sehen, dass sie für diese Situation nicht gemacht war. „Oder Hunter?“, drang die aufgeregte Stimme meiner Schwester in mein Ohr. Scheinbar hatte sie mich was gefragt. Verwirrt sah ich vom Bildschirm weg und sah sie an. „Ich habe gesagt, sie ist wirklich bildschön, oder?“, wiederholte sie. Unberührt zuckte ich mit den Schultern. „Kann schon sein.“ Ich schnitt ein dickes Stück von meinem Steak ab und steckte es in meinen Mund. „Aber Onkel Hunter. Sie ist eine Prinzessin“, beschwerte Kylie sich nun. Völlig empört sah sie mich mit ihren roten Pausbäckchen an. Ein Schmunzeln umspielte meine Lippen. „Die einzigen Prinzessinnen, die ich hier sehe, sind du und deine Mum“, zwinkerte ich ihr zu, was sie wieder kichern ließ. „Ich habe aber nicht so schöne Kleider“, nuschelte Kylie, während sie sich ein Salatblatt in den Mund schob. „Das brauchst du auch nicht, Baby. Du bist auch ohne wunderschön.“ Wieder strahlten ihre großen Augen mir herzerwärmend entgegen. Beide widmeten sich wieder dem Fernseher und bestaunten die Tochter der Middletons. Beiläufig ließ auch ich immer wieder meinen Blick zum Bildschirm schweifen.
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Janet
Im Spiegel der Museumstoilette starrte ich mich an. Ich hatte die Arme auf den Waschtisch gestützt und atmete durch. Diese Veranstaltung war anstrengend. Wieso hatten mich meine Eltern nicht eher an die Gesellschaft gewöhnt, oder eher gesagt, mich ihnen gezeigt? Diese Welt hier stürzte einfach über mir herein, ohne dass ich es aufhalten konnte. Ich schaute wieder auf mein Handy. Ich hatte Cassidy einige Nachrichten geschrieben. Sie hatte alle gelesen und alle ignoriert. Nichts lieber würde ich jetzt machen, als mit ihr den Abend zu verbringen. Ich verließ wieder die Toilette und wartete darauf, dass Andre mich direkt in Empfang nahm. Doch er stand nicht mehr neben der Tür. So ganz und gar untypisch für ihn. Er stand ein paar Meter weiter mit dem Rücken zu mir und unterhielt sich mit einer Frau. An seiner Haltung war ihm anzusehen, dass ihm die Frau offenbar zu gefallen schien. Gerade wollte ich auf ihn zugehen, als mich ein kalter Luftzug erwischte. Neben den Toiletten war eine Notausgangstür mit einem Keil aufgestellt worden, da scheinbar ein Getränkelieferant Nachschub für den Abend brachte. Und ehe ich begriff, was ich eigentlich vorhatte, entfernte ich mich rückwärts von Andre und rannte anschließend durch die Notausgangstür. Der Weg endete direkt an der Hauptstraße. Zügig überquerte ich sie über die gerade grüne Fußgängerampel und lief in den Hyde Park Rose Garden hinein. Er war wunderschön beleuchtet und es war noch einiges los. Ich nahm direkt die erste Abzweigung und versteckte mich zwischen ein paar Rosenbüschen. Ich schrieb Cassidy eine Nachricht mit Ich brauche dringend deine Hilfe!