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Steffen Jacobsen

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Beschreibung

Grausam und perfide - dieses Buch werden sie nicht so schnell vergessen!

Elisabeth Caspersen, steinreiche Erbin eines dänischen Industrieimperiums, findet im Tresor ihres verstorbenen Vaters einen Film, der eine grauenvolle Menschenjagd zeigt. Einer der im Film zu sehenden Jäger hat unverkennbare Ähnlichkeit mit Elisabeths Vater. Um der Sache nachzugehen, heuert sie Michael Sander an, einen exklusiven Privatdetektiv, der auf brisante Fälle spezialisiert ist. Als Sander sich auf die Suche nach der Identität der Opfer macht, stößt er auf eine perfide Welt aus Gewalt und Größenwahn, in der er bald selbst zum Gejagten wird.

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Seitenzahl: 566

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Zum Buch

Elisabeth Caspersen, steinreiche Erbin eines dänischen Industrieimperiums, findet im Tresor ihres verstorbenen Vaters einen Film, der eine grauenvolle Menschenjagd zeigt. Einer der im Film zu sehenden Jäger hat unverkennbare Ähnlichkeit mit Elisabeths Vater. Um der Sache nachzugehen, heuert sie Michael Sander an, ein exklusiver Privatdetektiv, der auf brisante Fälle spezialisiert ist. Als Sander sich auf die Suche nach der Identität der Opfer macht, stößt er auf eine perfide Welt aus Gewalt und Größenwahn, in der er bald selbst zum Gejagten wird.

Zum Autor

Steffen Jacobsen, 1956 geboren, hat lange als Chirurg gearbeitet, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Seine Bücher wurden unter anderem in den USA, in England und Italien veröffentlicht. Er lebt mit seiner Frau und seinen fünf Kindern in Hornbæk.

Lieferbare Titel

BestrafungLügeHybrisSühneSchach mit dem Tod

STEFFENJACOBSEN

TROPHÄE

THRILLER

Aus dem Dänischen von Maike Dörries

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Die Originalausgabe Trofæ erschien 2013

bei People’s Press, Kopenhagen

Vollständige deutsche Erstausgabe 12/2014

Copyright © 2013 Steffen Jacobsen

Copyright © 2014 by Wilhelm Heyne Verlag, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Nike Müller

Das Zitat von Ernest Hemingway stammt aus dem Artikel

»On The Blue Water«, erschienen in: Esquire,1936.

Coverfoto: Johannes Wiebel unter Verwendung

von Mo Ahka | photocase. com und Shutterstock.com (Andrei, pkrzynow)

Covergestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-12428-1V007

www.heyne.de

»There is no hunting like the hunting of man and those who have hunted armed men long enough and liked it, never really care for anything else thereafter.«

ERNESTHEMINGWAY

PROLOG

Finnmark Nordnorwegen

24. März 2010, 18:35

70° 29´ 46. 97 N

25° 43´ 57. 34 O

Als sie ihn fanden, sah er gerade die Sonne hinter dem Fjell westlich des Porsangerfjordes untergehen. Er wusste, dass er sie zum letzten Mal sah. Mit der Dämmerung schob sich die Kälte über das Wasser. Wenige Schritte entfernt fiel die Hochebene steil ins Meer. Sein einziger Ausweg; aber in seiner Verfassung und bei dem schwindenden Tageslicht war es aussichtslos, die hundert Meter hohe, überhängende Felswand abwärtszuklettern. Dies war sein Ende, und er zog es vor, ihm ins Auge zu sehen. Er wollte nicht länger ein gejagtes Tier sein.

Er wusste, dass die Jäger ihn den ganzen Tag auf diesen Punkt zugetrieben hatten: an den Abgrund, der ins Nichts führte. Er stolperte über lose Granitsplitter, warf die leere Jagdflinte weg und hockte sich hinter einen Felsblock, in den der Wind eine bequeme Mulde geschliffen hatte. Wenige Meter neben ihm stürzte ein Bach aus Schmelzwasser von den Gletschern in die Tiefe. Weiß und schäumend schoss er über die Kante und klatschte auf den Uferstreifen unter ihm.

Auf der anderen Seite des Fjords, knapp fünfzehn Kilometer Luftlinie entfernt – in einer anderen Welt –, waren vereinzelt Autoscheinwerfer zu sehen. Er schob die Hände unter die Achseln, legte das Kinn auf die Knie und begutachtete seinen zerfetzten Wanderstiefel, wo die Kugel des Kunden ihn vor mehreren Stunden auf halsbrecherischer Flucht getroffen hatte. Sein Fuß blutete noch immer, es sickerte rot aus dem Loch, aber es tat nicht mehr wirklich weh. Er zog den Stiefel aus und biss die Zähne zusammen, als der mit geronnenem Blut verklebte Strumpf folgte. Dann schob er den Stiefel unter einen Stein und bedeckte ihn mit Erde und Schotter. Vielleicht würde ihn eines Tages jemand finden.

Das waren gute Stiefel. Die Ausrüstung war ohnehin erstklassig. Tarnjacke und Jagdhose, Fleecepulli, Thermounterwäsche, ein Kompass und laminierte Karten über die Finnmark mit den Landzungen, die sich zwischen Porsangerfjord, Laksefjord und Tana Fjord in die Barentssee erstreckten.

Die ersten Sterne und Himmelskörper zeichneten sich an dem dunkler werdenden Himmel ab. Er kannte die Venus, das war alles. Ingrid kannte alle Namen. Pflanzen, Tiere und Sternbilder waren gleichsam in ihren Genen verankert.

Er zog die Hände aus den Achselhöhlen, faltete sie und betete für seine Frau – auch wenn er sonst nie betete. Ingrid musste ihnen entkommen sein. Sie war im Gebirge schneller zu Fuß oder auf Skiern unterwegs, als er es jemals gewesen war, und selbst er hatte es bis hierher geschafft.

Sie hatten sich umarmt, als sie nachmittags die Pfeifen der Jäger gehört hatten, die ihnen verrieten, dass sie aufgespürt worden waren. Er hatte ihre kalten Lippen geküsst und sie von sich geschoben, in das Schmelzwasser unter dem Gletscherrand. Sie wollte ihn nicht verlassen, aber er hatte sie so heftig zurückgestoßen, dass sie fast gefallen wäre. Er wollte sich sichtbar über den Bergrücken bewegen, um sie hinter sich her zu locken, während sie im Schutz des Gletschers bleiben und sich dann später in höheres Terrain begeben sollte. Wenn sie den Rest des Tages und die Nacht durchlief, konnte sie bei Tagesanbruch in Lakselv sein und die Polizei alarmieren.

Ingrid hatte schließlich die Ski untergeschnallt, war wie ein Pfeil den schneebedeckten Hang hinabgeschossen und zwischen den dicht stehenden Krüppelkiefern verschwunden, wo die Jäger sie unmöglich sehen konnten. Sie würde ihnen entkommen.

Das letzte Mal hatte er seine Frau von einem Bergkamm aus gesehen. Fast gleichzeitig waren die Jäger über den nächsten Höhenzug gekommen. Sie hatten die Nachmittagssonne im Rücken und lange Schatten geworfen. Dass auch sie ihn entdeckt hatten, hatte er den schrillen Pfeiftönen entnehmen können, die über das Gelände schallten.

Seit der Geburt der Zwillinge vor zwei Jahren waren sie nicht mehr im Fjell gewesen, doch die Sehnsucht war zu groß geworden. Seine norwegische Frau hatte ihm die öde, nordnorwegische Landschaft nahegebracht, und sie hatten sich ganz spontan zu einem Ausflug entschlossen, als die Wettervorhersage Ende März für die Finnmark stille, wolkenlose Tage vorhergesagt hatte. Er hatte seine Mutter überreden können, auf die Kinder aufzupassen, und dann zwei Plätze im nächsten Flieger von Kopenhagen nach Oslo und weiter von Oslo nach Lakselv gebucht.

Dort hatten sie in dem fast leeren Porsanger Vertshus zu Abend gegessen. Die Saison hatte gerade erst angefangen, und die Wirtin hatte sich über die frühen Gäste gefreut. Sie hatten sich eine Flasche guten Rotwein oben im Zimmer geteilt, sich unter den kalten Bettdecken geliebt und fest und ruhig geschlafen.

Am nächsten Morgen waren sie in nördlicher Richtung am östlichen Ufer vom Porsangerfjord aufgebrochen, bis ein Lastwagen sie bis Väkkärä mitgenommen hatte. Dort waren sie ins Fjell abgebogen. Sie wollten dreißig Kilometer nach Nordnordosten zum Kjæsvatnet oder noch weiter gehen, das Zelt aufschlagen, angeln, fotografieren – einfach ein paar Tage dort verbringen, ehe sie wieder nach Lakselv zurückkehrten.

Ihr Weg führte sie unter der blassen Frühlingssonne durch Düfte, die das zeitige Frühjahr den Pflanzen und Flechten, den tausend Seen und Mooren entlockte, wo schwarzes Eis unter ihren Stiefelsohlen knirschte. Im Kjæsvatnet hatte er ein paar winterträge Forellen gefangen, die schwer, kalt und fest in seinen Händen lagen. Er wickelte sie in Moos und legte sie in den Angelkorb, während Ingrid Feuer machte. Der Frost begann in den Bäumen zu knacken, aber sie saßen zum Essen in ihren Schlafsäcken an Birkenstämme gelehnt, dicht am Feuer, und froren nicht.

Später in der Nacht wurde er von dem dumpfen, regelmäßigen Rotorenknattern eines Helikopters irgendwo weiter östlich wach. Sie hörten häufig Hubschrauber, die Patienten in die Krankenhäuser in Kirkenes oder Hammerfest flogen oder die Mannschaften der Ölbohrinseln in der Nordsee versorgten. Der Verwaltungsbezirk maß ungefähr 700 km im Durchmesser und war spärlich bevölkert, von ein paar kleinen, windgepeitschten Ortschaften an der Küste und den mit ihren Rentierherden herumziehenden Samen abgesehen.

Er schlief wieder ein und konnte im Nachhinein nicht sagen, wovon er das nächste Mal geweckt wurde. Die Fragmente, an die er sich erinnerte, machten keinen Sinn: das Aufblitzen des kalten, sternenklaren Himmels, als die Zeltbahn über ihnen zerschnitten wurde, Ingrids Aufschrei, der beißende Geruch von Ozon, ein blauer, knisternder Blitz. Schmerz und Finsternis. Er konnte keinen Muskel rühren, hatte aber wahrgenommen, wie er in seinem Schlafsack hochgehoben und nach draußen getragen wurde.

Sie waren mit einem Elektroschocker außer Gefecht gesetzt worden, dachte er später. Wie im Film.

Die Konturen eines Helikopters verdeckten den Himmel über ihnen. Sie wurden auf den Boden der Maschine gelegt, die leicht wackelte, als die Männer einstiegen.

Schwerelosigkeit. Transport.

Die Entführer hatten kein Wort gesprochen, nicht mit ihnen und auch nicht untereinander. Kurz darauf beugte sich einer von ihnen mit einer Injektionsspritze in der Hand über Ingrid und stach die Kanüle durch den Schlafsack in ihren Oberschenkel, woraufhin ihr halb ohnmächtiges Wimmern verstummte.

Ein klarer, dünner Strahl kam aus der Nadel der nächsten Spritze geschossen, der Mann kniete sich neben seinen Kopf und tastete nach seinem Arm im Schlafsack.

Er erwachte, nachdem er Ewigkeiten auf ein leuchtendes Rechteck zugeschwommen war, und fand sich nackt auf einem Betonboden hockend. Er zitterte vor Kälte und starrte auf eine Fensteröffnung, die heller war als die Wand. Sein Körper musste aktiv gearbeitet haben, ehe er wieder zu Bewusstsein gekommen war, da er mit aufgestellten Knien dasaß. Seine Hände waren unter dem strammen Kabelbinder, mit dem er gefesselt war, blau angelaufen und geschwollen. Von dem Kabelbinder führte ein Stahldraht zu einem Ringbolzen im Boden.

An einem Ende der Halle lagen Schiefersteine, zwischen Stützbalken aufgeschichtet. Vermutlich befanden sie sich in einem der zahllosen, verlassenen Schieferbrüche im Fjell.

Als er ein Seufzen und das Kratzen von Nägeln auf Beton neben sich hörte, ließ er sich auf die Seite fallen, damit sein Gesicht das Erste war, was Ingrid sah.

Sie lagen so dicht aneinandergedrückt da, wie die Stahldrähte es zuließen, als die Tür aufging und zwei dunkle Gestalten im Türrahmen erschienen, die niedrig stehende Morgensonne im Rücken.

Schlacke knirschte unter ihren Stiefelsohlen, als sie die Halle betraten. Sie ignorierten seine drängenden Fragen auf Dänisch, Englisch und Norwegisch. Aber als er dazu überging, sie zu beschimpfen, wurde eine Pistole an Ingrids Kopf gesetzt.

Der größere der beiden Männer zerrte ihn an den Haaren in Sitzposition, ließ ihn los und zog ihre Pässe aus seiner Jackentasche. Er stellte in korrektem Englisch mit skandinavischem Akzent ihr Alter fest, fragte sie nach ihrem Gewicht, ob sie Medikamente einnahmen, und ob sie wüssten, wie hoch die Sauerstoffsättigung in ihrem Blut sei.

Der ruhige Plauderton des Mannes irritierte ihn. Sein Begleiter nahm die Pistole von Ingrids Schläfe. Er sammelte Spucke und zielte auf den Stiefel des Fragenden.

Der Mann rührte sich nicht, und keiner der beiden sagte ein Wort, dafür landete der Stiefelabsatz des Fragenden mit einem lauten Knall auf Ingrids kleinem Zeh. Sie schrie auf, er zerrte an seinem Draht und kassierte einen Tritt in den Bauch.

Der Mann wiederholte seine Fragen – und bekam diesmal die gewünschten Antworten. Die Vorhängeschlösser wurden geöffnet und die Kabelbinder um ihre Fußgelenke aufgeschnitten, dann wurden sie vom Boden hochgezogen und nach draußen gebracht.

Ingrid musste gestützt werden, aber er wollte selbst gehen.

Auf dem Platz zwischen den Gebäuden des Schieferbruches standen vier weitere Männer mit schwarzen Skimasken, Tarnjacken und an das Hochgebirge angepassten, eisgrau, schwarz und dunkelgrün gemusterten Tarnhosen.

Er sah in die braunen Augen des Mannes.

»Ihr seid echte Helden, was?«, sagte er auf Dänisch.

Die Augen des Mannes verengten sich, und seine Augenwinkel verschwanden in einem Netz aus Lachfalten, antworten tat er aber nicht.

Als die Kabelbinder um ihre Handgelenke aufgeschnitten wurden, drückte er Ingrid an sich. Sie war so klein und zart und versuchte, ihr Geschlecht und ihre kleinen Brüste mit den Händen zu bedecken.

Kleider, Stiefel, Ausrüstung und Proviant lagen auf einem Tisch aus Türblättern auf Sägeböcken. Sie wurden aufgefordert, die Thermounterwäsche anzuziehen, dann T-Shirts, Fleecepullis, Strümpfe, Tarnjacken und Hosen. Der Anführer forderte sie auf, so viel von den Nudeln, dem Müsli und dem Brot auf dem Tisch zu essen, wie sie nur konnten. Das sollte ihre letzte Mahlzeit sein.

Sie seien von einem Kunden gekauft worden, der sie die nächsten vierundzwanzig Stunden durchs Hochgebirge jagen wollte, informierte sie der Anführer mit den braunen Augen. Und dass sie es nicht persönlich nehmen sollten. Der Kunde würde sie nicht kennen und sie ihn auch nicht. Es seien auch noch andere im Spiel gewesen, aber der Kunde habe sich schließlich für sie entschieden.

Ingrid schlug die Hände vors Gesicht, krümmte sich und sagte schluchzend immer wieder die Namen der Zwillinge.

Hinter einem Fenster regte sich etwas. Stand dort jemand hinter der verdreckten, kaputten Scheibe? Das verwischte Oval eines Gesichts, halb beschattet unter einem breitkrempigen Hut.

Im nächsten Augenblick glitt der Mann zur Seite und war nicht mehr zu sehen.

Sie bekämen zwei Stunden Vorsprung, erklärte ihnen der Anführer. Sollten Sie innerhalb des festgelegten Zeitrahmens aufgespürt werden, würde der Kunde sie auf die Art erlegen, die er wünschte. Er zeigte auf einen weißen, frei stehenden Felsen einige hundert Meter entfernt. Am Fuß des Felsens würden sie ein Jagdgewehr mit drei Kugeln im Magazin finden. Diese Waffe stünde zu ihrer freien Verfügung, sagte er und wollte noch wissen, ob sie mit einer Jagdwaffe umgehen konnten?

Er nickte.

Ingrid sackte in sich zusammen, aber er zog sie barsch auf die Füße. Dann führte er sie an den Bunkern mit Schiefersteinen vorbei ins freie Gelände.

Die Sonne löste sich im Osten vom Gebirge, als sie losliefen.

Er sah den Widerschein der Stirnlampen auf den nassen Steinen des Baches, und sein Herz schlug schnell und laut. Seine Blase entleerte sich, und die Wärme breitete sich an den Innenseiten der Oberschenkel aus. Er fluchte, aus Scham und wegen seiner unerträglichen Sorge über Ingrid; das alles war so verdammt unwirklich.

Die Jäger verließen die Dunkelheit, und er schrie ihnen entgegen. Einer zog das Bein nach. Hätte er dieses Schwein doch ins Herz statt in den Oberschenkel getroffen. Ein Licht schien greller und weißer als die Stirnlampen, er schirmte die Augen mit der Hand ab. Eine Kamera. Die perversen Schweine filmten ihn.

Die Jäger blieben einen knappen Meter entfernt stehen und begannen, rhythmisch in die Hände zu klatschen – anfangs noch leise, dann immer lauter. Er beugte sich vor, hob einen Stein auf und warf ihn, ohne zu treffen. Die Schützenkette bestand aus sieben Männern. Die grünen und roten Strahlen der Laserzielfernrohre strichen verspielt über seinen Körper und kreuzten sich über seinem Herzen.

Als sie zu singen begannen, schaltete sein Gehirn ab. Er stand mit dem Rücken zum Abgrund in einer der kargsten, abgelegensten Landstriche der Welt, und seine Henker schrien, stampften und klatschten sich durch Queens We Will Rock You …

BUDDY, YOU’RE A YOUNGMAN, HARDMAN!

SHOUTIN’ INTHESTREET

YOUGOTBLOODONYO’ FACE

YOUBIGDISGRACE

WEWILLWEWILLROCKYOU!

Ihr Gesang wurde immer lauter, und ihre Stiefelsohlen knallten auf den felsigen Untergrund. Schließlich öffnete der Halbkreis sich für den Kunden. Er stolperte mit dem Jagdgewehr in der Hand näher, wirkte aber unentschieden und senkte den Gewehrlauf, um ihn gleich wieder anzuheben.

Er suchte den Blick des Kunden unter der breiten Hutkrempe, um so etwas wie einen menschlichen Kontakt herzustellen, aber der Scheinwerfer der Kamera blendete ihn. Er schirmte das Licht mit den Händen ab, konnte Ingrid aber nirgends entdecken. Eine wilde Hoffnung öffnete seine Kehle, und er schrie laut einen wortlosen Triumph hinaus.

Der Kunde beugte sich zur Seite und übergab sich. Er stützte den Gewehrkolben auf einen Stein und hielt sich am Lauf fest. Der Anführer sagte etwas zu dem Mann, der nickte und sich den Mund abwischte.

Dann wandte der Anführer sich dem Gejagten zu und warf ihm in hohem Bogen etwas zu.

Automatisch griff er nach dem schwarzen, schweren Schnürbeutel und sah die stummen, regungslosen Männer an, ehe er den Beutel öffnete und den Inhalt herausnahm.

Die Welt ging unter, und einen Augenblick später war Kasper Hansen tot.

1

Michael Sander ließ einen Kamm durchs Haar gleiten und rückte die Krawatte zurecht. Er spazierte an einer drei Meter hohen, weißen Mauer entlang, die sich um eine von Dänemarks teuersten Adressen zog: die Wohnungen an der Richelieus Allé in Hellerup gehörten zu der erstrebenswertesten Kategorie zwischen sehr großen Villen und ausgesprochenen Palästen.

Er las das Namensschild, das neben der Pforte in die Mauer eingelassen war und auf dem CASPERSEN stand, versicherte sich in dem blank polierten Messing, dass sein Seitenscheitel richtig saß, legte den Finger auf den Klingelknopf und richtete ein, wie er hoffte, vertrauenswürdiges Lächeln in die Überwachungskamera.

»Wer ist da?«

Die Frage tönte aus einem Lautsprecher im Torpfosten.

»Michael Sander.«

»Einen Augenblick.«

Die Torflügel schwangen auf, und der Perlkies knirschte unter seinen Schuhsohlen, als er die Einfahrt hinaufging.

Lächelnde Delfine spuckten Wasserstrahlen auf eine nackte, ebenso lebendig wie sinnlich wirkende Nymphe im Brunnen vor dem Haus, und eine offene Garage präsentierte das Spielzeug des reichen Mannes: ein himmelblauer Maserati Quattroporte, ein Mercedes Roadster und ein taubengrauer Rolls Royce. Die Nummernschilder lauteten SONARTEK 1–3.

Vor der Haupttreppe parkte ein gewöhnlicher schwarzer Opel.

Michael wurde sich der optischen Täuschung bewusst, der er zum Opfer gefallen war. Vom Eingangstor aus hatte das weiße Gebäude unanständig groß gewirkt, aber da hatte er sich geirrt: In Wirklichkeit war es gigantisch.

Er ging die acht breiten Treppenstufen hinauf und wollte gerade den Türklopfer betätigen, als die Tür sich automatisch öffnete.

Ein graues Augenpaar musterte ihn, ehe sich das dazugehörige Gesicht ein reserviertes Lächeln abrang. Die Frau war groß, hatte einen kräftigen Knochenbau und wirkte weder graziös noch hinreißend. Die Gesichtszüge waren eher grob, aber symmetrisch, und Michael schätzte sie ein paar Jahre jünger als sich selbst.

Sie begrüßte ihn mit einem routinierten Händedruck und stellte sich vor.

»Elisabeth Caspersen-Behncke.«

Dann ging sie ihm voran über die weiß-grünen Marmorfliesen, während Michael sie in Augenschein nahm. Schwarzer Cashmere-Sweater, Perlenkette, anthrazitfarbener Rock und kontrastierende, bordeauxfarbene Strümpfe, die ihn an einen Austernfischer erinnerten. Sie war zu groß, um etwas anderes als flache Schuhe zu tragen, und sie war ein Kopfmensch.

Eine seiner ersten Einteilungen potenzieller Klienten war die Unterscheidung in Kopf- und Körpermenschen. Natürlich gab es Unterkategorien, aber nur selten musste er seinen ersten Eindruck korrigieren. Michael wusste, dass Elizabeth Caspersen-Behncke zum einen Erbin eines kolossalen Familienvermögens war und zum anderen Partnerin in einer der größten und ältesten Anwaltskanzleien Kopenhagens. Schon daher war sie ohne Zweifel und im buchstäblichen Sinn begabt, aber nicht das hatte ihn bewogen, sie der Kategorie Kopfmensch zuzuordnen. Es war die Art, wie ihre Hüfte mit dem Oberkörper und den Beinen zusammenhing, der Hüftschwung, die Haltung, die Schrittlänge. Ob die Gelenke gut geschmiert oder trocken waren.

Seine Frau fragte ihn immer wieder, welcher Kategorie er selbst angehörte, was Michael jedes Mal ein wenig verletzte. Er betrachtete sich eindeutig als Zwischenform; sinnlich, aber rational.

Elizabeth Caspersen ging vor ihm die Treppe hinauf, und es war ein wenig so, als würde er durch ein zoologisches Museum spazieren. Alle Wände waren mit ausgestopften Hirsch- und Antilopenköpfen, Geweihen und Hörnern in allen Formen und Größen geschmückt. Leere Augenhöhlen observierten ihn von allen Seiten, und die Trophäen verströmten einen trockenen, muffigen Geruch.

Am ersten Treppenabsatz streckte ein afrikanischer Löwe seine daumenlangen Krallen nach ihm aus. Über einem Vorderbein des Tieres brach der enorme Kopf durch die Mahagoniplatte, die schwarzen Lefzen waren nach hinten gezogen und entblößten gelbe Zähne, die Mähne war aufgerichtet und der rasende Blick aus den Glasaugen veranlasste ihn, wie angewurzelt stehen zu bleiben.

Die Frau sah sich um.

»Mein Vater hat ihn Louis genannt. Erschreckend, nicht wahr?«

»Absolut, Frau Caspersen-Behncke.«

»Elizabeth reicht, wenn ich Sie Michael nennen darf.«

»Selbstverständlich.«

Er war wie hypnotisiert von dem Tier.

»Stellen Sie sich vor, Sie wären ein kleines Mädchen mit ausgesprochen blühender Fantasie, das spät am Abend noch mal runtermuss, weil es etwas aus der Küche braucht.«

»Ich hätte jede Nacht Albträume gehabt«, antwortete er.

Sie gingen weiter nach oben, bis Michael unter dem etwa drei Meter hohen Porträt des Hausherrn stehen blieb, dem vor kurzem verstorbenen Unternehmer Flemming Caspersen. Das Gemälde war nahezu fotografisch präzise. Die eine Hälfte des Bildhintergrunds zeigte Regale mit alten, goldenen Buchrücken. Caspersen stützte sich in nachdenklicher Positur mit der Hand auf einem runden Tisch ab, auf dem versiegelte Pergamente und vergilbte Manuskripte, Landkarten und aufgeschlagene Folianten lagen, als wäre der Milliardär bei seinem Studium der Nilquellen oder dem Konnex aller Dinge unterbrochen worden.

Hinter dem Milliardär richtete sich ein grauer Grizzly auf, und die Schatten von Tier und Mann verschmolzen vor der Wand. Caspersens viriles, energisches Gesicht war ernst, die Haare standen in kurzen Borsten hoch, der Blick war auf den Betrachter gerichtet, und die erhöhte Position des Bildes sowie seine stattliche Erscheinung sicherten ihm eine königliche Würde. Die Krawatte war dezent graugestreift, der Anzug war ihm auf den Leib geschneidert.

»Mein Vater liebte es, sich als aufgeklärtes Universalgenie der Renaissance darzustellen«, erklärte Elizabeth Caspersen. »Obwohl ich bezweifle, dass er jemals ein schöngeistiges Buch gelesen hat. Er pflegte zu sagen, dass er selbst mehr als genug erlebt hat. Erdichtete Lebensläufe langweilten ihn.«

Michael zeigte auf einen Nashornkopf, der sechs Meter über dem Boden hing. Das Tier schielte dramatisch auf die grauen, flachen Stümpfe, die von seinen Hörnern noch übrig waren.

»Was ist denn mit dem passiert?«

»Vor ein paar Monaten ist im Haus eingebrochen worden. Sie haben die Leiter des Gärtners an die Wand gestellt, die Hörner mit einer Metallsäge abgesägt und sind verschwunden. Meine Mutter war im Krankenhaus, das Haus war also leer. Die Durchführung sei höchst professionell gewesen, meint die Polizei. Eigentlich müssten wir das Tier runternehmen. Ein Nashorn ohne Hörner ist ziemlich witzlos.«

Sie zeigte auf einen Schrank unten neben der Eingangstür. »Sie haben die Eingangstür mit einer Brechstange aufgehebelt und die Alarmanlage mit flüssigem Stickstoff ausgeschaltet.«

Michael lehnte sich über das Geländer und sah sich die cremefarbene Wand unter der amputierten Trophäe an. Tatsächlich waren noch die Flecken von der Leiter zu sehen.

»Zoologische Museen und Privatsammlungen erleben offenbar eine Epidemie an Horndiebstählen«, sagte er. »Angeblich sollen sie alles kurieren können, von Impotenz bis Krebs.«

»Das war ein imposantes Horn«, sagte sie. »Mein Vater hat das Tier ’73 in Namibia geschossen. Es ist ein weißes Nashorn. Oder war.«

»Ich dachte, die ständen unter Naturschutz.«

»Dieses Tier wurde zu Forschungszwecken erlegt, was natürlich ein anderes Wort für Bestechung ist. Mein Vater blieb hartnäckig, bis er seinen Willen gekriegt hat.«

Michael blieb stehen. Das prähistorische Tier weckte ein zartes Mitgefühl in ihm.

»Die Hörner brachten ungefähr acht Kilo auf die Waage und waren ihr Gewicht in Kokain wert«, sagte sie. »Der Straßenpreis ist exakt der gleiche. Zweiundfünfzigtausend Dollar pro Kilo.«

Michael war beeindruckt. Vierhunderttausend Dollar für eine halbe Stunde Arbeit, das war gut. Souverän, könnte man sagen.

»Sonst haben sie nichts mitgenommen?«, fragte er.

»Mutters Schmuck liegt in einem Bankfach, und es ist nie mehr Bargeld im Haus als nötig, um den Gärtner oder die Putzfrau zu bezahlen.«

Sie führte ihn den Flur der oberen Etage entlang. In einem abgedunkelten Schlafzimmer erhaschte Michael einen kurzen Blick auf ein mageres Frauengesicht auf einem Kissen: große Vogelaugen, die zur offenen Tür gewandt waren. Eine Krankenpflegerin war gerade dabei, einen Tropf am Stativ zu befestigen.

»Flemming? Flemming?«

Die Pflegerin schloss die Tür.

Das Rufen verstummte.

»Meine Mutter«, sagte Elizabeth Caspersen. »Alzheimer.«

Michael lächelte mitfühlend.

Sie öffnete die nächste Tür, und Michael flutete blendendes Licht vom Øresund entgegen, der in der Sonne glitzerte.

»Ein wunderschöner Raum, nicht wahr?«, sagte sie.

Die Fenster, die vom Boden bis zur Decke reichten, waren mindestens sechs Meter hoch.

»Fantastisch«, sagte er und beschattete die Augen mit der Hand.

Er erkannte das Interieur der Bibliothek von Flemming Caspersens Porträt wieder. Vor den Regalen in etwa drei Meter Höhe verlief ein schwarzer, kunstschmiedeeiserner Steg, der eine Galerie bildete. Der riesige, ausgestopfte Bär focht weit über seinem Kopf mit den Tatzen.

»Ein Kodiakbär, Alaska ’95«, sagte sie lakonisch.

»Ich beginne zu verstehen, wieso diese Tiere vom Aussterben bedroht sind«, konterte er.

»Sie selbst jagen nicht?«

»Keine Tiere.«

»Mein Vater würde jetzt sagen, dass es ohne die Safariindustrie, zum Beispiel in Afrika, kein Geld für Reservate und Wildhüter gäbe, und dass ohne sie die Wilddiebe dort unten längst alles abgeschossen hätten.«

»Damit hatte er sicher recht«, sagte Michael.

Sie trat an ein Fenster, verschränkte die Arme vor der Brust und kaute an einem Nagel. Das war sicher kein normales Benehmen für eine Rechtsanwältin des Obersten Gerichts, dachte er und stellte sich neben sie, um ihr sozusagen eine Art stumme Stütze anzubieten.

Die hohe, weiße Mauer schirmte den Park von den Nachbargrundstücken ab. Er bemerkte die dünnen Alarmkabel auf der Mauerkrone und diverse weiße Überwachungskameras, die jeden Quadratzentimeter des Grundstückes abzudecken schienen. Am passiven Sicherheitsstandard des Hauses war nichts auszusetzen, soweit er das sehen konnte. Das Problem war allerdings die offene Seite, die zum Wasser ging.

Vor dem Fahnenmast im Park saß ein schwarzer Labrador, die Schnauze in den Frühlingshimmel gereckt, und heulte herzzerreißend.

»Nigger, der Hund meines Vaters«, murmelte Elizabeth Caspersen. »Er sitzt seit seinem Tod dort und heult.«

»Nigger?«

Elizabeth lächelte betrübt.

»Er war kein Rassist. Ihm ging es einzig und allein darum, dass jemand leistete, was von ihm verlangt wurde. Ich glaube, er fand es einfach amüsant, hier in Hellerup nach seinem Hund zu rufen. Laut.«

Michaels Blick verweilte noch immer auf der Gartenmauer mit den Alarmleitungen und den Kameras.

»Haben die Kameras den Einbruch aufgezeichnet?«

»Ja. Zwei Mann kommen um zwei Uhr nachts in einem Gummiboot vom Sund. Kapuzenjacken, Skimasken, Handschuhe. Sie sind über den Rasen hinter das Haus gelaufen, haben die Leiter des Gärtners geholt und die Haustür aufgebrochen.«

»Und Nigger?«

Sie schaute hinunter zu dem trauernden Tier.

»Er hat sich wahrscheinlich gefreut, auch mal einen lebenden Menschen zu sehen. Er ist ein einsamer und sehr freundlicher Hund. Wollen wir uns setzen?«

Er legte die Schultertasche ab und nahm in einem Sessel Platz. Elizabeth setzte sich in den Sessel neben ihn, schlug die roten Beine übereinander, wippte mit dem Fuß und schaute aus dem Fenster.

Er lehnte sich zurück.

Der Fuß wippte immer schneller.

So etwas erlebte er häufiger: Die Unentschlossenheit, ehe man sein Leben und seine Geheimnisse einem Fremden anvertraute. Entweder kneifen sie den Schwanz ein und beenden das Treffen, ehe es richtig in Gang kommt, oder sie lassen sich voll und ganz darauf ein.

Das hier schien etwas dazwischen zu werden.

»Sie waren nicht einfach zu finden«, sagte sie. »Wie bezeichnen Sie sich selbst? Berater?«

»Ja.«

»Sie haben nichts von einem Privatdetektiv«, sagte sie.

»Das nehme ich als Kompliment.«

»Wie bitte? Selbstverständlich. Kaffee? Wasser?«

»Nein, danke«, sagte er.

»Sind Sie verheiratet?«

Ihre Finger fuhren rasch an ihre Perlenkette.

»Sehr glücklich«, antwortete er.

»Ich auch.«

Elizabeth Caspersen lehnte sich zurück und legte die Fingerspitzen auf die Augen.

»Sie beschatten also keine untreuen Ehegatten oder wühlen in fremder Leute Müll herum?«

»Nur am Ende des Monats«, sagte er.

»Entschuldigung … ich …«

Sie errötete.

»Entschuldigung. Mir fällt das alles nicht gerade leicht. Einer der englischen Anwälte meines Vaters hat Sie mir empfohlen. Er hatte von einem Holländer gehört, der Hilfe von einem dänischen Sicherheitsberater in Anspruch genommen hatte. Das war alles sehr geheimnisvoll, und der Holländer hat lange mit seiner Antwort gezögert.«

»Er hat zuerst mich angerufen, bevor er sich bei Ihnen gemeldet hat«, erklärte Michael.

»Ich hätte nicht gedacht, dass es Leute wie Sie in Dänemark überhaupt gibt?«

»Es gibt schon ein paar von uns«, sagte er. »Aber wir haben keine Gewerkschaft oder etwas in der Art.«

»Sie heißen Michael Vedby Sander?«

»Ja«, log er.

»Und Sie kennen Pieter Henryk?«

»Selbstverständlich.«

Er hatte für Pieter Henryk zwei inkompetente Kidnapper aufgespürt – Vater und Sohn – auf einem verlassenen Hof südlich von Nijmegen in Holland. Sie hatten die jüngste Tochter des steinreichen Niederländers entführt, was ihr erster Fehler gewesen war.

Die Polizei einzuschalten und einen Presseskandal zu riskieren, war undenkbar für Henryk gewesen, der altmodisch war und eine diskrete und dauerhafte Lösung vorgezogen hatte.

Die Entführer hatten die Neunzehnjährige unzählige Male vergewaltigt, um sich die Wartezeit zu verkürzen. Sie hatten ihr die Haare abrasiert, sie verprügelt, Zigaretten auf ihrem Rücken ausgedrückt, sodass sie mehr tot als lebendig gewesen war, als Michael und der Rest der Mannschaft sie aufgespürt hatten. Seine Aufgabe war es gewesen, das Mädchen zu finden, um die Kidnapper kümmerten sich die anderen Männer von Pieter Henryk.

Michael hatte in seinem Wagen am Waldrand ein paar hundert Meter entfernt gesessen und beobachtet, wie ein serbischer Söldner sie auf seinen Armen über den Hofplatz trug. Der kräftige Mann brachte sie zu einem Mercedes, wo ihr Vater und ein Arzt sie erwarteten. Sie war nackt, kraftlos wie eine Puppe und erinnerte an ein geschlachtetes Tier. Der Mercedes verließ das Grundstück mit quietschenden Reifen.

Er wartete. Eine halbe Stunde später bog ein Lastwagen auf den Hofplatz, und die Söldner trugen Backsteine, Mörtel und Eimer in das Haus, in dem die Kidnapper sich nach wie vor aufhielten.

Michael verließ den Schauplatz. Er wusste, was kommen würde, und er kannte Pieter Henryks Männer, Veteranen aus dem Balkankrieg, die alles erlebt hatten. Wenn sie gnädig gestimmt waren, würden sie Vater und Sohn einen Trommelrevolver mit zwei Schuss Munition zuwerfen, ehe sie den letzten Stein in die Mauer setzten, damit sie sich selbst töten konnten. Hatten sie schlechte Laune, würden sie die beiden an Händen und Füßen fesseln, die Wand fertig mauern und warten, bis der Mörtel trocken war.

Sie klatschte in die Hände und riss ihn aus seinen Gedanken.

»Entschuldigung?«

»Ich würde es begrüßen, wenn Sie für mich arbeiten«, wiederholte sie.

»Vielleicht kommen wir ja wirklich zusammen«, sagte er vorsichtig. »Ich würde mich freuen.«

»Henryk meinte, ich soll mich bedingungslos auf Sie verlassen.«

Er nickte. »Das ist in der Regel notwendig, wenn wir etwas erreichen wollen.«

»Sie können mich und meine Familie ruinieren, wenn sich herausstellen sollte, dass ich mich nicht auf sie verlassen kann, Michael. Wir hätten dann keine Zukunft mehr.«

»So verhält es sich in der Regel«, sagte er ruhig. »Vielleicht sollte ich Ihnen meine Vorgehensweise ein wenig erläutern. Wenn ich einen Auftrag annehme, arbeite ich vierundzwanzig Stunden rund um die Uhr daran, bis ich das gewünschte Resultat erreicht habe oder Sie mich bitten, aufzuhören. Mein Honorar beträgt zwanzigtausend Kronen am Tag plus Erstattung der Ausgaben, die für die Inanspruchnahme anderer Expertenmeinungen, Bestechungen, Reisen, Kost und Logis anfallen. Es gibt keinen Vertrag, und Sie sehen keine Belege, Sie müssen mir einfach vertrauen. Ich gebe Ihnen die Nummer eines Kontos bei meinem Wirtschaftsprüfer, der die Beträge dem Finanzamt vorlegt. Ist das akzeptabel?«

»Was steht im Kleingedruckten?«, fragte sie.

»Nicht viel. Ich führe keine riskanten oder strafbaren Handlungen aus, wenn sie meinem Empfinden von Recht und Vernunft widersprechen. Ich entscheide von Fall zu Fall, wie weit ich gehen kann.«

»Unabhängig von der Höhe des Honorars?«

»Ja.«

»Das ist in Ordnung«, sagte sie. »Aber wieso sind Sie so verflucht schwer zu finden?«

»Ich bin wählerisch«, sagte er.

Seine Frau stellte ihm immer wieder die gleiche Frage. Michael Sanders Einmann-Beratungsfirma war in keiner Datenbank im Internet zu finden. Beharrliche Individuen stießen vielleicht auf eine der letzten Versionen der Firmenhomepage irgendwo im deep web, dem Keller des Internets, der Suchmaschinen wie Google und AltaVista verschlossen war, nicht aber für spezialisierte, vertikale Roboter wie technocrati.com. Vielleicht gingen ihm durch seine Exklusivität Klienten durch die Lappen, aber er wollte es so. Auf die Idee hatte ihn eine hübsche, dänische Escort-Dame in London gebracht, deren intime Dienste so viel kosteten wie das griechische Haushaltsdefizit. Es sei eine Frage ihrer eigenen und der Sicherheit ihrer Tochter, hatte sie gesagt.

Seine Homepage war knapp gehalten und relativ nichtssagend. Man erfuhr darauf, dass Michael Ex-Soldat war, Ex-Polizist, und dass er seit zehn Jahren als Sicherheitsberater für Shepherd & Wilkins Ltd. arbeitete, eine bekannte britische Sicherheitsfirma. In seinen Aufgabenbereich fielen persönliche Sicherheit, Verhandlungen bei Geiselnahmen, Untersuchungen im Finanzsektor und Diverses. Unter Kontakte stand eine Mobilnummer zu einem Handy, das mindestens einmal pro Monat ausgetauscht wurde, in der Regel öfter.

»Was wissen Sie über mich?«, fragte sie.

»Ich weiß, dass sie Flemming und Klara Caspersens einziges Kind sind«, sagte er. »Ich weiß, dass Ihr Vater ursprünglich Radiomechaniker war und erst später eine Ausbildung zum Diplomingenieur gemacht hat. Ich weiß, dass er in den Achtzigern einige bahnbrechende Patente auf Erfindungen einreichte, die später zu den Ultraschall-Dopplern, Mini-Sonaren und Laser-Entfernungsmessern weiterentwickelt wurden, die weitestgehend in allen militärischen Waffensystemen vom U-Boot bis zum Jagdflieger verwendet wurden, aber ebenso in zivilen, meteorologischen Frühwarnsystemen. Hinter moderner Distanzermittlung und Zielidentifikation steht schlicht und ergreifend die Kerntechnologie. Diese Technologie ist unentbehrlich und bisher unübertroffen. Ihr Vater hat Sonartek 1987 zusammen mit seinem Studienkollegen Victor Schmidt gegründet, und … der Rest ist wohl dänische Industriegeschichte. Eine Erfolgsstory.«

»Eines Abends in Frederiksberg hat er einen Krankenwagen gehört, und hinterher hat er die ganze Nacht auf einer Bank gesessen und darüber nachgedacht, dass das Echo der Sirenen ihm genau sagte, wo der Krankenwagen sich befand. So hat alles begonnen. Dann fing er an, Delfine, Fledermäuse und die ziemlich elementare Doppler-Technologie zu studieren. Die er verbessert und weiterentwickelt hat.«

»Soweit ich weiß, ist nur noch die Entwicklungsabteilung von Sonartek in Dänemark ansässig, während die Produktion und Distribution …«

»Nach China, Indien, Polen und Estland verlegt worden ist«, sagte sie. »Das war notwendig.«

»Und zu guter Letzt weiß ich, dass Ihr Vater vor einigen Monaten an einem Herzinfarkt gestorben ist«, sagte er.

»Er ist zwei Tage vorher noch einen Marathon in knapp über drei Stunden gelaufen«, sagte sie. »Er war zweiundsiebzig, aber noch unglaublich gut in Form. Ich glaube nicht, dass er in seinem ganzen Leben jemals eine Tablette genommen hat. Er hat immer gesagt, dass Gene das Einzige im Leben von Bedeutung seien.«

Sie stand auf und trat ans Fenster. Aus dem Park drang das untröstliche Heulen des Hundes herauf. Michael rührte sich nicht und schwieg.

Elizabeth Caspersen wischte sich die Augen trocken und drehte sich um.

»Verfluchter Hund«, murmelte sie.

»Ihre Mutter ist krank?«, fragte er.

»Es hat vor vier Jahren begonnen und ging dann unglaublich schnell. Ihr gehört ein großer Teil des Unternehmens mit Filialen in der Dritten Welt, dabei weiß sie nicht mal mehr, wie sie heißt. Sie weiß noch nicht einmal, dass ihr Mann tot ist.«

»Was geschieht jetzt mit der Firma?«

»Die Aktien sind natürlich gefallen, als mein Vater starb, aber sie haben sich schnell wieder eingependelt. Sie haben gute Sachen produziert. Vater hat nach wie vor das Meiste entschieden, und alles, was er nicht entschieden hat, bestimmte Victor.«

»Victor Schmidt?«

»Ja. Mein Vater erfand die Dinge, Victor verkaufte sie. Diese Kombination funktionierte hervorragend.«

»Waren sie sich einig?«

»Ich glaube schon. Victor hat sein Schloss bei Jungshoved bekommen, und mein Vater diesen Palast, als die Firma an die Börse ging.«

»Sitzen Sie im Vorstand von Sonartek?«

»Ja, und solange meine Mutter ihren Verpflichtungen im Vorstand nicht nachkommen kann, was sie nie wieder können wird, vertrete ich sie zusätzlich. Mein Vater war Aufsichtsratsvorsitzender, im Augenblick ist Victor kommissarisch als Vorsitzender eingesetzt und wird nächsten Monat in einer außerordentlichen Vorstandssitzung als neuer Vorsitzender gewählt werden.«

»Die Familie ist also abgesichert?«

»Nicht unbedingt. Kindern oder Enkeln der Firmengründer ist nicht automatisch ein Platz im Vorstand oder eine Karriere in der Firma garantiert. Sie müssen sich schon als tauglich erweisen, so steht es in der Stiftungsurkunde. Und der Vorstand entscheidet, wer tauglich ist und wer nicht. Ich bin offensichtlich positiv bewertet worden. Familienfehden sind unerwünscht, und es will niemand, dass die Zukunft des Unternehmens von Einfaltspinseln abhängt, bloß weil sie Schmidt oder Caspersen heißen. Andererseits wird meine Mutter Vaters Aktien in Sonarteks Holdinggesellschaft erben, und ich repräsentiere momentan durch sie faktisch eine Aktienmehrheit in der Gesellschaft.«

»Wollte Ihr Vater Sie in der Firma?«

»Und ob! Er war hingerissen, als ich meine Bestallungsurkunde bekam. Er hatte alles arrangiert, und ich war darauf eingestellt, dass er mich erschießen würde, wenn ich ablehnte.«

Michael lächelte beeindruckt.

»Und er hat Sie nicht enterbt?«

»Er hat sich eines Besseren besonnen. Ich war, wie gesagt, auf das Schlimmste vorbereitet, aber als es dann ernst wurde, hat er es eigentlich erstaunlich gut aufgenommen. In der Beziehung war er ziemlich fair. Vielleicht hat er trotz allem damit gerechnet, dass ich irgendwann bei Sonartek einsteige und nach Hause komme. Als ich anfing, zu den Vorstandssitzungen zu gehen, tat ich das hauptsächlich, um ihm eine Freude zu machen.«

Elizabeth Caspersen setzte sich wieder. Sie dachte angestrengt nach und mehrere Gesichtsausdrücke kämpften um ihren Platz auf der Bühne.

»Victor Schmidt hat zwei Söhne?«, fragte Michael.

»Henrik und Jakob, ja.«

»Was machen die beiden?«

»Henrik ist stellvertretend für Victor Sonarteks erster Vertriebsleiter, nachdem der die Geschäftsführung der Firma übernommen hat. Er ist fleißig und verfügt über ein gut funktionierendes Netzwerk. Er ist fast die ganze Zeit in New York oder Washington, wo er die amerikanischen Streitkräfte hofiert. Er ist ein Workaholic und hat keine Laster. Jakob …« Sie zog die Schultern hoch. »Ich weiß eigentlich gar nicht, was der zurzeit macht. Er ist das schwarze, aber heiß geliebte Schaf der Familie. Er war Offizier der Leibgarde. Jetzt ist er Logistiker für große World-Aid-Organisationen. Er ist eine unabhängige Seele und fühlt sich allein und in der Natur am wohlsten. Man sieht die Brüder selten zusammen, aber sie sind seit Vaters Tod beide in Dänemark. Mein Vater war sehr angetan von ihnen, und sein Tod hat sie schwer getroffen.«

»Angetan?«

»Ja, sehr. Sie hängen da drüben.«

Sie zeigte an die Wand hinter der Wendeltreppe.

Michael streckte sich und studierte die Schwarzweißfotografie in einem edlen Silberrahmen. Er klappte es ein wenig nach vorn. Die Tapete dahinter war verschossen. Entweder hing es dort noch nicht sehr lange, oder es wurde regelmäßig abgenommen. Die Tapete hinter dem daneben hängenden Foto, das Bild des lächelnden Flemming Caspersen mit dem Kopf eines erlegten Leoparden, war deutlich heller.

Er betrachtete das kleine, gerahmte Bild: ein lachender, schlaksiger, dunkelhaariger Junge von ungefähr dreizehn Jahren saß mit einem schimmernden Fisch, der so lang wie sein Arm war, im hinteren Ende eines Kanus. Hinter dem Jungen breitete sich ein glitzernder See aus. Der Junge saß genau auf der Grenze zwischen dem Sonnenglitzern und dem Schatten eines Baumes, der sich fast waagerecht über die Wasseroberfläche ausstreckte. Auf dem Stamm saß sein Bruder; ein paar Jahre jünger, flachsblond, knochiger Oberkörper, Shorts, weiße Zähne und nackte Füße, die über dem Wasser baumelten. Im Vordergrund stand ein Zelt. Zeitlose, sorglose Sommerstimmung.

»Das hat er in Schweden aufgenommen«, sagte sie.

»Ihr Vater?«

»Ja. Victor hat nie Urlaub gemacht, er hat die Jungs meinem Vater überlassen. Von ihm haben sie all die Männersachen gelernt: Segeln, Fischen, Jagen.«

»Ist Victor verheiratet?

»Mit Monika. Schwedischer Landadel.«

»Trophäenfrau?«

»Ganz und gar nicht. Sie hat als Salesmanagerin in der Firma gearbeitet, war sehr tüchtig und ist gut ausgebildet. Jetzt hat sie ein Gestüt. Dänisches Warmblut. Wenn das kein Widerspruch in sich ist.«

Ein bitteres Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.

»Mein Vater war neidisch auf Victors Söhne. Er nannte mich immer seinen dritten Preis.«

»Den dritten Preis?«

»Der erste Preis ist ein Sohn, der zweite ein behinderter Sohn und der dritte ein Mädchen, sagte er immer.«

Flemming Caspersen wurde Michael immer unsympathischer. Natürlich wollte er erst einmal abwarten, wie die Tochter seine Aufgabe definierte, aber im Grunde genommen hatte er sich bereits gegen diesen Job entschieden. Natürlich konnten Sara und er das Geld gut gebrauchen, aber sie waren nicht darauf angewiesen. Dann müsste sie den Gürtel eben etwas enger schnallen, während er weiter frei für Shepherd & Wilkins arbeitete, auch wenn er dann wieder an irgendwelche gottverlassenen Orte im Yemen, in Nigeria oder – da sei Gott davor – in Kasachstan reisen musste. Mindestens für einen Monat. Michael hatte ein festes Angebot, als Freelancer einzuspringen, wann immer es ihm passte. Im Prinzip hörte sich das gut an, in der Praxis bedeutete das aber, dass er dann die Aufträge übernehmen musste, die die Festangestellten scheuten wie die Pest.

»Ist das mit dem dritten Preis eine seltsame Art von Humor?«, fragte er, nicht ganz bei der Sache.

»So ist es. Ich glaube nicht, dass er sich wirklich etwas dabei gedacht hat. Er war nur …«

Ein stumpfer, megalomaner alter Dreckskerl, dachte Michael.

»Warum bin ich eigentlich hier?«, fragte er.

Die Frage schien sie zu überraschen.

»Wie bitte?«

»Warum bin ich hier?«

Sie sah ihn an und begann zu reden. Dann schloss sie den Mund und sammelte sich.

»Sie sind hier, Michael«, sagte sie schließlich, »weil ich glaube, nein, weil ich weiß, dass mein irrsinniger Vater einen Menschen getötet hat. Zum reinen Vergnügen, quasi als Sport. Im Rahmen einer perversen, kranken, abartigen Menschenjagd. Darum sind Sie hier.«

Sie stand auf, zog eine unbeschriftete DVD aus dem Bücherregal – und begann zu weinen.

2

Sie sagte kein Wort und rührte sich in den drei Minuten, die der Film dauerte, nicht. Aber sie weinte weiter. Still. Auch Michael saß reglos da.

Er hatte in der dunkelsten Ecke der Bibliothek Platz genommen, seinen Laptop auf den Knien, und verfolgte die Hinrichtung eines jungen Mannes auf einem Berg. Er hörte den Gesang der Männer und sah einen Gegenstand durch die Luft fliegen, einen schwarzen Beutel, zugeschnürt mit einem weißen Band. Der Gejagte fing den Beutel auf, schob eine Hand hinein und zog einen Gegenstand heraus, der jedoch von seinem Oberkörper verborgen war.

Die Aufnahmeausrüstung war herausragend; Bild und Tonspur waren messerscharf und die Kameraführung stabil, als das weiße Gesicht des Mannes eingezoomt wurde. Der Gejagte lief hinkend in die Dunkelheit, den nicht erkennbaren Gegenstand an die Brust gedrückt. Dann verstummte der Gesang und eine halbe Sekunde später knallte ein Schuss.

Es gab nur diesen einen Schuss, aber man konnte unmöglich sehen, ob der Mann getroffen war oder nicht. Kurz drauf fing die Kamera den Ermordeten auf dem schmalen, steinigen Uferstreifen am Fuß des Steilhangs ein. Eine Hand des Opfers reichte gerade bis ans Wasser, aber der Gegenstand aus dem Beutel war verschwunden. Das Licht wurde ausgeschaltet, und ein paar Sekunden lang war nur der Sternenhimmel über dem mondbeschienenen Fahrwasser zu sehen. Dann schaltete die Kamera sich aus.

Michael nahm die DVD aus dem Laufwerk und achtete darauf, dass seine Fingerkuppen nur den Rand berührten. Er legte sie auf die Tastatur und stand auf.

»Darf ich Ihre Toilette benutzen?«

Sie sah ihn nicht an.

»Dritte Tür links … Entschuldigung … Entschuldigung …«

Es war kühl in dem großen Haus, aber ihm brach der Schweiß zwischen den Schulterblättern aus. Michael ging durch den hohen Flur, schloss die Badezimmertür hinter sich ab und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Seine Zähne schlugen aufeinander, und ihm drehte sich der Magen um wie ein altes, schwerfälliges Schloss, aber er unterdrückte den Drang, sich zu übergeben.

Er war soeben Zeuge davon geworden, wie ein Mann in den Tod gejagt worden war, in kräftigen, natürlichen Farben, untermalt von einer authentischen Tonspur, und er dachte matt an den undefinierbaren, aber abgrundtiefen Unterschied zwischen einer extrem realistischen Hollywood-Produktion und der Wirklichkeit.

Aber es war nicht die DVD an sich, die ihm dieses Unwohlsein verursachte, obgleich er nicht daran zweifelte, dass die Aufnahme echt war. Oder genauer gesagt: nicht der Film, sondern der Gesang, denn der rief in ihm Erinnerungen an Grosny wach, an die tote Hauptstadt von Tschetschenien.

Im September 2007 hatte Michael mit seinem festen Partner Keith Mallory in einem Vorort von Grosny endlose Tage auf dem rattenverseuchten, halb eingestürzten Dachboden einer Kirche verbracht. Keith, der seit einer unseligen Begegnung mit einer Wegrandmine im Irak hinkte, war Major in einem berühmten, britischen Eliteregiment gewesen, ehe er Seniorkonsulent bei S & W wurde.

Das sei wirklich der merkwürdigste Krieg, bei dem er je dabei war, hatte der Engländer gesagt. Ausgeruhte und wohlgenährte russische Truppen lagen einige hundert Meter nördlich der Kirche in passiver Bereitschaft, während muslimische Rebellen völlig unbekümmert zwischen den Ruinen im Süden herumschlenderten. Eine Gruppe singender Frauen fegte die Straße zwischen den baufälligen, lange verlassenen Mietskasernen. Das Ganze war völlig surreal, und für den Augenblick wirkten alle initiativlos und uninteressiert am anderen, als wollten sie einfach nur das klare, warme Sommerwetter und die Pause zwischen den Kampfhandlungen genießen.

Michael und Keith hatten in den Verhandlungen mit den Fedayé über eine passende Lösegeldsumme für ein englisches Rot-Kreuz-Team, das die Tschetschenen einige Monate zuvor aus einem Feldlazarett entführt hatten, einen toten Punkt erreicht. S & W verhandelte im Namen einer internationalen Versicherungsgesellschaft, die das Rote Kreuz als Kunden hatte. Sie hatten einen Koffer mit gebrauchten Dollarscheinen für die Geiselnehmer und einen kleineren Geldkoffer für einen korrupten Offizier der russischen Luftwaffe dabei, der vielleicht, vielleicht aber auch nicht, einen Helikopter organisieren konnte, um sie und das Ärzteteam über die Grenze nach Aserbaidschan zu evakuieren, sollte das nötig sein. Der Bretterboden war mit einer daumendicken Schicht von vertrocknetem Taubenkot bedeckt, und überall lagen von Maschinengewehrsalven beschädigte Gipsengel und Ikonen herum, die aus dem Kirchenraum hier heraufgeschafft worden waren. Sie hatten einen Kurzwellensender, ihr Gepäck, eine Rolle Plastikbeutel, in die sie ihre Notdurft verrichteten, und reichlich Wasser und Astronautenkost bei sich.

Es ging im Augenblick nur noch um wenige tausend Dollar hin oder her, die eigentlichen Probleme waren die Frage des Stolzes und die gestörten Kommunikationswege.

»He fishes ’cause he can’t fuck Lady Ashley«, erinnerte Michael sich Keith sagen gehört zu haben, als der Gesang einsetzte.

»Was?«

»Jake Barnes, verdammt«, sagte Keith müde und zeigte auf Ernest Hemingways The Sun Also Rises, ein zerfleddertes Paperback, mit dem er sich momentan die Zeit vertrieb.

»Aha.«

Der ehemalige Major hatte geseufzt und das Buch weggelegt. Er versuchte schon lange, seinen jungen dänischen Kollegen dazu zu bringen, etwas anderes zu lesen als Waffenkataloge, ballistische Tabellen und Automagazine.

Er legte den Kopf schief. »Wer singt da, Mike?«

Michael hatte sein Auge an das Zielfernrohr des Heckenschützengewehrs am Fenster gelegt, das auf die russische Frontlinie gerichtet war. Keith krabbelte auf allen vieren unter das niedrige Dach und nahm sein eigenes Fernrohr.

Etwa dreihundert Meter entfernt hatte eine Panzerbesatzung eine junge muslimische Mutter und ihre vielleicht siebenjährige Tochter gefangen genommen. Die Speznas-Elitesoldaten, gut zu erkennen an ihren blauweiß gestreiften T-Shirts, hüpften auf dem Panzer auf und ab und stampften sich durch den alten Queens-Klassiker We Will Rock You. Die Frau wurde zwischen die Männer vor dem Panzer geschubst. Sie rissen ihr eine farbenprächtige, bestickte Stofflage nach der anderen vom Leib. Die Tochter hockte zwischen den Beinen eines Soldaten auf dem Geschützturm und weinte mit abgewandtem Gesicht. Der Soldat hatte die Arme des Mädchens hinter ihren Rücken gebogen und drückte ihr eine Pistole an den Hals, während er sie zu küssen versuchte. Die Mutter war inzwischen nackt, sie schrie, panisch.

Keith versuchte, ihn wegzuziehen.

»Das ist nicht persönlich, Mike. Das ist Terror. Und jetzt geh weg von dem Fenster, verdammt noch mal!«

Der erste Soldat vergewaltigte die Mutter an den Panzer gepresst. Seine Tarnhose war auf seine Stiefel gerutscht. Der Kopf der Frau schlug rhythmisch gegen den Panzer. Michael sah ihre schlapp herabhängenden Arme und die weit gespreizten Beine auf beiden Seiten des arbeitenden Männerkörpers. Die Unterarme und der Hals des Soldaten waren sonnenverbrannt, während der Rest bleich unter den blauen Amateurtätowierungen schimmerte.

Vier weitere Männer standen Schlange.

Der Mann auf dem Geschützturm hatte dem Mädchen den Pistolenlauf in den Mund gesteckt und öffnete seinen Hosenschlitz.

Keith zog erneut energisch an seinem Arm. Michael wusste, dass er dem Vergewaltiger oben von dem Kirchendachboden eine Kugel durch den wackelnden Kopf schießen könnte, ohne die Frau zu treffen.

Aber dann würden sie das Rote-Kreuz-Team verlieren.

Er hatte bereits eine Patrone in die Kammer geschoben, als Keith ihm die Waffe aus der Hand riss und ihn anfauchte. Dann hatte Keith Mallory die Kopfhörer aufgesetzt, obgleich die Wellenlänge tot war, und Michael war in den entferntesten, dunkelsten Winkel des Dachbodens gekrochen und hatte die Hände auf die Ohren gepresst.

Als er in die Bibliothek zurückkam, knetete Elizabeth Caspersen ein Taschentuch in ihrer Hand. Er setzte sich in den Sessel neben ihr, faltete die Hände über seinem Schoß und unterdrückte ein Zittern.

»Was sagen Sie zu dem Film?«, fragte sie.

»Ich denke, die Aufnahme ist echt«, sagte er auf seine Hände schauend. »Damit meine ich, dass jemand ein Verbrechen gefilmt hat. Spontan würde ich sagen, der Film ist eine Art Jagdtrophäe.«

»Oh Gott.«

Sie blickte an die Decke, und neue Tränen liefen über ihre Wangen.

»Das war ja wohl auch Ihre Vermutung«, sagte er. »Sonst wäre ich nicht hier.«

Sie sah auf das Taschentuch, das sie jetzt um einen Finger schlang.

»Ja, ich habe nur gehofft … Ich weiß nicht, was ich gehofft habe. Doch, ich glaube, ich habe gehofft, Sie würden sagen, das Ganze wäre nur arrangiert, nur ein Film … einfach nur ein abartiger Film.«

»Wo haben sie ihn gefunden?«

Sie stand auf und ging zu einem venezianischen Spiegel, schwang ihn von der Wand ab und zeigte auf eine weiße Stahltür mit einer Tastatur.

»Die Anwälte meines Vaters sind dabei, den Nachlass zu ermitteln. Nachdem die Bankschließfächer am Kongens Nytorv geleert worden waren, stand nur noch sein privater Safe aus.«

»Kannten Sie den Code?«, fragte Michael und fand es seltsam, dass die DVD in Flemming Caspersens privatem Tresor gelegen hatte. Nach seinem Empfinden gehörte sie in einen atomsicheren, unterirdischen Bunker.

»Der Bestatter. Vater hatte sich den Code auf die Innenseite seines Oberarmes tätowiert.«

Sie schnäuzte sich die Nase.

Michael runzelte die Stirn.

»Wirklich? Das konnte dann doch jeder mit einem guten Teleobjektiv oder Fernrohr sehen, wenn Ihr Vater schwimmen war …«

»Aber dafür musste man schon wissen, dass die Zahlen erst mit elf multipliziert und durch drei dividiert werden mussten, sein Geburtsdatum«, sagte sie.

»Okay.«

Er fand auch hier, dass das zu einfach war, wie der Name seines Hundes als Passwort für den Computer. N-I-G-G-E-R.

»Was ist mit der Leiche Ihres Vaters geschehen?«

»Er wollte verbrannt werden.«

»Wurde er obduziert?«

»Ja.«

»Und?«

»Nichts. Herzinfarkt, haben sie gesagt.«

»Hm …«

Er stand auf und sah sich den Tresor genauer an. Es handelte sich um einen neueren Chubb ProGuard. Ein ausgezeichneter Safe, von dem es hieß, dass er nicht in weniger als drei Stunden geöffnet werden konnte, nicht einmal von Chubbs eigenen Technikern. Die Tür war weiß, glatt und intakt.

»Haben Sie den Film noch anderen gezeigt?«

»Selbstverständlich nicht! Ich fasse es nicht, wie mein Vater so etwas tun konnte. Ist das nicht typisch?«

»Was?«

Die Tränen lösten sich in Zeitlupe von den Wimpern.

»Dass sehr reiche Menschen … Ich weiß sehr wohl, wie leicht man den Bezug zur Wirklichkeit verlieren kann, wenn man so abgeschottet lebt, wie meine Eltern am Ende. Weder er noch meine Mutter hatten eine Ahnung, was ein Liter Milch kostet.«

»Ich weiß nicht, ob das typisch ist. Noch ist ja nicht sicher, dass es wirklich Ihr Vater war.«

Sie starrte ihn an. »Warum sollte er die DVD sonst aufbewahrt haben? Außerdem ist er zu sehen!«

»Man sieht ein bisschen Backenbart, ein halbes Ohr, einen Hut, ein Stück Ärmel und ein Handgelenk«, wandte er sanft ein. »Das könnte sonstwer sein.«

»Aber er hatte so einen Hut! Ich weiß, dass er es ist.«

»Alle Jäger tragen solche Hüte«, widersprach Michael.

Sie öffnete die Tresortür, nahm ein flaches Schmuckkästchen von einem Bord und klappte den Deckel hoch. Cartier-Paris war mit Goldbuchstaben in den dunkelblauen Samt geprägt.

»Hier drin lag sie.«

»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das nicht mehr anfassen würden«, sagte er.

Sie sah ihn an, dann begriff sie und hätte das Kästchen fast fallen gelassen.

»Bleiben Sie ganz ruhig«, sagte er.

Michael nahm eine durchsichtige Plastiktüte aus seiner Schultertasche und ließ das Etui hineingleiten.

»Und ich soll Anwältin sein«, sagte sie. »Fingerabdrücke, natürlich. Gott bewahre.«

»Und Haare, Fasern, Hautzellen, Schuppen, all das«, sagte er. »Gehen Sie nicht zu hart mit sich ins Gericht. Es ist wie bei einem Arzt, der einen Tumor ignoriert, der ihm bereits durch die Haut wächst. Eine Art Betriebsblindheit, sozusagen.«

»Das kann man wohl sagen«, bestätigte sie.

»Was soll ich mit dem Film machen?«

Sie zögerte.

»Ich möchte, dass Sie herausfinden, ob das mein Vater ist. Und Sie sollen für mich herausfinden, wer dort getötet worden ist und wer sonst noch dabei war. Darum sind Sie hier. Ich muss wissen, ob der junge Mann Angehörige hatte, denen ich irgendwie helfen kann.«

»Finanziell?«

»Überhaupt«, sagte sie. »Was sagen Sie dazu? Und wollen Sie den Job noch?«

Er schaute aus dem Fenster.

»Ich würde mich der Aufgabe gerne annehmen, obgleich sie kompliziert ist und sicher einiges an externer Hilfe erfordert«, sagte er. »Ich würde nicht zusagen, wenn ich nicht der Meinung wäre, eine Chance zu haben, sie zu lösen. Die Aufgabe widerspricht nicht meinen persönlichen Regeln. Ihr Vater ist tot und nicht mehr erreichbar für Strafverfolgung und Verurteilung.«

»Zumindest nicht in dieser Welt«, sagte sie.

»Genau. Ich werde herausfinden, wer der Ermordete ist. Und ich werde die Jäger suchen, und wenn ich sie gefunden habe, können Sie vor Gericht gestellt und verurteilt werden.«

»Soweit Sie etwas beweisen können«, sagte die Anwältin. »Oder sie zu einem Geständnis bringen.«

»Letzteres wird vermutlich schwierig werden«, sagte er. »Spontan würde ich sagen, dass sie eine militärische Ausbildung haben. Sie verwenden Laserzielfernrohre. Die kann man zwar auch privat erwerben, aber ich halte es für unwahrscheinlich, dass sie allesamt damit ausgerüstet sind, wenn es sich um gewöhnliche, abgedriftete Jäger handelt, die an einer Art Jagdausflug auf ein zufälliges Opfer teilgenommen haben. Man sieht auch einen Ärmel von der Person, die neben dem Kameramann steht. Das ist der Ärmel einer militärischen Tarnuniform. Außerdem sind da noch andere, diffusere Dinge wie der Gesang und so weiter. Ich bin eigentlich ziemlich sicher, dass es sich um Soldaten oder ehemalige Soldaten handelt.«

»Haben Sie schon jemals etwas von Menschenjagd als Sport gehört? Das ist doch wahnsinnig. Krank.«

Menschensafari war Michael noch nicht untergekommen, und wahrscheinlich hätte er es als absurde Wandergeschichte abgetan, wie schon bei den Todesfilmen im Netz, Snuff. Jetzt war er mit beidem konfrontiert und überzeugt, dass der Film echt war.

Ihm war durchaus bewusst, dass einige Soldaten nie wieder voll und ganz zu Hause ankamen. Sie waren schon von Anfang an anders gewesen, oder aber der Krieg hatte sie zerstört. Einige suchten Zuflucht in der Einsamkeit, andere fanden Anstellungen als Berater von Sicherheitsunternehmen. Er hatte im Laufe seiner Karriere etliche professionelle Kollegen getroffen, die dezidiert von einem anderen Stern kamen und das Meiste von diesem hier vergessen hatten.

»Nein, ich habe bislang noch nichts davon gehört«, sagte er schließlich.

»Haben Sie eine Idee, wo das Ganze stattgefunden hat?«, fragte sie.

»Die Landschaft ist arktisch«, sagte er. »Was ein dehnbarer Begriff ist. Von Patagonien bis Alaska kommt da alles in Frage, genauso gut kann es aber auch eine Berglandschaft außerhalb der Arktis sein. Er schreit sie an, aber ich kann keine einzelnen Wörter oder seine Muttersprache identifizieren.«

»Können Sie das herausfinden?«, fragte sie mutlos. »Alles?«

»Ich denke schon«, sagte Michael.

»Wie?«

»Ich werde den Film mit verschiedenen digitalen Bildprogrammen untersuchen. Ich habe die vage Hoffnung, dass ich möglicherweise den Tatort über die Sternbilder identifizieren kann, die kurz zu sehen sind, bevor die Kamera ausgeschaltet wird.«

Wieder tupfte sie sich mit dem Taschentuch die Tränen ab und schaute an die Decke.

»Vielleicht sollte ich einfach die Polizei einschalten.«

»Vielleicht.« Michael lächelte aufmunternd. »Aber geben Sie mir vorher noch ein paar Wochen Zeit. Ich will nicht ausschließen, dass es nicht irgendwann notwendig sein wird, die Polizei mit einzubeziehen. Sie verfügen über Ressourcen, die ich nicht habe. Dafür sind sie an gewisse, zivilisierte Regeln gebunden, was bei mir nicht der Fall ist.«

»Sind Sie unzivilisiert?«

»Ich kann durchaus unzivilisiert sein.«

»Gut. Sie bekommen zwei Wochen. Was machen Sie mit dem Schmuckkästchen?«

»Das schicke ich an ein privates, kriminaltechnisches Labor in Bern. Wenn es irgendeine DNA-Spur auf dem Kästchen geben sollte, finden sie sie, und falls es Fingerabdrücke geben sollte, abgesehen von Ihren, natürlich, werden Sie sie ebenfalls finden.«

»Die DVD können Sie aber nicht mitschicken«, sagte sie alarmiert.

»Natürlich nicht. Aber ob es andere Fingerabdrücke als Ihre auf der DVD gibt, kann ich selber überprüfen. Ich bin zwar kein Kriminaltechniker, aber Jodpulver und Klebestreifen habe ich auch.«

Elizabeth Caspersen nickte skeptisch.

»Ich wusste gar nicht, dass es so was gibt«, sagte sie langsam. »Private, kriminaltechnische Labore. Na ja, dass es Menschen wie Sie gibt, hab ich ja vorher auch nicht gewusst.«

»In der Schweiz kann man für Geld alles kaufen«, sagte Michael. »Was mich daran erinnert, dass Sie jemanden die private Buchführung Ihres Vaters durchsehen lassen sollten. Es wäre interessant zu wissen, ob er Transaktionen mit Liechtenstein, den Kanalinseln, den Cayman Islands oder anderen Steueroasen laufen hatte.«

Sie blies die Wangen auf und stieß die Luft langsam wieder aus.

»Selbstverständlich. Zeitlich wie lange zurück?«

»Das teile ich Ihnen so bald wie möglich mit. Darf ich seine Waffen sehen?«

»Selbstverständlich.«

Sie stemmte sich hoch, setzte sich dann aber wieder.

»Ich verstehe das nicht!«, sagte sie und zeigte auf die DVD. »Wie kommt jemand dazu, so etwas zu tun?«

»Sie sind normal, Elizabeth, natürlich können Sie das nicht verstehen. Ich verstehe es auch nicht, aber ich habe selber schon eine Art Jagd auf … Menschen mitgemacht, auch wenn sie Abschaum waren. Menschen, die isoliert leben, wie Sie von Ihrem Vater gesagt haben, und nur mit Gleichgesinnten umgehen, entwickeln häufig eine Attitüde von Übermensch und Unverwundbarkeit. Sie bewegen sich nicht mehr in der allgemein anerkannten Realität und fühlen sich nicht deren Gesetzen verpflichtet.«

»Milliardäre, zum Beispiel?«

Er breitete die Arme aus.

»Oder Politiker, die nie einen gewöhnlichen Job hatten. Saudi-arabische Prinzen oder dreiundzwanzigjährige Fußballspieler, die in einer Woche mit zwei Stunden Fußballspielen den Jahreslohn eines durchschnittlichen Arbeitnehmers verdienen und die Welt nur aus dem Spielerbus oder einem Ashton Martin kennen. Wir erheben sie zu einer Art Halbgott, und am Ende glauben sie das selber. Sie sind von einem Hofstaat umgeben, der sie von der Welt abschirmt, und es wird immer Lieferanten geben, die bereit sind, ihre speziellen Bedürfnisse zu befriedigen.«

»Wie Safaris auf Menschen?«

»Oder Jungfrauen, antike Bugattis oder Nashornpulver«, sagte Michael.

Es war natürlich nicht die Rede von einem gewöhnlichen Waffenschrank, sondern einem ganzen Waffenraum im Keller des Hauses. Hier gab es noch mehr Jagdtrophäen, gemütliche Ledersessel, Regale mit Jagdliteratur und prachtvolle, verschlossene Glas-Mahagonischränke, die speziell für den Raum angefertigt worden waren. Eine nahezu demonstrativ maskuline Freistatt.

Michael mochte Waffen. Er bewunderte ihre Funktionalität, Leistungsfähigkeit und Präzision, und er fand ihre Entwicklung faszinierend. Hinter den facettengeschliffenen Glastüren in Flemming Caspersens Waffenraum standen Gewehre und Schrotflinten, die ein oder zwei durchschnittliche dänische Jahresgehälter kosteten und seine Speichelproduktion anregten. Er bat um die Schlüssel und schloss den ersten Schrank auf, nachdem er sich ein Paar Latexhandschuhe übergezogen hatte. Michael nahm Waffen heraus, öffnete Bolzen, untersuchte das Innere der Läufe, indem er sie gegen ein Deckenlicht hielt und schnupperte an Baskülen, Magazinen und Bolzen. Aus dem letzten Schrank nahm er ein Jagdgewehr mit Zielfernrohr aus der Reihe, zog den Ladehebel nach hinten und fing überrascht die unbenutzte Patrone auf, die aus dem Magazin gedrückt wurde. Er zog den Schlagbolzen ganz nach hinten und sah sich den gezogenen Lauf an, ehe er die Waffe vorsichtig gegen die Wand lehnte.

So arbeitete er sich durch alle Schränke, öffnete Schubladen und untersuchte Patronengürtel, verschiedene Zielvorrichtungen und Schachteln mit Munition.

Michael zeigte auf das Gewehr, das an der Wand lehnte. »Das da, passen Sie gut darauf auf. Lassen Sie es dort stehen und sorgen Sie dafür, dass niemand es anfasst, okay?«

»Natürlich, aber warum ausgerechnet das?«

»Das ist eine schöne Waffe«, sagte er. »Eine Mauser M 03. Verglichen mit den Prachtexemplaren, die Ihr Vater ansonsten hier stehen hat, ein herausragendes, modernes, aber ordinäres Jagdgewehr. Es gibt beispielsweise keine Gravur wie auf allen übrigen Waffen, und sie kann nichts, was die anderen Waffen nicht genauso gut oder besser könnten. Sie hat ein gutes Zeiss-Teleskop mit Nachtsichtfunktion. Das wäre sicher die Waffe, die ich wählen würde, wenn ich …«

»Wenn Sie einen Menschen jagen und töten wollten«, sagte sie.

Er nickte ernst.

»Sie erregt kein Aufsehen und ist die einzige Waffe in diesem Raum, die nicht gereinigt oder eingefettet wurde, was bemerkenswert oder zumindest interessant ist. Im Gewehrlauf befinden sich Reste von Pulverschlamm, und im Magazin stecken noch Patronen, was einer Todsünde gleichkommt. Ich habe eine Patrone gesichert, die ich mit dem Schmuckkästchen nach Bern schicken werde. Vielleicht haben wir ja Glück. Ich bräuchte im Übrigen irgendeinen Gegenstand mit den Fingerabdrücken Ihres Vaters. Und etwas mit Ihren Fingerabdrücken.«

»Einen Füllfederhalter, zum Beispiel?«

»Das wäre wunderbar.«

Er zeigte auf einen kleinen Tisch mit einer dreiviertelvollen Flasche Whisky und einem Kristallglas mit einer bräunlichen, eingetrockneten Schicht am Boden.

»Ich gehe mal davon aus, dass er es war, der es sich hier unten mit einer Flasche Whisky gemütlich gemacht hat?«