Tübinger Venus - Wolfgang Grund - E-Book
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Wolfgang Grund

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  • Herausgeber: Tolino Media
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Der Plot beginnt und endet in Tübingen, und bietet dazwischen ein spannendes Roadmovie. Für schwäbisches Heimatgefühl sowie für eine rasante Verfolgungsfahrt durch die Steiermark und Slowenien wird garantiert. Übersinnliche Eigenschaften, zarte Liebesgefühle und witzige Dialoge runden den Krimi ab. Das Buch ist der zweite Einsatz von Hauptkommissar Wotan Wilde nach ›Tübinger Fieberwahn‹. Zwei Mitglieder der ›WAF‹, einer weltweit agierenden Kunsträuber Vereinigung, entführen Anna-Valeska Klapotez-Polz, die Freundin von Kunstmäzen Theophil Trost. Sie wollen dessen Aufenthaltsort aus ihr herauspressen. Er hat die wertvolle, gestohlene ›Venus von Willendorf‹ unterschlagen und sich damit nach Frankreich abgesetzt. Beim Verhör durch ihre Entführer kommt die völlig Unschuldige ums Leben. Nachdem Anna-Valeska nicht erreichbar ist, fährt Trost überstürzt nach Tübingen in seine Wohnung um nach ihr zu suchen. Er glaubt sich beobachtet und versteckt die kleine Tonfigur der Venus in einem rosa Kuscheltier, das einem Kind der Hausbewohner gehört. Wilde erfährt inzwischen von einem Inhaftierten, dass sich die Mörder von Anna-Valeska Klapotez-Polz in Graz in einem alten Eisenbahndepot aufhalten. Da er nach einem Unfall noch krank geschrieben ist, kann er die Ressourcen der Polizei nicht nutzen, ermittelt aber trotzdem hartnäckig. Er findet eine Mitfahrgelegenheit bei seiner Freundin Annabell Krötenheinrich, die über übersinnliche Kräfte zu verfügen scheint. Gemeinsam fahren sie im VW Camper nach Graz, wo Annabell auf einer Esotherik Messe ausstellt. Im nächtlichen Einsatz gelingt es ihnen, einen der beiden Mörder von Anna-Valeska Klapotez-Polz zu überwältigen. Sie erfahren, dass sich der Boss der Verbrecherorganisation ›WAF‹, Jochen Siebenbürger, in Maribor in Slowenien aufhält. Auch Trost hat die Spur aufgenommen. Er stellt Siebenbürger. Der wird aber von der ›WAF‹ wegen interner Machtspiele erschossen. Kurz darauf kommt Wilde in Maribor an und findet Siebenbürger nur noch tot vor. Da alle Spuren kalt sind, fährt der Kommissar enttäuscht nach Tübingen zurück. Dort trifft er auf Trost, der verzweifelt nach dem rosa Kuscheltier mit der Venus sucht. Allerdings ist ihm der Killer der ›WAF‹ gefolgt. Der überraschende Show Down findet auf einem Skaterplatz in Tübingen statt.

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Wolfgang Grund

Tübinger Venus

Kriminalroman

Inhaltsverzeichnis

Der Stalker

Die SOKO Gewaltverbrechen frühstückt

Nathalie wird vermisst

Gundi hilft

Der Fund

Die Vision

Der Unbekannte

Wotan ist gefunden!

Die Entführung

Die Folter

Die SOKO ermittelt

Bei Wotan

Hornbergers Befragung

Der Antrag

Zwei tote Spuren und einen Hochzeit

Die Verbindung

Annabells Besuch bei Wotan

Das Quija-Brett

Heiratsantrag die zweite

Die Heimkehr von Wotan

Die Wasserleiche

Neue Erkenntnisse

Wotan erholt sich

Wotan ermittelt doch

Ein bekannter Tatort

Die schreckliche Entdeckung von Trost

Die schreckliche Entdeckung von Nathalie

Wotan ermittelt weiter

Trost besucht Wotan

Das Hattori Hanzo

Das Bärengeheimnis

Die Flucht von Trost

Annabell auf Reisen

Der Club der Feen

Warten auf Annabell

Die Weltreise beginnt

Bernadettes Aussetzer

Wotan übernimmt das Steuer

Trost’s Abgang

Auf der Messe

Nathalie auf Rachefeldzug

Das Treffen mit Annas Mördern

Ablenkung ist alles

Wotan verständigt die Polizei

Wilde übernachtet

Trost auf der Riegersburg

Bernadette verhört Wong

Trost in Maribor

Wotan in Maribor

Die Ahnung Annabells

Das Tauschgeschäft

Der leere Bär

Tödliches Zusammentreffen

Die Hochzeitspläne

Die Wotan Wilde Krimireihe

Impressum

Der Stalker

Nathalie Hornberger hörte das schrille Quietschen der Schiebetür zur Halle. Er war da! Sie kauerte sich zusammen, machte sich so klein wie möglich hinter dem roten VW Bus vor der Hallenwand. Wie war sie nur hierher geraten? Was war mit ihr geschehen?

Nachdem sie vor ihrem Ex - Ehemann und psychopathischen Stalker Samuel Heigermoser aus ihrem Haus geflohen war, hatte sie auf der Straße in einem kleinen Wäldchen einen Mann angefahren. Eigentlich war sie auf dem Weg zu ihrer Freundin Gudrun, Gundi, Petershausen, um sich dort verstecken.

Sie war ausgestiegen und wollte dem Angefahrenen erste Hilfe leisten, obwohl Samuel ihr knapp auf den Fersen war. Plötzlich stand er tatsächlich hinter ihr. Mit Pfefferspray konnte sie ihn kurz aufhalten und durch das Unterholz entkommen. Und dann erreichte sie ›Fatis Garage‹, in dessen Werkstatt sie sich jetzt hinter einem rostigen VW Bus versteckte.

Im Dämmerlicht der Halle sah sie ihn. Gebückt lief er an der Wand entlang in ihre Richtung. Schemenhaft erkannte sie ihn neben einem abgestellten Kombi. Seine halblangen Haare hingen ihm wirr um den Kopf und das Hemd war aus seiner Jeans gerutscht. Er ließ den Lichtkegel seines Handys durch die Werkstatt wandern.

»Nathalie, Schätzchen, gleich hab ich dich!«, gurrte er. Nathalie zuckte unwillkürlich zurück und machte einen Schritt weiter hinter den Bus. Dabei stieß sie gegen eine Farbdose am Boden, die scheppernd an die Wand prallte. Mit einem hässlichen Lachen machte der Stalker einige Schritte in ihre Richtung.

Nathalie drückte sich ganz eng an die Hallenwand. Irgendwo musste es hier doch einen zweiten Ausgang geben.

Ihr Verfolger tappte aber ziellos durch die Halle und leuchtete mit seinem Handy in alle Ecken. Er hatte sie offenbar nicht orten können. Sie sah sich in der Halle um und ihr Herz machte einen Freudensprung. An der Rückwand war eine Glastür. Vielleicht führte die in ein Büro, in dem sie telefonieren und Hilfe rufen konnte.

Sie tastete sich an der rauen Wand entlang, immer die Tür im Visier.

Da stieß sie mit ihrem strumpfsockigen Fuß, den Schuh hatte sie im Schlamm eines kleinen Baches bei ihrer Flucht verloren, an einen harten Gegenstand. Sie biss sich auf die Zunge, um einen Schmerzensschrei zu unterdrücken. Wie in Zeitlupe kippte ein Kanister um und fiel mit einem blechernen Geräusch auf den Boden.

Sofort schaute Samuel in ihre Richtung.

»Schätzelein, jetzt habe ich dich!«, rief er triumphierend.

»Du kriegst mich nie!«, krächzte sie mit dem Mut der Verzweiflung. Sie machte noch zwei Schritte und stand an einer Fahrzeuggrube. Die Glastür dahinter schien ihr unerreichbar.

Seine Schritte hallten gespenstisch in dem hohen Raum. Er ging langsam, wähnte sie in der Falle. Jetzt hatte er alle Zeit der Welt. Sie drehte sich um, verharrte und hoffte auf ein Wunder.

Die Umrisse der Grube im Boden hinter ihr konnte sie in der Dunkelheit nur erahnen. Bevor er sie erwischte, würde sie sich lieber freiwillig in die Tiefe stürzen.

Nein, ein Gedanke formte sich in ihrem überhitzten Gehirn. Die Angst und der Selbsterhaltungstrieb raubten ihr jegliche Skrupel. Es gab nur eine Lösung, sie musste ihn in die Grube stoßen. Dieser Gedanke setzte ihre letzten Reserven frei.

»Hol mich doch, du Feigling! Mich kriegst du nie!«, spottete sie. Sie täuschte einen Ausfallschritt nach links an. Ihr Gegenüber reagierte sofort und machte einige Schritte auf sie zu.

»Komm’ her, Liebster!«, lockte sie ihn. Es war ihr rätselhaft woher sie den Mut für diese Aktion nahm.

»Du Schlampe!«, brüllte Samuel und kam immer näher. Nathalie bewegte sich nicht. Nur sie wusste, dass das gähnend schwarze Loch der Fallgrube hinter ihr lag.

»Ich hab dich gleich!«, sagte Samuel schon siegessicher. Sein Blick war starr auf sie gerichtet. Nathalie stand steif wie eine Statue da. Sie hatte die Fäuste geballt und verzog ihre Lippen zu einem schiefen Lächeln. Dann stürmte er auf sie zu. Kurz bevor er sie greifen konnte, machte sie einen schnellen Schritt zur Seite.

Der Angreifer konnte aber nicht mehr bremsen, blickte erst ungläubig, dann entsetzt, als er den Boden unter seinen Füßen verlor. Wie in Zeitlupe kippte er nach vorne. Er ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht wieder zu erlangen oder irgendwo Halt zu finden. Sein Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei. Das dumpfe, knackende Geräusch als sein Kopf auf den Betonrand der Grube aufschlug, jagte Nathalie einen eiskalten Schauer über den Rücken. Dann hörte sie seinen Körper am Boden der Grube aufschlagen.

Nathalie lauschte. Kein Ton, kein Lebenszeichen kam aus der Dunkelheit.

Sie musste sich vergewissern, was mit Samuel los war. Aber in dem schwarzen Loch konnte sie nichts erkennen.

»Hallo!«, flüsterte sie.

»Hallo!«, sagte sie nochmals lauter, und war erstaunt über die fremde Stimme, die sie hörte. Licht!, sie brauchte Licht! Ihr Handy hatte sie im Wald verloren. Nathalie sah sich um. Eine Reihe von Schaltern schimmerte weißlich neben der Bürotür. Sie ging zu ihr hinüber und betätigte probeweise den obersten Schalter. Mit metallischem Klicken erstrahlte eine Reihe von Neonröhren an der Decke.

Nathalie hielt die Luft an und wagte sich dann an den Rand der Grube. Eine reglose Gestalt lag bäuchlings auf dem fleckigen Betonboden. Aus einer Kopfwunde sickerte Blut.

Sollte sie auf der schmalen Treppe nach unten gehen? Sie musste wissen, was mit ihm los war. Nathalie setzte einen Fuß nach dem anderen auf die Metallstufen, die in die Tiefe führten, immer bereit sofort zu fliehen. Die Gestalt bewegte sich nicht, sie beugte sich über ihn und versuchte seinen Puls am Hals zu ertasten. Es war nichts zu spüren.

O mein Gott, sie hatte ihn umgebracht! Nathalie Homberger war eine Mörderin! Die ganze Euphorie war verflogen. Sie musste hier weg! Nathalie verließ die Grube fluchtartig, schaltete das Licht in der Halle aus und zwängte sich durch den Spalt am Tor nach draußen.

Ihre Blase meldete sich. Sie hockte sich hinter einen ausgeschlachteten PKW und urinierte. Dabei bemerkte sie, dass der Fuß in der nassen Socke eiskalt, der verbliebene rote Stiefel schlammverkrustet war. Als sie die Jeans zuknöpfte, fielen ihr die dunklen Ölflecken auf ihrem hellen Mantel auf. Der war nicht mehr zu retten. Sie wischte sich die halblangen Haare aus der Stirn, strich sie hinter die Ohren.

Dein Tagwerk ist getan, dachte sie sarkastisch. Zuerst hast du jemanden überfahren, dann jemanden umgebracht. Starke Leistung, Nathalie! Ein bitteres Lachen blieb ihr im Halse stecken.

Sie tastete nach dem Handy um Gundi anzurufen. Mist, sie hatte es ja im Wald verloren. Aber der Akku war sowieso leer gewesen. Ihr blieb nichts übrig, sie musste zurück und nach einem Telefon im Büro suchen.

Mit pochendem Herzen schlüpfte sie abermals in das Halbdunkel der Werkstatt und tastete sich zum Büro. Die Grube ignorierte sie und drückte vorsichtig die Glastür auf.

Da stand er vor ihr, eine dunkle Gestalt, wie aus der Erde gewachsen, groß und bedrohlich. War Samuel aus der Grube auferstanden?

Sie machte einen schnellen Ausfallschritt und wunderte sich, dass ihr Stalker nicht reagierte. War er sich seiner Sache so sicher? Wie in Trance griff sie nach dem schweren Locher auf dem Schreibtisch und stürzte auf den vermeintlichen Samuel zu.

»Geh endlich weg!«, schrie sie völlig enthemmt. Sie schlug auf die Gestalt ein und stutzte. Warum wehrte sich ihr Gegenüber überhaupt nicht und kippte dann klaglos auf den Boden? Sie hielt inne.

Ihr hysterisches Lachen hallte durch die Werkstatt. Auf dem Boden lag der ramponierte Aufsteller einer Werbung für ein Motoröl. Ein pausbäckiger Tankwart grinste sie fröhlich an.

Erleichtert gab sie dem Pappkameraden einen Tritt mit dem beschuhten Fuß. Der Werbeaufsteller rutschte unter den Schreibtisch, der mit Papierkram bedeckt war.

Sie sah aber kein Telefon, Panik überkam sie wieder.

Nathalie begann planlos zu suchen und zog Schubladen aus dem Schreibtisch. Auf einem zerschlissenen gelben Telefonbuch in der untersten Lade lag eine Pistole. Nathalie steckte sie kurz entschlossen in ihre Manteltasche. Nie mehr würde sie so wehrlos wie heute Abend sein! Ab jetzt konnte sie sich verteidigen.

Sie wühlte in den Papieren auf dem Tisch und grub tatsächlich ein speckiges Telefon aus. Mit zitternden Händen hob sie das Mobilteil aus der Ladeschale. Verflixt, seit alle Nummern im Smartphone eingespeichert waren, wusste sie nicht mal mehr die ihrer besten Freundin auswendig.

Sie probierte eine Nummernkombination, die ihr durch den Kopf geisterte. Mit einer wortreichen Entschuldigung bei einer gewissen Frau Sackmeier, die sie beschimpfte, weil sie sie mitten in der Nacht geweckt hatte, scheiterte der erste Anruf kläglich.

Beim zweiten Versuch hatte sie tatsächlich Gundi am Apparat.

Die SOKO Gewaltverbrechen frühstückt

Hauptkommissarin Bernadette von Hohenstein parkte ihr gelbes Mini Cabrio schwungvoll unter einem der riesigen Kastanienbäume am Parkplatz vor dem Polizeipräsidium der Tübinger Polizei ein. Der war nur schwach belegt und sie hatte die freie Auswahl.

Sie schaltete das Radio aus, kramte das Handy aus der voluminösen Handtasche auf dem Beifahrersitz und seufzte. War sie schon kommunikationssüchtig oder nur der digitalen Zeit entsprechend ganz normal immer auf Empfang?

»Lieb dich!«, schrieb sie in der App. Dann fügte sie mehrere Emojis mit Herzchen und einen Regenbogen dazu. Zufrieden drückte sie auf senden.

Vor fünfunddreißig Minuten hatte sie sich von ihrem Freund, dem Pathologen Julius Burmeister, mit einem innigen Kuss verabschiedet. Sie lebte erst seit kurzem mit ihm und seinen Töchtern Ayana und Makeda in dessen Haus im Amselweg 3 in Tübingen zusammen. Hin und wieder gab es, wie in jeder Beziehung, Spannungen, aber trotzdem schwebte sie immer noch auf Wolke Sieben.

Als sofort ein Smiley mit einem Herzchen und ein weißes Einhorn als Antwort kamen, lächelte sie. Einhorn, haha, Julius zog sie gerne mit ihrer abgöttischen Pferdeliebe auf. Leider hatte sie viel zu wenig Zeit sich um ihren Wallach ›Rochus von Petersburg‹ zu kümmern, der im Gestüt ihrer Eltern, der von Hohensteins, stand. Auch ihr Hobby, das Aquarell malen, kam in letzter Zeit viel zu kurz. Eigentlich fand es überhaupt nicht mehr statt.

Heute war ein Morgen genau nach ihrem Künstler Geschmack. Das Laub der Kastanienbäume leuchtete in allen Herbstfarben. Zusammen mit der strahlenden Herbstsonne wäre das eine stimmige Bildkomposition gewesen.

Sie seufzte. Es juckte sie in der Pinselhand. Aber dafür war jetzt nicht die Zeit.

Bernadette stieg aus und zog sofort den Parka enger um sich. Es blies ein eisiger Ostwind, der das Laub vor sich hertrieb und zu Häufchen auf dem Gehweg zusammen wehte.

Sie hastete auf das blau gestrichene, dreistöckige Polizeigebäude zu. Es war aus den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts und schon in die Jahre gekommen. Nachdem sie sich bei der Beamtin an der Eingangskontrolle ausgewiesen hatte, nahm sie in sportlicher Manier die Stufen zum 2. Stock, wo die SOKO Gewaltverbrechen untergebracht war.

Als sie ins Büro kam, saß ihr Kollege Oberkommissar Wolfgang Schickenrieder am Besprechungstisch und trank einen Cappuccino. Mhhh, das roch ja schon mal wunderbar!

»Morgen Bernadette! Leider keine Leiche heute.« Er grinste schief und hielt triumphierend eine Tüte von der Bäckerei Padeffke hoch, »dafür die ersten Kokosmakronen des Jahres, zum Probierpreis!«

»Morgen zusammen! Du und dein Schnäppchenwahn!«, lachte Bernadette.

Sie regte sich schon lange nicht mehr über seine Marotte auf und fand sie inzwischen eher witzig. Er brachte oft Süßes mit und das ging immer. Um die genaschten Kalorien abzubauen, legte sie einfach eine Joggingrunde mehr ein.

Oberkommissar Robert Altmann, der Oldie der Truppe, saß wie üblich hemdsärmlig vor seinem Computer und tippte auf seiner Tastatur herum.

»Ich mach mir noch einen Cappuccino! Wer will auch was?«, rief Wolfgang und hantierte an der Kaffeemaschine.

»Espresso, schwarz ohne Zucker!«, bestellte Bernadette. Sie hängte ihren Parka über die Lehne ihres neuen ergonomischen Bürostuhles und schaltete ihren Rechner ein.

»Für mich nur heißes Wasser. Mal sehen welcher Tee es heute wird.« Robert klappte seine Holzkiste mit Teebeuteln auf und begann darin wie in einem Archiv zu blättern. »Morning breakfast! Eine gute Wahl!«, sagte er dann mehr zu sich selbst. Sichtlich zufrieden öffnete er das Papierkuvert des Teebeutels und hängte ihn in eine Tasse mit der Aufschrift ›Vorsicht Bulle!‹.

»Habt ihr heute schon was vom Wilden Wotan gehört?«, fragte Robert. Seinen Spitznamen benutzen seine Mitarbeiter nur hinter seinem Rücken, obwohl Wotan Wilde natürlich davon wusste.

»Du meinst von unseren allseits geliebten Chef«, warf Bernadette mit breitem Grinsen ein.

»Ich hab ihn heute noch nicht gesehen. Vielleicht geht er die Tage mal etwas ruhiger an. Wir haben ja keinen aktuellen Fall. Oder er begleitet diese Annabell Krötenheinrich auf einem ihrer Wünschelrutengängen«, philosophierte Wolfgang.

Das Zusammentreffen der Esoterikerin und Feng Shui - Expertin und des fahrradbegeisterten Kommissars war von Anfang an von Missverständnissen geprägt gewesen.

Wotan fühlte sich wie ein hilfloses Kaninchen, wenn sie ihn mit ihren katzengrünen Augen fixierte. Trotzdem suchte er ihre Nähe. Er verstand sich selbst nicht mehr.

»Vielleicht sitzt er bei ihr im Wintergarten und streichelt ihren schwarzen Kater«, ergänzte Robert. Ungern dachte er an sein erstes Zusammentreffen mit Annabell.

Das war bei der Vernehmung ihres Bruders Hermann Purzelt bei ihrem letzten Fall gewesen.

Auch er hatte das Gefühl gehabt, sie würde mit ihrem Blick bis auf den Grund seiner Seele sehen. Ihm wurde jetzt noch mulmig bei der Erinnerung daran.

»Glaub ich nicht, ich ruf ihn mal an«, riss ihn Bernadette aus seinen Gedanken. Sie drückte die Kurzwahltaste auf ihrem Telefon und lauschte.

»Komisch, er scheint sein Handy ausgeschaltet zu haben. Ob da Annabell ihre Hände im Spiel hat?«, sie grinste süffisant.

»Blödsinn! Seit der Scheidung von seiner Frau Siegrun hat er für das andere Geschlecht nicht mehr viel übrig. Sie ist gleich bis nach Südafrika mit ihrem Lover ausgewandert. Konnte wohl nicht weit genug von Wotan weg sein.« Robert machte auf Männerversteher.

»Seit dem Tag der offenen Tür habe ich nichts mehr von ihm gehört. Er hatte am Schluss auch ganz schön getankt«, meinte Bernadette. Auch sie war am Wochenende im Mehrfamilienhaus ›Am Alten Güterbahnhof 17‹ bei dem Fest gewesen. Wotan hatte in dem Neubau eine Wohnung im 4. Stock vor kurzem bezogen.

»Hacke voll war der, würde ich sagen. So kenne ich ihn eigentlich gar nicht«, ergänzte Wolfgang.

»Seltsam ist diese kryptische SMS, die er mir noch am gleichen Abend geschrieben hat. Hier, ›Drei verliebte Pinguine‹ steht drin, was soll das?« Bernadette hielt ihr Handy hoch und sah ratlos in die Runde.

»Alkohol!«, war das kurze Statement von Wolfgang.

»Eine Menge Alkohol!«, ergänzte Bernadette.

»Bevor wir gleich eine Suchaktion starten, sollten wir ihm noch etwas Privatsphäre gönnen. Steckt eure Nasen doch nicht immer in fremde Angelegenheiten!«, warf Robert ein und sah dabei nicht einmal von seiner Tastatur auf.

»Also gut, dann lassen wir es auch ruhig angehen. Was der Boss kann, können wir auch.« Bernadette nippte an ihrem Espresso und knabberte an einer Kokosmakrone. Sie nickte anerkennend, die Qualität stimmte. Die Bäckerei ›Padeffke‹ war die Beste.

Nathalie wird vermisst

In diesem Moment des allgemeinen Konsens über einen entspannten Arbeitsbeginn trat Kommissar Oliver Wiesner, ohne anzuklopfen, ins Büro der SOKO.

Als er die missbilligenden Blicke der Truppe von Wotan sah, pochte er pro forma nachträglich an den Türrahmen.

Der Leiter der Vermisstenstelle war wie immer modisch gekleidet und brachte den dezenten Geruch seines herben Aftershaves in den Raum. Der beige Kaschmirpullover betonte seine durchtrainierte Figur, die grau melierten Haare waren akkurat geschnitten und streng zurückgekämmt. Sie waren der einzige Hinweis auf seine 57 Lebensjahre.

»Morgen, Männer, die Dame! Darf ich vorstellen, das ist Herr Hubertus Hornberger!« Er deutete auf den blassen Mann neben sich. Der Mitdreißiger mit dem dichtem braunen Haar hatte einen ungepflegten zwei Tage Bart. Unter dem kanariengelben Pullover wölbte sich ein leichter Bauchansatz und die nachtblaue Chinohose wirkte, als hätte er darin geschlafen.

Bernadette sah die beiden erwartungsvoll an: »Auch einen schönen guten Morgen. Was führt dich zu uns Oliver?«

»Herr Hornberger kam mit einer Vermisstenmeldung zu uns. Aber ich glaube, die Geschichte ist eher was für euch von der SOKO Gewaltverbrechen«, sagte Oliver.

»Jetzt setzt euch erst mal!« Bernadette bot den beiden einen Platz am Besprechungstisch an, an dem sie selbst noch saß, »Wolfgang, komm bitte auch mit dazu!«

Wiesner zog einen Stuhl zu sich und setzte sich gegenüber von Bernadette. Hornberger nahm neben ihm Platz.

»Dann erzählen Sie mal!«, ermunterte Bernadette den Mann. Er sah übernächtigt aus und seine Haut wirkte grau.

»Es geht um meine Frau Nathalie«, begann er stockend und mit leiser Stimme, »Ich war auf Geschäftsreise in Peking und bin erst heute Nacht mit dem Flugzeug zurück gekommen. Als ich heute am frühen Morgen bei uns zu Hause ankam, waren alle Rollos zu, nur das Garagentor stand offen. Es zeigte deutliche Kratzer im Lack und unser X5 war weg. Nathalie fährt sonst nie mit diesem Auto. Sie hat einen eigenen Smart.«

»Vielleicht hat sie nur eine Freundin besucht«, warf Bernadette ein.

»Nein, das glaube ich nicht. Das sah nach überstürzten Aufbruch aus. Sie müssen wissen, es gibt da einen Stalker, Samuel Heigermoser, der sie seit langem belästigt. Der hat zwar ein Annäherungsverbot, hält sich aber nicht daran. Und seit ich meine Mailbox abgehört habe, glaube ich wirklich, dass da etwas passiert ist.«

Hornberger zog sein Handy aus der hinteren Hosentasche. Er legte es vorsichtig wie ein rohes Ei auf den Tisch. Umständlich rief er seine Mailbox auf.

»Er ist da draußen! Ich habe schreckliche Angst! Ich wünschte du wärst da! Ich muss hier weg!«, hörte man eine panische Stimme, die sich fast überschlug.

»Das ist Nathalie und ich habe keinen Ahnung, wo sie momentan ist. Ich habe schon alle Leute angerufen, die ich kenne, nichts! Mit ›ER‹ kann sie nur ihren Stalker meinen und der ist gefährlich, sehr gefährlich!« Hornberger lehnte sich resigniert auf seinem Stuhl zurück und presste die Lippen aufeinander. Er versuchte krampfhaft die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. In seinem zerknitterten Outfit bot er ein Bild des Jammers.

»Heute früh hat eine gewisse Ida Steiger ein verlassenes Auto in einem Wäldchen neben dem Nordring, in der Nähe des Wohnhauses der Hornbergers, gemeldet. Sie war mit ihrem Hund Gassi und völlig hysterisch, weil neben dem Fahrzeug am Straßenrand ein bewusstloser Mann lag«, fügte Oliver Wiesner dazu, »Bei dem Auto handelt es sich um den BMW der Hornbergers. Er stand mit offener Fahrertür mitten auf einer kleinen Nebenstraße, der Liststraße. An der oberen Kante der Fahrertür wurden Blutspuren gefunden. Die sind in der KTU zur Untersuchung. Wir haben auch schon Vergleichsmaterial von Nathalie.« Er sah in die Runde, als erwartete er Applaus für seinen Monolog, dann fuhr er fort, »Auf dem Beifahrersitz lag die Handtasche von Frau Hornberger mit ihrem Geldbeutel und dem Ausweis. Handy fehlte. Der Mann wurde offensichtlich von ihr angefahren. Er hatte aber Glück im Unglück, ist nicht schwer verletzt. Ich glaube eine Platzwunde an der Stirn, wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung, und etliche gebrochene Rippen. Außerdem war er extrem unterkühlt. Er ist inzwischen im Krankenhaus und noch ohne Bewusstsein.«

Oliver Wiesner beendet seinen Vortrag mit einem leichten Hüsteln.

»Kennt ihr schon die Identität des Verletzten?«, fragte Bernadette interessiert.

»Nein, er hatte keine Papiere bei sich. Nur einen Schlüssel und ein Handy, das allerdings beim Aufprall auf das Auto zerstört wurde. Die KTU tut ihr möglichstes, um noch Informationen auszulesen«, antwortete Wiesner.

»Von Nathalie Hornberger keine Spur?«, fragte Bernadette und vermied es, deren Mann anzusehen.

»Nein, aber wir befürchten das Schlimmste. Vielleicht hat ihr Stalker sie entführt.«

Hubertus sprang nach diesem Statement von Wiesner entsetzt auf. Jetzt erst wurde Wiesner bewusst, wie schockierend die Vermutung auf ihren Ehemann wirken musste. Er legte seine Hand auf dessen Schulter und drückte ihn wieder auf den Stuhl.

»Aber wir tun natürlich alles, was in unserer Macht steht um sie zu finden, Herr Hornberger. Leute, habt ihr mal ein Wasser für den Mann?«, der Beamte versuchte Hornberger zu beruhigen.

»Und was sollen wir jetzt dabei? Das ist doch eindeutig was für die Vermisstenstelle!«, fragte Wolfgang.

»Ich dachte...«, druckste Wiesner herum und dreht an dem dem silbernen Stecker in seinem linken Ohrläppchen, »...da ihr momentan keinen aktuellen Fall habt, könntet ihr uns etwas unterstützen. Wir sind komplett überlastet. Anton Reichenbach ist auf Kur, Lisa Helmchen im Elternurlaub und Manfred Hummel hat es wieder im Rücken.«

»Ich glaube es geht los! Glaubst du wir sitzen hier nur herum, trinken Kaffee und essen Kokosplätzchen!«, sprudelte es aus Bernadette heraus. Sie sah Wiesner kampflustig an. Der konnte es überhaupt nicht fassen. So kannte er Bernadette gar nicht. Sie war sonst eher ruhig und kollegial.

»Scherz! Dummerweise ist es momentan wirklich so. Natürlich unterstützen wir euch!«, sagte Bernadette nach einer winzigen Pause.

Der entsetzte Gesichtsausdruck von Wiesner verwandelte sich schlagartig in Erleichterung.

Alle lachten. Sogar auf Herrn Hornberger Gesicht erschien der Anflug eines Lächelns.

»Gut, dann wollen wir euch mal Amtshilfe leisten«, meinte sie versöhnlich. Sie sah Wolfgang an.

»Komm mit, wir schauen uns den Ort des Verbrechens mal an! Oliver, wo war das genau?« Oliver Wiesner rief Google Maps auf. Er deutete auf den Ort des Unfalls.

»Gut, das finden wir!«, meinte Bernadette.

»Herr Hornberger, wir übernehmen das jetzt! Sie können erst mal nach Hause gehen. Aber halten Sie sich zu unserer Verfügung! Ach ja, wir bräuchten noch ein Foto von ihrer Frau. Sie können es mir ja auf mein Handy schicken. Wir melden uns dann bei ihnen, wenn wir etwas wissen.« Bernadette gab Hornberger eine ihrer Visitenkarten und schlüpfte in ihren Parka, während Wolfgang zum Kleiderständer ging und seine Jacke anzog.

Hornberger wirkte irgendwie erleichtert, er erhob sich und verließ hinter Oliver Wiesner das Büro.

Gundi hilft

Es war gut so, dass Hubertus Hornberg nichts von den Ereignissen der Nacht wusste, in die seine Frau verwickelt war. Sonst hätte er sich wahrscheinlich noch mehr Sorgen gemacht.

Nachdem es Nathalie Hornberger gelungen war, im Büro von Fatis Werkstatt die Nummer ihrer Freundin zu wählen, überfiel sie diese mit einer wirren Geschichte.

»Gundi, hilf mir! Hol mich ab! Samuel, der Arsch hat mich verfolgt! Er ist in der Grube und tot! Es war schrecklich! Komm!«, ratterte sie ohne Begrüßung herunter. Dann sackte sie kraftlos auf dem wackligen Bürodrehstuhl zusammen.

»Nathalie, bist du das? Wo bist du denn? Hallo Nathalie!«, stammelte Gundi schlaftrunken ins Telefon. Um diese nächtliche Stunde, war sie von dem Anruf völlig überfordert.

»Ich, ich bin in der Werkstatt«, stammelte Nathalie. Sie schluckte trocken. Ihre Zunge klebte am Gaumen. Sehnsüchtig starrte sie die angebrochene Flasche Cola Light auf dem Schreibtisch an.

»Welche Werkstatt?«, fragte Gundi nochmals.

»Im Büro von Fatis Garage. Die ist bei dir um die Ecke!«, flüsterte Nathalie.

»Was tust du...? Egal, die kenn’ ich. Halte durch, ich bin in fünf, nein, zehn Minuten da«, antwortete Gundi und legte auf.

»Danke!«, murmelte Nathalie und stemmte sich an der Schreibtischkante hoch. Sie musste zuerst ihren brennenden Durst bekämpfen.

Zögernd nahm sie die Cola Flasche, schraubte den Deckel ab und wischte den Flaschenrand mit ihrem Mantelärmel ab. Das musste genügen.

Sie nahm einen langen Zug. Das lauwarme Gesöff erzeugte kurz einen leichten Brechreiz, weckt aber dann wieder ihre Lebensgeister. Ohne abzusetzen trank sie die Flasche leer.

Dann hob sie den Pappaufsteller auf und stellte ihn wieder gerade hin. Der arme Fati würde am nächsten Morgen genug Aufräumarbeiten zu leisten haben. Sie umrundete die Grube des Schreckens, tappte durch die Werkstatt und setzte sich im Hof auf den zerschlissenen Ledersitz eines Cabrios, dem schon Türen und Lenkrad abhanden gekommen waren.

Zehn Minuten später hörte sie Motorengeräusche. Sie sprang auf, stellte sich in die Einfahrt und winkte dem Lichtkegel von Gundis rotem Fiat Tipo Kombi entgegen.

Gundi bremste und stieg aus.

»Mein Gott, Nathi, wie siehst du denn aus!«, rief die entsetzt und schloss ihre Freundin trotz des völlig verdreckten Mantels in die Arme.

»Wir müssen schnell weg! Es war ein Unfall, das musst du mir glauben. Die Polizei wird nach mir suchen«, schluchzte Nathalie.

»Steig ein!«, sagte Gundi rasch. Ihre Freundin war ja völlig durch den Wind. Sie führte die, vor Kälte und Erschöpfung zitternde, Nathalie zum Auto und schob sie auf den Beifahrersitz.

»Ich bring dich erst mal an einen sicheren Ort. Lass mich nachdenken!«, meinte sie.

»Aber nicht in deine Wohnung oder ein Hotel. Da wird die Polizei zuerst suchen«, jammerte Nathalie.

Gundi öffnete das Handschuhfach und reichte ihrer Freundin eine angebrochene Tüte Lakritzschnecken. Die nahm dankbar eine, biss hinein und kaute hektisch darauf herum. Gundi rollte einen Lakritzfaden ab und ließ ihn nachdenklich im Mund zergehen.

»Pass auf! Mein Onkel Alexander ist guter Kunde auf dem Weingut Huber. Ich war schon mal bei einer Weinprobe dabei. Die kennen mich. Der Huber Bauer und seine Frau Ludmilla vermieten auch Zimmer. Dort wird dich niemand suchen. Sind nette Leute«, schlug Gundi unvermittelt vor. Ein erleichtertes Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie sah Nathalie an.

»Das ist doch eine Superidee, oder?«, sagte sie dann mehr zu sich selbst.

»Aber können wir da mitten in der Nacht hin?«, flüsterte Nathalie skeptisch.

»Neben Gästezimmern hat er auch noch ein Heuhotel in der Scheune. Die Tür ist meist nicht abgeschlossen. Da kannst du erst mal heute Nacht schlafen. Du kannst dich ja dann morgen früh bei ihm anmelden. Berufe dich einfach auf mich und Onkel Alex«, Gundi startete den Wagen und bog vom Hof der Garage auf eine schmale Teerstraße davor ein.

Nach nur 20 Minuten hatten sie das Weingut erreicht. Ein Bewegungsmelder schaltete das Licht im Hof zwischen Scheune und Haus ein. Der dunkle Schatten einer Katze streifte um die Scheunenecke. Gundi lenkte den Tipo nach links und ließ ihn neben einem Traktor ausrollen. Sie wollte so wenig Lärm wie möglich machen.

Ein unglaublicher Sternenhimmel spannte sich über sie, als sie ausstiegen.

»Du hast ja nur einen Schuh an«, stellte Gundi erstaunt fest.

»Der andere steckt irgendwo im Wald im Schlamm«, jammerte Nathalie.

»So weit ich mich erinnere sind Gästeschlappen oben. Da kannst du dir welche nehmen!«, meinte Gundi. Gemeinsam gingen sie in die Scheune und hoch zum Heuhotel.

Am Vormittag nach der dramatischen Nacht saß Nathalie relativ entspannt auf der Bank vor dem Bauernhaus in der Herbstsonne. Von der Aufregung, die sie bei ihrem Mann und der Polizei erzeugte wusste sie nichts.

Sie hatte schon den Alois Huber kennengelernt und ein kräftiges Frühstück intus. Alois hatte ihr ein Zimmer in der Pension zugewiesen und sie nicht viel gefragt.

Dann war Gundi gekommen und hatte ihr Kleidung und ihr altes Handy mit einer Prepaidkarte gebracht. Leider musste sie sich in eine einwöchige Dienstreise verabschieden.

Nathalie hatte auch versucht ihren Mann Hubertus zu erreichen, es ging aber nur der Anrufbeantworter ran.

Ihr Kopf wurde auf einmal schwer, sie sollte sich ausruhen. Sie stand auf und stieg mit vielen Gedanken im Kopf hoch in ihr Zimmer.

Der Fund

Eine halbe Stunde nachdem Oliver Wiesner bei ihnen gewesen war, bogen Bernadette und Wolfgang in die Liststraße ein.

In etwa hundert Meter Entfernung sahen sie das rotweiße Flatterband der Spurensicherung und deren weißen Kastenwagen.

»Stopp!«, rief Wolfgang plötzlich. Bernadette zuckte zusammen und bremste abrupt. Wolfgang deutete in einen holprigen Feldweg, der hinter einem Haselnussstrauch rechts in den Wald abging. Mitten auf dem Weg stand ein schwarzer Opel Corsa mit geöffneter Fahrertür. Der Fahrer hatte sein Auto anscheinend in allerhöchster Eile verlassen.

»Ich habe da so ein Bauchgefühl. Ich lass mal das Kennzeichen checken«, sagte Wolfgang und rief Robert im Präsidium an. Er gab die Buchstaben- und Zahlenkombination durch. Bernadette fuhr langsam weiter und Wolfgang blieb am Telefon.

»Der Wagen ist auf einen Samuel Heigermoser zugelassen«, teilte er kurz darauf Bernadette mit, »Robert ist der Beste und der Schnellste.«

»Den Namen habe ich doch schon mal gehört. Hat den nicht Herr Hornberger vorhin erwähnt?«, Bernadette fuhr noch langsamer. Sie sah Wolfgang an. Der zuckte nur die Achseln. Bernadette gab wieder Gas.

Sie parkten ihr Auto hinter dem Kastenwagen der Spurensicherung und stiegen aus. Am zweiten herrenlos abgestellten Auto, dem schwarzen BMW X5 von Nathalie, waren zwei Beamte beschäftigt. Wolfgang und Bernadette hoben das Flatterband hoch und schlüpften darunter durch.

Bernadette erkannte Penny Schönblick von der Spurensicherung, die in der Vergangenheit mit spektakulären Beweisfunden aufgetrumpft hatte. Die schlanke, kurz- und rothaarige Mitvierzigerin war eine der wichtigsten Personen hinter der SOKO Gewaltverbrechen. Sie stand im weißen Overall an der Vorderseite des X5.

»Hallo Penny! Spurenlage?«, grüßte Bernadette kurz und betrachtete den zersplitterten rechten Scheinwerfer.

»Wir haben einiges. Die meisten Spuren sind dem Unfall mit dem Fußgänger zuzuordnen. So das kaputte Licht und die kleinen Dellen am Kotflügel. Außerdem haben wir Blutspuren an der Fahrertür und jede Menge Fingerabdrücke. Aber die müssen wir erst abgleichen«, spulte Penny den ersten Bericht ab.

»Heigermoser! Ja, richtig, das ist der Stalker!«, warf Wolfgang plötzlich völlig zusammenhanglos ein, »Der schwarze Opel Corsa da vorne ist auf ihn zugelassen. Penny, den solltet ihr euch auch mal ansehen!« Die blickte ihn verständnislos an.

»Nathalie Hornberger, die Fahrerin des BMW X5, ist vermutlich vor Heigermoser geflohen«, fügte Bernadette erklärend dazu.

»Warum hat er sein Auto stehen lassen? Wo ist er jetzt? Wurde etwa er angefahren? Hat das schon jemand überprüft? Wolfgang besorge ein Bild von dem Stalker und dem Angefahrenen!« Bernadette wurde plötzlich betriebsam.

»Du hast recht! Wir müssen ein Foto von Heigermoser mit dem Verletzten im Krankenhaus vergleichen. Ich ruf mal Robert an!« Wolfgang zückte sein Handy.

»Penny, was ist mit dem Blut an der Tür? Wann können wir da ein Ergebnis erwarten?«, fragte Bernadette.

»Das wird noch dauern, ist aber schon im Labor. Wir haben auch schon Vergleichsmaterial von der Hornberger.« Penny schien etwas überrumpelt wegen der plötzlichen Dringlichkeit des Falles.

»Es gibt kein Bild vom Angefahrenen, aber von Heigermoser. Der ist aktenkundig. Er schickt es mir aufs Handy!«, meldete Wolfgang zurück, nachdem er telefoniert hatte.

»Nächste Station ist nachher das Krankenhaus. Ich will mir den Verunfallten selbst anschauen«, Bernadette war in ihrem Element, aber ihr fehlte ihr Sparringspartner Wotan. »Wotan immer noch nicht da?«, fragte sie Wolfgang.

»Keine Ahnung! Ich ruf ihn mal an.« Aber dazu kam er nicht mehr, weil sein Smartphone klingelte. Er sagte nur: »Mhh, aha, gut, wir kommen«, und legte dann auf.

»Und?«, fragte Bernadette ungeduldig. Sie trug nur ein T-Shirt unter dem Parka und fröstelte. Zumindest hatte sie daran gedacht, feste Schuhe anzuziehen.

»Es gibt einen Toten. Im Winkelrain 22 in ›Fatis Garage‹. Herr Fati, der Besitzer, hat angerufen. Er hat die Leiche entdeckt, als er einen Wagen auf eine Untersuchungsgrube fahren wollte. Das ist gleich hier ums Eck.« Wolfgang rief eine Kartenapp auf.

»200 Meter Luftlinie diese Richtung.« Er zeigte nach Süden.

»Ich glaube, wir machen einen kleinen Herbstspaziergang«, schlug Bernadette vor. Wolfgang war zwar nicht begeistert, folgte dann aber seiner Vorgesetzten.

Sie durchquerten ein Wäldchen mit jungen Erlen und stapften weiter durch das Unterholz. Rechterhand floss das Bächlein, das Nathalie in der Nacht in Panik durchquert hatte.

»Da sind Fußspuren.« Wolfgang bückte sich und deutete auf den schlammigen Lehmboden, »Kleinere und daneben auch größere.«

»Hier steckt ein roter Damenschuh!«, Bernadette beugte sich hinunter und zog einen verdreckten Stiefel aus dem Uferschlamm. »Hast du `ne Beweisstücktüte dabei?«

Wolfgang kramte in seinen Taschen und brachte einen ZIP Beutel zum Vorschein. Bernadette versenkte den roten Schuh in der Tüte und Wolfgang betrachtete das Teil von allen Seiten.

»Jetzt erst mal weiter.« Bernadette ging gebeugt weiter, um den Ästen der Weidenbüsche auszuweichen. Wolfgang folgte schnaufend und nach vorne gebeugt.

»Was haben wir denn da?« Er fischte ein Handy aus einem Grasbüschel und versuchte es ein zu schalten. »Akku leer!«, bemerkte er kurz, bevor er es in eine weitere Tüte gleiten ließ.

»Ich glaube, wir sind Nathalie auf der Spur«, mutmaßte Bernadette.

»Sieht so aus!«, stimmte Wolfgang zu.

Dann standen sie unvermittelt auf dem Grundstück eines Schrottplatzes. Zumindest sah es auf den ersten Blick so aus. Neben Bergen von Altreifen lagen ausgebaute Autoteile und Altmetallschrott kreuz und quer. In den Schlaglöchern des geteerten Weges hatten sich durch den starken Regen vor zwei Tagen große Pfützen gebildet. Darauf schillerten Ölflecken in allen Regenbogenfarben.

Das Schiebetor der angrenzenden Werkstatthalle war halb geöffnet. Der gelbliche Fassadenputz des Gebäudes platzte an vielen Stellen ab und gab den Blick auf eine rote Backsteinmauer frei. Das gesamte Anwesen machte einen heruntergekommenen Eindruck.

Auf dem Hof stand schon der Volvo von Julius Burmeister, dem Pathologen, und daneben ein blaues Polizeiauto. Gerade fuhr der weiße Kastenwagen der Spurensicherung vor und Penny Schönblick stieg aus. Wolfgang ging auf sie zu, überreichte ihr den eingesackten Schuh und das Smartphone.

Bernadette umrundete die Pfützenlandschaft und trat durch das Tor in die Halle. Der Innenraum wirkte genauso chaotisch und verdreckt wie die Umgebung. Ein grauer Kombi ohne Kotflügel stand auf einer Hebebühne, ein VW Bus mit rotem, ausgeblichenem Lack parkte schräg an der rechten Wand.

Ein schmächtiges Männchen, das einen schmuddeligen dunkelgrauen Overall mit dem verblichenen Logo ›Fatis Garage‹ trug, stand neben einem feisten Polizisten. Beide blickten interessiert in die Grube, die von einem Scheinwerfer erhellt war. Bernadette trat zu ihnen.

»Hallo, die Herren!«, sagte sie, »Was gibt’s denn da zu sehen?«

»Die Leiche!«, sagte der Polizist kurz angebunden.

In der Grube beugte sich Julius über eine Gestalt am Boden.

»Hallo Julius!« Der Pathologe sah zu Bernadette hoch und lächelte.

»Hast du schon was für uns?«, fragte Bernadette und formte kurz einen Kussmund.

»Auf den ersten Blick einen Toten. Er hat eine unschöne Platzwunde an der Stirn, die aber meiner ersten Einschätzung nach nicht tödlich war. Ich würde sagen, er hat sich beim Sturz in die Grube das Genick gebrochen. So zwischen null und ein Uhr.« Julius hielt zwei Zipp-Tüten in die Höhe, »Brieftasche und Handy!«

Penny Schönblick kam von hinten und schnappte sich die Tüten. Sie zog mit spitzen, behandschuhten Fingern die Brieftasche heraus. Dann durchsuchte sie das Portemonnaie und holte einen Personalausweis aus der Kartenklappe.

»Samuel Heigermoser. Sieh mal an! Wohnhaft hier in Tübingen, Mohnweg 5«, las sie vor.

»Der Stalker! Da haben wir ihn. Also hat Nathalie ihn nicht überfahren. Wie er in die Grube kam, können wir nur vermuten. Vielleicht ein Unfall, vielleicht Absicht, vielleicht Notwehr. Auf jeden Fall gab es hier wahrscheinlich einen Zusammenstoß zwischen den beiden. Aber, wo ist die Frau jetzt?«, fragte sie und sah Wolfgang an.

Der fixierte den hageren Mann. Fati hob ratlos die Schultern: »Keine Ahnung, bin vor einer Stunde gekommen und hab nix Auffälliges bemerkt. Im Büro war das gleiche Chaos wie immer.« Er grinste, so dass man die von Nikotin verfärbten Zähne sehen konnte.

»Hab erst mal einen Espresso gemacht und dann wollte ich den Kombi auf die Grube fahren, um ihn mir von unten an zu schauen. Und da lag er.«

Der Mann sprach nicht weiter. Er wirkte sichtlich erschüttert.

Wolfgang wandte sich von ihm ab: »Wir sollten die Nachbarn befragen, vielleicht hat jemand heute Nacht etwas bemerkt. Der Mann kann übrigens gehen, wenn sie seine Personalien aufgenommen haben«, meinte er noch zu dem Polizisten.

»Du die linke Straßenseite, ich die rechte! Wir treffen uns in einer halben Stunde wieder hier«, sagte Bernadette und verließ mit Wolfgang im Schlepptau die Halle.

Eine halbe Stunde später kamen sie am Kastenwagen der Spurensicherung wieder zusammen.

»Ich hab nichts Entscheidendes erfahren«, stellte Wolfgang fest.

»Ich hab mit einer älteren Dame mit Cockerspaniel gesprochen. Die wollte gerade mit ihrem Purzel Gassi gehen. Sie war auch nachts unterwegs, weil sie nicht schlafen konnte. Sie hat um zirka dreiviertel eins ein Auto in den Hof der Autowerkstatt fahren sehen. Es kam kurze Zeit später wieder raus. Angeblich saßen zwei Personen in dem Kombi. Und jetzt halt dich fest, sie konnte sich an einen Teil der Autonummer erinnern. TÜ-RK und dann eine dreistellige Zahl mit ner eins. Die Lady hätte mir am liebsten noch ihre ganze Lebensgeschichte erzählt. Ist wohl einsam.«

Bernadette zuckte mit den Schultern.

»Ich hab Robert schon angerufen, er kümmert sich darum.« Bernadette zog den Reißverschluss des Parkas bis unters Kinn. Sie fröstelte, war aber sehr zufrieden mit den Anfangsermittlungen.

»Das wär´s, wir sollten zurück zum Auto«, schlug Wolfgang vor.

»Und dann klären wir, wo sich dieser verflixte Wotan `rumtreibt? Wo wir in jetzt so dringend bräuchten. Wir fahren an seiner Wohnung vorbei, bevor wir ins Präsidium zurückkehren.« Bernadette wirkte besorgt und entschlossen.

»Wollten wir nicht ins Krankenhaus zu dem Unfallopfer?«, fragte Wolfgang.

»Das machen wir morgen, eilt ja auch nicht mehr so, nachdem wir wissen, dass er nicht der Stalker ist«, meinte Bernadette.

Als sie zu ihrem Dienst BMW kamen, war der X5 von Nathalie bereits abgeschleppt und das Flatterband abgebaut. Ein weiterer Abschleppwagen zog gerade den Corsa von Samuel Heigermoser auf seine Ladefläche.

Kurz darauf hielt Bernadette auf den Parkplatz vor Wotans Haus ›Am Alten Güterbahnhof 17‹.

---ENDE DER LESEPROBE---