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Das Drama spielt zwischen drei Geschwistern: es geht um das elterliche Haus, das der eine Bruder zugunsten der Schwester veräußern, das der erbende andere Bruder jedoch nicht verkaufen will. Schließlich willigt dieser resigniert in den Verkauf ein. Doch nicht in die Resignation mündet das Stück, sondern in einen Aufruf, die Rede von Nova, die ein neues Zeitalter verkündet.
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Seitenzahl: 108
Peter Handke
Über die Dörfer
Dramatisches Gedicht
Suhrkamp Verlag
Für die Schauspieler:
»Hier stehe ich.« ‒ Alle sind im Recht. ‒ Nach Schlußworten weiterspielen. ‒ Innige Ironie.
»Eine zärtliche Langsamkeit ist das Tempo dieser Reden.«
Friedrich Nietzsche, Ecce homo
»Rolling on the river …«
Creedence Clearwater Revival, Proud Mary
Gregor vor dem Vorhang. Nova kommt dazu und weist auf Gregor.
NOVA
Er war ohne Ohr für den unterirdischen Heimwehchor
Mann aus Übersee, blind für die Tropfen Blut im Schnee
Zuschauermaske über den Wangen, Hand unter Händen an Haltestangen
Wanderer ohne Schatten ‒ Nordsüdostwestherr!
Aber jetzt weiß ich nicht mehr.
GREGOR
Mein Bruder hat mir einen Brief geschrieben. Es geht um Geld, um mehr als Geld: um das Haus unsrer verstorbenen Eltern und um das Stück Grund, auf dem es steht. Beides habe ich als der Älteste geerbt. Mein Bruder wohnt in dem Haus, mit seiner Familie. Er bittet mich, auf das Haus und das Grundstück zu verzichten, damit unsre Schwester sich selbständig machen und sich ein Geschäft einrichten kann. Meine Schwester ist angestellt in einem Warenhaus. Mein Bruder hat ein Handwerk gelernt, arbeitet aber seit langem nur noch auf Großbaustellen, weit weg vom Haus und vom Dorf, und tut dort alles mögliche, das nicht mehr mit seinem ursprünglichen Beruf zusammenhängt. ‒ Es ist eine lange Geschichte. Ich erinnere mich an keinen Moment ausgesprochener Liebe zu den Geschwistern, aber an nicht wenige Stunden der Angst und der Sorge um sie. Noch vor dem Schulalter waren sie einmal einen ganzen Tag verschwunden, und ich lief den Bach ab, bis jenseits des Nachbardorfes, wo er schon in den großen Fluß mündete. Wir wußten vielleicht nichts Besonderes miteinander anzufangen, aber es war immer wieder eine Beruhigung, sie ums Haus zu wissen. Wir waren oft uneins, aber das Versöhnende war jedesmal der Gedanke: »Wir sind doch alle da!« Später war ich es, der wollte, daß sie gleich mir länger auf Schulen gingen; ich blieb der einzige, der das wollte. Oft bei der Abreise in die Universitätsstadt ging ich mit dem Koffer an dem Sägewerk vorbei, wo ich den kaum ausgeschulten Bruder in seiner blauen Arbeitermontur sah, fuhr dann im Omnibus an der Gemischtwarenhandlung vorbei, wo ich die Schwester in ihrem Lehrmädchenkittel vor den Stoffballen oder hinten im kalten Magazin wußte, und spürte dann in der Brust ein Stechen, das nicht das übliche Heimweh war. Ich werde etwas tun, dachte ich. Aber durch all die Jahre weg vom Dorf entschwanden die Geschwister, und ich fand andre Angehörige, zum Beispiel dich, und das erschien mir recht so. Die Verwandten waren nur noch wie ferne Stimmen im Schnee. Bloß einmal kam einer von ihnen wieder nah. An einem Abend schaute ich im Fernsehen die Geschichte von einem halbwüchsigen Mädchen an, das als Vergewaltigte vom Dorf geächtet wurde und sich am Ende umbrachte. Sie wickelte sich in einen Schleier oder Umhang und rollte damit eine Flußböschung hinunter. Sie blieb freilich immer wieder hängen, im Gebüsch oder im hohen Gras, oder weil die Böschung zu flach war und der Schwung noch nicht stark genug. Endlich gelang es ihr doch, sie plumpste ins Wasser und ging auf der Stelle unter, und bei der Orgelmusik, die zugleich einsetzte, packte mich ein Weinkrampf. Es war eigentlich kein Krampf, sondern eine Art Lösung oder Befreiung. Das nächtliche Zimmer von damals ist ein sehr klarer und weiter Raum. Das Bild, das mit dem ertrinkenden Mädchen auf mich einstürzte, handelte von meinem Bruder und befahl mir, ihn von zu Hause, aus dem Dorfbereich, den er noch kein einziges Mal verlassen hatte, wenigstens für eine kurze Zeit herauszuholen und ihm etwas von der anderen Welt zu zeigen. Er mußte, wenigstens einmal, weg von seiner Arbeit, und in einem andern Gewand auftreten als in seiner blauen Montur, und von dem Glanz der Städte wenigstens eine Ahnung kriegen! Bis dahin kannte er ja einzig die nahe Landstadt, und diese fast nur von dem Bett der »Arbeiterunfallklinik«: noch nicht erwachsen, hatte er an Armen und Beinen schon Narben und Verstümmelungen, wie sonst kaum ein Veteran. Er folgte dann gehorsam meiner Einladung. Es wurde nichts Großes daraus, aber immerhin: es war gewesen. In den Jahren danach kam es freilich zwischen dem Bruder und mir zur Entzweiung. Die Ursache dafür war, daß er den Eltern Kummer machte, weit über das dorfübliche Maß hinaus. Ich veranlaßte schließlich, daß er von Haus und Grund verwiesen wurde. Es kam zu einer Szene, bei der ich in der Haustür stand, und der Verstoßene weiter weg, an der Grundstücksgrenze, vor dem Nachbarhaus; zwischen uns die mit seinen Sachen vollgepackte Reisetasche, die ihm am Morgen, als er von irgendwo daherkam, auf den Weg gestellt worden war. Das Stillschweigen im Haus hinter mir, wo gerade noch die fast lautlose Wehklage um den Sohn die Räume erfüllt hatte! Ich schrie zu dem Bruder hinüber: »Wenn du es wagst, hier noch einmal über die Schwelle zu treten, dann erschieße ich dich!« Er antwortete darauf nur mit Hohn; denn es gab bei uns ja kein Gewehr im Haus, und das einzige, auf das ich bisher geschossen hatte, waren die Plastikblumen an den Kirchtagsständen gewesen. »Komm her, und ich schlage dich nieder!« schrie er zurück. Und dabei blieben wir doch beide, wo wir waren, ich auf den Haustorstufen, er an der Grundstücksgrenze, und tauschten auf die Entfernung alle möglichen Drohungen und Verfluchungen aus; und in der folgenden Nacht holte er tatsächlich seine Tasche ab und verschwand ins Ausland, als Fremdarbeiter in irgendeiner Barackenunterkunft irgendeiner Großstadtperipherie. Trotzdem kam mir im nachhinein jener Verfeindungsauftritt unecht und bloß gespielt vor. Schon im Verlauf der Beschimpfungen war mir zwischendurch zum Abwinken und Lachen zumute. Wir hätten jederzeit aufhören und ohne einen Gedanken an das gerade Vorgefallene zusammen ein Bier trinken gehen können. Bei allem Unheil, für das der Bruder verantwortlich war ‒ wir hatten im Grund nichts gegeneinander, gar nichts, auch nicht damals in unsrer Streit-Stunde! Aber wir hatten das Spiel wohl spielen müssen. Endgültig war damit nichts geworden. Nicht wenige Traumbilder handelten von ihm ‒ und solcherart verkehrten wir weiterhin miteinander. Das Wiedersehen an den Grablöchern der Eltern bedeutete dann nicht etwa die Aussöhnung, sondern bestätigte, bekräftigte, beruhigte, und setzte außerdem fest: Wir würden einander nie wieder ein böses Wort sagen. Ich wußte doch, daß ich vielleicht noch weit ärgere Dinge als damals der Bruder getrieben hätte, wäre ich dem vorgegebenen Lebenslauf nicht durch irgendein Glück entkommen. Der Bruder liebt seine Frau und sein Kind wie seine Retter. Und das Anwesen ist für ihn ein Reservat geworden: er will nie mehr von dort weg, und hat sich bei der Beerdigung der Eltern das Bleiberecht auf Lebenszeit erbeten. Seinerzeit auf dem Friedhof sah ich den Taugenichts neu, als einen stolzen und zugleich ortsfremden Menschen. Es war weniger ein Blick als ein Geruch, und der Geruch ist nachhaltig. Der Brief zugunsten der Schwester ist ein Rätsel ‒ und wieder nicht: denn als wir uns damals umarmten, roch ich an meinem Bruder auch das ewige Opfer.
NOVA
Du fingst von zwei Geschwistern an, und am Ende ging es nur noch um einen.
GREGOR
Die Schwester war von uns dreien die Ungefährliche, auch die Geheimnislose, Harmlose. Für ihren Beruf oder ihre Stellung war sie nicht typisch; nie hätte man sie »Verkäuferin« nennen können. Sie stand hinter dem Laden in der Gemischtwarenhandlung oder später in der Etage des Warenhauses, jedesmal wenn ich sie besuchte, eher wie eine Aushilfe, oder wie eine gute Bekannte der Verkaufsperson, deren Verhalten daneben unverkennbar offiziell war. Meine Schwester erschien dagegen verantwortungsfern-unbekümmert. Sie verkaufte wohl nicht ungern, aber ohne Eifer oder Leidenschaft. Ihre Schrift auf den Kassazetteln ist immer eine Kinderschrift geblieben. Sie wollte allerdings auch nie ernsthaft etwas anderes sein als eine untergeordnete Angestellte. Nie habe ich so etwas wie Mitleid für sie gespürt. Und doch wirkte eines jeweils stark nach: und das waren die Blicke, die die jeweiligen Geschäftsinhaber oder Aufsichtspersonen von weitem auf die Schwester warfen, wenn sie mit mir, der kein Kunde war, länger als für einen Begrüßungssatz Privatgespräche führte. Wie ausgeschaltet in solchen Momenten das Tageslicht: es gab dann nur noch die blinkenden Metallstangen mit den bunten Kleiderbahnen, den Kunststoffboden und die Schrankluft, totgefärbte Haare hier wie dort, statt Augen Schatten, und das wunde Rot der Fingernägel. Einmal fiel mir da auf, daß meine Schwester bucklig geworden war, und ich wollte sie aus ihrem Loch heraus. Aber wie? Und wohin? Ich traute ihr keine Selbständigkeit zu. Ein Laden heutzutage ‒ ja: wenn da ein Vorfahr sozusagen als der Hausgeist mittut. Aber in den neuerrichteten Geschäften, auch in den verwinkeltsten alten Räumen, ist da alles nicht bloß nachgestellt? Und trotzdem habe vielleicht gerade ich damals der Schwester den Gedanken ans Sich-selbständig-Machen in den Kopf gesetzt, indem ich ihr vorschlug, aus dem Beruf und ihrer Klasse wegzugehen ‒ in keine höhere, nur eben weg. Die Hypothek jetzt wäre ihre Möglichkeit. Aber ich bin nicht bloß unschlüssig, sondern fühle mich auch schuldbewußt: als hätte ich der Schwester eine immerhin sichere Stellung ausgeredet und damit zugleich dem Bruder das gerade ihm so notwendige Territorium gefährdet. Denn ich gebe das Haus im voraus verloren; aus einem Geschlecht von Habenichtsen kann kein Geschäftsgeist kommen. Und das ist noch nicht alles: Ich kann nicht wegdenken, daß es sich um das Haus unsrer Eltern handelt. Sie haben es fast allein erbaut und sich dabei um einige Lebensjahre gebracht. Auch das Grundstück wurde erst durch ihre Hände nutzbar gemacht: sie haben in einem Felsen eine Quelle gefaßt und von dort das Wasser in langen Rohren metertief unter der Erde ‒ weißt du, was das heißt? ‒ zu Haus und Garten geleitet. Die Steinblöcke wurden zu Terrassenmauern geschichtet, und auf dem steinfreien Erdreich stehen jetzt Obstbäume, oder es wächst einfach nur Gras, von dem aber jeder einzelne Fleck seinen besonderen Namen hat. Für eine lange Zwischenzeit galt mir der Ort wenig. Als du mir einmal erzähltest, jedesmal bei der Wiederkehr in deinen ersten Umkreis spürtest du schon von weitem geradezu eine »Seligkeit«, da verstand ich das und beneidete dich. Von mir hätte ich dergleichen kaum sagen können. Aber seit dem Brief ist mir der alte Platz ganz gegenwärtig. Er ist der Hauptort meiner Träume geworden, der abschreckenden wie der vorbildhaften. Auf der höchsten Terrasse steht ein Baum als ein deutlicher Mittelpunkt. Der Blick geht von dort nach Süden, über die Grenze. Der Baum gehört schon zu dem anderen Land. Vor dem Grenzberg streckt sich eine weite Ebene mit Buckeln von Endmoränen. In der Dämmerung ist es dort still und leer, die Buckel rauchen, die Gletscher sind gerade erst abgeschmolzen, es ist zehntausend Jahre vor unserer Zeit, und es ist unsere Zeit. Diese Stelle mit dem Baum hatte ich insgeheim für mich vorgesehen. Ich wollte dort später einmal sein, in einem Holzhaus, von dem ich dir sogar einzelne Ecken beschreiben könnte. Ich sage dir: Der Ort ist schön. Und er ist nicht bloß Gebäude und Boden, sondern ein Nährgrund, eine Wirtschaft. Ich habe auf ihm die Schlange mit der Krone gesehen, als das örtliche Wappentier. Es darf nicht sein, daß das Haus nun endgültig zum Trauerhaus wird. Ich sehe das Werk ‒ ja, das Werk ‒ unsrer Eltern verschwinden. Ich sehe auf jedem unscheinbaren Arbeiterhaus in jedem noch so entlegenen Dorf eine Firmen- oder Bankplakette blinken, und jedes Haus in der Landschaft als ein Geschäft, und vor Geschäftshäusern nirgends eine Gegend mehr. Ich sehe keine leeren Wege und keinen Zugang zur freien Ebene mehr. Ich sehe meine Verantwortungslosigkeit und mein Verrätertum. Ich weiß jetzt, daß ich gar nichts für die Geschwister tun kann, für niemanden. Ich kann nur erhalten. Und das will ich, um jeden Preis: erhalten! Am liebsten ließe ich den Brief unbeantwortet und bliebe hier bei dem einzigen, wo ich Treue beweisen kann: bei meiner Arbeit ‒ die ohnedies schon gefährdet ist. Aber du wirst mir jetzt sagen, was ich tun soll.
NOVA
Spiele das Spiel. Gefährde die Arbeit noch mehr. Sei nicht die Hauptperson. Such die Gegenüberstellung. Aber sei absichtslos. Vermeide die Hintergedanken. Verschweige nichts. Sei weich und stark. Sei schlau, laß dich ein und verachte den Sieg. Beobachte nicht, prüfe nicht, sondern bleib geistesgegenwärtig bereit für die Zeichen. Sei erschütterbar. Zeig deine Augen, wink die andern ins Tiefe, sorge für den Raum und betrachte einen jeden in seinem Bild. Entscheide nur begeistert. Scheitere ruhig. Vor allem hab Zeit und nimm Umwege. Laß dich ablenken. Mach sozusagen Urlaub. Überhör keinen Baum und kein Wasser. Kehr ein, wo du Lust hast, und gönn dir die Sonne. Vergiß die Angehörigen, bestärke die Unbekannten, bück dich nach Nebensachen, weich aus in die Menschenleere, pfeif auf das Schicksalsdrama, mißachte das Unglück, zerlach den Konflikt. Beweg dich in deinen Eigenfarben, bis du im Recht bist und das Rauschen der Blätter süß wird. Geh über die Dörfer. Ich komme dir nach.
Beide entfernen sich nach links und rechts.
Das erste Bild. Im Hintergrund der Ausschnitt einer einsamen Großbaustelle, verdeckt durch einen Sackleinenvorhang. Im Mittelgrund eine Arbeiterunterkunft. Im leeren Vordergrund eine ältere Frau, die Verwalterin, Besorgerin und Beschließerin der ziemlich großen Baracke, mit Gregor. Klares Sonnenuntergangslicht, das so bleibt.
DIE VERWALTERIN