... und plötzlich bist du tot - Udo Rauchfleisch - E-Book

... und plötzlich bist du tot E-Book

Rauchfleisch Udo

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Beschreibung

Der 6. Fall des Kommissars Jürgen Schneider aus Basel. Auf offener Straße wird ein Kongolese erstochen, der mit einer Sugar Mummy zusammenlebt. Hat der Mord etwas mit ihr zu tun? Oder ist es ein ausländerfeindliches Hate Crime? Oder eine Tat mit homophobem Hintergrund? Die Ermittlungen gestalten sich äußerst schwierig, da verschiedene Personen als Täter in Frage kommen. Lange Zeit tappt der Kommissar im Dunkeln, bis er durch Zufall auf die Spur eiskalter Killer trifft, auf deren Konto noch weitere Morde gehen. Mit Schrecken muss er feststellen, dass neben ihm selbst und seinem Partner auch ihrem gemeinsamen Sohn Gefahr droht.

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Udo Rauchfleisch (Jahrgang 1942) ist emer. Professor für Klinische Psychologie an der Universität Basel und Psychoanalytiker. Er hat in verschiedenen psychiatrischen Kliniken gearbeitet und ist jetzt als Psychotherapeut in privater Praxis in Basel tätig. Publikationen u. a. zu Homosexualität und Transidentität.

www.udorauchfleisch.ch

 

Bereits erschienen:

Der Tod der Medea - Ein musikalischer Mord

ISBN print 978–3–86361–599–4

Mord unter lauter netten Leuten

ISBN print 978–3–86361–656-4

Narzissten leben gefährlich

ISBN print 978–3–86361–708-0

Schwarz ist der Tod

ISBN print 978–3–86361–705-9

Tödliche Gefahr aus dem All

ISBN print 978–3–86361–807-0

Lasst mich so bleiben wie ich bin

ISBN print 978-3-86361-810-0

Alle Titel auch als E-book

 

Himmelstürmer Verlag, Ortstr.6 31619 Binnen

Himmelstürmer is part of Production House GmbH

www.himmelstuermer.de E–mail: [email protected], Juli2020

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage.

Cover: Adobe Stock

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik–Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

 

Alle Orte und Handlungen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind unbeabsichtigt und rein zufällig".

 

ISBN print 978–3–86361–855-1ISBN epub 978–3–86361–856-8

ISBN pdf: 978–3–86361–857-5

 

 

 

Udo Rauchfleisch

 

 

 

 

... und plötzlich bist du tot

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Personen

 

Jürgen Schneider,

Kriminalkommissar, leitet die Untersuchung. Biologischer Vater von Antonio

 

Mario Rossi,

Partner von Jürgen Schneider, Inhaber einer Herrenboutique. Sozialer Vater von Antonio

 

Anita Leupin,

leibliche Mutter von Antonio

 

Sandra Frey,

soziale Mutter von Antonio

 

Antonio,

neunjähriger Sohn von Sandra Leupin und Jürgen Schneider, lebt in einer Regenbogenfamilie

 

Bernhard Mall,

Mitarbeiter von Jürgen Schneider

 

Walter Steiner,

Psychologe in einer Ehe- und Familienberatungsstelle in Basel

 

Edith Steiner,

Frau von Walter Steiner, Prokuristin in einer Privatbank

 

Urs Braun,

Psychologe in der Ehe- und Familienberatungsstelle in Basel

 

Kito Nkunda,

Kongolesischer Flüchtling

 

Anita Mohler,

Vermieterin, bei der Kito Nkunda wohnt

 

Joseph Kimbangu,

Kongolesischer Flüchtling

 

 

 

1.

 

Trotz der Dämmerung sah Kito Nkunda die beiden Polizisten, die ihm entgegenkamen, schon von weitem. Es befanden sich zwar noch etliche andere Passanten auf der Straße. Kito war aber sicher, dass die Polizisten ihn, und nur ihn allein, anhalten und nach seinen Ausweispapieren fragen würden.

Das wäre heute bereits das dritte Mal, dachte er. Gefühle der Hilflosigkeit und Wut stiegen in ihm auf. Warum immer er? Nur weil er eine dunkle Haut hatte! Warum machte ihn das in den Augen der Polizei denn verdächtig? Er hatte doch nie irgendjemandem etwas getan und hielt sich genauestens an alle Regeln, nur um sich nichts zuschulden kommen zu lassen. Und doch misstrauten ihm die Ordnungshüter.

Die beiden Polizisten verlangsamten ihre Schritte, als sie sich Kito Nkunda näherten, und bauten sich drohend vor ihm auf.

„Deine Papiere!“, herrschte der eine der beiden Polizisten ihn an.

Mit zitternden Fingern zog Kito Nkunda seinen Ausländerausweis aus der Tasche und reichte ihn dem Beamten. Der musterte ihn misstrauisch, drehte ihn hin und her, als ob er sich von seiner Echtheit überzeugen wollte, und reichte ihn seinem Kollegen, der die Daten in ein System in seinem Handy eingab.

„Was machst du hier? Wohin gehst du?“, waren die nächsten Fragen.

Kito Nkunda war so eingeschüchtert, dass er kaum ein Wort herausbrachte.

„Ich war in der Sprachschule und gehe jetzt nach Hause“, stammelte er schließlich.

„Aus welchem Land bist du?”

„Aus dem Kongo.”

„Bald haben wir ganz Afrika hier!“, stöhnte der Beamte und schaute, Zustimmung heischend, seinen Kollegen an. Dieser nickte und musterte Kito Nkunda von Kopf bis Fuß. Der Polizist gab ihm seinen Ausweis zurück, und ohne einen weiteren Kommentar gingen die beiden Beamten weiter.

Kito Nkunda war froh, dass es diesmal schnell gegangen war, und atmete auf, als er sah, dass die Polizisten an der nächsten Ecke in eine andere Straße eingebogen waren. Er hatte andere Kontrollen erlebt, bei denen er intensiv befragt worden war, die Polizisten ihn abgetastet hatten und er ihnen den Inhalt seiner Taschen hatte zeigen müssen.

Es war inzwischen dunkel geworden, und es befanden sich im Moment keine anderen Passanten in der Nähe. Mit schnellen Schritten ging der Kongolese weiter. Er wollte so bald wie möglich zuhause sein und nicht noch einmal in eine Kontrolle geraten. Sicher würde Anita ihn schon erwarten. Vielleicht hatte sie sich sogar schon Sorgen um ihn gemacht. Sie war ja extrem fürsorglich, was von ihr zwar nett gemeint war, wodurch er sich aber mitunter geradezu bevormundet fühlte.

Als Kito Nkunda hinter sich ebenfalls schnelle Schritte vernahm und einen Blick zurückwarf, erstarrte er vor Entsetzen. Noch ehe er schreien oder sich zur Wehr setzen konnte, traf ihn die scharfe Klinge eines Dolches. Noch im Fallen wurden ihm zwei weitere Stiche zugefügt.

 

 

 

 

2.

 

Jürgen Schneider, der Chef der Basler Mordkommission, und sein Partner Mario Rossi saßen beim Abendessen, als Jürgens Handy zu läuten begann.

„Nein! Nicht gerade heute, wo wir einen kinderlosen Abend haben!“, stöhnte Mario.

„Lass’ es läuten. Du bist nicht erreichbar.”

„Du weißt, das kann ich nicht machen, Schatz. Hallo, hier Jürgen Schneider.”

Jürgen hörte dem Anrufer schweigend zu, wobei sich seine Miene zusehends verdüsterte.

„Wo habt ihr die Leiche gefunden? Ein Afrikaner, sagst du? Wann kannst du mich abholen? In 10 Minuten?“

„Dann stärk’ dich wenigstens noch am Dessert, ehe du dich in deine Ermittlungen stürzt“, forderte Mario Jürgen auf und schob ihm die Schale mit Obstsalat zu. „Es wird sicher spät, bis du wieder zuhause bist. Dann muss ich mir wohl oder übel einen einsamen Sweet-Home-Abend machen.”

„Antonio kommt ja erst übermorgen wieder zu uns“, tröstete Jürgen ihn. „Dann genießen wir halt morgen Abend unsere Zweisamkeit.”

„Falls es dann keine neue Leiche gibt“, konterte Mario ironisch.

Mit einem Kuss verabschiedete Jürgen sich von Mario und stieg in den Polizeiwagen, der gerade, als er aus dem Haus getreten war, vorgefahren war.

 

Jürgen Schneider, Anfang 40, 1.95 groß, mit einem durchtrainierten Body, um den seine Kollegen ihn beneideten, lebte seit etlichen Jahren mit Mario Rossi, Mitte 30, dem Inhaber einer exklusiven Basler Herrenboutique, in einer eingetragenen Partnerschaft zusammen.

Vor zehn Jahren hatten die beiden sich auf Jürgens Wunsch dazu entschlossen, zusammen mit Sandra Frey und Anita Leupi, einem Lesbenpaar, eine Regenbogenfamilie zu gründen. Jürgen hatte zwar aus seiner früheren Ehe eine Tochter, die aber inzwischen schon erwachsen war. Ihm war es wichtig gewesen, ein Kind in seiner Partnerschaft mit Mario zu haben. Vor neun Jahren war der Sohn Antonio geboren, dessen leibliche Eltern Anita und Jürgen waren. Antonio lebte wechselweise jeweils eine Woche bei den Müttern und eine Woche bei den Vätern.

Einige Jahre vor Antonios Geburt hatten Jürgen und Mario ein Reiheneinfamilienhaus im Neubadquartier von Basel gekauft. Ihre Freundinnen und Freunde hatten sich zum Teil darüber lustig gemacht, dass Jürgen und Mario in einem so spießigen „Pässe“-Quartier wohnten. Tatsächlich waren die Straßen in diesem Stadtteil nach Schweizer Pässen benannt, z. B. Furka-, Gotthard-, Nufenen- und Oberalppass.

„Es fehlt nur noch, dass ihr ins ‚Vögel-Quartier’ zieht“, hatte eine ihrer Freundinnen spöttisch gemeint. Auf Marios erstaunte Frage, was denn das sei, hatte Jürgen ihm erklärt, dass es in einem Teil vom Bruderholz, einer bevorzugten, teuren Wohngegend Basels, eine Reihe von Straßen gab, die nach Vögeln benannt waren, zum Beispiel Amel-, Drossel- und Lerchenstraße.

Inzwischen wohnten die beiden Männer seit etlichen Jahren hier und fühlten sich in ihrem Fünf-Zimmer-Haus sehr wohl. Von ihren Nachbarn waren sie zunächst etwas argwöhnisch beobachtet worden, und diese hatten sich hinter vorgehaltener Hand zugeflüstert: „Stellt euch vor: Das Haus soll von einem Männerpaar gekauft worden sein!“ Einige Anwohner hatten sogar die Befürchtung geäußert, wenn jetzt „solche“ Leute ins Quartier zögen, müsse man ja „mit allem rechnen.”

Jürgen und Mario hatten dies gespürt und hatten ganz brav Antrittsbesuche bei den Nachbarn rechts und links und gegenüber gemacht und, sobald sie eingerichtet waren, die Bewohner der umliegenden Einfamilienhäuser zu einer Einzugsparty eingeladen. Spätestens nach dieser Einladung war das Eis geschmolzen, und nun hieß es von ihnen: „Ach, diese reizenden Männer! Was für ein Glück, dass wir solche netten Nachbarn bekommen haben!“

Einige ihrer schwulen Freunde hatten sich lustig über Jürgen und Mario gemacht und sich kritisch darüber geäußert, dass die beiden nun ganz „heterolike“ lebten. Und die beiden mussten sich auch die Frage gefallen lassen, ob es denn das Ziel schwuler Emanzipation sein könne, „wie ein Hetero-Ehepaar in einem Einfamilienhäuschen mit Garten zu leben“ und „mit dem Kinderwagen auf der Straße zu flanieren.”

Jürgen und Mario waren aber zufrieden mit ihrer Lebensweise und waren mehr oder weniger immun gegenüber solchen kritischen Anfragen.

„Nach außen mag es zwar so aussehen, als ob wir eine Heteroehe imitierten. Aber tatsächlich unterscheidet sich unsere Partnerschaft ja doch wesentlich von vielen Ehen Heterosexueller“, war das Gegenargument von Jürgen gewesen, und er hatte darauf hingewiesen, dass sie eine egalitäre Rollenverteilung hatten und nicht die hierarchische männerdominierte Struktur, wie sie in vielen traditionellen Heteroehen nach wie vor besteht.

„Wir wollen uns nicht an irgendwelche heterosexuellen Normen anpassen“, hatte Mario einem Freund geantwortet, der kritisch gefragt hatte, ob das Ziel der beiden nicht letztlich doch sei, sich so wenig wie möglich von den „Heten“ zu unterscheiden. „Sei mal ehrlich, Mario“, hatte der Freund gemeint, „nennst du das noch ein schwules Leben?“

Derartige Fragen wurden noch einmal intensiv im Freundeskreis diskutiert, als bekannt wurde, dass Jürgen und Mario sich mit dem Gedanken trügen, eine Regenbogenfamilie zu gründen.

Als in ihrer Straße bekannt geworden war, dass Jürgen und Mario Väter geworden waren, kam dies einer kleinen Sensation gleich. Von Regenbogenfamilien gehört und gelesen hatten schon einige der Nachbarn. Für die meisten war das aber ein Thema, mit dem sie sich nie intensiver beschäftigt hatten, geschweige denn, dass sie eine reale Regenbogenfamilie je getroffen hätten.

Als Antonio geboren war und die stolzen Väter mit ihm im Kinderwagen durch die Straße promenierten, sprach sich die Geburt des Kindes wie ein Lauffeuer herum. Alle wollten Antonio sehen und einige Frauen waren geradezu zu Tränen gerührt, als sie erfuhren, dass die beiden Männer mit einem Frauenpaar zusammen ein Kind hatten.

„Eigentlich leisten wir einen wesentlichen Beitrag zum Abbau von Vorurteilen gegenüber Regenbogenfamilien“, hatte Jürgen eines Tages zu Mario gesagt. „Es ist immer das Gleiche: Die Leute sind skeptisch, wenn sie von einer Sache erfahren, die nicht aus ihrem unmittelbaren Umfeld stammt. Sobald sie damit aber näher in Kontakt kommen, sieht alles schon anders aus. Das ist ja auch mit uns als Männerpaar so gewesen. Zuerst: ‚Oh je, jetzt ziehen auch noch zwei Schwule hierher’ und heute ‚Ach, diese reizenden Väter’!“

Inzwischen war Antonio neun Jahre alt und besuchte die dritte Primarschulklasse.

 

 

 

3.

 

Als Jürgen an der Klybeckstraße beim Kasernenareal in Kleinbasel ankam, hatten die Kollegen von der Spurensicherung den Tatort bereits weiträumig abgesperrt.

Jürgen kannte das Kasernenareal gut. Hier war jeweils einmal in der Woche am Dienstagabend ab 18 Uhr die ZischBar, eine seit 1984 bestehende queere Bar, zu der Mario und Jürgen ab und zu, wenn es ihre Zeit zuließ, gingen. Im Sommer konnte man auf der Terrasse und auf der großen Wiese im Hof des Kasernenareals sitzen, während die ZischBar sich im Winter im Raum der KaBar befand.

Auch sonst war die Kaserne Basel ein Ort, an den Jürgen und Mario öfter gingen. Ursprünglich war die Kaserne, wie ihr Name sagt, von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1966 ein von der Schweizer Armee genutzter militärischer Ausbildungsort. 1980 hatte dann der Kulturbetrieb in der Kaserne begonnen. Heute bildete die Kaserne mit ihren beiden Rossställen und der großen Reithalle ein wichtiges Kulturzentrum für Basels freie Theater-, Tanz- und Performanceszene sowie für Konzerte im Bereich der Populärmusik. Immer wieder hatten Jürgen und Mario hier interessante Produktionen besucht.

 

Als Jürgen sich der Kaserne näherte, sah er seinen Mitarbeiter, Bernhard Mall, einen leicht übergewichtigen Mann Ende 30, der kurz vor ihm eingetroffen war. Bernhard ließ sich vom Gerichtsarzt Dr. Ralph Elmer, der die Leiche untersuchte, über die Art der Verletzungen und den vermutlichen Todeszeitpunkt informieren.

„Das Opfer ist ein Afrikaner“, berichtete Bernhard Jürgen. „Ralph meint, der Mord sei ungefähr vor einer halben Stunde verübt worden. Todesursache sind mehrere tiefe Messerstiche. Genaueres aber, wie üblich, nach der Obduktion. Wir haben bei dem Toten einen Ausländerausweis der Kategorie N gefunden, also noch nicht entschiedenes Asylgesuch“, fügte Bernhard erklärend hinzu.

„Geht aus dem Ausweis hervor, woher der Mann kommt?“, fragte Jürgen.

„Ja. Der Mann heißt Kito Nkunda und stammt aus der Demokratischen Republik Kongo. Wie ich gerade von der Zentrale erfahren habe, hat er einen Asylantrag in der Schweiz gestellt. Ob der angenommen wird, ist noch nicht entschieden. Der Kollege in der Zentrale hat mir gesagt, dass Kito Nkunda bei einer Frau Anita Mohler in der Sperrstraße gewohnt hat.”

„Dann gehen wir jetzt am besten zu ihr und sprechen mit ihr“, schlug Jürgen vor. „Die Sperrstraße liegt ja ganz in der Nähe. Vielleicht war der Afrikaner auf dem Weg zu seiner Wohnung, als er getötet worden ist.”

 

Wenig später läuteten die beiden Kriminalbeamten bei Frau Mohler. Sie wohnte in der Sperrstraße in einem mehrstöckigen Haus, vermutlich aus den 40er Jahren. Als Jürgen und Bernhard ins Haus traten, schlug ihnen der Geruch von einem Gemisch aus Putzmitteln und gekochtem Kohl entgegen. Auf ihrem Weg in den 3. Stock, in dem Frau Mohler wohnte, kamen sie an den anderen Wohnungen vorbei, vor deren Türen die Schuhe der Bewohner und diverses Kinderspielzeug lagen. Alles in allem machte das Haus einen eher ungepflegten, ärmlichen Eindruck.

Frau Mohler stand in der Wohnungstür und schaute die beiden Beamten fragend an. Sie war eine etwas pummelige Frau Mitte 50, zu der das hautenge, betont jugendlich wirkende schwarz-rot gemusterte Kleid, das sie trug, nicht recht passte.

Jürgen stellte sich und Bernhard als Kriminalkommissare vor und bat Frau Mohler, eintreten zu dürfen, weil sie etwas mit ihr besprechen müssten.

„Ist denn etwas passiert?“, war ihre ängstliche Frage, als sie den beiden Männern einen Platz am Wohnzimmertisch zuwies. „Doch wohl nicht mit Kito!“

Jürgen nickte und berichtete ihr, dass sie die Leiche eines Afrikaners gefunden hätten, der offenbar bei ihr gewohnt habe.

Frau Mohler starrte Jürgen fassungslos an.

„Das kann doch nicht sein!“, rief sie entsetzt. „Das muss ein Irrtum sein. Kito wird jeden Moment hier sein. Er war bei der ECAP in der Clarastraße in der Sprachschule im Deutschunterricht und kommt immer um diese Zeit heim.”

Jürgen zog den Ausweis, den sie beim Opfer gefunden hatten, hervor und zeigte ihn Frau Mohler. Als sie das Bild des Afrikaners sah, brach sie in Tränen aus.

„Ja. Das ist er“, stammelte sie und ein erneuter Weinkrampf schüttelte sie. „Tot? Was ist denn passiert? Hatte er einen Unfall?“

Jürgen berichtete Frau Mohler mit schonenden Worten, was geschehen war.

Als Frau Mohler das Wort „Mord“ hörte, brach sie völlig zusammen.

„Könnten Sie uns sagen, in welchem Verhältnis Sie zu Herrn Nkunda standen?“, fragte Jürgen behutsam.

Frau Mohler hatte sich langsam wieder gefangen. Jürgens Frage schien sie ziemlich zu verunsichern.

„In welchem Verhältnis? Ja, wie soll ich sagen? Er war mein Untermieter.”

Jürgen registrierte die Irritation, die seine Frage offenbar bei Frau Mohler ausgelöst hatte, ließ es aber im Moment dabei bewenden.

„Sie sagen, Herr Nkunda sei üblicherweise um diese Zeit von der Sprachschule heimgekommen?“

Frau Mohler nickte.

„Hatte er irgendwelche Feinde? Oder hatte er Konflikte mit irgendjemandem?“

Frau Mohler zuckte mit den Schultern.

„Ganz sicher hatte Kito keine Feinde. Er war der liebste Mensch von der Welt!“

Wieder rannen ihr die Tränen über das Gesicht.

„Er hat so viel Grauenhaftes in seinem Heimatland erlebt und muss nun so ein Ende nehmen! Schrecklich!“, stieß sie verzweifelt hervor. „Warum tut ihm jemand das an?“

„Das fragen wir uns auch“, meinte Jürgen. „Wir wollen Sie jetzt nicht länger belästigen, Frau Mohler. Kommen Sie alleine zurecht oder sollen wir eine Psychologin zu Ihnen schicken, mit der Sie noch ausführlicher sprechen können?“

„Danke, es geht schon“, beruhigte Frau Mohler Jürgen. „Ich koche mir einen Beruhigungstee und nehme nachher ein Schlafmittel. Dann komme ich schon zurecht.”

„Könnten Sie dann bitte morgen Vormittag zu mir ins Kommissariat kommen, damit wir uns noch einmal ausführlicher unterhalten können? Sagen wir um 10 Uhr?“

Frau Mohler nickte.

„Und dann müssten Sie Herrn Nkunda bitte auch noch identifizieren. Sie sind ja offenbar die Person, die ihm am nächsten gestanden hat.”

Frau Mohler starrte Jürgen fassungslos an.

„Ich soll ihn anschauen, nachdem er eines gewaltsamen Todes gestorben ist? Das kann ich nicht! Das würde ich nicht ertragen.”

„Sie müssen das nicht alleine machen. Mein Kollege oder ich werden Sie begleiten“, beruhigte Jürgen sie.

Frau Mohler starrte stumm vor sich hin. Schließlich nickte sie und willigte ein, den Toten zu identifizieren.

 

Als Jürgen gegen 23 Uhr nach Hause kam, lag Mario schon in tiefem Schlaf. Leise kroch Jürgen ins Bett und gab ihm einen Kuss.

„Schön, dass du wieder da bist“, murmelte Mario. „Schlaf gut, Caro.”

 

 

 

 

4.

 

Am nächsten Morgen erwachte Jürgen kurz vor halb sieben, wenige Minuten bevor sein Wecker läuten würde. Er stellte den Wecker ab, um Mario, der noch tief und fest schlief, nicht zu wecken, duschte, zog sich an und begann das Frühstück vorzubereiten. Dann würde er Mario wecken, der erst gegen halb neun in seiner Boutique sein müsste.

Als er den Kaffee gekocht, die Brötchen aufgebacken und Butter, Marmelade und Honig auf den Tisch gestellt hatte, ging Jürgen in den ersten Stock ins Schlafzimmer hinauf, zog die Jalousien hoch und gab Mario einen Kuss.

„Guten Morgen, Schatz! Das Frühstück wartet auf dich.”

Mario räkelte sich im Bett und zog Jürgen zu sich hinunter.

„Ich bin wirklich zu bedauern! Gestern Abend lässt mein Mann mich im Stich, weil er es vorzieht, den Abend mit einer Leiche zu verbringen. Und heute Morgen schleicht er sich ohne Kuss aus dem Bett. Das ist doch kein Eheleben! Oder?“

„Du hast Recht. Du bist wirklich ein Armer“, stimmte Jürgen ihm grinsend zu. „Und wer bedauert mich? Als ich gestern Abend zu meinem Mann ins Bett geschlüpft bin, hat er tief geschlafen und nur noch ‚schlaf gut’ gemurmelt. Kein heißer Sex! Nennst du das ein Eheleben?“

„Also sind wir beide arme Tröpfe, Caro! Heißt das, wir sollten uns schnellstens nach heißen Typen umschauen, die uns das geben, was wir in der Ehe nicht finden?“

„Du bist und bleibst ein freches Kerlchen, Schatz! Wir sind halt beide gestresste Männer. Aber heute Abend sind wir noch einmal alleine und können unser Eheleben in vollen Zügen genießen. Nun aber raus aus den Federn!“

Mit einem Ruck zog Jürgen die Bettdecke weg und gab Mario einen innigen Kuss. Mario presste sich an Jürgen und versuchte ihn zu sich ins Bett zu ziehen. Jürgen entzog sich ihm aber geschickt und eilte hinunter in die Küche, wo er den Frühstückstisch gedeckt hatte.

Eine Viertelstunde später erschien Mario.

„Danke, dass du mich so liebevoll versorgst“, meinte er, als er sich an den Tisch setzte und Jürgen ihm Kaffee einschenkte. „Wie ging es gestern Abend mit den Ermittlungen? Wisst ihr schon, wer das Opfer ist und wer als Täter in Frage kommt?“

„Das Opfer ist ein Kongolese, der auf seinem Weg vom Deutschunterricht nach Hause erstochen worden ist. Bernhard und ich haben noch kurz mit der Frau gesprochen, bei der er zur Untermiete gewohnt hat. Ihr ist sein Tod sehr nahegegangen. Deshalb wollten wir sie nicht allzu lange belästigen. Sie wird heute Vormittag zu mir ins Kommissariat kommen, damit wir uns noch einmal ausführlicher mit ihr unterhalten können. Ich vermute, der Kongolese war nicht nur ihr Untermieter, sondern sie hatten auch eine intime Beziehung miteinander.”

„Ich habe kürzlich in der Zeitung einen Bericht gelesen, in dem es hieß, es sei gar nicht so selten, dass Schweizer Frauen eine sexuelle Beziehung zu Flüchtlingen haben“, ergänzte Mario Jürgens Bericht.

„Wogegen ja auch nichts einzuwenden ist – oder?“, fragte Jürgen kritisch.

„Eigentlich nicht. In dem Artikel hieß es aber, mitunter seien diese Frauen ‚Sugar Mummys’ – ähnlich wie die ‚Sugar Daddys’ von jungen schwulen Männern -, von denen die Flüchtlinge dann schließlich materiell und auch emotional abhängig wären. Daraus können sehr problematische Beziehungen entstehen.”

„Ich habe noch nie von solchen ‚Sugar Mummy’-Beziehungen gehört, Mario. Interessant. Aber ich weiß nicht, ob es zwischen dem Kongolesen und seiner Vermieterin eine Beziehung dieser Art war. Wir werden sehen. Und wie wird dein Tag heute verlaufen?“

„Wir haben im Moment viel Arbeit. Die neue Herbstkollektion ist gekommen.”

„Jetzt schon?“, unterbrach Jürgen ihn, „wo wir noch mitten im Sommer sind.”

„Ja klar. Claudio kommt heute auch und hilft mir, die Sachen zu sichten und mit Preisen auszuzeichnen, damit wir rechtzeitig auf den Herbstverkauf vorbereitet sind. Ich werde das Geschäft um 18 Uhr schließen und kaufe dann für das Abendessen ein. Ich mache eine echte italienische Lasagne, wie meine Großmutter sie immer gemacht hat. Nicht so eine maschinell fabrizierte, wie wir sie im Supermarkt kaufen. Die Nudeln koche ich gleich noch, bevor ich ins Geschäft gehe.”

„Da lohnt es sich ja, früh nach Hause zu kommen, wenn mein Mann mich so verwöhnen will!“

„Und dazu gibt es den passenden Wein: Chianti. Meinem lieben Mann soll es an nichts fehlen nach dem anstrengenden Arbeitstag, den er heute haben wird.”

Um halb acht verabschiedete Jürgen sich von Mario und machte sich auf den Weg ins Kommissariat.

 

Bernhard war dabei, den Bericht über den Leichenfund und das Gespräch mit Anita Mohler zu schreiben. Jürgen musste noch einige Berichte von früheren Ermittlungen korrigieren und schaute dann im System nach, was über Kito Nkunda bekannt war.

Viel Neues erfuhr Jürgen allerdings nicht. Kito Nkunda war vor sieben Montane in die Schweiz gekommen und hatte einen Asylantrag gestellt, weil er in der Demokratischen Republik Kongo wegen seiner Mitgliedschaft in einer regierungskritischen Studentengruppe und wegen der Publikation regimekritischer Artikel mehrfach verhaftet und auch gefoltert worden sei. Über sein Asylgesuch war indes noch nicht entschieden worden. Er hatte deshalb einen Ausländerausweis mit dem Status N und wurde finanziell von der Sozialhilfe Basel-Stadt unterhalten.

Zuerst hatte Kito Nkunda im Erstaufnahmezentrum beim Dreispitz gewohnt und war dann in die Asylunterkunft Brombacherstraße in Klein-Basel umgezogen. Vor vier Monaten hatte er offenbar Frau Anita Mohler kennengelernt und hatte beantragt, bei ihr wohnen zu dürfen. Dieses Gesuch war nach Rücksprache mit Frau Mohler bewilligt worden. Aus den Informationen, die Jürgen im System fand, ging natürlich nicht hervor, welcher Art die Beziehung zwischen den beiden gewesen war. Jürgen nahm sich vor, im Gespräch mit Frau Mohler zu versuchen, etwas mehr Klarheit darüber zu gewinnen, da dies für die Aufklärung des Mordes unter Umständen wichtig sein würde.

 

Kurz vor zehn Uhr informierte die Sekretärin, die an der Anmeldung des Kommissariats arbeitete, Jürgen, dass Frau Mohler gekommen sei. Frau Mohler trug im Gegensatz zum gestrigen Abend, wo sie in ihrem engen schwarz-rot gemusterten Kleid eher jugendlich gekleidet gewesen war, heute eine graue Hose und einen schwarzen Pullover und wirkte um Jahre älter.

Sie lächelte Jürgen zwar freundlich an, als er sie an der Rezeption begrüßte. Er sah jedoch, dass sie blass war und ihre Augen vom Weinen gerötet waren. Der Tod ihres Mitbewohners war ihr also doch sehr nahegegangen.

„Ich hoffe, Sie verübeln es mir nicht, wenn ich Sie etwas sehr Persönliches frage“, begann Jürgen das Gespräch, nachdem Frau Mohler Platz genommen hatte. „Aber bei unseren Ermittlungen ist es sehr wichtig, dass wir uns ein möglichst genaues Bild vom Opfer und seinem Umfeld machen. Ich sehe, Ihnen geht der Tod von Herrn Nkunda sehr nahe. Deshalb möchte ich Sie fragen, ob Sie eine Beziehung mit ihm hatten.”

Frau Mohler zögerte, ehe sie antwortete.

„Wie meinen Sie das: Ob ich eine Beziehung mit Kito gehabt habe?“

„Ich meine, ob er nicht nur Ihr Untermieter war, sondern Sie auch eine Liebesbeziehung mit ihm hatten?“

Frau Mohler errötete und Tränen traten in ihre Augen.

„Bleibt das unter uns, was ich Ihnen hier sage, Herr Kommissar?“, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme.

„Das ist völlig klar, Frau Mohler. Außerdem ist doch nichts dabei, wenn Sie mit Herrn Nkunda eine intime Beziehung hatten. Sie sind doch beide erwachsene Menschen und können tun und lassen, was Sie wollen.”

Frau Mohler nickte.

„Ja, Kito und ich waren ein Liebespaar.”

Sie stockte, Jürgen nickte ihr aufmunternd zu. Frau Mohler schwieg aber.

„Wie haben Sie Herrn Nkunda kennengelernt?“, drängte Jürgen behutsam.

„Das war ganz zufällig. Vor vier Monaten haben wir uns in einem kleinen Café an der Clarastraße kennengelernt. Kito trank dort nach seinem Sprachkurs bei der ECAP einen Tee und ich wollte mich nach den Einkäufen, die ich bei Lidl gemacht hatte, in dem Café bei Tee und Kuchen kurz ausruhen. Wir sind miteinander ins Gespräch gekommen. Kito war so ein liebenswerter Mann!“

Wieder traten Tränen in Frau Mohlers Augen.

„Ich habe ihn vom ersten Augenblick an ins Herz geschlossen“, meinte sie leise und lächelte unter Tränen.

„Ich habe Kito eingeladen, mich am nächsten Tag zu besuchen. Und dann sind wir uns auch nähergekommen“, fügte sie verschämt hinzu.

„Wissen Sie, mit wem Herr Nkunda sonst noch Kontakt hatte? Gab es Landsleute, die er in Basel kannte?“

„Im Erstaufnahmezentrum, wo Kito zunächst gewohnt hat, gab es, glaube ich, noch einen anderen Kongolesen, den er dort kennengelernt hat. Seinen Namen kenne ich aber nicht. Kito hat mir erzählt, dass der andere dort irgendwelche Probleme mit anderen Bewohnern hatte. Ich weiß aber nicht, worum es dabei ging.”

Jürgen notierte sich diese Informationen. Bernhard müsste unbedingt mit der Leitung der Asylunterkunft Kontakt aufnehmen und den Namen dieses anderen Kongolesen in Erfahrung bringen, damit sie mit ihm sprechen könnten.

Mit den Worten „Sie haben gesagt, Herr Nkunda habe einen Sprachkurs bei der ECAP gemacht“, wendete Jürgen sich wieder Frau Mohler zu.

„Ja. Die ECAP bietet Sprach- und Integrationskurse an, die von Basel-Stadt finanziert werden. Er hatte den ersten Kurs abgeschlossen und konnte sich schon ganz gut verständigen. In seinem Heimatland hat Kito Suaheli und Französisch gesprochen. Sie müssten mal bei ECAP nachfragen, ob er dort Bekannte hatte. Ich glaube allerdings nicht, dass er dort mit irgendjemandem private Kontakte hatte. Seitdem Kito bei mir gewohnt hat, waren wir eigentlich immer zusammen“, fügte sie mit einem gewissen Stolz hinzu.

„Hatte Herr Nkunda Ihres Wissens Feinde?“, setzte Jürgen die Befragung von Frau Mohler fort.

„Nein. Das glaube ich nicht. Wenn das so gewesen wäre, hätte er mir das sicher erzählt. Höchstens die Leute, die ihn im Kongo verfolgt haben“, fügte sie nach kurzem Nachdenken hinzu. „Vor denen ist er ja aus dem Kongo geflohen. Aber von denen war, soweit ich weiß, niemand in Basel. Kito hätte das sicher erzählt.”

Frau Mohler stockte und schaute nachdenklich vor sich hin. Offenbar beschäftigte sie ein Gedanke.

„Ich merke, Ihnen ist noch etwas eingefallen“, meinte Jürgen.

„Ja. Kito hat mir einige Male erzählt, dass er immer wieder von der Polizei kontrolliert wird. Manchmal sogar mehrmals pro Tag. Und das nur, weil er eine dunkle Hautfarbe hat! Ob die hinter dem Mord an ihm stecken?“

„Das halte ich für ausgeschlossen“, beruhigte Jürgen Frau Mohler. „Ich weiß zwar, dass dunkelhäutige und in sonst irgendeiner Weise fremd aussehende Menschen wesentlich häufiger von der Polizei kontrolliert werden als andere Passanten. Das ist eine schreckliche Sache, und ich kann mir vorstellen, dass es geradezu traumatisierend auf die Personen wirkt, die diesen Kontrollen ausgesetzt sind. Aber es sind trotz aller Vorurteile, die sich darin äußern, doch Polizisten, und sie würden – zumindest bei uns in der Schweiz“, fügte Jürgen einschränkend hinzu, „nie jemanden umbringen. Ich weiß, das sieht in den USA zum Teil anders aus“, beschwichtigte er Frau Mohler, die Widerspruch einlegen wollte. „Dort wird ja tatsächlich von Polizisten auf Afroamerikaner häufiger als auf andere Passanten geschossen.”

„Sie sollten dem aber doch nachgehen, Herr Kommissar, ob Polizisten hinter dem Mord an Kito stecken“, beharrte Frau Mohler.

„Das ist klar. Wir gehen allen Möglichkeiten nach“ beruhigte Jürgen sie.

Da das weitere Gespräch keine neuen Tatsachen zu Tage förderte, begleitete Jürgen Frau Mohler nach einer knappen Stunde zum Ausgang und verabschiedete sich von ihr. Vorher hatte er ihr noch ans Herz gelegt, ihn zu benachrichtigen, falls ihr irgendetwas einfalle, das sie bisher zu erwähnen vergessen habe.

Kurz vor der Mittagspause erhielt Jürgen einen Anruf seines Freundes Walter Steiner, der ihn fragte, ob er mit ihm und seinem Mitarbeiter Urs Braun zusammen im Café Bohemia zu Mittag essen wolle.

Jürgen und Mario waren seit vielen Jahren mit Walter Steiner, dem Leiter der Basler Ehe- und Familienberatungsstelle, und seiner Frau Edith, die Prokuristin in einer Basler Privatbank war, befreundet. Mehrmals hatte Walter, den seine Frau mitunter spöttisch als „Hobbydetektiv“ bezeichnete, Jürgen bei der Aufklärung von Verbrechen geholfen. Auch wenn Walter sich mitunter in etwas abstruse Spekulationen verstieg, waren seine Analysen der psychologischen Zusammenhänge und seine Überlegungen zu möglichen Täterprofilen für Jürgen recht hilfreich. Gerne stimmte er deshalb auch heute dem Vorschlag eines gemeinsamen Mittagessens zu.

Außerdem freute Jürgen sich, auch Urs Braun wiederzusehen. Urs arbeitete als Psychologe in der von Walter geleiteten Beratungsstelle und lebte seit einigen Jahren mit seinem Partner Manuel zusammen. Auch Urs hatte Jürgen schon bei der Aufklärung von Morden geholfen, zum Beispiel als im vergangenen Jahr die Partnerin seiner Tante umgebracht worden war.

„Dann bin ich um kurz nach zwölf im Café Bohemia an der Dornacherstraße“, stimmte Jürgen Walters Vorschlag zu. „Ich freue mich, dich und Urs wiederzusehen. Außerdem schwärme ich ja, wie du weißt, für das Essen im Bohemia.”

„Ich rufe im Bohemia an und reserviere für uns drei“, meinte Walter. „Bis dann. Ciao, Jürgen.”

 

Als Jürgen um kurz nach zwölf im Café Bohemia ankam, begrüßte Jasmin, die Wirtin, ihn herzlich. Sie hatte bei dem warmen Wetter, das an diesem Sommertag in Basel herrschte, für Walter, Urs und ihn einen Tisch auf der Terrasse vor dem Café reserviert.

„Ist der in Ordnung für euch, Jürgen?“

„Ja, der ist genau richtig für uns, Jasmin. Und was habt ihr heute auf der Speisekarte?“

Im Café Bohemia gab es täglich ein frisch zubereitetes Hauptgericht aus verschiedenen Nationen, ein oder zwei Suppen, Salat und selbst gebackenen Kuchen.

„Heute haben wir als Hauptgericht Thymian Risotto mit grünen Bohnen und eine Karotten-Ingwer-Suppe.”

„Das klingt toll. Ich warte mit der Bestellung aber noch, bis Walter und Urs da sind. Bring’ mir doch schon einmal eine Flasche Mineralwasser.”

Wenig später trafen Walter Steiner und Urs Braun ein. Walter, der Leiter der Basler Ehe- und Familienberatungsstelle, war ein mittelgroßer, schlanker Mann Mitte 50 mit vollem schwarzem Haar. Urs, der in der Beratungsstelle als Psychologe arbeitete, war ein junger, gutaussehender Mann Ende 20. Er lebte seit einigen Jahren mit seinem Partner Manuel zusammen.

Die beiden begrüßten Jürgen herzlich. In der Öffentlichkeit schüttelte Walter Jürgen jedoch lediglich die Hand, während er ihm im privaten Rahmen die in Basel üblichen drei Küsse, rechts, links, rechts, gab. Walters Frau Edith hatte dieses Verhalten ihres Mannes zwar mehrfach als „verklemmt“ kritisiert. Jürgen hatte Walter in solchen Diskussionen aber stets verteidigt und darauf hingewiesen, dass er Walters Zurückhaltung, ihn als Mann in der Öffentlichkeit zu küssen, gut verstehe. Immerhin sei Walter ja straight und wolle nicht, dass jemand ihn für schwul halte.

Urs und Jürgen hingegen begrüßten sich mit drei Küssen.

Jürgen und Urs bestellten das Hauptgericht Thymian-Risotto mit grünen Bohnen, während Walter sich für die Karotten-Ingwer-Suppe und einen grünen Salat mit Mozzarella und Tomaten entschied.

„Und was macht deine Arbeit?“, erkundigte sich Walter bei Jürgen, als Jasmin ihnen die Getränke gebracht hatte. „Neue Morde in Basel?“

„Du wirst es nicht glauben, Walter. Aber gestern Abend ist tatsächlich ein Mann in der Nähe der Kaserne umgebracht worden. Es ist ein Kongolese.”

„Und ist schon bekannt, wer der Täter ist?“, meinte Urs.

„Nein. Wir tappen noch völlig im Dunkeln über das Motiv dieses Mordes und in Bezug auf den Täter. Ich habe gerade vorhin ein längeres Gespräch mit der Frau gehabt, bei der der Mann gewohnt hat.”

„War das eine von diesen Sugar Mummys?“, unterbrach Walter ihn. „Ich habe kürzlich einen Artikel darüber gelesen, dass immer wieder Frauen im mittleren bis höheren Alter sexuelle Beziehungen zu Asylsuchenden eingehen und sie bei sich aufnehmen.”

„Wogegen doch nichts einzuwenden ist“, meinte Urs, und Jürgen nickte zustimmend. „Davon profitieren letztlich doch beide: die Frauen haben einen Lover und die Asylsuchenden sind nicht mehr total allein und können auch Sexualität leben.”

„Das habe ich vorhin auch Mario gesagt“, stimmte Jürgen Urs zu. „Er hat offenbar den gleichen Artikel wie du gelesen, Walter.”

„Das wäre tatsächlich völlig in Ordnung“, rechtfertigte sich Walter. „Mitunter führen solche Beziehungen aber zu großen Abhängigkeiten der Ausländer. Die Frauen halten sie finanziell aus – deshalb ja Sugar Mummys genannt – und machen die Männer mehr und mehr von sich abhängig. Und wenn diese sich dann eventuell trennen oder auch nur etwas mehr Distanz wollen, drohen die Frauen, ihnen Probleme zu machen, zum Beispiel sie bei der Fremdenpolizei anzuschwärzen oder von ihnen all das Geld zurückzufordern, das sie für sie ausgegeben haben.”