... und trotzdem ein Sonntagskind - Christel Bethke - E-Book

... und trotzdem ein Sonntagskind E-Book

Christel Bethke

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Beschreibung

Christel Bethke gibt Auskunft über einen Teil Ihres Lebens. Das Buch umfasst den Zeitraum von 1979 bis 2000, bietet aber immer wieder Rückblicke auf Vergangenes, sodass das Bild eines ganzen Lebens Kontur gewinnt. Schreibend versucht Christel Bethke äußere und inneren Probleme zu überwinden. Sie legt ihre Gefühle hier schonungslos offen, setzt sich mit ihnen auseinander und hinterfragt sie immer wieder. Das Buch dokumentiert mit den mühevoll erarbeiteten Hochs und den regelmäßig wiederkehrenden Abstürzen den quälenden Verlauf dieser inneren Entwicklung, die natürlich nach 2000 noch weiter geht, nun aber verarbeitet die Autorin sie in Gedichte, kleinen Geschichten und Kochrezepten in ihren weiteren 7 Büchern. Trotzdem entsteht zu keinem Zeitpunkt das Bild einer schwachen hilflosen Person. Den Lesern begegnet eine genau beobachtende, lebenszugewandte, warmherzige und genussfreudige Frau, die sich mit sich und ihren Träumen ebenso auseinandersetzt wie mit den Menschen ihrer Umgebung und politischen Ereignissen. Am Ende hat sie ihr Leben angenommen und ist sich ein Stück näher gekommen.

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Seitenzahl: 990

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Meine Vergangenheit

ist mein Kapital

für Gegenwart

und Zukunft.

Mit diesen Aufzeichnungen möchte ich keinem Lebenden und keinem Toten Unrecht tun, doch um dahin zu kommen, wo ich heute stehe, bedurfte es der Auseinandersetzung mit Menschen, die mir im Laufe meines Lebens begegnet sind.

Was ich vor zehn oder zwanzig Jahren dachte und tat, sehe ich heute aus einer anderen Sicht, trotzdem gehört es zu meiner Geschichte und damit in dieses Buch.

In den vergangenen Jahrzehnten waren die aufgeschlagenen Hefte dieser Tagebücher mein „Gegenüber“, das mich in der Lebensform begleitete, die jemand einmal treffend als Einzelhaft bezeichnet hat.

Mein besonderer Dank gilt Monika Rohde, die sich meiner Aufzeichnungen angenommen hat und mir half, sie in die Form zu bringen, die ich jetzt dem Leser anvertraue.

Inhaltsverzeichnis

Christel Wulff

1979

1982

1983

1984

1987

1988

1989

1990

1991

1992

1993

1994

1995

1996

1997

1998

Christel Bethke

1999

2000

Nachwort

Christel Wulff

1979

24.4.79 Jeder Mensch sollte versuchen, seine Träume zu verwirklichen (sofern er welche hat), und damit nicht zu lange warten. „Eine Wohnung im Hochhaus.“ Vielleicht werde ich sie eines Tages bewohnen. Nachdem es uns zusammen nicht möglich wurde, dank seiner Unentschlossenheit, sich für etwas zu entscheiden. Weder für eine Frau noch für ein Leben in aller Öffentlichkeit mit ihr. Das wäre auch zu teuer für ihn gewesen – in jeder Hinsicht. Mennoniten sind sparsam.

Nun, die Wohnung, von deren Verkauf ich in der Zeitung lese, sie ist von vorgestern, liegt in der Gotthelfstraße 7. Sieben ist meine Zahl, und der Name der Straße ist vielleicht nomen est omen. Gott geb’s.

26.4.79 Was sind schon 60.000 Mark, wenn du sie nicht hast? Nichts. Da trennt man sich leicht von ihnen.

28.4.79 Den größten Gewinn aus den 13 Jahren mit W. W. kann ich erst jetzt ziehen. Ich werde, der ich bin. Keine Zwänge mehr. Ich werde schon gesund werden. Oder?

29.4.79 Sonntagnachmittag Im Bett. W. W. ist ganz nah. Nur nicht raus und das Heer der alleinstehenden Frauen auf der Straße vermehren. Eigentlich muss jetzt alles gut werden. Warum eigentlich? Es wird.

28.5.79 Westerland Heute vor einem Jahr kamen wir aus Murnau zurück, und alles ging wieder weiter. Aber nur noch wenige Tage. Warum merkten wir das nicht? Zeichen gab es genug.

Warum muss der Mensch Urlaub machen? Fühle mich total fehl am Platze. Mag sich ja noch ändern. Erstmals allein in den Ferien. Muss hier auf Rum umsteigen. Der billigste Whisky kostet 20 Mark. Auf Inseln sollte man nur Fisch essen und Rum trinken, meinte W. W. immer, wenn Borkum angesagt war.

29.5.79 Westerland Furchtbar ist das alles. Auch hier zu dieser Jahreszeit fast nur alleinstehende Frauen, die umherwanken. Oder täusche ich mich? Übertrage ich meine Einsamkeit auf die anderen? Komme mir völlig überflüssig vor. „Wie Dreck zu Pfingsten“, würde E. sagen.

Wie lang so ein Tag sein kann! Da überdenkt man sein Leben nicht nur einmal. Vormittags Sonne, seit Mittag Regen. Kurkonzert! O Gott, o Gott! Zu Hause trösten schon die Wände, sagt der Russe. Wie wahr.

1982

23.4.82 Gotthelfstraße 7! Es gibt Momente, in denen ich das Wort „Mehrwertsteuer“ verstehe. Wahrscheinlich im anderen Sinne. In dieser Wohnung gewinnen alle Dinge an Wert, den ich bisher einfach nicht sah. Wer auch immer, sei bedankt, dass ich diesen Tag und diese Stunde erlebe.

Eine Wohnung, von Sonne erfüllt. Vom Aufgang bis zu ihrem Untergang. Nach 25 Jahren ohne. Da musste die Sonne anderswo aufgehen. Nun dies, Herz, was willst du mehr?

1.5.82 Bei dem Wassergeflügel scheint die Welt noch in Ordnung zu sein. Sie haben Natur, wie es bei Rilke heißt. Und wenn nicht die zeitweilig auftauchenden degenerierten Hunde wären, könnte man fast daran glauben.

Der Schwan umkreist ruhig den Nistplatz seiner Schwänin, sofort zischend auf jeden Eindringling losfahrend. Die Enten fliegen, oft paarweise, an meinem Turmfenster vorbei. Auch das Trommelfeuer, das gestern einige Male das erste Grün zerfetzte, brachte alle Teichbewohner nicht aus der Ruhe. Während sich abends die Enten zur Ruhe begeben, sehe ich sie bei meinem morgendlichen Fortgehen noch schlafen; sehe und höre ich den Schwan spät abends noch in Aktion und morgens desgleichen. Schläft er nie?

4.5.82 Mit 52 nehme ich mir die Freiheit aufzubrechen, wohin ich will. Wohin aber will ich?

24.5.82 Wenn ich noch nach Jahren an bestimmte Menschen denke, könnte ich ihnen im Nachhinein noch eine verpassen, in Anbetracht der Situationen, in die sie mich brachten, in denen sie mein Gefühl verletzten, meine Würde als Mensch. Zum Beispiel diesem Krüppel am Sandkamp mit seinem steifen Bein. H. W. war noch klein und hatte vor dessen Eingang unter der Roste, die da schon seit zwölf Jahren lag und demoliert war, ein kleines Geldstück entdeckt und wollte es rausholen. Zehn Pfennig oder so. Da kam der Idiot mit seinem Stock und wollte den kleinen Jungen für die verbogene Roste verantwortlich machen.

Noch schlimmer die Sache mit Edeka. Wenn ich den sehe (Wurzel), steigen Wut und Aggressionen in mir auf. Hans W. beim Schnaps klauen! Vor Gericht hätte ich ihn bringen sollen. Weil er sich im Unrecht fühlte, Schnaps an Kinder verkauft zu haben, fühlte er sich bedrängt und schlug ihn. Das allerdings erzählte Hans W. mir erst Jahre später. Vielleicht hätte ich ja sonst etwas unternommen. Hans W. war acht Jahre alt.

25.5.82 Ich bin immer die Angeschissene. Sitzen hier und trinken meinen teuren Whisky und bescheißen mich lächelnd. Das muss anders werden. Ich muss lernen, mich meiner Haut zu wehren. Ich glaube, dass ich das kann.

28.5.82 Na, endlich war es soweit. Stolz führte heute das Schwanenpaar seinen Nachwuchs vor. Die Enten, sonst Herren des Teiches, mussten sich ständig vor dem aufgeregten Schwanenvater in Sicherheit bringen. Fauchte mich sogar an. Das alles ist ja ganz wundervoll!

21.7.82 Das Gefühl für den natürlichen Verschleiß von Naturprodukten, z.B. Stoffen, von der Sonne brüchig gewordenes und gebräuntes Papier, ein alter introvertierter Mann auf einer Bank.

23.7.82 Eigentlich habe ich mein ganzes Leben hindurch nie eine Tätigkeit als Arbeit empfunden. Vielleicht rührt mein relatives Wohlbefinden daher.

Die kleinen Schwäne sind tot. Nachdem man zuerst angenommen hatte, dass sie vergiftet worden sind, hat sich herausgestellt, dass sie alle erfroren seien. Die Stadt gibt zu, dass man eine Schutzhütte hätte bauen können. Aber es wäre „ein Eingriff in die Natur“. Das darf doch nicht wahr sein! In einer Zeit, in der alles gegen die Natur gerichtet ist, ist eine kleine Strohhütte ein Eingriff in die Natur!

26.7.82 Am Abend ist die Stunde der Mauersegler, deren Hin- und Hergleiten Weberschiffchen ähnelt.

9.8.82 Was mir wirklich fehlt, ist das Gespräch mit einem fremden Mann. Habe ziemlich unter den sogenannten Wechseljahren zu leiden. Dies Echolose macht mich ganz fertig. Schlafe immer noch sehr schlecht.

11.8.82 Der Fleischer, der beifallheischend wie ein Torero in den Laden tritt, sich gleich an alle wendend, den kleinen Schaden an der Kasse behebt, indem er sich nach dem Motto „Lass das mal den Vater machen“ daran zu schaffen macht. Es zeigt sich, dass ganz einfach nur die Papierrolle aufgebraucht ist und durch eine neue ersetzt werden muss. Er aber tut so, als ob er etwas sehr Schwieriges spielend gelöst hätte. Seine Frau, dieses Getues wohl schon längst überdrüssig, übergeht ihn spielend und gekonnt, ist ganz auf die Kunden gerichtet.

Durch den Bau der Autobahn ist zweifellos auch Positives entstanden. Diese vielen kleinen Teiche mit ihren Inseln, den Spazierwegen mit den Pavillons. Sehr hübsch. Und das Heer der alten Frauen, die das alles bevölkern. Wie kommt es, dass sie so viel vitaler als ihre Männer sind?

13.8.82 Erika noch mal an die Bekloppten von D. erinnernd. Einer davon mit einer Prinz-Heinrich-Mütze, wie unser Kanzler sie auch trägt, strammstehend, die Hand an eben diese Mütze gelegt. Zu komisch. Frauen in ihren Trachten, die alle wie holländische Käseverkäuferinnen aussehen.

Ich weiß gar nicht, warum ich bisher in B.s Klagen über diese Stadt mit eingestimmt habe. Man muss nur von der richtigen Seite kommen. Auf meinen Gängen durch dieses Viertel stelle ich fest – vielleicht liegt es ja auch nur an diesem herrlichen Sommer –, dass Oldenburg schön ist. Kaskaden südlicher Flora.

Musik: Er hat mich gerade so weit in sie eingeführt, dass ich sie gefühlsmäßig verstehe.

8.9.82 Warum habe ich dich nicht ermordet? Das wäre doch wenigstens ein Tod nach deiner Fasson gewesen.

Katastrophen überall: in Italien die Freigabe zum Erschießen von Millionen von Singvögeln. In Flüchtlingslagern im Libanon sind Menschen wahllos und sinnlos niedergeschossen worden. Ich aber sitze, die späte Sonne genießend, auf meinem Balkon.

Steh auf, Mensch. Das geht auch dich an. Häng dir ein Schild um den Hals und stürz dich vom 8. Stock deines Hauses. Das Schild, damit man später weiß, warum du gesprungen bist.

Komisch, ich weiß, wie schädlich Zwänge sind. Trotzdem muss ich ihnen folgen.

29.10.82 „Unser täglich Brot gib uns heute.“ Damit ist ja wohl nicht das haltbar gemachte gemeint.

14.10.82 Worpswede Wie einsam ist jeder von uns. Lauter Monologe: der sprechende Klaus, die plötzlich über die Ufer tretende Monika, Adje, der sich nur noch um sich selbst dreht (wenn er liest, am liebsten laut, damit die anderen, ach, ohne sie geht es eben nicht, auch etwas davon haben). Auf seinem Nachttisch Der kleine Prinz auf Französisch. Unverändert. Und dahinter dies: die nach W. kommenden jungen Maler, diese Landschaft, die es schon immer gab, die in ihrer Einsamkeit aufgestörten Moorleute, Martha Schröder, die junge Tochter der Lehrerswitwe. Von Heinrich Vogeler idealisiert, alles ein einziges Missverständnis, aus dem Kapital geschlagen wird. Und wir in unserer Verlorenheit, nichts begreifend und verstehend, im Nurso-tun-als-ob.

Annemarie und Adje sind Randerscheinungen auf dieser Reise, die für mich sehr wertvoll ist. Es ist so schwer für mich, das alles differenziert zu betrachten und zu sehen, wie es wirklich ist. Kaum eine Möglichkeit, mit jemandem darüber zu sprechen.

27.11.82 Hans W. war da. Momente des Verstehens. Dankbar.

9.12.82, 3. Advent Weihnachtsgeld.

Zauberhaft der Anblick, wenn Rauhreif liegt. Gestern über den geschlossenen Weihnachtsmarkt. Auf dem Wochenmarkt meinen Schirm vergessen. Kinder, die musizierten. Die aufgedrehten Kunden bei Didzum. Ansonsten alles sehr schön: wie warten, warten auf etwas ...

1983

4.1.83 „Sei entweder gütig, oder mache mein Herz größer.“ Lowry, denke ich. Vorgestern aus der alten Burg zurück. Ich bin nicht kaputt, brauche mich auch nicht zu erholen, aber ...

Was heißt, keine Angst vor dem Tode, nur vor dem Sterben. Bei mir scheint es umgekehrt zu sein. Im Sterben ist doch noch Leben. Im Traum rief ich heute Nacht: „Mutti, Mutti“, und ich hörte ihre Stimme, die ich längst vergessen hatte.

30.1.83 Diese Momente, in denen mir so überdeutlich wird, dass ich sterben muss und die mich den Augenblick so klar erleben lassen, dass sie mich mit ihrer Süße fast zerbersten lassen. – Diese, auch von mir so geliebte Wohnung (Frau K.) mit ihren Ausblicken auf einen allgegenwärtigen Himmel, Möwen, die erst im Sturm ihre wahre Meisterschaft im Fliegen erreichen: das Mit-dem-Wind-Gleiten, das Sich-ihm-entgegen-Stemmen. Etwas leise Musik, aus dem Fenster sehen und die Bewegungen draußen mit denen der Musik identisch erleben: die Bewegung der Bäume und Sträucher, der Flug der Vögel, die abgehackten Schritte der Fußgänger; der Angler, der sich einrichtet – und die Schwäne und der Himmel, der so wechselbar ist mit seiner Sonne, die für Momente jedes Detail reflektiert und mir bewusst werden lässt, dass dieses Erleben eine große Gnade ist.

5.2.83 Das sind die Momente, die überhaupt noch von Leben zeugen: In denen du zugibst, dass eben alles nicht so einfach ist, dass du nicht weiter weißt, unsicher bist. Und jetzt gilt es, die Weiche zu stellen. Dieser kleinbürgerliche „Kack“, wie Herr Lämpel, der Professor, sagt. Diese Wiederholungszwänge. Haben wir denn nicht mehr gelernt?

Traum: Der gewandte Herr, der Frau H. die Hand küsst. Der überfüllte Fahrstuhl, ich mit meinem Brot, mein Ruf „Papa“, der mir seltsam vorkommt. Besser wäre „Vater“, denke ich.

Beim Studieren des neuen Programms der Volkshochschule stelle ich fest, dass es bei mir an allem hapert: Rechtschreibung, Zeichensetzung, Wirtschaftsführung, ganz zu schweigen von Politik, Gesellschaftsordnung und alternativem Kochen. Yoga und autogenes Training wären wie der Kursus „Leben ohne Partner“, vielleicht auch nicht schlecht. Wenn ich nur nicht so gehemmt wäre und mir der Angstschweiß nicht immer ausbrechen würde.

Warum musstest du deine ungelösten Probleme in mein Leben tragen? Ich suchte Hilfe in der Analyse. Du gefielst mir gar nicht. Ich mochte weder deinen Geruch noch deine schlechte Kleidung. Diese Praxis, die wie eine Zauberhöhle aussah. Und ich so unschuldig und naiv! Begierig, etwas zu lernen, konnte ich deiner Faszination nicht widerstehen. Na, und dann der „Doktor“, der mich kleines Licht angeblich zu lieben meint. Aber mein Misstrauen ist gut geschult und ausgebildet genug, um Betrug jeglicher Art zu durchschauen. Ich wusste schon damals, dass viele deiner Patientinnen so enden: in der Umarmung.

Ich war doch schon gegangen. Warum schriebst du mir, dass du abends auf mich (an der kleinen Brücke) gewartet hättest? Du hättest doch die Weichen stellen müssen. Du warst doch der Arzt und hättest mein Lehrer sein können. Wenn du mir gesagt hättest, dass es vorübergeht, hätte ich dir geglaubt. Du warst ein Verbrecher, und jemand hätte dich entlarven müssen. Und dann, nachdem ich mich schweren Herzens entschlossen habe – ein Wunder, dass ich nicht auf meine Kinder verzichtet habe –, mich scheiden zu lassen, kommst du unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in mein Leben und nimmst mich in Besitz. Erwartest alles von mir. Und ich Idiot spiele mit, obwohl ich vom ersten Tag an wusste, dass alles ein fürchterlicher Betrug ist.

Und nicht nur ich wurde betrogen, sondern alle anderen ebenfalls, einschließlich deiner Frau. Du hast so überzeugend gespielt, dass dir keiner auf die Schliche kam, nicht mal die schlaue Helene, die fromme.

Wie ich dich zum Schluss hasste. Wie ich gegen den Zwang kämpfen musste, dir nicht das Messer in den Wanst zu stoßen oder dir mit dem Löffel die Augen aus dem Kopf zu holen. Das ständige Reden beim Essen, die schlechten Zähne mit dem zerkauten Essen dahinter. Deine betonte Frömmigkeit. Der geizige Mennonit in dir, der fast mit der Taschenlampe nach Pfennigen in seinem Geldbeutel suchen muss. Und ich Arsch, der innerlich am Ende war und schon mehr als genug ertragen hatte, ich immer noch hörig! Der Rest meines Lebens wird nicht ausreichen, um mich von all dem zu erholen. Vielleicht hattest du einen Sinn in meinem Leben, der darin besteht, dass du gehen musstest, damit ich noch gesund werden kann. Es wird nicht ausreichen ...

Von allem hatte ich den schwereren Teil zu tragen. Weil mir alles aufgebürdet wurde. Da blieb keine Zeit für die Entwicklung. Wie erschöpft ich war. Wie ich mir immer wünschte, wenn ich morgens die „grüne Minna“ sah, dass ich dich umgebracht hätte und nun endlich Ruhe einkehren würde. Nein, du warst kein Heiliger, wie du meintest. Du warst ein Schein-Heiliger. Wie konntest du dich mit Christus identifizieren? Ich bin so geschädigt, dass ich manchmal nicht mehr weiterkann. Immer noch Gedanken an Selbstmord, die von sich aus kommen. Ich bin aber dazu nicht mutig genug.

8.2.83 Die fehlende Courage, mich zu bilden, meine Angst, mich unter das Volk zu mischen, führe ich darauf zurück, dass ich schon als Kind geschädigt war. Meine Bettnässerei, mein Stottern, die Furcht, dass es die anderen merken. Mein Verlassen-Sein. Unsere Abschiebung zu den Großeltern, in deren begrenzten Verhältnissen wir (mein Bruder und ich) ungeliebt, seelisch verkümmerten. Wir hatten immer Hunger. Vor allem Hunger nach Liebe und Anerkennung. Erst heute begreife ich im vollen Umfang den Notzustand, in dem wir lebten. Damals schon große Lust, mir das Leben zu nehmen. Wie ich sie aufmerksam machen wollte, strafen für das Kein-zu-Hause-Haben. Einmal band ich mir mit einem Faden den Mittelfinger ab und wartete darauf, dass er schwarz werden würde, um dann den Faden abzubinden, damit das „Leichengift“ in die Adern dringen könnte. Jemand hatte das meiner Großmutter erzählt, und ich hatte es begierig aufgenommen. Dann die Idee mit dem Tod im Schnee. Abends aus dem Fenster steigen und gehen, bis zum Umsinken. Aber feige war ich anscheinend schon damals.

9.2.83 Was sind das für Gedanken! Heute liebe ich den Morgennebelsee, den Teppich der Mauersegler und die Verletzlichkeit der Zeit.

20.2.83 Heute vor 32 Jahren habe ich Monika bekommen. Ich wollte heile Welt spielen, mit allem, was dazu gehört: Mann, Kind, Familie. Wie naiv ich war!

Was war das damals? Zunächst war ich in den W. sehr verliebt. Ich mochte sein Aussehen. Ja, wirklich, er sah sehr gut aus. Er erinnerte mich an den Filmschauspieler Gregory Peck. Meine Mutter hatte gesagt – so hat es mir meine Tante später erzählt: „Wenn ich den Uhrmacher nicht bekomme, gehe ich ins Wasser.“ Der Uhrmacher war mein Vater. Sie bekam ihn und meinen Bruder Hans. Als ich kommen sollte, war die Liebe schon vorbei, und das muss ich schon ungeboren gespürt haben.

Gott sei Dank gibt es die Zeit. Wie schwer ist es doch, jung zu sein. Da hilft doch wirklich nur Unwissenheit, sonst könnte man tatsächlich nur „ins Wasser gehen“. Monika wurde auf meinen Wunsch hin gezeugt. Ich wollte heiraten. Ich dachte, damit seien alle Probleme gelöst. Das ist die Wegscheide: Wenn die Erfahrung die Unwissenheit verdrängt, muss es bewusst geschehen, und daraus muss Entwicklung kommen. Sonst endet es wie bei uns.

Was ist mit Monika? Ich glaube, es wäre falsch, sich irgendwelche Vorwürfe zu machen. Wir haben uns immer um sie bemüht, allerdings eingeschränkt durch das unmögliche Zusammenleben mit meiner krebskranken Mutter. Wahrscheinlich habe ich auch da versagt. Welch ein Elend! Dabei hatte ich Träume!

20.3.83 Am 18. abends „Blackout“. Die Nacht auf den Fliesen im Badezimmer verbracht. Heute noch etwas flau. Monika war da, aber weiß der Teufel, was das mit uns beiden ist. War ich auch so, dass sich das jetzt an mir rächt?

Traum: Bin mit W. W. in Worpswede, im Haus im Schluh. Er trägt Schuhe von Heinrich Vogeler, die noch recht gut in Schuss sind. Er verwechselt die Töchter mit Namen. Ich erzähle, dass ich schon mal dort war.

Ja, es kam vor, dass er die Namen seiner Damen verwechselte. Das war schlimm, und um das nicht wahrhaben zu wollen, versuchte ich dem eine andere Deutung zu geben. Schon als Kind konnte ich die Realität, in der ich leben musste, nicht annehmen und suchte Fluchten. Die Schuhe! Seine Sparsamkeit war schon pervers. Nie habe ich einen Menschen gesehen, der schlechter gekleidet war und trotzdem solch einen Aufwand mit seinen Lumpen trieb. Er trug noch einen Anzug von seinem Vater, der schon 20 Jahre tot war!

23.3.83 Diese aufgeblasenen Frösche! Am einsamsten fühle ich mich unter Menschen, d. h. wenn man sie als solche bezeichnen kann. Ich habe mein Gesicht verloren. Mein Gesicht mit den lockeren Lippen. Abends sah ich einen Film über Tytte Botfeldt. Der Film hieß Aufs Sterben freu ich mich. Schwerkrank war sie immer noch für ihre Organisation (terre de hommes) tätig. Bewundernswert die Einstellung dieser Frau zum Tod. „Ein behindertes Kind oder etwas anderes Schweres, was immer es auch sei, fördert den Menschen, der damit zu tun hat. Es bildet ihn.“ Ich wusste das natürlich. Aber es ist gut, immer wieder daran erinnert zu werden.

1.4.83 Noch mal zu dieser tapferen Frau und ihrer Einstellung zu „ihrem“ Krebs. Das „Gespräch“ mit ihrem Körper. Morphium hat sie nicht vertragen, ebenso andere Medikamente nicht. Dafür lobt sie das „heiße Kissen“ und das Streicheln mit zwei Fingern. Sie hatte die Krankheit so im Griff, dass sie sagen konnte, wann der Krebs wuchs und wann er schwand. Bei Gemüsesäften reduzierte er sich, aber um Kräfte zu gewinnen, musste sie auch feste Kost haben. Und da „wuchs er spürbar“. Das ist Leben, das ist Geist!

„Je älter der Mensch wird, desto schöner wird er“, sagte sie. Wie schön.

1.4.83 Fado! In Portugal wird – zwar selten, aber doch noch – Fado gesungen. In einer bestimmten Gaststätte singt man beim Klang der Gitarre seinen Stress raus. Man singt „sein“ Lied, das Lied seines Lebens. – Ohne mein Zimmer zu verlassen, mache ich wichtige Erfahrungen. „Lass fahren dahin ...“ (Martin Luther)

3.4.83 Ostertag Wahrscheinlich bin ich eine Masochistin. Immer noch. Dennoch liegt Wahrheit darin. Morgens bei Monika. Sehr deprimierend. Was habe ich falsch gemacht? Warum ist sie wie zugemauert?

4.4.83 Immer noch Ostern. Traum: Vor einem Bekleidungsgeschäft stehen Frauen an. Kleider sollen zu reduzierten Preisen verkauft werden. Markenware. Ich möchte auch eins kaufen. Man hat eins für mich zurückgelegt, das aber nicht ganz meinem Geschmack entspricht. Lasse mir noch eins zeigen. Eine Art Schürzenkleid aus drei verschiedenen Mustern. Bin ambivalent. – Das ist es eben. Ich bin immer noch für Schürzenkleider, leider.

Pfingsten 83 Sch. sagt, dass sie geil ist, seine Frau. Der Blöde. Was kann es für einen Mann Besseres geben als das. Schwachköpfe! Seit vorgestern sind die neuen, kleinen Schwäne da. Der Alte nimmt die, die zuerst da waren, schon zeitweise mit ins Wasser, während die Alte noch auf dem Nest sitzt. Ob es diesmal klappen wird? Bis jetzt waren sie noch jedes Jahr dem Tode geweiht.

22.9.1983 halb zehn Es kann doch nicht sein, dass niemand, den ich kenne, sich fragt, ob das alles so richtig ist. Wir alle sind doch nur damit beschäftigt, uns einen Wunsch nach dem anderen zu erfüllen. Eine Feier jagt die andere. Jeder hat seine Sucht zu befriedigen. Süchte, die wer erzeugt? Und ich? Was mache ich? Vollmond ist heute und September: Der Herbst des Einsamen (Georg Trakl) beginnt.

23.9.83 Es gibt Momente, da bin ich dem Leben ganz nah und verstehe alles. Ich begreife meinen Herbst und genieße mit Inbrunst meine späte Sonne, die erst ihren Wert durch alles, was mir geschehen ist, erhalten hat. Auch Depressionen haben ihren Wert.

24.9.83 Scharlatan, der auf Kosten anderer lebte und es dabei fertigbrachte, sie so zu blenden „mit dem Glanz, der aus mir bricht“ (W. W.), dass sie sich geschmeichelt fühlen mussten, einen Christus zu beherbergen.

Diener der Frauen, ihnen die Füße küssend. Den Mund zu küssen war schon schwieriger. Das konntest du nie. Im Reden warst du groß. Du warst pervers, zumindest irgendetwas in dir war es. Etwas stimmte da nicht. Du konntest gar keine Frau richtig berühren. Du scheutest den Kontakt mit ihrem Geschlecht, mit ihren Brüsten. Was suchtest du eigentlich bei ihnen? Ich glaube, die Mutter. Vielleicht. Die Frauen sollten dich umarmen. Dich verwöhnen. Deine Werte lagen auf einer anderen Ebene. Das war das Wort. Das Wort eines gewandten Zungendreschers. Bewandert in der Literatur, in der Lyrik zu Hause, sich ihrer bedienend. Und wir wollten alle dies von allen verkannte und nicht erkannte Genie schützen. Kamen wir uns doch alle wie Maria vor, den himmlischen Worten lauschend. Den Martha-Anteil nahmst du aber auch gern an. Schließlich will auch ein Herr und Meister bekocht, bewaschen und bedient werden und, nicht zuletzt, darf die Frau rund um die Uhr als Abreagierungsgefäß dienen.

Es vergeht kein Tag seit meinem 35. Geburtstag, an dem ich nicht in irgendeiner Weise an dich denke. Noch jetzt, fünf Jahre nach deinem entsetzlichen Tod, bin ich mir nicht sicher, was du warst: der Teufel oder doch etwas Himmlisches.

25.9.83 Traum: Etwas schnüffelt am Zelt. Ich bin wie gelähmt. Am Schatten, der sich an der Zeltwand bewegt, sehe ich, dass es ein vierbeiniges Wesen ist. Ich bin ganz still und überlege, was es sein könnte. Vielleicht ein Hund? Der Schatten läuft zum Zelteingang. Einer von uns hatte vergessen, ihn anhand des Reißverschlusses zu schließen. Angst. Da ruft jemand: „Bello, komm her.“ Große Erleichterung, ich schlafe wieder ein.

M.s Geburtstag 83 Und dann wieder gibt es Momente, in denen ich denke, ich habe umsonst gekämpft. Als ob eine Idee verraten worden sei.

5.10.83 Je weniger Gelegenheit der Mensch zum Sprechen hat, desto ausgeprägter wird seine Wahrnehmung werden. Scheint mir eine wichtige Erfahrung zu sein. Kraftgewinnung?

15.10.83 Ist der Zustand, in dem ich mich befinde, nicht schizophren? Ist das Allein-Leben nicht eine Gefahr, es zu werden? Antworte mir!

8.11.83 Im Zug nach Murnau. Der Mann, der von seinem Papagei erzählt: Die Voliere, unten die Zwerghühner und oben er, der Papagei. Man hatte die Hühner aus praktischen Gründen mit in die Voliere getan, weil sie das verstreute Futter fressen sollten. Nun geschieht Folgendes: Der Papagei wird den Hühnern immer ähnlicher. Sitzt zwischen ihnen auf der Stange, scharrt wie sie im Sand, plustert sich auf und setzt sich ins Nest. Erst nachdem er einen Artgenossen bekommen hat, glättet sich sein Gefieder, und er wird wieder Papagei.

13.11.83 Volkstrauertag Heute höre ich von den „Opfern der Vertriebenen“. Jemand hat sich darüber informiert, dass in einem Staatsarchiv 40.000 Berichte vorliegen, aus denen hervorgeht, wie viel Leid „auch“ diese Menschen erfahren haben und nicht nur die Juden durch uns. Violin-Konzert von Sibelius gehört. Irgendwie hat er auch das in mir getötet.

18.11.83 Komisch, dieser scheinbare Widerspruch zwischen der Sparsamkeit und dem Kaufzwang, der in mir wohnt. Egal, wie dem auch sei. Was ist schon Geld. Klar ist es gut, es zu haben, aber doch unsinnig, armselig zu tun, wenn ich Millionär bin. Das beobachte ich alle Tage, alle Wochentage und bei Besuch.

23.11.83 In dieser Wohnung kommt mir der Sommer viel länger vor. Bis zum 20.11. fast täglich mittags noch auf dem Balkon gesonnt, und dabei ist in einem Monat Weihnachten. Heute ist der Tisch gekommen. Was ist der Mensch ohne Tisch. Ein Tisch, auf den man die Arme legen kann und manchmal den Kopf. Wunderbar. Jetzt habe ich meinen Platz. „Privatweg. Benutzung auf eigene Gefahr.“ Gutes Thema. Sollte ausgeführt werden, nach dem Motto: „Ihr stoßt ins Leben ihn hinein und lasst den Armen schuldig werden. Dann überlasst ihr ihn der Pein, doch alle Schuld rächt sich auf Erden.“ (Goethe)

4.12.83 Habe ich geliebt? War es das? Ist mir das wirklich passiert? Vulkane brachen auf ...

1984

10.1.84 Wolfenbüttel hat ein Buch für 32 Millionen Mark in England ersteigert, das für die Kirche einen Wert besitzt. Eine Handschrift aus dem Mittelalter. In denselben Nachrichten, die das bekanntgeben, wird uns erzählt, dass in Äthiopien auf 25.000 Menschen nur ein Arzt kommt und die gesundheitlichen Zustände katastrophal seien. Es wird um Spenden gebeten! Das hält man doch im Kopf nicht aus!

21.3.84 Das Leben ist einfach schön. Gut, dass ich durchgehalten habe. Morgen wäre meine Mutter 69 Jahre alt geworden. Stimmt nicht, 75.

9.4.84 Es mag Farben geben, die mir stehen würden, mir unbekannte Wege wären vielleicht mein Glück. Aus Unsicherheiten, verpassten Gelegenheiten besteht mein Leben. Dennoch: Wie ich es liebe!

15.4.84 Wahrscheinlich habe ich mich im Laufe meines Lebens verformt. Ich wurde auf einen Platz gestellt, der mich überforderte. Von Anfang an. Jeder sah in mir die starke Person, und um dem Bilde zu gleichen, spielte ich die Rolle.

1.6.84 Heute begriff ich, dass ich in erster Linie die Liebe zum Material hatte, d.h. zum noch nicht Vollendeten. Ist es erst fertig, interessiert es mich kaum noch, ja, überhaupt nicht mehr. Fehler? Liegt darin die Diskrepanz zwischen meiner derzeitigen Lage und meinem Wesen? Habe ich denn noch immer nicht begriffen, dass er die dominierende Komponente in meinem Leben war und immer noch ist?

Traum: Tanze mit dem alten Chef. Er küsst mich. Mit seinen Zähnen scheint etwas nicht in Ordnung zu sein. Ja, die alten Männer spielten schon immer eine große Rolle in meinen Träumen. Es lag bestimmt daran, dass in meiner Kindheit jegliche Vaterfigur fehlte. Es gab den Vater einfach nicht, und was von ihm da war, zerstörte meine Mutter. Praktisch wuchsen wir wie Waisen auf.

4.6.84 „Und dann kam der Tag, an dem man ihn auf den Opfertisch schnallte. War er bereit?“ Wie oft hatte W. W. sich in dieses Gedicht von Dag Hammarskjöld hineinversetzt. Seiner Meinung nach hatte er sich geopfert. Und nun das: Heute genau vor sechs Jahren, an einem Sonntag, es war mal wieder Wahl, und er war noch mit seiner Frau „Spatzi“ wählen gegangen, musste er sich nach dem Essen übergeben, und bald setzten die Schmerzen ein, die furchtbar gewesen sein müssen. Ein Notarzt kam, der nichts begriff, ihm eine Spritze gab und nicht erfasste, dass der Mann im Sterben lag. Sehr heißer Tag, ich armes Schwein, von dem die Familie seit 13 Jahren angeblich nichts wusste, begriff auch nicht den Vorgang, der sich vor meinen Augen abspielte. Abends noch mal der Notarzt, der sich endlich entschloss, einen Krankenwagen zu verordnen. Alles ohne Telefon. Ich immer nach unten zur Telefonzelle. Der Wagen kommt, W. W. aufrecht im Schlafrock und Hausschuhen die Treppe runter, ich an seiner Seite. Frage ihn, ob ich seine Familie einschalten solle, er verneint. Die Sanitäter schalten das Martinshorn ein, und der sterbende Mann sagt: „Das wird eine teure Fuhre.“ Ich glaube, das war das letzte Wort eines Mannes auf dieser Welt, der jetzt bezahlen musste. Der eine Woche auf dem Opferblock lag und bestimmt nicht bereit war. Die Bahre, der dunkle Blick, der nicht mehr ausweicht: dunkel, punktförmig, ahnend? Und ich? Damals hätte ich gern mit ihm getauscht.

22.9.84 In der Windmühle auf der Ottensteiner Hochebene. Heute auf den Spuren der alten Dame. Trinke zu viel. Bin im selben Zimmer untergebracht.

War das damals immer gut? Eigentlich war es doch immer eine Flucht. Da konnten wir, W. W. und ich, als Herr Doktor mit Frau auftreten. Aber hier, in diesem Zimmer, war ich recht glücklich. Es wäre vollkommen gewesen, wenn ich den Gedanken an die anderen Lieblinge hätte ausschalten können. Manchmal schaffte ich es. Ich spielte die Rolle, die er mir diktierte. Ich weiß noch nicht einmal, ob das nur ein Rollenspiel war. Ich war doch besessen von ihm, dem Dichter, dem verkannten, der eigentlich den Nobelpreis verdient hatte.

Woran hat er wirklich gekrankt? Ich meine, sein Verhalten den Frauen gegenüber war sehr zwiespältig. Ich glaube, dass er eigentlich homosexuell war und es verdrängte. Mehr als der Geschlechtsverkehr bedeutete mir die geistige Anregung, die er gab. Leider war ich körperlich immer so erschöpft, dass ich dafür kaum noch den Nerv aufbringen konnte. Hier aber, wo wir in „Vollpension“ waren und nur noch für Getränke sorgen mussten, begann auch mein Gehirn wieder zu funktionieren, und ich konnte meinen Herrn und Meister manchmal in Entzücken versetzen.

Karte an Hans W. und Marion, seine Frau, mit einer Einladung für Samstag. Heute durch das Friedenstal gegangen, an dich gedacht. So geht der Mensch durchs Leben: reflektierend. Ich glaube, dass ich es wieder mal geschafft habe. Schöne goldene und braune Töne ...

1987

87, null Uhr zwanzig Letzte Amtshandlung 86: die Verträge für die Wohnung Tannenkampstr. 31 unterschrieben. Bürge für Monika.

Letzter Anruf 86: Manfred, mein Halbbruder. Vielleicht hätte ich keine Kinder haben sollen.

Die Kapazität des menschlichen Gehirns ist begrenzt, deshalb muss er vergessen. Irgendeine Angst treibt mich pausenlos zur Eile, damit ins Grab.

„Wer am meisten liebt, wird am wenigsten geliebt“, las ich neulich irgendwo. Ob das stimmt? Vielleicht.

24.1.87 „Aber jetzt zerbeiß ich ihn“, Werbeslogan für ein Bonbon. Unrast. Wetterumschlag? Gestern noch Eis auf der Kuhle, heute Wasser. Hatte mich auf Hans W. eingestellt, diesmal klappte unsere Telepathie nicht. Absoluter Tiefpunkt! Was ist nicht alles zu leisten in diesem Leben, nur um zu überleben. Flüchte in die Bücher. Dabei schreie ich nach Menschen.

31.1.87 Heute hat mein W. Geburtstag. Hoffentlich bleibt er gesund. Eigentlich ist er, im Gegensatz zu mir, ein guter Mensch, wie man so schön sagt. Wenn er männlicher gewesen wäre, hätte ich mich wahrscheinlich nicht von ihm getrennt. Erst in der Analyse wurde mir so richtig klar, dass meine Unbefriedigtheit bis weit in meine Kindheit reichte. Ein Kind braucht Vorbilder, das müssen doch in erster Linie die Eltern sein. Die Lehrer dürfen nicht ausfallen. Meine Trostlosigkeit und Verlassenheit konnte Werner nicht beheben. Der Arme, er hatte es mit mir schlecht getroffen. Dabei gab er sich solche Mühe, meinem Ideal nahezukommen. Das Ziel war aber zu hoch gesteckt. Wir haben es beide versucht.

Mit der Person als solche hatte mein Bedürfnis nichts zu tun. Es war das Wissen dieses Mannes, das mich faszinierte und ich in dem Augenblick als das erkannte, was ich nötig gehabt hätte. Schon immer. W. W. hätte mein Vater sein sollen, mein Lehrer. Er hätte mein Lehrer bleiben müssen. Durch ihn begriff ich, wie wichtig der Kopf ist, und dass der Orgasmus (das Wort hatte ich bis dahin noch nie gehört und wusste somit auch nicht, was es bedeutete) erst im Einklang, erst durch ihn vollkommen ist. Da war es aber für W. und mich schon zu spät. Vielleicht war ich auch frigide. Möglich. Was wusste ich schon, trotz der Kinder, von Geschlechtlichkeit.

Wunderbarer sonniger Tag. Mich am Fenster gesonnt. Ich brauche jemand, der mich vor unüberlegten Schritten bewahrt. Rührt nicht meine Sucht, anderen Gutes zu tun, von meiner Unsicherheit her? Will ich mir damit nicht Zuneigung erkaufen? Was stimmt da nicht? Trotz allem halte ich mich für glücklich. Um vier Uhr Frühstück im Bett. Nicht geschlafen. Danach schlafe ich aber ein und träume: Jemand hat ein kleines Kind achtlos auf den Tisch gelegt, an dem ich sitze. Ich fasse es unter die Arme und spreche mit ihm. Es antwortet auf eine Weise, die nur ich ihm entlocken kann und die mir zeigt, dass es meine Sprache versteht.

Februar 87 Muss erst Aids oder Tschernobyl etwas wie Gemeinsamkeit zwischen den Menschen schaffen?

30.4.87 Es gibt Momente, da weiß ich ganz genau: Das ist Gott, oder W. W.? Nie mehr ist es mir möglich gewesen – auch nicht mit Alkohol –, den Rausch herzustellen, den ich durch diesen Mann erfuhr. Es war die geistige Nahrung. Die Befruchtung meines Geistes. Zu großes Wort. Sagen wir, meiner Grütze.

Besuch bei H. Sch. und I. K. „Ich hab mich so daran gewöhnt, hab mich so sehr daran gewöhnt.“ Im Keller ein Vermögen an Puppen und anderem Zeug. Die Millionäre mir pausenlos erklärend, wie sparsam sie sind, und so sehen sie auch aus.

Alle meine Bemühungen, mich unter das Volk zu mischen, schlagen fehl. Wie wenig ich über mein äußeres Leben zu berichten weiß! Dabei knüppel ich von sechs Uhr früh bis fünf Uhr abends und manchmal auch noch länger. Und immer wie im Gefängnis. Niemals frei genug, um irgendwohin zu gehen. Nicht einmal zum Arzt. Es muss gestempelt werden. Und immer ist da jemand, der seinen Launen täglich nachgibt und ich mich ihm ausliefere. Der so tut, als ob er vorne rausgeht, und wir schöpfen Hoffnung. Plötzlich ist er von hinten durch die Tür wieder da, und mit schlechtem Gewissen fährt alles auseinander. Wie menschenunwürdig! Fast noch wie im Mittelalter: der Herr und sein Knecht. Wie tröstlich, nach Hause zu kommen und den Korken zu ziehen.

7.5.87 Froh, ich sein zu dürfen. „Solange wir uns noch Alternativen ausdenken können, sind wir nicht verloren.“ (Erich Fromm)

„Es werden mehr Tränen vergossen über erhörte Gebete als über nicht gehörte.“ „Die Vorstellung, in einem Zimmer zu schlafen, wo keine Flasche steht, ist ziemlich deprimierend.“ Tennessee Williams

War mit Annemarie in Barten. Die äußeren Umstände waren nicht sehr glücklich. Klaus hätte uns sagen müssen, dass J. mitfährt. Wie ungeschickt. Gewinn: Frau Karge. Eine vollkommen fremde Person nimmt sich der Belange der Menschen im Osten an. Sammelt Geld, riskiert Kopf und Kragen, versteckt es an den unmöglichsten Stellen und hat immer das rechte Wort am rechten Platz. Bravo!

Barten, die Stadt meiner Geburt, die Stadt, in der das Unglück meiner Eltern seinen Lauf nahm. Meine Mutter sich in den Maler verliebte und seinetwegen meinen Vater und uns verließ. Lässt uns einfach im Stich, gibt uns beim Schuster Plink ab, legt einen Brief für meinen Vater unter den Teppich, und wir sollen ihn am Samstag, wenn er von Deckerts aus Gerdauen kommt, abgeben. Das weiß ich noch: Mein Vater weint, als er den Brief liest. Was sie wohl geschrieben hatte? Im Schreiben sind wir beide groß. Immer wenn uns etwas nicht mehr gefällt, schmeißen wir alles hin, schreiben einen Brief und damit hat es sich.

Wenn man die Fehler, die man gemacht hat, erkennt und bringt sie nicht wieder in Ordnung, so man Gelegenheit hat, ist das schäbig und Betrug.

30.11.87 Wie es geht? Was ist darauf zu antworten? Dass ich gesund bin? Das heißt, mich gesund fühle, am Körper, an der Seele, am Geist? Sieht denn ein Gesunder so aus? Dass ich mich einsam fühle zum Verrecken? Mir jemand zugeordnet sein müsste, jemand, von dem man etwas hält? Also: Den Umständen nach geht es mir ausgezeichnet, ich rieche den Herbst, sehe seine braungoldenen Töne, Geruch und Gehör sind geschärft und alle Sinne funktionsfähig. Danke der Nachfrage!

2.12.87 Emma, eine gute Bekannte ist tot. Das heißt, noch nicht ganz. Sie liegt im Koma. Hatte sich feingemacht und ging mit Emil zum Kegeln, und während sie den Arm hebt, um die Kugel rollen zu lassen, fällt sie. Das Herz hatte ausgesetzt. Obwohl es ihr schon seit Tagen schlechtging, musste sie zum Kegeln. Ob sie’s noch länger „gemacht“ hätte, wenn sie an diesem Abend darauf verzichtet hätte? Fragen ... War mit Ruth im Krankenhaus. Emma liegt da, als ob sie schliefe, Emil an ihrem Bett, zum Erbarmen. Ich streichel ihn. Bin ich verrückt? Sehe ich mich als Nachfolgerin?

1988

1.1.88, 13.30 Uhr Es schien, als ob der Applaus kein Ende nehmen wollte und der Lohn für sein ganzes Leben sein sollte. Das Publikum schien über den von Karajan dirigierten Bolero von Ravel hingerissen. Hatte Karajan lange nicht gesehen. Sah erschreckend aus. Irgendwie gelähmt. Seine Hände trafen sich nicht mehr richtig. Man hatte ein Geländer angebracht, an dem er sich halten konnte. Erstaunlich, dass ein Mensch, schon so lädiert, immer noch das Bedürfnis hat zu glänzen. Ich mochte ihn nie richtig. Karajan erschien mir immer wie ein Egozentriker.

Beginne das Jahr 88 in guter körperlicher Verfassung. Ohne Grund oft traurig, deprimiert. Irgendwie lerne ich es nicht, die richtigen Kontakte zu knüpfen. Kneippverein, Sportverein, Wandern. Alles nothing for me. Wieder aufgegeben.

13.1.88 Fazit? Gibt es nicht!

Emmas Beerdigung. Herzzerreißend, Emil vor mir sitzen zu sehen. Er hat mindestens 80 Pfund abgenommen, schmal der Hals in dem weißen Kragen. An seiner linken Seite Thomas und rechts Michael, seine Söhne. Eine Frau ist in dieser Situation stärker. Hier sieht man nur Verzweiflung, Hilflosigkeit, und ich wünschte einen Engel herbei, der ihm zur Seite steht. Vielleicht schickt Emma einen von oben. Um ihn zu stärken, konzentriere ich meinen ganzen Willen voller Intensität auf ihn. Dem Mann muss geholfen werden! Er ist so naiv und treu. Fast wie W. Wie ein Kind, und das ist es, was mir zu denken gibt. Oh, Emil und Emma! Auch wenn Emma sagte, dass sie so krank sei, haben wir es alle nicht geglaubt. Wie sollte man auch, sah sie doch immer fabelhaft aus. Manchmal allerdings blaue Lippen ...

Emil an der offenen Gruft, die Hände voller Verzweiflung in den Himmel reckend und dann vor das Gesicht schlagend. Ilse: „Mein Gott, der fällt doch da noch rein. Nun nehmt ihn da schon weg und bringt ihn nach Hause. Er kann doch gar nicht mehr stehen.“ Stimmt, er muss gestützt werden. Schon vorher, als der Sarg zur offenen Gruft getragen wurde, drohte er zu fallen.

Schuldgefühl Emma gegenüber. Habe mich wie ein Schwein benommen ihr gegenüber. Werde oben um Entschuldigung bitten.

Was mich aber schon immer faszinierte, ist, wenn ein Mensch vor Kummer fast zerbricht. Und er zerbricht eben nicht. Auch Emil wird weitermachen, weiterleben. In diese Situation werde ich nicht kommen. Da wird keiner am Grab zusammenbrechen. Am besten wäre eine Lösung, ohne dass jemand dahinterkommt. Verteilung „meiner Güter“ acht Wochen später. Kein Aufsehen.

27.1.88 „Am Mittag meines arbeitslosen Tages treibe ich mich auf dem Markt herum – ich sehe, dass ich noch lange nicht am Ende bin.“– Zitat aus einer Hörspielsendung, die von Korea handelte. Die Aussage eines Dichters. Das ist wahr. So sollte Dichtung sein. Mein Gott, wie einfach (schwer) das ist: objektiv zu sein.

30.1.88 Ich hoffte, ich hätte für die Menschen, denen ich meine, nahezustehen, irgendeinen Gewinn. Frommer Wunsch! Aber warum? Bin ich verrückt?

3.2.88 Ich gehe betrunken in roten Schuhen über den Friedhof und trage in einem grünen Netz selbstgebackene harte Kekse und selbstgestrickte Strümpfe. Wie wunderbar ist das Leben!

4.2.88 Schwarzes Loch, in das ich gefallen bin.

Es liegt doch nicht daran, dass es „schon genug Strümpfe“ gibt, die ich gestrickt habe? Das Köpfchen aus Beton wird mich doch nicht bedrücken?

28.2.88 Wo ist mein Ansprechpartner? Neue Begriffe in unserer Sprache. Ist es eine Bereicherung?

8.3.88 Im Hochgefühl meiner Kräfte, aktiviert durch einen halben Liter trockenen Weins aus Baden, nachdem ich einen Kalender im Feierabendverkehr von der Post habe abholen müssen, kommen mir jetzt Gedanken: Es hat doch alles seinen Sinn. Lieber Gott, lass mich empfänglich für deine Fingerzeige sein. Bitte.

10.3.88 Ich kann nicht mehr. Welch eine Nacht. Wie am Marterpfahl. Was kann ich bloß tun, damit das ein Ende hat? Vielleicht rächt sich der ständige innere Monolog an den Armen, die umfangen, sich um etwas schließen wollen.

Ich könnte mir denken, dass, wenn nicht dieser Wille in mir noch auf sogenannte Ordnung halten würde, ich meinen Gelüsten freien Lauf lassend zu großer Form auflaufen würde. Aber da ist noch etwas, was mich hält. Mich zwingt, diesem trostlosen Tag Folge zu leisten. Anstatt mich totzusaufen. Da käme bestimmt mehr „bei raus.“ Was würde mein Therapeut sagen, wenn ich in der Analyse bekennen würde, dass ich augenblicklich eine Vorliebe für Würstchen habe. Das ist doch wohl klar: Penisersatz. So einfach ist das: Meine Sucht zwingt mich dazu, sechs Würstchen zu essen. Folglich, sex mal?

Entsetzlich müde –

13.3.88 Im Radio hörte ich heute in einer Sendung über eine Frau, die gleichzeitig Partnerin dreier Männer war. „Lebenslust und krankhafte Depressionen, etwas fast Pathologisches bestimmte ihr Leben.“ „Jeden Tag mindestens zehn Schnäpse und noch Rotwein“, Aussagen von Zeitzeugen. „Ein Engel und gleichzeitig eine Betrügerin.“ „Eine hinreißende Person und gleichzeitig abscheulich.“ Joseph Roth: „Abends kochte sie. Wir sparten das Gaststättengeld, und außerdem schmeckte es wunderbar. Sie kochte, wie sie schrieb, mit Phantasie. Heute gab es Huhn mit Paprika, Tomaten und Salat. Das Gemüse war, glaube ich, geschmort.“ Tolle Aussagen von den Männern.

In den Rastenburger Heften gelesen. Was für ein Unsinn! Erstaunlich diese Erinnerungsvisionen. Was fällt mir dazu ein? Tante im Strandanzug. Hat nicht gekocht, als der Mann zu Mittag kommt. Er umfasst sie, und sie, für ihn nicht sichtbar, streckt hinter seinem Rücken die Zunge raus. Aber ich sehe das. Die abendliche Haferflockensuppe. Die Abfütterung bei K.s. Das Sammeln von Zigarettenstummeln für die Tante. Kaffee und Zigaretten kaufen. Tabletten.

Bei uns: der Werktisch meines Vaters am Fenster in der Küche. Mein Vater, die gerollten Klopse kleiner machend, während meine Mutter gerade nicht in der Küche ist. Papei (der Heimwerker meines Vaters, er holt kaputte Uhren ab und bringt sie repariert zurück), der mich Spiralchen nennt. Mein Ahnen schon damals um die Beziehung meiner Mutter zu B. Mein wahnsinniges Wünschen, dass sich meine Eltern doch verstehen mögen. Nach Anzeichen suchend, die das vielleicht andeuten. Wie froh ich dann plötzlich bin, wenn ich meine, es annehmen zu können. Fühle mich wie ein Vogel: frei, und ich singe vor mich hin. Meine Mutter: „Vogelchen“ zu mir sagend. Wie ich die beiden beobachtete! Was spielte sich zwischen ihnen ab? Ich wäre so gern stolz auf meinen Vater gewesen. In meiner Erinnerung gibt es nicht einen Tag, an dem ich uns als Familie um den Tisch herum sitzen sehe: Vater, Mutter und wir beiden Kinder, Hans und ich. Allerdings sah ich das bei K.s, meinen Verwandten, auch nicht.

Wir hatten vor der Stadt noch ein Stück Land. Mein Vater arbeitete gerne im Garten. (Er hatte bis zu seinem Tode einen. Sogar in Straßburg.) Und auf dem Wege dorthin bezog ich für mein unmögliches Verhalten (ich wollte nicht mit) Dresche. Auch noch ein zweites Mal, als sie zusammen spazierengehen wollten.

Was noch? Mein Vater bei Leitmeiers auf der Terrasse sitzend und Karten spielend. Meine Mutter hatte mich geschickt, ihn zu holen. Wie die Jüdin Frau Dantowitz ihre Füße setzte. Ich fand das damenhaft und versuchte sie zu imitieren. Wie sie den Kuchen rührte. Mir, die ich immer hungrig war, lief das Wasser im Mund zusammen. Manchmal wurde ich zu ihnen in den Garten geführt, um mit dem Sohn dort zu spielen. Es gibt sogar noch ein Bild davon. Was aus denen wohl geworden ist? Später jedenfalls war ihr Geschäft mit Brettern vernagelt. Es muss aber auch eine Pogromnacht gegeben haben. Mehrere Geschäfte blieben danach geschlossen. Die Juden in Barten. Das Gefängnis bei K.s. Wolf, die Gefangenen schlagend. Tante, ihnen manchmal, wenn es keiner sah, Brot und Zigaretten durch die Gitterstäbe reichend. Unser Spielen auf dem Hof, unter den Augen der Gefangenen, die durch das Gitter sahen, hatte etwas Beklemmendes. Um auf das Klo zu gehen, musste man über den Hof. Wie fürchteten wir uns immer und machten lieber in den Eimer!

Wenn man in den Heimatheften liest, denkt man, wir waren alle Gutsbesitzer und hatten unser Personal.

15.3.88 Wenn ich meine Möglichkeiten bedenke, die ich wirklich hatte, bin ich doch heute nicht zu schlecht dran. Natürlich wäre es besser gewesen, meine Mutter hätte mich hier in O. gezwungen, die Schule zumindest zu Ende zu bringen. Konnte sie aber nicht, weil ihre Katastrophe riesig war.

Würde ich von meinem äußeren Leben ausgehen, wäre es einfach trostlos. Nicht zum Aushalten, schon gar nicht, um weiterzuleben. Gott sei Dank habe ich so etwas wie ein Innenleben, das mir zeitweise Glück schenkt. Glück? Ich meine schon ... Wieder nicht geschlafen. Wo kann man das lernen?

16.3.88 Immer wenn ich nach Hause komme, meine ich, dass jemand inzwischen dagewesen sein müsste. Suche nach einer Nachricht ...

Anfang Oktober 88 Warum liebe ich den Rausch? Weil ohne ihn nichts „läuft“. Es ist das Entfernen, sich vom Alltag befreien. Vom Alltag, wie ich ihn verstehe. Ich entfliehe meinen Zwängen, die mich oftmals an den Rand des Wahnsinns bringen. Ständig komme ich an denselben Punkt. Die Platte beginnt sich zu drehen. Egal, was es ist: es kann das Essen sein, ein Kleidungsstück, das mir im Vorübergehen in einem Schaufenster ins Auge fiel, ja, es geht bis zum Wohnungskauf. Sie dreht sich ohne Ende. Wenn ich ganz großes Glück habe, endet dieser Anfall bei einem Kostüm von Annette (Damenmoden). Es kann auch sein, dass ich etwas für meine Kinder für gut halte, was es zweifellos auch aus meiner Sicht ist, und ich will sie dazu überreden, dann nerve ich mich selbst manchmal. Aber so sind sie beide zu ihren Wohnungen gekommen. Vielleicht ist das aber noch nicht einmal so gut, und ich habe da etwas vorweggenommen, was sie selbst hätten durchdenken müssen. Und in den aufgeblasenen Frosch habe ich noch mehr Luft gepumpt.

Oktober, immer noch Heute Nacht von den „Sehern“ im Himalaja gelesen, die im Rausch die Zukunft voraussehen können. Sie werden erst zwei Tage lang unter Alkohol gesetzt, bevor sie wahrsagen. Genau das scheint es mir zu sein, weshalb auch ich den Rausch liebe: Ich sehe alles ganz scharf, ganz klar umrissen. Komme mir selbst wie ein „Seher“ vor und verstehe Zusammenhänge automatisch. Es denkt sich von selbst, und es fließt. – Wieder nicht geschlafen, wieder diese Fressorgien! Die Küche sieht morgens wie ein Schlachtfeld aus! Tierisch sind diese Nächte, wie ein Tier benehme ich mich. Ich kann dem keinen Einhalt gebieten. Etwas muss geschehen.

20.10.88 War beim Professor, der glatt für eine Stunde den „Sonderpreis“ von 130 Mark nahm. Ich verdiene in der Stunde 15. Was dabei herausgekommen ist? Ich weiß es nicht. Ich habe mal gesprochen, in der Meinung, dass da jemand sitzt, der mich versteht. Ich sitze auch, wohlgemerkt. Von meiner Niedergeschlagenheit habe ich nichts gesagt. Nur, dass ich nicht schlafen kann. Das wird zu teuer. Das kann ich nicht machen. Muss mich zwingen, mir selbst etwas zu erzählen, regelmäßiger in dieses Heft zu schreiben. Für 400 Mark bekomme ich viel Papier. Um mich für den Sonderpreis zu bedanken, nahm ich natürlich noch eine Buddel Glen mit. Den Sonderpreis muss man doch zu schätzen wissen!

Mir ist wahrscheinlich nicht zu helfen. Schon daran sieht man es. Ich muss immer die große Geste machen, obwohl mir die kleine besser zu Gesicht und Portemonnaie stehen würde.

Montag, irgendeiner, meistens sind sie alle gleich. Der wahnsinnige Drang, gerade nach Hause gekommen, noch mal loszugehen und etwas zu kaufen. Meistens natürlich etwas zum Essen. Aber erst muss ich nach Hause. Vielleicht war ja inzwischen jemand da. Dabei ist das völlig ausgeschlossen. Kein Mensch kommt. Mein Wunschdenken hätte das gern. Dabei können die, von denen ich gerne besucht werden würde, gar nicht kommen. Entweder sind sie tot oder in „festen Händen“. Wenn ich mich überzeugt habe, dass keiner da war, muss ich los.

Noch etwas. Ich kann nicht warten mit dem Essen. Eine solche Unkultur ist in mein Leben gekommen: Entweder esse ich mich vor dem Essen satt oder, fast schon platzend, fange ich erst danach richtig an. Vollkommen irre. Der Mensch vertiert. Macht das die Einzelhaft? Bestimmt. Irgendwie werde ich auch blöder. Ich meine, dass ich früher besser mit der Rechtschreibung und den Satzzeichen klarkam. Ach, wenn ich doch jemand hätte, der mich mitreißt oder mir wenigstens entgegenkommen würde!

24.12.88 Heiligabend Tag für Tag und Jahr für Jahr werden wir gefüttert mit Nahrung, an der wir uns negativ erbauen sollen. Irgendwelche Schweinereien werden aufgedeckt. Sei es, dass in den Lebensmitteln gepanscht worden ist, Kinder an Leukämie erkranken, weil die Kernkraftwerke Schadstoffe auströmen, irgendein Minister hat sich nicht korrekt verhalten, Kriege überall, Flugzeugabstürze und -entführungen, Hunger in der Welt, und den Bauern werden Gelder bezahlt, damit sie ihre Felder nicht bestellen. Und ich klage, dass ich nicht schlafen kann? O du Fröhliche!

25.12.88 Bei IK und HS, meiner Chefin und ihrer Freundin. Das zögernde Sprechen über das Essen von I. ist auch eine Art von Orgasmus. Überhaupt das Erzählen. Wie um den Kern herumgegangen wird, sich ihm genähert, wieder aufgeschoben und immer noch zögernd, endlich dann doch zu Ende erzählt werden muss. So ungefähr kaufe ich ein. Nicht gleich beim ersten Mal. O nein. Da muss noch gezögert werden – später.

Wenn ich etwas getrunken habe, sehe ich Zusammenhänge ganz klar, kann Parallelen und Schlussfolgerungen daraus ziehen. Beim Professor ist mir ja zumindest etwas klargeworden. Meine Depressionen, die vielleicht gar keine sind und von mir nur so empfunden werden, sind der Grundstoff, aus dem mein Glück resultiert. „Glück.“ Was ist das schon für ein Glück, immer allein. Trotzdem habe ich Augenblicke, in denen ich vollkommen zufrieden bin, und vergesse keinen Tag, „danke“ zu sagen. Nicht immer ist der Alkohol daran beteiligt. Ich bin eben ein Regenwurm in der Flasche.

Bin aus der Kirche ausgetreten. Wie ist überhaupt mein Verhältnis zu Gott? Darüber muss ich noch mal nachdenken.

Auf meinen Wegen ist immer irgendwo ein Krüppel, der mich ängstigt und mich zwingt, auf die andere Seite zu gehen. Das war schon in Ostpreußen so. Auf dem Weg von Barten nach Gerdauen trieb sich ein Dorftrottel auf der Straße herum, die ich mit dem Rad entlangkam. Brabbelte vor sich hin, und seine ganze Erscheinung versetzte mich in panische Angst, die sich noch steigerte, wenn ich ihn nicht sah. Hier ist jemand am Schießstand zu sehen, der sich an zwei Krücken schleppt und unartikulierte Laute von sich gibt. Erleichterung, wenn er noch nicht zu sehen ist. Einer sitzt jeden Tag, von morgens bis abends, an der Schützenhofstraße, im Rollstuhl. Mir kommt es so vor, als ob ihm jemand die Aufgabe gestellt hätte, die vorbeifahrenden Autos zu zählen. Bin ich auch solch ein Krüppel? Was soll ich mal zählen?

27.12.88 Das Wort „Ausbeutung“ ist in Peru verboten.

Mir unverständlich, ich bin entsetzlich niedergeschlagen. Es ist so schwer, heiter zu sein. Wann fing denn dieser Zustand überhaupt an? Kämpfte ich nicht schon immer gegen eine gewisse Traurigkeit? Selbst als noch die Familie da war, später der Liebhaber. Da erst recht. Gott schütze mich.

28.12.88 Es gibt heute bestimmt wichtige Institutionen, für die meine Generation zu alt ist. Dafür sind wir nicht geschult worden. Was Erfahrung bedeutet, ist mehr oder weniger Theorie geworden. Dabei basiert doch die Zukunft auf der Vergangenheit. Möchte etwas ändern. Meine Unfähigkeit, etwas zu sagen, auch wenn es vollkommen berechtigt ist. Ein bisschen Stolz würde mir schon gut anstehen.

29.12.88 Ab heute geht es anscheinend etwas besser. Etwas heller im Gemüt. Man fühlt sich heute aber auch ständig angeschissen. Warum eigentlich? Da kann doch etwas nicht mit unserer Gesellschaftsform stimmen. Die bargeldlose Zeit beginnt. Der Mensch hat nur noch eine Karte mit seiner Kontonummer, und schon kann man alles kaufen, was das Herz begehrt. Besser ist noch das Einzugsverfahren für den Kaufmann. In all dem liegt eine große Gefahr. Wie man die Menschen auch verdummt! „Hier entsteht für Sie ...“ Eine Bank wird für uns renoviert, jemand hält extra meinetwegen seinen Laden abends länger offen. Pausenlose Berieselung von Musik in den Geschäften, obgleich erwiesen ist, dass ständige Berieselung zu den Foltern gehört. Alles ist verdreht und verrückt. Und der Markt beschert jeden Tag ein neues Produkt, das der Mensch unbedingt braucht. Eine gefährliche Zeit, und nicht jeder kann dem widerstehen. Auf jeden Bundesbürger kommen wohl an die 30.000 Mark Schulden. Na, dann Prost.

1989

1.1.89 Traum: Viele beschriebene Blätter, von mir mit Bleistift gefüllt, kann man nicht mehr entziffern. Bedauern. Hätte ich doch Tinte genommen. Was es zum alten Jahr zu sagen gibt? Nichts. Nichts hat sich verändert, und das ist noch bedrückender. Nicht ganz unglücklich. Von der Familie sehe ich keinen. Für die könnte ich schon gestorben sein. Da ist das Herz, ganz aus Beton ... Es gibt Menschen, die kamen fertig auf die Welt und wussten alles besser, und je ungebildeter sie sind, desto schärfer urteilen sie.

2.1.89 Und manchmal gelingt noch das Weinen, verursacht durch ein Wort, das in einem bestimmten Moment fällt, ein Wort wie z. B. „sich-wiedersehen“. Es braucht an keine Person gebunden zu sein. Etwas, was möglich sein könnte, unter einem ganz bestimmten Aspekt. Sich-wieder-sehen. Wie schön. Hans W. tätschelt mir manchmal den Rücken beim Kommen. Das berührt mich eigenartig. Ich mag keinen tätscheln. Konnte nie zärtlich sein. Das äußerte sich immer in irgendeinem Tun für den anderen. Ich habe mich immer gekümmert. Wenn es auch in der Zeit mit W. W. nicht so aussah. Aber gerade in der Zeit waren meine Kinder mir mehr im Bewusstsein (im schuldigen) als zu anderen Zeiten. Für alles zu spät.

3.1.89 Gang um den Teich. Komme am Haus von K. vorbei, erst Freunde von W. W. Er besuchte sie immer am Samstag nach dem Besuch in Wilhelmshaven, aß dort zu Abend, philosophierte mit seinem Freund, mit dem er einige Reisen zusammen unternommen hatte, und kam dann, bevor er zu Spatzi (seiner Frau) ins Haus ging, noch zu mir ins Bett. Sah aber vorher noch in der Küche in den Topf, der auf dem Herd stand. War immer hungrig, obwohl er von mehreren Frauen bekocht und bestrickt wurde.

Jedenfalls ging das mehrere Jahre so, bis sein Freund krank wurde. Sie hatten angefangen, ein neues Haus zu bauen. Moderner Stil, mehrere Würfel in unterschiedlicher Höhe zu einem Haus zusammengesetzt. Am alten Haus befand sich ein alter runder Luftschutzbunker, den K. als Bibliothek eingerichtet hatte und an dem er sehr hing. Gespräche wurden geführt, wohin und in welchen Würfel die Bücher kommen sollten.

Was da im Einzelnen wirklich los war, weiß ich nicht. Fest steht, dass Frau K. nach einem Besuch von W. W. ihn schimpfend aus dem Haus trieb. Das war kurz vor Weihnachten, und W. W. wohnte schon bei mir. Einige Tage nach Anfang des neuen Jahres lese ich in der Zeitung, dass K. tot ist. Für mich ganz erstaunlich, reagiert W. W. überhaupt nicht darauf. Spricht auch nie mehr von ihm. Seltsame Geschichte.

Fast täglich sehe ich irgendwo auf meinen Gängen die Frau von K. Sie kennt mich nicht. Aber ich sie. Manchmal möchte ich stehenbleiben und sie nach damals fragen. Sie war Krankenschwester gewesen und hatte ihren späteren Mann im Lazarett kennengelernt. Übrigens hatte Spatzi den großen Doktor durch die Aktion „Feldpostbriefe“ angeschrieben.

4.1.89 Es muss doch möglich sein, dass sich noch etwas in meinem Leben ändert. Ich will nicht immer das arme Schwein sein, das mitgenommen werden will oder sich durch Wohltätigkeit aufdrängt. „Einzelkämpfern“ wie Frau K., Reisegefährtin 1987, zolle ich Respekt. Ich habe irgendwie kein Format.

5.1.89 In Kuba macht ein Reporter eine Umfrage bei Passanten auf der Straße, was ihnen zu dem Wort „Perestroika“ einfällt. Eine Frau sagt: „Ein Supermarkt in Russland.“ Ihr Mann klärt sie auf und sie, vollkommen sicher und keineswegs verlegen, führt nach der Belehrung weiter aus. Das meine ich, diese Sicherheit. Versuche meine Schritte vom Herd an den Schreibtisch zu lenken.

6.1.89 Merkte heute, wie ganz langsam die Wende eintrat: aus der Tiefe erst in die Ambivalenz, jetzt die Neigung ins Positive. Na, das war’s mal wieder.

8.1.89 Zu den schönsten Sendungen im Fernsehen gehört für mich Der Gelbe Fluss. 5000 Kilometer lang, Schlammmassen befördernd, die, abgeschwemmt auf seiner Reise, schon zum Teil unterwegs wieder abgelagert werden. Der Rest davon im Delta. Musik und Text stimmen hundertprozentig. Dem chinesischen Kamerateam gelang es, ein Höchstmaß an Eindrücken zu vermitteln, die für mich vollkommen waren. Mit wenigen Mitteln wurde ein großes Maß an Vollkommenheit erreicht. Das schätze ich über alles: aus Wenigem immer das höchste Resultat zu erzielen. Das verstehe ich unter Kunst. Und das ist etwas, was ich auch behalte, was mich für einige Zeit positiv stimmt, glücklich. Hat nichts mit meiner Person zu tun. Ich kann mich mit der Sehweise dieses Teams identifizieren. Das ist es.

Zitat aus dem zehnten und letzten Teil dieser Serie: „Eine ruhige und selbstsichere Person ist so wenig aus der Bahn zu bringen wie der ,Heilige Berg‘.“ Dieser Berg ist 1500 m hoch und ist das Ziel von Dichtern, Produktiven und auch anderen Menschen. Man nähert sich ihm demütig.

Hans W. sagte mal, lange nachdem er schon nicht mehr bei mir war: „Bei uns war nie etwas im Eisschrank. Aber wenn ich Hunger hatte, hast du mich immer wunderbar gesättigt.“ Das stimmt. Ich konnte immer aus dem Nichts etwas Wunderbares machen. Ich glaube, das ist ein Fehler, den wir Eltern begehen, wenn wir sagen, unsere Kinder sollen es mal besser als wir haben. Wir haben nicht erkannt, dass uns diese schwere Zeit geprägt hat, die hinter uns liegt. Der Erfolg dieses Verschonens wird uns jetzt präsentiert.

9.1.89 Schaffe es nicht. Entsetzlich niedergeschlagen. Noch mal beim Professor angemeldet. Sind die Hühner kleiner geworden? Früher reichte eins aus, die ganze Familie satt zu machen, heute schaffe ich eins allein. Ich bringe es nicht fertig, vorgekochtes Fleisch bis zum nächsten Tag aufzuheben. Es zwingt mich noch nachts in die Küche. Welch ein Kampf! Alles wird zum Extrem. Trinken, essen (plötzlich vegetarisch), rauchen. Ekel vor allem kann mich plötzlich überkommen. Und das alles spielt sich nur in mir ab. Niemand da, der helfen kann. Höchstens für einen Sonderpreis ...

10.1.89 Natürlich werde ich mich nicht umbringen. Dann könnte ich ja gar nicht mehr mit dem Gedanken spielen. Nein, nein, ein Masochist ist dazu nicht mutig genug.

Aber es ist so, dass ein Druck entsteht, der immer belastender wird, sich aufbaut bis hin zu einer Stockung, die sich bis in die Schrift hinein bemerkbar macht. Nur noch Haken und keine Ösen mehr. Und doch ist das Wissen da, dass es andere Ebenen gibt, auf denen das Leben fließt. Ein Priester, der vom Vatikan Redeverbot erhielt, weil er gegen das Zölibat ist und aus seinem Orden austrat, sagte: „Alleine leben ist unmenschlich.“ Das kann niemand ermessen, der das nicht durchgemacht hat. Es mag Menschen geben, die nie darunter gelitten haben. Siehe Frau B. oder Frau Sch. Das waren Einzelgänger von Anfang an. Aber mit einem großen Freundeskreis, der für Unterhaltung sorgte. Abwechslung gab es genug. Ganz anders dagegen, wenn man bis ins reife Alter hinein in einer Partnerschaft lebt, die plötzlich zerbricht. Nicht jeder kann eine lustige Witwe werden.

Aber diese Anfälle hatte ich schon früher. Schon als ich mich noch für eine glückliche Frau hielt. Ja, da erst recht. Ich spüre, wie die Wand sich aufbaut, und sehe keinen Weg, der ins Freie führt. Und nachdem sich die Platte hundertmal auf der Stelle gedreht hat, breche ich aus. Ein Wort, ein Text, der die Erleuchtung bringt, und schon schmeiße ich alles hin, ohne zu rechnen und zu Ende zu denken. Das fängt bei Hamlet an und geht bis zu P. Schellenbaums Nimm deine Couch und geh. Mit Brachialgewalt wird dort die Beziehung beendet. Brief wird geschrieben, der andere weiß nicht, wie ihm geschieht. Aus und vorbei.