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Jasmin Wolf, ihres Zeichens Ergotherapeutin, beginnt zusammen mit ihrem neuen Kollegen Hendrik Keller ihre Arbeit in einem Marburger Altenheim. Jasmin, trotz ihrer psychischen Labilität, ist sehr ehrgeizig aber nicht einfach im Umgang. Als deutlich wird, dass Hendrik die Anerkennung der anderen Mitarbeiter erhält, die die Therapeutin für sich beansprucht, startet sie eine Mobbingaktion gegen ihn. Diese fliegt auf, beide Ergotherapeuten müssen jedoch weiterhin zusammenarbeiten. Bald überschlagen sich die Ereignisse: Auf Hendrik wird ein Drogenanschlag verübt, der ihn für einige Zeit in ein psychiatrisches Krankenhaus bringt. Danach scheint alles seinen gewohnten Gang zu gehen, doch dann gibt es einen Mord. Hendrik ist der Hauptverdächtige doch ist er wirklich der Täter?
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Seitenzahl: 133
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Rainer Güllich
Verletzte Gefühle
Ein Marburg Krimi
www.karinaverlag.at
Text ©: Rainer Güllich
Lektorat: Bruno Moebius
Layout: Bruno Moebius
Covergestaltung © Detlef Klewer
© 2020, Karina Verlag, Vienna, Austria,
ISBN: 978-3-96917-501-9
Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Verlage, Herausgeber und des/der Autors/Autorin bzw. der AutorInnen unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Die Personen und Handlungen in diesen Geschichten sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Das Klappern der Computertastaturen übertönte alle anderen Geräusche im Raum. Das Großraumbüro war durch viele Trennwände in etliche Minibüros aufgeteilt. Sie boten Sicht- und Hörschutz. In der Chefetage hatte man sich durch diese Isolation der Mitarbeiter mehr Arbeitsintensität versprochen. Seit es die Trennwände im Büro gab, trafen sich die Raucher häufiger im Raucherraum und auch die gemeinsame Kaffeeküche wurde mehr besucht als vorher.
Der junge Mann im weißen Hemd und schmalen Schlips, der in einer der Bürozellen am Rande des Großraumbüros arbeitete, wischte sich den Schweiß aus der Stirn. Der Briefumschlag, der vor einer Stunde mit der Hauspost angekommen war, lag ungeöffnet vor ihm.
Das Schreiben kam aus der Chefetage. Unzweifelhaft an der cremegelben Färbung erkennbar. Hier lag seine Zukunft vor ihm. War er ein Gewinner oder ein Verlierer? Bisher war er keines von beiden. Seine Schulzeit und die Ausbildung zum Versicherungskaufmann hatte er ohne Höhen und Tiefen hinter sich gebracht. Wie es schien, war er Durchschnitt. Doch hatte er die letzten drei Jahre jede Fortbildung, die im Betrieb angeboten wurde, mitgemacht und mit Bravour abgeschlossen. Und als ihn vor wenigen Monaten eine Ausschreibung für einen Abteilungsleiterposten per Intranet erreicht hatte, zögerte er nicht und bewarb sich um die Stelle. Paulsen, sein jetziger Abteilungschef hatte ihn zusätzlich dazu ermuntert.
Er sagte: »Junge, du bist fit. Du hast dermaßen an dir gearbeitet, du bist genau der Richtige für die Stelle. Falls man mich diesbezüglich fragen sollte, werde ich dich unterstützen. Mein Wort darauf.«
Das gab natürlich seiner Hoffnung die entsprechende Nahrung und er glaubte fest daran, die Stelle zu erhalten.
Doch nun lag die Wahrheit vor ihm auf dem Tisch und er hatte keine Traute, ihr ins Gesicht zu blicken. Er gab sich einen Ruck. Er zog den selbst gefertigten Brieföffner aus Buchenholz aus dem Schreibutensilienfach und schlitzte den Brief damit auf. In Sekundenschnelle hatte er das Schreiben auseinandergefaltet und die Buchstaben sprangen ihm ins Auge: »… müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass wir uns für einen anderen Mitbewerber entschieden haben, dessen fachliche Qualifikation …«
Das Weitere alles nur Blabla. Das war es dann gewesen. Er hatte es sich so erhofft und nun das. Er lehnte sich an seinen Bürostuhl an und versuchte, sich zu beruhigen. Es gelang ihm nicht wirklich. Sein Herz pochte laut in seiner Brust.
Das konnte doch nicht wahr sein. Er hatte sich so ins Zeug gelegt, hatte gebüffelt wie ein Irrer, hatte alle Energie in dieses Ziel gesteckt. Und nun war es vorbei. Wer wusste schon, ob sich ihm so eine Chance noch einmal bieten würde?
Er stand auf, zog die Schreibtischschublade auf, nahm das Päckchen Zigaretten, das er dort lagerte, heraus und steckte es in seine Brusttasche. Nach dem Feuerzeug musste er etwas suchen, es hatte sich in einer der Ecken der Schublade versteckt.
Er rauchte nun schon seit sieben Wochen nicht mehr. Die Zigaretten hatte er in der Schublade aufbewahrt, um jederzeit zugreifen zu können. Er war überzeugt davon, dass genau diese Maßnahme ihn die letzten Wochen davon abgehalten hatte zu rauchen. Aber jetzt war das egal.
Die wenigen Schritte ins Raucherzimmer waren schnell zurückgelegt. Er war allein. Keiner der Kollegen machte gerade Pause. Gut so. So brauchte er sich auch keine gehässigen Bemerkungen anzuhören. Alle wussten, dass er nicht mehr rauchte. Er fingerte eine Zigarette aus dem Päckchen und steckte sie in den Mund. Der Tabak roch würzig. Als er den ersten Zug aus der Kippe machte, wurde ihm fast übel. Das schmeckte ja scheußlich! Er merkte aber gleichzeitig, wie er sich entspannte. War vielleicht aber nur Einbildung. Die nächsten Züge waren nicht mehr so schlimm.
Vor der Glastür tauchte ein dunkler Schatten auf. Die Tür öffnete sich. Paulsen steckte seinen grauen Kopf herein.
»Du rauchst?« Er kam ganz in den Raum herein. Paulsen rauchte nicht. Er musste ihn wohl gesehen haben und war ihm gefolgt. »Was ist los? Ich habe dich hier reingehen sehen und dachte mir, da stimmt doch was nicht. Erzähl!«
Resigniert sah der junge Mann seinen Vorgesetzten an.
»Was los ist? Ich habe Post von der Chefetage erhalten. Man hat sich für einen anderen als mich entschieden. Das ist los.«
Paulsen wiegte den Kopf hin und her.
»Ja, ich habe da auch schon so was läuten gehört, wollte dir aber nichts sagen, weil ich es nicht sicher wusste.«
Der Jüngling sah seinen Vorgesetzten entrüstet an. »Ich dachte, du hättest ein gutes Wort für mich eingelegt. Du wolltest dich doch für mich starkmachen. War wohl nicht so. Aber vielleicht zählt dein Wort bei den Chefs auch nicht so viel, wie du mir sagtest.«
»Natürlich habe ich mich für dich eingesetzt. Du hattest mein Wort darauf.«
»Erzähl das einem andern. Ich glaube dir nicht.«
Paulsen schaute betroffen drein.
»Hör zu. Sei nicht ungerecht. Ich wollte dir erst nichts sagen, doch nun, wo du so von mir denkst, will ich dir die Wahrheit sagen. Mein Wort zählte ab dem Moment nicht mehr, seitdem die Gerüchte über dich aufkamen …«
»Gerüchte!? Was für Gerüchte?«
»Na ja, dein regelmäßiges Trinken. Dass man in deiner Schublade eine Flasche Wodka gefunden hat, dass du deine Freundin schlägst.«
»Was! Wer sagt denn so was? Das ist doch erstunken und erlogen. Ich trinke doch nicht. Und ich soll meine Freundin schlagen? Das ist doch totaler Unsinn. Wer glaubt denn so was?«
»Nun, ich nicht. Und das habe ich den Bossen auch gesagt. Aber denen war das zu unsicher. Sie meinten, das Risiko, dich zum Abteilungsleiter zu machen, sei in Betracht dieser Gerüchte zu hoch – falls doch etwas an den Gerüchten dran sein sollte …«
»Du weißt doch, dass das Lüge ist. Konntest du denen das nicht klarmachen?«
»Nein, leider nicht. Sie haben nicht auf meine Einwände gehört. Tut mir wirklich leid.«
Der junge Mann schüttelte den Kopf.
»Da muss man aber doch etwas gegen machen können.«
»Was willst du denn machen? Anzeige wegen Rufschädigung gegen unbekannt? Du machst es dadurch nur noch schlimmer. Die Entscheidung ist gefallen. Die Chefs werden keinen Rückzieher machen.«
Der junge Mann schrie es fast: »Aber das ist doch ungerecht.«
Paulsen klopfte seinem Untergebenen beruhigend auf die Schulter. »Die Welt ist ungerecht! Mein Rat ist: Mach einfach mit deiner Arbeit weiter. Es wird sich mit Sicherheit irgendwann eine neue Chance ergeben.«
Hendrik Keller hielt auf dem Parkplatz des Altenheims, stellte die Handbremse des Wagens fest und zog den Schlüssel aus dem Zündschloss. Er war zu früh. Sein erster Dienst im Heim begann erst in fünfzehn Minuten. Morgen würde er später von zu Hause losfahren. Von Cappel bis hierher brauchte er zirka zwanzig Minuten.
Er entschloss sich, trotz der Morgensonne, die auf das Dach brannte, noch im Wagen sitzenzubleiben. Das fünfstöckige Gebäude, in dem er seine nächste Zukunft verbringen würde, war das höchste im Viertel. Alles, was er von den Einstellungsgesprächen behalten hatte, war, dass das oberste Stockwerk die Schwerstpflegestation beherbergte. Halt, rief er seine Gedanken zurück. Hier hieß es nicht Station, wie an seinem letzten Arbeitsplatz, der Psychiatrie. Hier waren die einzelnen Abteilungen in sogenannte »Etagen« aufgeteilt.
Ja, die Einstellungsgespräche. Insgesamt hatten drei stattgefunden. Beim ersten Gespräch waren sehr viele Interessenten für die zwei freien Stellen in der Ergotherapie eingeladen worden. Es war erst mal grob ausgesiebt worden. Hendrik wurde dann zu einem zweiten Gespräch geladen, bei dem er nur mit der Heimleiterin und deren Stellvertreterin gesprochen hatte. Da hatte er schon gedacht, dass er es geschafft hätte und er eine der Stellen bekommen würde. Doch vorher musste er noch ein weiteres Gespräch mit Leuten vom Personalrat führen. Erst wenn diese ja zu ihm sagten, hatte er die Stelle sicher. Alles sehr geschickt gemacht. Je länger Hendrik nämlich auf die Zu- oder Absage wartete, desto wertvoller erschien ihm die Stelle. Dabei war sie nichts Besonderes. Es war nur eine Stelle als Ergotherapeut in einem Altenheim. Hendrik war aber sehr an der Stelle interessiert. Er hatte jetzt genau sechs Jahre als Ergotherapeut in einer gerontopsychiatrischen Abteilung hinter sich. Dort hatte er nur mit psychisch kranken alten Menschen zu tun gehabt. Es war sehr schwer gewesen, diese Menschen, die nicht mehr viel vom Leben erwarteten, zu irgendetwas zu motivieren. Er war für eine Depressiven- und eine Dementenstation zuständig gewesen. Er hatte einfach nicht mehr gewollt. Vom Altenheim versprach er sich ein leichteres Arbeiten. Bei den Menschen, mit denen er hier arbeiten sollte, gab es keine schwerwiegenden psychischen Auffälligkeiten. Würden solche auftreten, stand für die Betroffenen die Verlegung in eine Psychiatrie an. Er würde also nie mehr akut psychisch kranke Personen behandeln müssen. Dies war ihm im Einstellungsgespräch in die Hand versprochen worden.
Es wurde Zeit. Er öffnete die Wagentür, schnappte sich seine Umhängetasche vom Beifahrersitz und machte sich auf den Weg. Er war gespannt auf seine Kollegin, die ebenfalls heute ihren ersten Arbeitstag hatte.
Er meldete sich an der Pforte an. Der Pförtner, ein korpulenter junger Mann mit kurz geschnittenen Haaren, lächelte.
»Ah, Herr Keller. Frau Wolf, ihre Kollegin, ist auch gerade gekommen. Sie ist schon im Büro der Chefin. Kommen Sie bitte herum.«
Er zeigte nach links. Dort befand sich neben der Pförtnerloge eine Tür, die, wie Hendrik wusste, zu den Büroräumen führte. Er öffnete die Tür und der Pförtner stand vor ihm.
»Ich führe Sie zum Büro«, sagte er. »Ich heiße übrigens Rudolf. Er hielt Hendrik seine rechte Hand entgegen.
Völlig überrascht ergriff Hendrik diese und sagte:
»Hendrik.«
Rudolf lächelte erfreut, klopfte an die nächste Tür und öffnete sie.
»Frau Steinmetz. Herr Keller wäre jetzt hier.« Er wies mit der Hand ins Büro.
Hendrik ging hinein. An einem kleinen Besuchertisch saß eine Frau in Hendriks Alter, also um die Dreißig herum, mit schwarzen, bis zur Schulter reichenden Haaren. Sie hatte volle Wangen; ein rundes Kinn zeichnete sich über ihrem in starkem Kontrast dazu stehenden schlanken Hals ab. Alles Übrige war unter einem wallenden Umhang verborgen. Die Frau, die neben dem wuchtigen Schreibtisch gegenüber der Tür stand, war Heidi Steinmetz, die Leiterin der Einrichtung. Sie war groß, hager und hatte eine leicht gebeugte Haltung. Ihre Haare, die in weichen Locken ihren Kopf umgaben, begannen an einigen Stellen grau zu werden. Hendrik meinte, sie aus den Vorgesprächen schon gut zu kennen. Die Frau am Tisch konnte nur seine Kollegin sein.Am auffallendsten waren für Hendrik die schwarzen Haare der Frau. Gleich als er sie bemerkte, spürte er einen leichten Stich in seinem Herzen. Diese Reaktion zeigte er immer, wenn er eine Frau mit schwarzen Haaren sah. Und jedes Mal fiel ihm die Szenerie beziehungsweise die Geschichte ein, die der Auslöser für diesen Schrecken war.
Während der Ausbildung zum Ergotherapeuten waren Hendrik und zwei seiner Schulkollegen jeden Freitag nach Unterrichtsschluss in das Lokal »Grünhaus« gegangen, das in der Nähe der Ergotherapieschule lag. Hier feierten sie den Abschluss der Ausbildungswoche mit einem ausgiebigen Imbiss. Das Grünhaus war ein türkisches Lokal. Türkisches Essen war damals der Renner unter Hendrik und seinen Kollegen gewesen. Als Hendrik, Peter und Jens sich nach einem reichhaltigen Mahl noch einen starken türkischen Kaffee gönnten, betrat eine Sinti oder Roma mit einem etwa zehnjährigen Jungen das Lokal. Die Frau mochte an die achtzig Jahre sein, unter einem rot-grün gemusterten Kopftuch lugten graue Haare hervor. Ihr Gesicht war von unzähligen Runzeln überzogen. Braune, voller Lebenskraft strahlende Augen schauten aus ihrem Gesicht.
Sie ging mit dem Jungen von Tisch zu Tisch und schien eine Frage zu stellen. Wie es aussah, wurde sie überall abgewiesen. Dann kam sie an den Tisch der angehenden Ergotherapeuten. Sie verbeugte sich leicht und sagte:
»Guten Tag. Ich möchte Zukunft sagen. Zukunft mit Karten fünf Euro, Zukunft lesen aus Hand zwei Euro. Bitte mir erlauben.«
Jens, ein großer schlanker junger Mann, entgegnete ihr:
»Verschwinde lieber hier und lass uns in Ruhe. An deinen Hokuspokus glaubt von uns sowieso keiner.«
Die Alte erschrak und wollte gehen, als Hendrik ihr sagte, sie solle bleiben. Jens Reaktion hatte ihn dazu veranlasst. Er fand dieses Verhalten völlig unangemessen.
»Sag mir bitte die Zukunft voraus. Für zwei Euro. Zwei Euro ist genug.«
»Gut«, sagte die Frau, »darf ich mich setzen?« Sie deutete auf den leeren Stuhl neben Hendrik. Dieser nickte. Sie setzte sich und bat um Hendriks Hand. Er hielt sie der Frau hin. Diese nahm sie in beide Hände und rieb sie leicht. Danach nahm sie die Hand in ihre linke und fuhr mit dem Zeigefinger ihrer rechten Hand über Hendriks Handlinien. Dann begann sie zu sprechen und sah dabei aufmerksam in Hendriks Gesicht.
»Du krank«, sagte sie. »Krank mit Herz, aber wirst du haben lange Leben, trotz krank. Wirst du hundert Jahre. Aber Vorsicht. Gefahr kommt. Gefahr von Frau mit schwarze Haar. Du nehmen in Acht vor schwarze Frau. Mehr ich kann nicht sagen für zwei Euro. Willst du wissen mehr, wir frage Karten.«
»Nein, nein.« Hendrik winkte ab. »Das reicht mir für zwei Euro. Ich werde immerhin hundert Jahre alt.« Er lachte, holte seine Geldbörse heraus und gab der Alten die geforderten zwei Euro. Diese bedankte sich und verschwand mit dem Jungen, der die ganze Zeit schweigend zugesehen hatte, aus dem Lokal.
Jens sah Hendrik mit hochgezogenen Brauen an. »Dass du tatsächlich für diesen Humbug Geld ausgibst, hätte ich nicht gedacht. Das war doch nur Gebettel.«
»Mein Gott«, sagte Hendrik. »Was soll’s. Zwei Euro. Immerhin habe ich eine Weissagung bekommen. Es war keine Bettelei. Es war ein Geschäft.«
»Du glaubst doch nicht an diesen Quatsch, oder?« Jens sah Hendrik erstaunt an.
»Natürlich nicht«, entgegnete dieser, »ich bin nicht abergläubisch. Noch nie gewesen.« Er lachte.
Doch hatte er die Begegnung mit der Alten nie vergessen. Am nächsten Morgen war sie ihm schon wieder eingefallen. Direkt nach dem Aufstehen maß Hendrik in der Regel seinen Blutdruck. Er litt nämlich seit einigen Jahren an Hypertonie. Ein Erbe seines Vaters. Bisher hatte er sich darüber keine Gedanken gemacht. Sein Blutdruck war gut mit Medikamenten eingestellt. Doch nun, nach der Weissagung der alten Frau, fragte er sich, ob denn nicht doch etwas mit seinem Herzen sein konnte. Bluthochdruck konnte das Herz schädigen. Doch die Aussage, dass er hundert Jahre alt werden würde, beruhigte ihn wiederum. Er würde also nicht frühzeitig an einem Herzinfarkt sterben. Erst lachte er über sich selbst wegen dieser Gedanken, doch dann wurde ihm klar, dass er an die Weissagung seiner »Prophetin« glaubte. Und er glaubte auch daran, dass ihm von einer schwarzhaarigen Frau Unheil drohte. Deshalb war er seitdem im Umgang mit Schwarzhaarigen sehr vorsichtig geworden. Und nun musste seine neue Kollegin schwarze Haare haben. Hoffentlich kam da nichts Übles auf ihn zu. Doch tat er diese Idee schnell ab, denn ihm war schon bewusst, dass seine Gedanken bezüglich seiner Kollegin Unsinn waren.
Und damit richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Heimleiterin Heidi Steinmetz.
»Herr Keller«, sagte diese. »Schön, dass Sie da sind. Darf ich Ihnen Ihre Kollegin Jasmin Wolf vorstellen?« Sie deutete mit einer Hand auf die Schwarzhaarige. Diese stand auf und gab Hendrik die Hand. Sie war weich und feucht. Die Augen von Jasmin Wolf flackerten. Doch sagte sie mit klarer Stimme:
»Freut mich, Sie kennenzulernen.« Sie hatte eine angenehme Altstimme.
Corinna Liersen ging vor dem Flipchart auf und ab. Die braunen Haare der sportlich aussehenden Frau gingen bis zu den Schultern, vorne waren sie zu einem Pony geschnitten.
»So«, sagte sie, »das wären die einzelnen Etagen. Die oberste habe ich noch nicht erwähnt. Dort ist die Schwerstpflegestation. Wobei ich sagen muss, dass gegenwärtig keine bettlägerigen Bewohner darunter sind. Wir haben vier Rollstuhlfahrer, die anderen Bewohner des Stockwerks sind mit Rollatoren oder Gehhilfen unterwegs.«