Mein Krebs, ich und der Rest vom Leben - Rainer Güllich - E-Book

Mein Krebs, ich und der Rest vom Leben E-Book

Rainer Güllich

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Beschreibung

Mit Beginn des Jahres 2019 erkrankte ich an Lymphdrüsenkrebs. Ein seltenes T-Zell-Lymphom wurde diagnostiziert. Diese Lymphome haben eine schlechte Prognose. Entsprechend hoch war meine Angst, sterben zu müssen. Doch es gab eine Hochdosis-Chemotherapie mit anschließender autologer Stammzelltransplantation, die die Überlebensrate verbessern konnte. Im Buch schildere ich mein Leid und wie es gelang, den Weg der Heilung zu beschreiten.

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Für Maria,

die mir Hoffnung, Trost und Kraft gab.

Inhaltsverzeichnis

Kurzes Vorwort

1. Der Anfang

2. Unklare Diagnose

3. Primärtumorsuche

4. Angst vor Rachen-OP

5. Der Kelch geht vorüber

6. Klinikalltag

7. Die erste Chemotherapie

8. Ambulante Chemotherapie

9. Leukapherese und weitere Behandlung

10. Die Hochdosis-Chemotherapie

11. Komplikationen

12. Auf und ab

Heute

Kurzes Vorwort

Als ich 2019 an Lymphdrüsenkrebs erkrankte, ging es mit meinen Gefühlen auf und ab. Mal hatte ich Angst zu sterben, dann wiederum hatte ich Hoffnung, die Erkrankung zu überstehen. Kurz vor der Behandlung mit der Hochdosis-Chemotherapie fiel mir zufällig ein Buch in die Hände, in dem acht Krebspatienten, die an seltenen Tumoren litten, über ihre erfolgreiche Krebsbehandlung berichteten. Auch sie beschrieben ihre Hoffnungen und ihre Angst, sterben zu müssen.

Bücher über Krebserkrankungen hatte ich bis daher gescheut, da ich davon ausging, dass sie meine Angst weiter anfachen würden. Warum ich nun dieses Buch las, weiß ich nicht. Doch war es ein Segen, dass ich das tat. Die Berichte dieser Betroffenen machten mir deutlich, dass es wichtig war, die Hoffnung nie aufzugeben, die Angst hintanzustellen. Dieses Buch hat mit tatsächlich Kraft und Zuversicht gegeben.

Ich würde mir wünschen, dass der Bericht über meine Krebserkrankung dem einen oder anderen Betroffenen ebenfalls Hoffnung und Zuversicht geben kann.

Diagnosefindung

1. Der Anfang

Ich bemerkte es morgens beim Rasieren. An der linken Halsseite befand sich eine Schwellung. Nicht groß, aber so, dass ich mich beim Darübergleiten mit der Rasierklinge geschnitten hatte. Ich begutachtete die rechte Seite meines Halses, ob dort ebenfalls etwas geschwollen war. Es war nichts zu bemerken. Wäre auch dort eine Schwellung gewesen, hätte ich mir keine Sorgen gemacht. Ich hätte auf einen Infekt getippt, der eine Lymphknotenschwellung verursacht hatte. Das hatte ich vor Urzeiten schon mal gehabt, konnte mich aber noch gut daran erinnern. Weil es mir damals insgesamt nicht gut ging. Ich hatte mich abgeschlagen gefühlt und hatte Gliederschmerzen, also typische Zeichen für einen Infekt. Heute ging es mir gut, ich hatte keine Beschwerden.

Ich setzte mich an meinen Laptop und gab einfach mal die entsprechende Suchfrage im Internet ein. Aha, geschwollene Lymphknoten waren ein Zeichen einer infektiösen Erkrankung. Es konnte, speziell bei einseitiger Schwellung, auch ein Hinweis auf eine Krebserkrankung sein. Besonders dann, wenn Nachtschweiß, ungewollter Gewichtsverlust von mehr als 10 % in den letzten sechs Monaten und Fieber über 38 Grad Celsius mit wechselndem Verlauf bestanden. Die letzten drei Anzeichen trafen bei mir glücklicherweise nicht zu. Trotzdem ließ meine Sorge nicht nach, die Erhebung am Hals war eine unerklärliche Tatsache. Weiter hieß es, wenn die Schwellung nach drei Wochen nicht verschwunden sei, solle man einen Arzt aufsuchen. Da ich in keiner Weise beruhigt war, recherchierte ich weiter im Netz. Ich stieß auf den Hinweis, dass diese Beule ein Hinweis auf ein Lymphom sein könne, also eine bösartige Erkrankung des Lymphsystems. Bei Lymphom klingelten bei mir alle Glocken. Darauf hatte mich mein Gastroenterologe aufmerksam gemacht. Ich hatte einen Kloß im Hals.

2008 war bei mir eine Autoimmunerkrankung festgestellt worden. Colitis ulcerosa, eine chronische Entzündung des Dickdarms. Symptome waren eitrige Geschwüre des Darms mit blutigem exzessiven Durchfall. Die Erkrankung verläuft in Schüben und wurde bei mir anfangs mit Kortison behandelt. Da die Kortisonbehandlung einen kortisoninduzierten Diabetes auslöste und keinen großen Erfolg hatte, bekam ich später ein Immunsuppressivum, das die Symptome milderte, also ein Therapieerfolg war. Der Nachteil der künstlich herbeigeführten Immunschwäche war das erhöhte Risiko, an einem Lymphom zu erkranken. Dieses Risiko erhöhte sich noch mal, wenn man die Altersgrenze von sechzig Jahren überschritten hatte. Ich war vierundsechzig Jahre alt!

Angefangen hatte es damit, dass ich vermehrt die Toilette aufsuchen musste, da starker Stuhldrang bestand. Das Ergebnis sah so aus, dass sich in der Toilette nur zäher Schleim mit Blutbeimengungen befand. Da das nicht aufhörte, suchte ich meinen damaligen Hausarzt auf. Das Blut machte ihm Sorge. Mit seiner Aussage »Blut im Stuhl bedeutet Hämorrhoiden oder Krebs« sorgte er bei mir für die entsprechende Angst, die mich die nächste Zeit begleitete. Dass es noch eine dritte Möglichkeit gab, erfuhr ich drei Wochen später. Denn so lange musste ich auf den Termin für die Darmspiegelung warten, die die Ursache der Blutbeimengungen klären sollte. In dieser Zeit ging es mit meinen Gefühlen auf und ab. Mal hatte ich große Angst, Darmkrebs zu haben, dann wiederum konnte ich die Angst abwehren.

Die unangenehme Vorbereitung für die Darmspiegelung will ich nicht erwähnen, auch die Beschreibung der Spiegelung kann ausgespart werden. Entscheidend war das Ergebnis. Der Gastroenterologe teilte mir mit, dass er Anzeichen für eine Entzündung des Dickdarms gefunden hatte. Das entnommene Darmgewebe müsse zwar noch genau untersucht werden, er sei aber ziemlich sicher, was die Diagnose beträfe.

Ich verließ die Praxis erst mal erleichtert. Ich hatte nur eine Darmentzündung und keinen Krebs. Erst als ich zu Hause im Internet zu recherchieren begann, wurde ich nachdenklicher. Ich hatte wohl bei der Diagnose das kleine Wörtchen »chronisch« überhört. Die häufigsten chronischen Darmentzündungen waren Morbus Chron und Colitis ulcerosa. Das bedeutete schmerzhafte Krankheitsschübe und Durchfall als Begleiter. Beide Erkrankungen wurden als mittelschwer bezeichnet. Schmerzen hatte ich bisher keine. Die sollten noch kommen.

Nach einer Woche kam der Bescheid zu den Gewebsuntersuchungen. Ich hatte Colitis ulcerosa. Eine Autoimmunerkrankung. Ursache unbekannt. Symptome der Erkrankung: zunächst schleimiger Stuhl, häufiger Drang zur Toilette, leichtes Bauchweh. Später anhaltender Durchfall, oft mit Blut und Schleim (durch die eitrige Entzündung der Darmwand). Bei Entleerung Bauchkrämpfe, Gewichtsverlust, Müdigkeit, Fieber. In kurzer Zeit

bekam ich fast alle diese Symptome. Gewichtsverlust und Fieber fehlten. Die Erkrankung tritt schubweise auf, was lang anhalten kann. Um dem entgegenzuwirken, wird mit Medikamenten behandelt, auch als Zäpfchen oder Schaum. Da diese Medikamente bei mir nicht den erwünschten Erfolg zeigten, musste ich zusätzlich Kortison einnehmen. Im ersten Jahr der Behandlung nahm ich acht Monate dieses zweischneidige Zeugs zu mir. Es half zwar gegen die Symptome der Colitis, ließ mich aber schlaflos werden und schwemmte mich auf. Ich hatte den Kopf eines Sumo-Ringers. Als weitere, langfristige schwere Nebenwirkung kommt eine Osteoporose dazu, also eine Erkrankung, in deren Verlauf die Knochen porös werden und leicht brechen.

Durch schlecht eingestellten Blutdruck hatte ich schon vor längerer Zeit eine Schädigung der Nierenkanälchen davongetragen, die die Filterfunktion der Nieren beeinträchtigte. Durch ein Medikament gegen die Colitissymptome, das ich nun bekam, verschlechterte sich die Nierenfunktion weiter. Das Medikament musste abgesetzt werden. Die Darmentzündung verschlechterte sich dadurch aber nicht. Stellt sich die Frage, ob dieses Medikament nötig gewesen war. Das ist wohl oft so in der Medizin: Versuch und Irrtum.

Die ersten beiden Jahre der Colitiserkrankung war ich öfter krankgeschrieben. Durch starke Durchfälle und Schmerzen war ich in meiner Lebensqualität sehr eingeschränkt. Was später gut half, war das schon erwähnte Immunsuppressivum, mit dem die Krankheitsschübe in Schach gehalten werden konnten. Der Nachteil dieses Medikamentes war, dass es meine Immunabwehr senkte, was wiederum das Risiko von Krebserkrankungen, speziell der von Lymphomen, erhöhte.

Kurz nach der Diagnosestellung musste ich für eine Woche ins Krankenhaus, da ich durch viele Durchfälle sehr ausgetrocknet war. Ich fühlte mich total kraftlos. In der Klinik bekam ich Kochsalzinfusionen, wurde langsam aufgepäppelt. Die Ruhe tat mir sehr gut. Zu diesem Zeitpunkt war mir noch nicht klar, wie schwerwiegend diese chronische Erkrankung war.

Das wurde deutlicher, als ich in dieser Phase, ich war erst mal krankgeschrieben, öfter das Haus nicht verlassen konnte. So wollten meine Frau und ich an einem Wochenende einen Ausflug ins Grüne machen. Bevor wir losfahren konnten, musste ich auf die Toilette und das war es dann mit dem Ausflug. Die Durchfälle kamen in kurzen Intervallen, ich war regelrecht ans Haus gefesselt. Hier half natürlich das Medikament, das ich später bekam, sehr. Bei einem Krankheitsschub waren die Durchfälle nicht so gravierend. Ich blieb arbeitsfähig, konnte das Haus verlassen, hatte kaum Einbußen im Hinblick auf meine Lebensqualität. Es war also unabänderlich, dieses Medikament einzunehmen – trotz der eventuellen schwerwiegenden Nebenwirkungen. Es war durch die Einnahme nicht zwangsläufig so, dass man an einem Lymphom erkranken würde.

Schwellung am Hals hin oder her. Es nützte alles nichts. Ich musste zusehen, dass ich zur Arbeit kam. Es war für mich sogar ein besonderer Tag. Es war der 28.12.2018. Mein letzter Arbeitstag vor der Rente. Ab dem 1. Januar würde ich Rentner sein – die Folge eines Kompromisses.

Meine Frau hatte den Wunsch gehabt, dass ich mit dreiundsechzig Jahren in Rente gehen sollte. Ich wollte mich eigentlich erst mit fünfundsechzig berenten lassen, da ich meine Arbeit als Ergotherapeut in der Gerontopsychiatrie immer gerne gemocht hatte. Meine Frau und ich hatten uns geeinigt, dass ich mit vierundsechzig in Rente gehen würde. Ich hatte mir um meinen Rentenbeginn im Vorfeld viele Gedanken gemacht. Würde es mir zu Hause nicht zu langweilig sein, mir meine Arbeit nicht fehlen, mein Selbstwertgefühl nicht darunter leiden, kein wichtiges Mitglied der Gesellschaft zu sein? Tja, und nun hatte ich die Sorge, mit einer ernsthaften Erkrankung in Rente zu gehen. Wer will denn so etwas? Mir fiel mein Kollege ein, der vor vier Monaten kurz vor der Rente an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben war. Aber weg mit diesen angstbesetzten Gedanken! Ich versuchte, mich zu beruhigen. Diese Schwellung musste ja wirklich nicht das Schlimmste bedeuten. Ich würde am ersten Werktag des neuen Jahres zu meiner Hausärztin gehen und dann würde man weitersehen.

Die Untersuchung meiner Halsschwellung und die Recherche im Internet hatten Zeit gekostet. Doch ich kam rechtzeitig zur Arbeit.

Der letzte Arbeitstag

An diesem Morgen war ich sehr früh wachgeworden. Ich hatte schlecht geschlafen. Wegen des letzten Arbeitstages war ich sehr unruhig gewesen. Neunundzwanzig Jahre als Ergotherapeut in einem psychiatrischen Krankenhaus will schon was heißen. Ich musste noch vier Stunden arbeiten, da ich noch einige Überstunden hatte, die ich abfeiern wollte. Ich war jedoch unsicher, wie ich die Arbeitszeit strukturieren sollte, denn ich wollte sie für mich und die Patienten angenehm gestalten, hieß: Ich wollte für jeden alle Bedürfnisse erfüllen.

Klar war, dass die meisten Patienten der Depressionsstation Werktherapie bevorzugen würden, deshalb hatte ich im Vorfeld den Wochenplan schon so angelegt, dass für diese Station um zehn Uhr die Werkgruppe stattfinden würde. Was mir dabei etwas Sorge machte, war die Tatsache, dass ich elf Patienten in der Werkgruppe haben würde, die ich zu »bedienen« hatte. Viele Patienten, ungeübt in der Handhabung der Werktechniken, würden meine Hilfe einfordern. Ich war unsicher, wie sich die Werktherapie entwickeln würde, ich hatte Bedenken, dass ich nicht allen Patienten gerecht werden könnte.

Ich persönlich hätte gern eine Wahrnehmungs-und Gedächtnisgruppe durchgeführt. Ich hatte für mich jedoch die Option, dass ich am Nachmittag noch eine Gedächtnisgruppe anbieten und auf die Überstunden pfeifen könnte. Als ich morgens den Ergotherapieraum betrat, war mir aber schon klar, dass ich nur bis zum Mittag bleiben würde. Durch die Wartezeit, bis die Mittagspause der Patienten beendet sein würde, hätte ich zu viel Leerlauf und Zeit, um an meinem letzten Arbeitstag ins Grübeln zu kommen. Gerade der Gedanke einer eventuellen Krebserkrankung ließ mir keine Ruhe.

Auf der Dementenstation, die freitags um Viertel nach neun begann, hatte ich am Vortag entschieden, Dias zu zeigen. Doch merkte ich heute, dass ich Aversionen hatte, die Station zu betreten.

Meine Kollegin und ich hatten tags zuvor auf der Dementenstation eine Aktivierungsgruppe angeboten, bei der wir uns Geräusche angehört und zwei Übungen mit dem Thema Berufe durchgeführt hatten. Diese Gruppe war sehr gut gelaufen, es hatte Spaß gemacht, mit den Patienten zu arbeiten. Mein Gedanke war, dass es heute nur schlechter laufen könne. Ich würde die Gruppe alleine durchführen, was bei den dementen Patienten immer schwierig war und ich wollte mir heute keinen Frust mehr holen. Außerdem wollte ich niemandem vom Personal der Station über den Weg laufen. Jede Verabschiedung meiner Person hätte sich »falsch« angefühlt. Die Kontakte zum Pflegepersonal dort waren in den letzten Jahren eingeschlafen. Zusätzlich war viel neues Personal aufgetaucht, lang bekannte Personen sah man durch den Schichtdienst nur selten. Ich entschied daher, an meinem letzten Arbeitstag kein Gruppenangebot auf der Dementenstation anzubieten. Schade für die Patienten, doch heute standen meine eigenen Bedürfnisse deutlich im Vordergrund.

Als dies für mich entschieden war, fiel mir ein, dass heute keiner der Psychologen im Dienst war. Es würde also um neun Uhr auf der Depressivenstation keine Gesprächsgruppe stattfinden. Ich ging auf die Station und vergewisserte mich beim Pflegepersonal, dass ich mit meiner Vermutung richtig lag. Es stimmte. Von den Psychologen war keiner da. Kurzentschlossen ging ich in den Tagesraum, in dem die Patienten gerade am Frühstück saßen, sagte Guten Morgen und informierte sie darüber, dass am Vormittag zwei Gruppenangebote stattfinden würden. Sofort sagte Frau Holzberger: »Schön, dann machen wir zweimal Werkgruppe!«

»Nein, es finden eine Werkgruppe und eine Gedächtnisgruppe statt«, sagte ich, eigentlich überzeugt davon, dass sich die Patienten darüber freuen würden. Keiner reagierte, bis natürlich auf Frau Holzberger, die sagte: »Naja, ich habe nicht zu bestimmen.«

»So ist es«, war meine Antwort. »ich nahm an, es wäre schön für Sie, dass Sie an meinem letzten Tag zwei verschiedene Gruppenangebote haben würden.«

Keine Reaktion.

Schwester Pauli, die auch im Raum war und die Situation beobachtet hatte, meinte: »Die meisten Leute machen an ihrem letzten Tag gar nichts.«

Ich war ihr für ihre Unterstützung dankbar, auf ihre Bemerkung kam keine Reaktion von den Patienten. Nur Frau Möllig schaute mich mit einem fragenden Blick an, auf den ich keine Antwort hatte. Ich glaube, die Patienten waren von dem forschen Auftreten von Frau Holzberger eingeschüchtert und überfordert.

Als später die Werkgruppe begann, trudelten die Teilnehmer erst so nach und nach ein. Das lag daran, dass einige der Patienten einen Termin bei einem Internisten hatten, der sie hier in der Klinik untersuchte. Für mich war das jedoch gut, da zu Beginn der Werktherapien jeder Patient Hilfe benötigte. So verteilte sich meine Hilfestellung gleichmäßig und ich geriet in keine Stresssituation.

Als Frau Schillig, eine aus Russland stammende Migrantin, die wenig Deutsch sprach, erschien, verunsicherte sie mich. Denn sie brachte Schokolade, Bonbons, Mineralwasser und Becher für alle Patienten mit. Ich mag solche Situationen nicht, denn ich bin der Meinung, dass den Therapiestunden damit die Ernsthaftigkeit genommen wird. Ich wollte kein »Ringelpietz mit Anfassen«. Nach kurzer Überlegung ließ ich Frau Schillig jedoch gewähren. Das Verteilen der Getränke, das die Patientin in die Hand nahm, geschah ohne großes Aufheben und störte den Gruppenablauf nicht. Wie sich herausstellte, war die Schokolade für mich gedacht. Frau Schillig meinte, ich solle sie mir gleich in meine Tasche stecken. Ich dankte ihr sehr für das nette Geschenk.

Ich hatte die Schokolade gerade in meine Arbeitstasche gesteckt, als Frau Stiller an mich herantrat und um meine Adresse bat. Ich hatte noch nie einem Patienten meine Adresse gegeben. Dadurch wäre die »therapeutische Distanz« flöten gegangen und wer weiß, was dann sonst noch gekommen wäre. Mein Gehirn ratterte. Ich ging ja in Rente. War also nicht so schlimm mit der Adressenvergabe. Ich schnappte mir einen Zettel und schrieb der Patientin meine Adresse auf. Ich hatte gerade meinen Vornamen geschrieben, als mir klar wurde, dass mein Tun ein Fehler war. Frau Stiller war nämlich aus einem ganz bestimmten Grund in der Klinik. Sie hatte einen Beziehungswahn. Sie verfolgte ihren Gynäkologen mit diversen Briefen und Geschenken. Und ich schrieb ihr meine Adresse auf! Es gab nun kein Zurück mehr. Ich gab Frau Stiller den Zettel mit meiner Anschrift und hoffte einfach mal das Beste.

Insgesamt lief die Gruppe gut. Ich hatte zwar ständig zu tun, weil fast alle Patienten irgendwann Unterstützung brauchten, doch ging dadurch die Zeit schnell herum.

Als ich die Gruppe nach fünfundvierzig Minuten beenden wollte, gestaltete sich das etwas schwierig, denn einige der Gruppenmitglieder wollten partout nicht aufhören, an ihrem Werkstück zu arbeiten. Nach zehn Minuten hatte ich sie dann alle draußen und konnte fünf Minuten später mit dem Wahrnehmungs- und Gedächtnistraining beginnen. Die fünf Minuten reichten gerade aus, um den Raum für das Gedächtnistraining vorzubereiten. Erstaunlicherweise dauerte es nicht lange, bis alle Gruppenmitglieder anwesend waren.

Als Thema meines letzten Gedächtnistrainings in meinem Berufsleben hatte ich Tiere ausgesucht. Das Thema, das ich am liebsten durchführte. Hatte mir schon immer viel Spaß gemacht. Und so war es auch heute. Es war eine sehr lebendige Gruppe mit guter Beteiligung fast aller Patienten. So, wie man sich als Therapeut eine Gruppe nur wünschen kann. Zur Verabschiedung stellte ich mich an die Tür und wünschte jedem Patienten alles Gute für die Zukunft. Als ich Frau Stiller die Hand gab, sagte sie: »Sie werden von mir hören.« In meinen Ohren klang das wie eine Drohung.

Doch habe ich nie wieder von ihr gehört oder sie gesehen.

Silvester feierten meine Frau und ich bei Freunden. Mir gelang es, meine Angst die meiste Zeit im Zaum zu halten.

Meiner Frau sagte ich nur, dass ich wegen einer Lymphknotenschwellung meine Hausärztin aufsuchen wolle. Über meine Sorgen sagte ich nichts. Warum die Pferde scheu machen?

Am 2. Januar 2019 saß ich dann in der Praxis der Vertretung meiner Hausärztin. Die Praxis meiner Hausärztin war über die Weihnachtsferien geschlossen, das hatte ich vergessen.

Die Vertretung war ebenfalls eine Ärztin. Sie nahm mir Blut ab, auch eine Urinprobe war fällig. Wegen der Ergebnisse solle ich am nächsten Tag noch mal kommen. Dass ich einen geschwollenen Lymphknoten hatte, war ersichtlich. Soweit traf meine Selbstdiagnose zu. Die Ärztin ging von einem Infekt aus, man müsse natürlich die Untersuchungsergebnisse abwarten.

Die Aussage der Ärztin beruhigte mich nicht, mir war diese einseitige Lymphknotenschwellung sehr suspekt. Um so mehr war ich auf das Untersuchungsergebnis gespannt. Leider brachte das keine Klarheit. Die Blutwerte lagen im Normbereich, die Urinuntersuchung hatte nichts erbracht. Die Ärztin meinte, immerhin hätte ich keinen Infekt. Was sie mir damit sagen wollte, weiß ich nicht. Ein Trost war das nicht. Mir wäre ein Infekt sehr lieb gewesen, denn das wäre die Erklärung für den vergrößerten Lymphknoten gewesen. Wenn die Schwellung nicht zurückgehen sollte, solle ich meine Hausärztin aufsuchen. Das hatte ich sowieso vor. Ich entschloss mich aber tatsächlich, die drei im Internet empfohlenen Wochen zu warten, bevor ich zu ihr gehen würde. Da eine Woche davon fast herum war, würde ich in zwei Wochen dort erscheinen.

Ich weiß nicht mehr genau, was ich in dieser Zeit gemacht habe. Ich bemühte mich jedenfalls, in mein neues Leben als Rentner hineinzukommen. Ich ging jeden Morgen im Ort eine Stunde spazieren. Ich genoss diese freie Zeit. So etwas war bisher nur im Urlaub oder am Wochenende möglich gewesen. Ansonsten schrieb ich an meinem Krimimanuskript, das ich Ende des letzten Jahres begonnen hatte. Und Lesen war natürlich angesagt. Jetzt tatsächlich auch tagsüber. Als ich noch im Arbeitsprozess gestanden hatte, hatte ich nur abends im Bett vor dem Schlafengehen gelesen. Was ich ganz bewusst vermied, war die Recherche im Internet über Lymphome oder andere Krebserkrankungen. Mindestens einmal pro Tag begutachtete ich die Schwellung am Hals. Sie verschwand nicht, ich hatte eher das Gefühl, das sie sich vergrößerte.

Als die besagten zwei Wochen herum waren, suchte ich meine Hausärztin auf und nahm die Untersuchungsergebnisse der Vertretung mit. Ich sagte ihr, dass ich die Beule vor drei Wochen bemerkt hätte und nun so lange gewartet hätte in der Hoffnung, dass die Geschwulst zurückgehen werde.

Meine Ärztin war der Meinung das tatsächlich eine bösartige Erkrankung Ursache der Halsschwellung sein könne.

Sie griff zum Telefon und machte mit dem Diagnostikzentrum Röntgen hier in der Stadt einen Termin aus, um ein MRT (Magnetresonanztomographie) durchführen zu lassen. Der Termin war direkt am nächsten Morgen. Das überraschte mich. Denn auf den letzten Termin, den ich bei dem Diagnostikzentrum wegen einer Schilddrüsenuntersuchung hatte, musste ich drei Wochen warten.

Am nächsten Morgen saß ich dann mit meiner Frau, die es sich nicht hatte nehmen lassen mitzukommen, im Diagnostikzentrum.

Ich muss dazu sagen, dass Krebs ein schon belastetes Thema bei uns war. Meine Frau und ich hatten uns in einer Trauergruppe kennengelernt. Der erste Mann meiner Frau war an Nierenkrebs gestorben, meine erste Frau an der Blutung eines Hirnaneurysmas. Meine jetzige Frau und ich waren seit acht Jahren verheiratet, kannten uns mittlerweile dreizehn Jahre. Meine Frau war vor drei Jahren an einem bösartigen Melanom erkrankt. Es war entfernt worden, bisher war kein Rezidiv aufgetreten.

Wir hatten den vorigen Tag ausgiebig über die Situation gesprochen und waren uns sicher, dass ich Krebs hatte. Ich will damit sagen, dass wir gewappnet waren gegen das, was eventuell auf uns zukommen würde.

Das MRT war schnell beendet. Man bat uns zu warten. Eine Ärztin würde gleich mit uns sprechen. Ein sicheres Zeichen, dass die Sache ernst war.

Den Tod meiner Frau hatte ich immer noch deutlich vor Augen. Das würde wahrscheinlich so bleiben. Es geschah in Dänemark, während eines Urlaubs.

Langeland

Plötzlich stöhnte Karin laut, stürzte mit einem schweren Fall zu Boden und zuckte, als hätte sie einen epileptischen Anfall. Ich beugte mich zu ihr hinunter, nahm sie an den Schultern. Das Zucken hatte schlagartig aufgehört, doch Karin war nicht bei Bewusstsein. Ihre Pyjamahose hatte sie eingenässt. Merkwürdigerweise war dies für mich das Zeichen, dass die Sache ernst war. Gehängte nässten sich ein. Ich nahm sie an den Schultern, um sie aufzurichten. Da öffnete sie die Augen. „Oh Gott, ich habe schreckliche Kopfschmerzen … ich bin ja ganz nass.“

„Komm, ich helfe dir ins Bett. Leg dich hin. Ich rufe einen Krankenwagen.“

Sie schaute mich an. „Ja, aber zieh mir erst einen anderen Schlafanzug an.“

Ich reagierte so, dass ich sie stützte und aus dem Bad zu ihrem Bett führte. Sie legte sich hin und ich rief die Notrufnummer an, die in der Küche auf einem Zettel stand, der an ein Brett geheftet war. Es meldete sich eine Frauenstimme. Natürlich auf Dänisch, denn wir waren in Dänemark auf Urlaub. Da ich kein Dänisch konnte, blieb nichts anderes, als auf Deutsch zu antworten. Glücklicherweise verstand mein Gegenüber meine Muttersprache. Ich schilderte die Sachlage und die Frauenstimme sagte, sie würde einen Krankenwagen schicken. Als ich das Gespräch beendete, stand Silvia neben mir.

„Was ist los?“ Silvia war Karins Freundin. Sie war mit uns dieses Jahr zusammen in Urlaub gefahren. Ich schilderte ihr kurz die Sachlage und sagte, sie solle bitte an die Straße gehen und den Krankenwagen in Empfang nehmen, damit dieser sicher den Weg zu uns finden würde. Wir befanden uns nämlich in einer etwas abgelegenen Feriensiedlung. Sicher war sicher. Das tat sie, sah aber natürlich vorher noch kurz nach Karin.

Ich ging zu Karin und half ihr in einen frischen Schlafanzug. Obwohl ihr das Umziehen durch das Aufrichten erhebliche Schmerzen bereitete, wollte sie das unbedingt.

Kurz darauf kamen die Sanitäter des Rettungswagens, untersuchten Karin kurz, hoben sie auf die Trage und trugen sie zum Wagen. Ich fuhr im Wagen mit, Silvia kam mit unserem Pkw hinterher.