4,99 €
Wohin auch immer Rainer Güllich in seiner Heimatstadt den Blick wendet - permanent bietet sich dort neuer Stoff für seine Marburger Krimis: Harmlose Spaziergänge mit tödlichem Ausgang. Eine Busfahrt eskaliert zum Geiseldrama. Skrupellose Erben beschleunigen den Erbfall, während an anderer Stelle Trickbetrüger am Werk sind. Paranoide Eifersuchtsdramen gepaart mit haarsträubenden Rachefeldzügen - all dies imitten der Beschaulichkeit einer altehrwürdigen Universitätsstadt. Nun, gelegentlich überrascht durchaus auch die Existenz eines ungeahnten Helden des Alltags ... In Marburg wartet eindeutig viel Arbeit auf Hauptkommissar Gruber und seinen Assistenten Kroner ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
1. Sammy
2. Die Versuchung
3. Koks
4. Rentnerrallye
5. Die Tante
6. Klingelstreiche
7. Der Mehrfachtäter
8. Die Beschattung
9. Vergangenheit
10. Paranoia
11. Der Geldschein
12. Die Belohnung
13. Vermisst
14. Der Tote am Wehr
15. Die Störung
16. Ungeduld
17. Spiele
18. Flucht
19. Geständnis
20. Absturz
21. Der Zeuge
22. Die Freundin
Margot Gruber schlug die Fahrzeugtür ihres Yaris zu und atmete auf. Es wurde Zeit, endlich mal ihre vier Wände zu verlassen. Das Gefühl, dass die Mauern ihres Hauses sich immer enger um sie schlossen, war inzwischen unerträglich geworden.
Ihren Wagen parkte sie auf dem Parkplatz am Spiegelslustturm. Sie wollte die Richtung Waldgaststätte Spiegelslust nehmen, um einen Spaziergang zu machen. Später galt es noch in die Gaststätte einzukehren, einen Kaffee zu trinken und einen der dort angebotenen, leckeren Kuchen zu probieren.
Ihr Mann befand sich in der Obhut einer Bekannten aus der „Spinnstube“. Diese hatte sich angeboten, ihn einen Nachmittag zu betreuen. An den wöchentlichen Treffen in der „Spinnstube“ nahm Margot schon lange nicht mehr teil.
Seit sich Helmuts Demenz verschlimmert hatte, fand sie kaum noch Zeit für solche Vergnügungen. Karin, ihre Freundin aus der „Spinnstube“, hatte sie beim Einkaufen getroffen. Sie konnte sich aber kaum mit ihr unterhalten, da Helmut ständig nach draußen drängte. Sie sah sich gezwungen, ihn immer zum Einkauf mitzunehmen, Sein Zustand verbot es ihr, ihn alleine zu lassen.
Helmut hatte bereits einen Aufenthalt auf der Demenzstation der Psychiatrie hinter sich. Dort empfahl man ihr, ihn in ein Heim zu geben, doch dazu konnte sie sich nicht entschließen. Sie liebte ihn einfach zu sehr und sah sich außerstande, ihn loszulassen. Nie würde sie ihn in ein Pflegeheim geben! Dieser Entschluss stand fest für sie. Nach fast fünfzig Jahren Ehe sicherlich kein Wunder.
Helmuts desolater Zustand erschütterte Karin. Jetzt verstand die Freundin auch, warum Margot so lange nicht mehr in der „Spinnstube“ erschienen war. Als Margot dann klagte kaum noch etwas unternehmen zu können, bot Karin sich sofort an, Helmut zu beaufsichtigen um Margot ein wenig zu entlasten.
Und für den heutigen Tag hatten sie ein Arrangement getroffen.
Margot öffnete eine der Fondtüren des Yaris um Sammy – ihren Foxterrier – herauszulassen, der vor Aufregung schon mit beiden Pfoten an der Scheibe kratzte. Bevor er jedoch Gelegenheit fand ihr zu entwischen, schnappte sie sich die Leine, die sie dem Hund in weiser Voraussicht schon vor der Fahrt angelegt hatte.
Sie verschloss den Wagen per Fernbedienung und begab sich mit Sammy auf den Weg zur Waldgaststätte. Der Hund zerrte wie wild an der Leine und schien zu ahnen, heute mehr als die kurzen Spaziergänge ins Feld geboten zu bekommen, um dort rasch sein Geschäft zu erledigen.
Tja, Sammy … auch so eine Sache. Dass dieses Temperamentsbündel aber auch seine Bellerei nicht lassen konnte! Das Bellen hatte zu Problemen mit Horst Küllmer, dem Nachbarn geführt. Der grobe, breit gebaute Mann beschwerte sich vehement über Sammys gelegentliches Gebell. Die Beschwerde an sich stellte nicht das Schlimmste dar, doch Küllmer legte ein völlig unakzeptables Verhalten an den Tag. Er brüllte, schlug mit der Faust in seine Hand und kam einem so bedrohlich nahe, dass Nasenspitze fast an Nasenspitze war. Zum Fürchten!
Sammy bellte trotzdem, es war ihm nicht abzugewöhnen. Nun ja, es handelte sich eben um einen lebhaften kleinen Hund!
Mit Küllmer gab es aber schon vor Sammys Bellerei Probleme, die nicht nur Margot und ihren Mann, sondern auch die anderen Nachbarn betrafen. Wenn Küllmer eine seiner „Touren“ unternahm – wie er selbst das nannte – präsentierte sich das „nicht ohne“. Er pöbelte, beschädigte Zäune, Mülltonnen, Fahrräder – und was ihm sonst noch in die Quere kam. Einmal kletterte er sogar über parkende Autos, wodurch die Fahrzeuge erheblich beschädigt wurden. Nachdem seine Aggressionen abgeklungen waren, entschuldigte er sich bei den Geschädigten – und ersetzte auch anstandslos den angerichteten Schaden. Auf diese Weise war er bisher einer Anzeige entgangen. Seine jeweilige Abbitte lautete, während seiner Bundeswehrzeit Medikamente – nämlich sogenannte Anabolika – erhalten zu haben. Deshalb sei er manchmal nicht Herr seiner Sinne. Natürlich völliger Unsinn.
Allerdings kam ihm zugute, dass er sich bisher nur an toten Dingen abreagiert hatte. Mensch oder Tier waren durch ihn – bislang – nicht zu Schaden gekommen. Im Grunde genommen benötigte Küllmer eine psychiatrische Behandlung. Doch wer würde wohl den Mut aufbringen, ihm das klarzumachen? Und wer konnte ahnen, was dieser Mensch zukünftig womöglich noch anstellen würde?
Vor noch nicht allzu langer Zeit hatten Helmut und Margot sogar überlegt, ihr Haus zu verkaufen und an einen anderen Ort zu ziehen, wo sie in Ruhe würden leben können. Doch dann erkrankte Helmut und der Gedanke fortzuziehen geriet dadurch weit in den Hintergrund. Jetzt sollte Margot ja auf Anraten der Ärzte Helmut sogar in ein Heim geben. Nein, da blieb sie mit Helmut lieber im Haus – und ertrug dann eben den unberechenbaren Nachbarn. Gleichzeitig wusste sie sehr wohl, dass diese Entscheidung auch nicht gerade vernünftig war, denn ihr wurde ja tagtäglich deutlich vor Augen geführt, wie schwierig sich die Pflege ihres Mannes gestaltete.
Hier wurde ihr Gedankengang jäh unterbrochen. Diese Stimme, die sie mit einem lauten „Da habe ich dich ja endlich“ aus ihrer Versunkenheit riss, kannte sie. Margot hob erschrocken den Kopf, Horst Küllmer stand vor ihr.
Mitten auf dem Weg mit ausgebreiteten Armen. In der rechten Hand ein schwerer Knüppel, wohl im Wald aufgelesen.
„Hast du deinem Köter endlich das Bellen abgewöhnt? Oder muss ich ihm den Schädel einschlagen?“
Wie auf Befehl begann Sammy zu kläffen.
Bevor Margot überhaupt reagieren konnte, holte Küllmer bereits aus – und fegte Sammy mit derbem Schlag zur Seite. Das Gebell erstarb schlagartig. Da Sammy sich an der Leine befand, brauchte Margot nur zwei Schritte zu ihm. Sie kniete nieder, hob mit zitternden Händen den kleinen Körper auf und nahm ihn in den Arm.
Sammys Kopf war zerschmettert. Kein Herzschlag spürbar. Ihr Sammy war tot.
„Was hast du getan?“
Margot stürzte sich auf den Angreifer und schlug mit einer Faust auf ihn ein, während sie mit dem anderen Arm den Leichnam Sammys fest an sich gedrückt hielt. Küllmer stieß Margot zurück. Stolpernd ging sie in die Knie.
„Na! Ist er endlich hin, der Drecksköter? Wurde auch Zeit.“
In Küllmers Stimme schwang keinerlei Emotion. Dann kam er auf Margot zu.
„Und dein letztes Stündlein … hat auch geschlagen.“
Der Knüppel traf Margot schwer auf den Schädel. Ihr Körper kippte zur Seite. Im Fallen schoss ihr noch der Gedanke durch den Kopf, dass ihr Helmut nun wohl doch ins Pflegeheim kommen würde. Den zweiten Hieb spürte sie nicht mehr.
Zwei von Gästen des Spiegelslustturms alarmierte Polizeibeamte fanden in der Nähe des Ausfluglokals einen laut singenden Horst Küllmer vor. Sie nahmen ihn in Gewahrsam, denn ein verdächtiger mit Blut befleckter Knüppel lag neben ihm.
Marcel stieg in den Linienbus, löste ein Ticket und spähte nach einem freien Platz. Sein Blick fiel auf die hintere Sitzreihe. Dort saß, wie erwartet, Klas – in Jeans, schwarzem Pullover und tief in die Stirn gezogener dunkelblauen Basecap.
Drei Sitze hinter dem Busfahrer fand sich ein freier Sitzplatz, den Marcel einnahm. Die Pistole unter der Jacke drückte gegen seine Rippen. Die nächste Haltestelle würde die am Kaufhaus in der Universitätsstraße sein. Bis zum Hauptbahnhof blieb noch Zeit.
Dort würden sie zuschlagen.
Wenn er daran dachte, was dann los sein würde, schnürte ihm Angst die Kehle zu. Noch bestand die Möglichkeit die Sache abzublasen, andererseits durfte er sich von seiner Furcht nicht abhalten lassen.
In seinem Sitz etwas vorrückend, spürte er die Rückenlehne und versuchte sich zu entspannen. Die Fahrgäste nach ihm waren inzwischen alle zugestiegen und der Bus fuhr los.
Hoffentlich würde alles klappen. Die Planung hatte ja nicht viel Zeit in Anspruch genommen. Der Plan war auch nicht das Entscheidende. Die Hauptsache lag in der Bereitschaft zum Risiko – und ... ja, durchaus auch sein Leben einzusetzen.
Möglichst unauffällig schaute er nach den anderen Fahrgästen und versuchte diejenigen, die er sehen konnte, einzuschätzen. Gab es unter ihnen Typen, die Stress machen könnten? Die, die Ereignisse nicht so einfach hinnehmen würden? Schwer zu sagen. Dieser muskulöse Typ – neben ihm in der linken Reihe – könnte sich als potentieller Gegner erweisen. Aber, wer weiß? Es gab auch Muskelprotze, die einfach nur Weicheier waren. Deren Muckis nur dazu dienten andere optisch zu beeindrucken und einzuschüchtern.
Wie stand es mit dem Fahrer? Würde er sich für seine Fahrgäste verantwortlich zeigen wollen und den Helden spielen? Marcel betrachtete die schmalen Schultern des Mannes. Größe? Einssechzig. Höchstens. Eine gerötete Glatze zierte den kleinen Kopf. Aller Wahrscheinlichkeit nach keine Gefahr. Der würde tun, was man verlangte.
Durch die Frontscheibe war der Bahnhof zu sehen, dem der Bus sich näherte. Gleich wäre es so weit. In kurzer Zeit war die Haltestelle erreicht.
Das war der Moment.
Marcel zog sich eine Sturmhaube über den Kopf und stand auf als der Bus hielt.
Mit der Pistole im Anschlag trat er auf den Fahrer zu. Bevor dieser die Tür öffnen konnte, hielt Marcel ihm die Waffe an den Kopf und wandte sich mit lauter Stimme an die Fahrgäste:
„Alles bleibt sitzen. Sonst ist der Fahrer ein toter Mann. Und wer aufsteht, ist der Nächste.“
In der letzten Sitzreihe erhob sich Klas. Mit ebenfalls einer Sturmhaube unter seiner Kappe. Auch Klas zog seine Pistole.
„Und ich bin auch noch hier.“
Von einigen der weiblichen Fahrgäste ertönten spitze Schreie. Manche der Männer ließen ein gedämpftes Stöhnen vernehmen.
Marcel wartete, bis Ruhe einkehrte.
„Also, damit das klar ist. Ihr seid Geiseln. Wir wollen nur etwas Geld. Wenn wir es haben, seid ihr frei. Und jetzt holt Eure Handys heraus und legt sie in der Mitte auf dem Stehplatz des Busses ab. Wer kein Handy abgibt, wird von meinem Kollegen untersucht. Wir wollen nämlich nicht, dass jemand mit WhatsApp oder so nach draußen Kontakt aufnimmt. Geht niemanden was an, was hier drin passiert. Und nun wartet ab.“
Nach Ende der Prozedur lagen dreizehn Handys dort, analog der Anzahl der Businsassen.
Danach zog Marcel sein Smartphone aus der Jackentasche und wählte die Nummer der Polizeidirektion Marburg. Kaum hob der dort im Dienst befindliche Beamte ab, sagte er:
„Hör zu und gib das weiter. Wir haben einen Bus mit dreizehn Geiseln gekapert. Wir verlangen innerhalb von zwei Stunden zweihunderttausend Euro. Dazu einen Fluchtwagen, einen grauen Toyota Auris. Werden die Forderungen nicht erfüllt, sterben die Geiseln. Eine nach der anderen. Und wie sie sterben, werdet Ihr dann erfahren. Der leitende Beamte kann über meine Handynummer Kontakt mit mir aufnehmen.“
Sicherheitshalber nannte er seine Nummer, nichts sollte schiefgehen.
Der Beamte im Polizeidezernat Marburg gab die Informationen des Geiselnehmers an seinen Vorgesetzten weiter.
Hauptkommissar Herbert Gruber erreichte die Nachricht nur einige Sekunden später und er ließ das SEK über die Geiselnahme informieren.
Als Diensthabender würde er zwar die gesamte Aktion leiten und am Ende die Verantwortung tragen, aber beim Einsatz der Spezialeinheit würde er sich ganz auf deren Leiter verlassen müssen.
Es blieb zu hoffen, dass alles ohne Komplikationen ablief – also keine Toten und Verletzten. Anlässlich solcher Aktionen – auch wenn alles gut durchdacht und geplant war – gab es dennoch immer einen Unsicherheitsfaktor. Zu vieles konnte schiefgehen.
Aber da war jetzt nichts zu machen. Gruber musste sich einfach auf sein Glück verlassen. Sein Glück? Hier stand das Glück vieler Menschen auf dem Spiel. Es ging um Menschenleben. Hoffentlich würden alle Beteiligten die Nerven behalten.
Kurze Zeit später sahen Marcel und sein Kumpan den Bus vom Blaulicht der Polizeiwagen umringt. Absperrungen wurden aufgestellt und eine Unzahl Uniformierter umstellten das Areal.
Als kurz darauf plötzlich der Hochzeitsmarsch von Felix Mendelsohn Bartholdy aus Marcels Smartphone ertönte, nahm er den Anruf an. Ein wohlklingender Bariton meldete sich.