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Siebzehnundvier: Das bekannte Kartenspiel kommt szenisch in einer der Kurzgeschichten des Erzählbandes vor. Da es insgesamt 21 Geschichten sind, war der Titel für das Buch schnell gefunden. Die Texte handeln vom täglichen Leben mit seinen Höhen und Tiefen. Sie sind teilweise ernst, dann wieder humorvoll geschrieben, aber alles Erzählte lässt uns nachdenklich, wissend lächelnd oder einfach nur schmunzelnd zurück.
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Norbert Feddersen hörte im Halbschlaf den Wecker. Er richtete sich im Bett auf, schaltete den Wecker ab und setzte sich auf die Bettkante. Ein neuer Tag mit klaren Vorgaben stand ihm bevor. Er würde ins Büro gehen, seine Arbeit erledigen, nach Hause fahren, fernsehen und dann wieder zu Bett gehen. Manch anderer würde sagen „Oh, wie langweilig“, doch Norbert Feddersen liebte dieses strukturierte Leben. Er konnte sich nichts anderes vorstellen.
Er ging ins Bad, um sich für den Tag fertigzumachen. Beim Rasieren schnitt er sich tief in die linke Wange. Das war ihm noch nie passiert! Er gab doch immer so Acht bei seiner Nassrasur. Es war zwar nur ein kleines Malheur, doch spürte er deutlich, wie seine gute Stimmung einen kleinen Dämpfer bekam.
Er riss sich von der Toilettenpapierrolle ein Stückchen Papier ab und drückte es auf die kleine Schnittwunde seiner Wange. Sein Vater, auch ein Nassrasierer, hatte früher die Blutungen von Rasierschnittwunden so gestoppt.
Er zog seine abends schon bereitgelegte Kleidung an, setzte sich an den Frühstückstisch, um seinen Toast zu essen und seinen Kaffee zu trinken. Seine Wunde fiel ihm plötzlich wieder ein. Er befühlte die Stelle, das Blut war trocken. Er riss das Stückchen Toilettenpapier ab. Prompt floss das Blut wieder.
„Mist“, dachte er, „ich brauche unbedingt ein Pflaster!“
Er suchte in seiner Hausapotheke nach Pflaster, fand aber nur eine Werbepackung aus der Apotheke. Dummerweise waren diese Verbandmittel mit lustigen Motiven für Kinder versehen. Es gab Totenköpfe, Maulwürfe, Katzen und Bienen. Er entschied sich für die Totenköpfe.
Mit diesem Pflaster versehen begab er sich aus dem Haus und zu seiner Bushaltestelle. Zwei ältere Damen, die mit ihm auf den Bus warteten, lachten ihm zu und grüßten ihn freundlich. Leichte Röte überzog sein Gesicht. So etwas kannte er nicht. Sein Heftpflaster hatte Norbert Feddersen vergessen.
Als er in den Bus stieg und Willy Diehmel, den Fahrer begrüßte, lachte der ihn an und fragte: „Na, einen schweren Morgen gehabt?“
Norbert blickte Diehmel verständnislos an, sagte: „Nein, alles wie immer“, und suchte sich einen freien Sitzplatz. Er wusste nicht, was er mit Diehmel hätte reden sollen, obwohl er ihn schon lange als Fahrer des Busses kannte. Er beherrschte keinen Small Talk. Hatte Angst Unsinn zu reden.
Als er in der Firma am Pförtner vorbeikam, schaute der ihn kurz an, grinste und meinte: „Ja, genau der richtige Tag, um endlich eine Gehaltserhöhung zu fordern.“
Norbert schüttelte nur den Kopf, er hatte keine Ahnung, was der Mann meinte.
Als er dann an seinem Arbeitsplatz war und seine Kollegin Marion, die er heimlich verehrte, auftauchte, ihn anlächelte und ansprach, verstand er die Welt nicht mehr.
„Na, du verwegener Mann … hättest du nicht Lust mit mir mal einen Kaffee trinken zu gehen. Hätten wir schon längst mal machen sollen. Wie wär’s mit morgen?“
„Äh …, gerne, ja, morgen …“
„Schön.“ Dann war sie wieder verschwunden.
Seine Gefühle gingen auf und ab, den ganzen Tag konnte er sich kaum auf seine Arbeit konzentrieren.
Als er abends nach Hause kam, war er nicht in der Lage, so wie sonst fernzusehen, sondern blätterte in einem Versandkatalog, um nach neuer Kleidung für sich zu schauen. Er brauchte unbedingt ein neues Outfit. Mit den Sachen, die er trug, konnte er mit Marion nicht ausgehen. Es wurde Zeit einiges in seinem Leben zu ändern. Er wunderte sich über seine Gedanken und sich selbst. Es war ein merkwürdiger Tag gewesen. Sonst wurde er von den meisten Leuten ignoriert, doch heute hatte er ihre Aufmerksamkeit gewonnen. War angenehm gewesen. Vielleicht sollte er sich doch mal ein Herz nehmen und auch auf andere Menschen zugehen und sich nicht immer passiv verhalten.
Vor dem Badezimmerspiegel sah er dann, was die veränderten positiven Reaktionen seiner Mitmenschen auf ihn erklärte: Das Heftpflaster mit dem Totenkopf prangte noch immer an seiner Wange. Er lächelte seinem Spiegelbild zu, um dann im Bett seinen wohlverdienten Schlaf zu finden.
Paul Heister ging langsamen Schrittes die Straße entlang. Sein Rücken war gebeugt, er ließ seine Schultern hängen. Er kam gerade aus dem Discounter. Hier kaufte er regelmäßig ein. Mit seiner kleinen Rente konnte er keine großen Sprünge machen, so kam ihm das Angebot des Billig-Anbieters sehr zupass.
Dumm war nur, dass der Einkaufsmarkt in der Innenstadt lag. Paul wohnte in einem der Randbezirke, er musste um einzukaufen den Linienbus nehmen. War zeitaufwendig.
Er strich eine Strähne seines weißen Haares aus der Stirn und fuhr sich mit der rechten Hand über sein, von tiefen Falten, gefurchtes Gesicht.
Als er um die Ecke, in die nächste Straße, einbog, sah er vor sich die Bushaltestelle. Hier stieg er immer in den Bus nach Hause ein. Er konnte zwar eine Haltestelle früher einsteigen, an dieser war jedoch keine Sitzgelegenheit. Hier konnte er in Ruhe auf den Bus warten. Die Busse fuhren nur jede halbe Stunde, da war es angenehm, wenn er sitzend warten konnte. Er war fünfundsiebzig Jahre alt, wenn er lange stehen musste, schmerzten seine Beine zu sehr.
Manchmal, wenn schönes Wetter war, ließ er den ankommenden Bus auch einfach weiterfahren und wartete auf den nächsten. Es war angenehm hier zu sitzen und die Leute, die geschäftig die Straße hinauf und herunter gingen, zu beobachten.
Er malte sich aus, was den ein oder anderen wohl beschäftigte, ob die Frau in dem blauen Kleid nach Hause musste, um ihrem heimkehrenden Mann das Essen zu bereiten, oder ob sie alleinerziehend war und eiligst in den Kinderhort musste, um ihr kleinstes Kind dort abzuholen. Der Mann in dem dunklen Anzug konnte ein Bankangestellter sein, der aus der Mittagspause an seinen Arbeitsplatz zurückkehrte, oder ein Vertreter, der gerade ein gutes Geschäft abgeschlossen hatte.
So vertrieb er sich die Zeit.
Seit fünf Jahren lebte Paul Heister allein in der kleinen Mietwohnung, die er vorher zusammen mit seiner Frau bewohnt hatte. Sie war vor fünf Jahren an einer Krebserkrankung gestorben. Sie hatte sehr gelitten. Eine Zeit, an die er nicht gerne dachte.
Es fiel ihm anfangs schwer, sein Leben allein zu bestreiten. Ihm war vor dem Tod seiner Frau nicht klar gewesen, wie sehr sie sich ergänzt hatten. Nun musste er ihren Part mit übernehmen. Es war ihm gelungen, doch hatte es seine Zeit gebraucht. Manchmal fühlte er sich jedoch sehr einsam.
Er war an der Haltestelle angekommen. Eine junge Frau saß mit zwei Kindern zusammen auf der Bank, einem ungefähr achtjährigen Mädchen und einem kleineren Jungen. Der mochte ungefähr sechs Jahre alt sein.
Paul stellte seine Plastiktüte auf die Bank und machte Anstalten sich hinzusetzen, als die junge Frau den Jungen ansprach: „Mach mal ein bisschen Platz, damit sich der Herr hinsetzen kann. Du brauchst dich nicht so breitmachen.“
Der Junge rutschte etwas zur Seite und Paul nahm Platz. Der Junge schaute zu ihm auf. Er hatte braune Augen, ein pausbäckiges Gesicht und eine kleine Nase. Seine dunkelblonden Haare fielen ihm in die Stirn.
„Warst du einkaufen?“, fragte der Junge. „Hast du was Süßes für mich?“
„Jetzt stör mal den Herrn nicht“, mischte sich die Frau ein und an Paul Heister gewandt sagte sie: „Mein Sohn ist leider etwas vorwitzig. Ich hoffe Sie nehmen es nicht übel?“
„Nein, das ist für mich kein Problem.“ Er schaute die Frau an. Sie hatte ihr dunkles Haar zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden, trug eine Hornbrille, die ihr ein strenges Aussehen verlieh. Auf den ersten Blick hatte er sie für älter gehalten.
Sich zu dem Jungen neigend meinte er: „Ich will mal in meiner Tasche kucken, ob da was Süßes drin ist. Wir müssen deiner Schwester aber auch was abgeben. Es ist doch deine Schwester?“
„Jaaa, schon. Aber die brauch nix Süßes. Die will nämlich immer bestimmen.“
Er schaute seine Schwester grimmig an.
„Kein Grund ihr nichts abzugeben“, lachte Paul Heister. „Wie heißt ihr beide denn?“
Jetzt meldete sich das Mädchen zu Wort. Sie hatte dunkelblondes, schulterlanges Haar, hellgrüne Augen. Am Kinn hatte sie eine halbmondförmige Narbe.
„Ich heiße Janina und mein Bruder heißt Max. Wir nennen ihn aber Mäxchen.“
Paul hatte während des Gesprächs in seiner Tasche gekramt und hatte eine Tafel Schokolade herausgeholt. Er aß für sein Leben gern Schokolade. Eine Tafel in der Woche gönnte er sich. Er konnte sich ja eine neue holen oder die Woche mal auf Schokolade verzichten, dachte er.
Die Schokolade hochhaltend und den Blick auf die Frau gerichtet sagte er: „Ich darf doch …?“
Die Frau nickte. Paul brach die Schokolade in der Mitte durch und gab jedem der beiden
Kinder eine Hälfte.
Zu den Kindern gewandt sagte er: „Lasst euch die Schokolade schmecken. Aber versprecht mir eines … versucht euch zu vertragen.“
Max schaute schon etwas friedlicher drein.
„Na ja“, sagte er, „versuchen geht ja. Ich versprech’s.“
Janina sagte: „Wir vertragen uns doch soundso immer wieder. Er ist doch mein Bruder.“
Paul sah ihr in die Augen.
„Ich verstehe, Janina. Das ist schön.“
Der Bus kam. Die Linie 7. Nicht seine Linie.