Drei Morde - Rainer Güllich - E-Book

Drei Morde E-Book

Rainer Güllich

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Beschreibung

Keiner wundert sich wirklich, als die Altenheimleiterin Margot Haupt ermordet aufgefunden wird. Die Frau war einfach eine Zumutung an Bosheit und Strenge für alle Menschen in ihrer Umgebung. Nach und nach kommen immer mehr potentielle Täter auf die Liste der Verdächtigen. Obwohl der Hauptkommissar selbst in massiven privaten Problemen steckt, kommt er dem wahren Täter immer näher. Doch kaum ist dieser hinter Schloss und Riegel, wird weiter gemordet ...

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Drei Morde

Ein Marburg Krimi

von

Rainer Güllich

Impressum

© Karina-Verlag, Wien

www.karinaverlag.at

Text: Rainer Güllich

Cover: Karina Moebius

Lektorat: Bruno Moebius

© 2021, Karina-Verlag, Vienna, Austria

ISBN: 9783985519057

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages, Herausgebers und des Autors unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Anmerkung des Autors

Im Altenheim Cappel habe ich ein fiktives Altenheim entstehen lassen, im Stadtteil Wehrda einen Baumarkt. Es handelt sich also um nicht real existierende Einrichtungen.

Prolog

Anna Krämer ließ ihren Putzwagen stehen und schaute vorsichtshalber auf ihre Uhr. Es war Punkt zwölf Uhr, das hieß, dass sie das Büro von Margot Haupt betreten konnte. Käme sie zu früh oder zu spät, würde das Ärger bedeuten. Die Leiterin des Altenheims verstand keinen Spaß. Sie war ziemlich pingelig und meist schlechter Laune. Ihre Untergebenen durften das dann ausbaden.

Die Chefin hatte ihr gesagt, sie könne ihr Büro zwischen zwölf und zwölf Uhr fünfundvierzig putzen. Meist war Margot Haupt um zwölf verschwunden. Sie machte ab da bis ein Uhr Mittag. Fuhr, wie jeder der Angestellten wusste, nach Marburg rein, um im Nero´s, einem Lokal in der Frankfurter Straße, eine Kleinigkeit zu essen. Sie hatte dort die Arbeitswoche über einen Tisch für sich reserviert.

Tja, jeden Tag essen gehen, das war ein Luxus, den sich Anna Krämer nicht leisten konnte. Sie und ihr Mann waren froh, wenn sie sich zu so besonderen Tagen wie Geburtstag oder Muttertag ein Essen auswärts leisten konnten.

Jedenfalls war Anna immer sehr erleichtert, wenn die Chefin nicht da war. Die hatte sie nämlich schon mal böse heruntergeputzt. Das war vor drei Monaten gewesen. Anna war mit der Arbeit im Büro der Chefin fertig gewesen, säuberte die Gästetoilette im Foyer, als über Lautsprecher ihr Name ausgerufen wurde. Mit der Bitte, ins Büro der Heimleiterin zu kommen. Nichts Gutes ahnend machte Anna sich auf den Weg. Sie nahm die vordere Tür über den Flur, die direkt ins Büro der Chefin führte. Sie wollte nicht durch das Sekretariat gehen, da sie dort an den ›Tippsen‹, wie sie sie nannte, vorbeimusste. Sie klopfte an und wurde hereingebeten. Frau Haupt stand mit verschränkten Armen vor dem Papierkorb links von ihrem Schreibtisch. Und was musste Anna da sehen? Der Papierkorb war voll bis obenhin. Sie hatte vergessen ihn auszuleeren. Da war ihr klar, dass es ein Donnerwetter geben würde. Na ja, wenigstens gab es keine Zeugen. Sie rechnete nicht mit der Gemeinheit der Chefin. Diese öffnete die Tür zum Sekretariat, in welchem die Büroangestellten ihre Arbeit verrichteten, damit sie sich die Abfuhr anhören konnten.

Es ging auch schon los: »Frau Krämer, was ist denn das hier bitte. Sie sind angestellt, um hier alles reinzuhalten. Als ich sie eingestellt habe, habe ich Ihnen gesagt, dass ich in meinem Büro alles picobello sauber haben möchte. Das haben Sie doch verstanden? Oder wissen Sie nicht, was picobello heißt? Da hätten Sie fragen müssen, wenn das Ihre Schulbildung nicht hergibt. Hauptschule nicht ganz hinbekommen, oder? Die Herkunft des Wortes ist einmal italienisiert aus dem Italienischen ›schön‹ und aus dem Niederländischen für ›pük‹, also piekfein. Ist das hier etwa piekfein und schön?« Sie zeigte auf den Papierkorb. Annas Gesicht lief rot an, als die Chefin ihre Schulbildung ansprach. Anna war nie gut in der Schule gewesen, sie hatte nur ein Abgangszeugnis der Hauptschule erhalten. Das wusste die Chefin natürlich aus Annas Personalunterunterlagen. Aber musste diese sie damit jetzt so bloßstellen? Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie fühlte sich zutiefst gedemütigt.

»Nun machen Sie schon und bringen Sie den Müll raus. Auf was warten Sie eigentlich?«

Das hatte Anna getan und war dann wie ein geprügelter Hund wieder zurück ins Foyer, um die Toilette fertigzuputzen. Sie hatte sich sehr geschämt. Am schlimmsten waren die Augen der Büroangestellten gewesen, die sie betreten angeschaut hatten.

Das Büro lag direkt neben dem Sekretariat und war über den Flur zu erreichen. Vom Büro der Chefin ging eine Tür zum Sekretariat ab, damit diese ihre Angestellten direkt greifbar hatte. Etwaige Besucher der Chefin konnten also direkt zu ihr gelangen, ohne durch das Vorzimmer zu müssen. Ganz praktisch eingerichtet, auch für Anna, die nicht gern durchs Sekretariat ging. Es reichte, wenn sie da zum Putzen rein musste. Dort saßen zwei ›Tippsen‹, die ihr unangenehm waren. Sie zogen andere, die ihrer Meinung nach in der Hierarchie des Altenheims unter ihnen standen, gern auf. Lag vielleicht daran, dass sie mit der Haupt nicht viel zu lachen hatten. Anna klopfte an und horchte, ob von innen geantwortet würde. Es kam keine Reaktion, also war die Chefin schon weg. Anna öffnete die Tür, drehte sich zu ihrem Putzwagen und zog ihn in den Raum hinein. Als sie sich umdrehte, erstarrte sie für einen Moment. Margot Haupt lag leblos neben ihrem Schreibtisch, ihr Haar war voll Blut. Auf dem Boden um ihren Kopf hatte sich eine große Blutlache gebildet. Annas Starre löste sich, sie schrie laut. Ihr schwindelte. Um nicht zu fallen, hielt sie sich am Putzwagen fest.

Rolf Rüssler hatte gerade seine Plastikdose mit dem Gurkensalat geöffnet, um diesen zu seinem Brötchen als Mittagessen zu sich zu nehmen, als er den Schrei aus dem Büro der Chefin hörte. Was war denn da passiert? Er sprang auf, hastete zwischen den beiden Schreibtischen seiner Kolleginnen, die ihn entsetzt ansahen, hindurch und riss die Tür zum Büro der Chefin auf. Was er sah, ließ sein Herz für einen Moment stocken, dann schlug es ihm bis zum Hals. Wie es aussah, hatte seine Chefin einen Unfall gehabt. Woher sollte sonst das Blut herkommen? Vorsichtig ging er näher heran, als er Margot Haupt erreicht hatte, beugte er sich zu ihr hinunter und versuchte, den Puls der Halsschlagader zu fühlen. Doch da war kein Pochen zu spüren. Seine Chefin war tot. Und es schien kein Unfall zu sein.

Er sah auf und sah erst jetzt Anna Krämer, die sich an ihrem Putzwagen festhielt. Sie war leichenblass.

»Soll ich dir ein Glas Wasser holen, du siehst nicht gut aus.« Bevor sie etwas sagen konnte, ging er zum Waschbecken, das sich rechts hinter dem Schreibtisch befand, öffnete den kleinen Schrank daneben, nahm ein Glas heraus, füllte es am Wasserhahn und reichte es Anna. Diese trank das Wasser in tiefen Zügen.

»Komm nach vorn ins Büro und setz dich«, sagte der Angestellte zu Anna. »Ich rufe gleich die Polizei an.« Und das tat er.

1. Teil

1. Kapitel

Iris Gruber schloss die Hintertür zur Physiotherapiepraxis und ging ins obere Stockwerk, wo die Wohnung lag, die sie mit ihrer Lebensgefährtin Almut König teilte.

Als Iris die Wohnung betrat, war Almut schon in der Küche zugange, um das Abendbrot zuzubereiten. Die Praxis hatte bis neunzehn Uhr geöffnet, waren doch viele ihrer Patienten berufstätig und konnten tagsüber nicht zur Behandlung kommen. Iris hatte den letzten Patienten dieses Tages behandelt.

Sie begann den Tisch zu decken, stellte Teller auf den Tisch und legte Besteck auf, holte Butter, diverse Wurstsorten und Käse aus dem Kühlschrank. Almut brachte den Salat und sie begannen zu essen. Das verlief meist schweigsam, weil beide sich intensiv auf das Essen konzentrierten. Als das Essen beendet war, sagte Iris: »Ich wollte da noch was mit dir besprechen.« Sie stockte.

»Ja, um was geht es denn?« Almut hob den Kopf.

»Ich wollte so ungefähr eine Woche Pause einlegen …«

»Von was Pause einlegen?«

»Na ja, von der Arbeit.«

Almut schaute Iris erstaunt an. »Pause von der Arbeit einlegen. Wie stellst du dir das vor?«

»Nun, ich dachte, wo wir jetzt doch Corinna haben. Sie ist eingearbeitet, macht ihre Sache recht gut, sie kann für eine Woche einige Fälle von mir übernehmen.« Corinna war eine Physiotherapeutin, die seit einiger Zeit bei ihnen als Angestellte arbeitete. Die Praxis führten Almut und Iris gemeinsam als Geschäftspartnerinnen.

Almut kniff den Mund zusammen. »Was hast du überhaupt vor?«

»Ich will meinen Vater in Marburg besuchen.«

Almut riss die Augen auf. »Ihn besuchen? Ich dachte, das sei mit ihm eine total verfahrene Kiste.«

»Genau deswegen ja. Ich will versuchen, mit ihm einiges zu klären. Das Verhältnis zu meinem Vater belastet mich auf Dauer zu sehr.«

Almut seufzte. Sie strich eine Strähne ihrer roten Haare aus der Stirn. Tja, sie kannte die Geschichte. Iris Mutter war vor acht Jahren an Brustkrebs gestorben. Die damals achtzehnjährige Iris hatte ihre Mutter allein während des Sterbeprozesses begleitet. Ihr Vater war mit der Situation nicht zurechtgekommen und stürzte sich in seine Arbeit. Er war als Kriminalbeamter tätig, an seiner Arbeitsstelle gab es immer viel zu tun.

Iris überfordert mit der Situation, holte sich Hilfe bei der Anneliese-Pohl-Stiftung, der Krebsberatungsstelle in Marburg. Sie führte dort Gespräche mit einer Psychologin, was ihr half. Iris war damals gerade mit der Schule fertig geworden, ihre Leistungen verschlechterten sich erheblich. Sie legte nur ein durchschnittliches Abitur hin. Da war es natürlich nichts mit dem geplanten Medizinstudium. Das Ende vom Lied sah so aus, dass Iris eine Ausbildung zur Physiotherapeutin an einer Fachschule in Leer machte. Sie wollte unbedingt von ihrem Vater fort, deshalb der Umzug in den Norden nach Leer. Sie war nach der Ausbildung nach Wilhelmshaven gezogen und nahm dort eine Stelle als Physiotherapeutin in einer Praxis an. Hier lernten sich Iris und Almut kennen.

Mit ihrem Vater telefonierte Iris vielleicht drei- bis viermal im Jahr und besuchte ihn zu Weihnachten. So war es bis heute geblieben. Deshalb war Almut überrascht, dass Iris ihren Vater besuchen wollte.

Wenn Iris jetzt in der Praxis ausfiel, war es schwierig, die zurzeit anfallenden Termine der Patienten aufrecht zu erhalten. Wenn Iris mit ihrem Besuch noch etwas wartete, würde es gehen.

Almut hatte vor drei Jahren ein Wohnhaus und einiges an Geld von einer Tante geerbt. Sie hatte das Wohnhaus umbauen lassen. Im Untergeschoss befand sich die Physiotherapiepraxis und im Obergeschoss lebte Almut mit ihrer Lebensgefährtin Iris.

»Dein Vater wird überrascht sein. Meinst du, er wird mit einem längeren Besuch einverstanden sein?«

»Natürlich wird er überrascht sein. Er wird sicher erst abwehren. Er wird erzählen, dass er keine Zeit wegen eines wichtigen Falls hat. Mir ist das egal. Ich lasse mich nicht abwimmeln.«

Almut kniff die Lippen zusammen. »Dir ist das wirklich wichtig, das sehe ich. Plane mal, dass du in drei Wochen fahren kannst. Ich denke, bis dahin haben wir das so weit gemanagt, dass die Praxis ohne dich laufen wird. Wäre mein Vorschlag. Komm her, Schatz, lass dich umarmen.«

Sie stand auf, umarmte Iris, die ebenfalls aufgestanden war.

Almut sah die Angelegenheit mit Iris’ Vater eher skeptisch. Sie hatte ähnliche Erfahrungen mit ihrem Vater gemacht. Almut glaubte nicht wie Iris, dass die Distanz, die manche Väter zu ihren Kindern an den Tag legten, an deren Beruf lag. Sie waren bedingt durch ihre Tätigkeit eben abwesend, die Ehefrauen erledigten den großen Bereich, der mit Kindergarten und Schule zu tun hatte. Als Almut in den Kindergarten und in die Schule kam, war ihr Vater nicht dabei. Ihre Mutter hatte das alles auf die Reihe bringen müssen und war zugleich die engste Bezugsperson von Almut gewesen. Ihr Vater war Justizbeamter, hatte also sehr humane Arbeitszeiten, am Wochenende immer frei und kaum Zeit für Almut gehabt. Sie fühlte sich jedenfalls von ihrem Vater nicht geliebt, ging auf Distanz und lief seiner Liebe nicht hinterher. Sie wusste nicht mehr genau, wann das gewesen war. Wahrscheinlich war es ein schleichender Prozess gewesen, der irgendwann erledigt war. Der Bruch kam, als Almut sich vor ihren Eltern als lesbisch geoutet hatte. Ihr Vater reagierte aggressiv, beschimpfte sie. Sie würde Schande über die Familie bringen, er wolle sie nicht mehr im Haus haben. Ihre Mutter weinte nur. Wahrscheinlich war sie aber nur verzweifelt, weil ihr Mann so heftig reagierte. Wie Almut ihre Mutter einschätzte, konnte sie die sexuelle Ausrichtung ihrer Tochter akzeptieren, konnte das aber nicht äußern. Sie hätte sich nie gegen ihren Mann gestellt. Das war aber genau das, was Almut ihr vorwarf. Dass ihr Lesbischsein ihren Eltern nicht gefallen würde, war ihr klar gewesen, doch dass ihr Vater sie nicht mehr im Haus haben wollte, hätte sie nicht gedacht. Er blieb dabei. Und sie war ausgezogen. Mit der Ausbildung war sie fertig, sie war als Physiotherapeutin angestellt, konnte ihren Lebensunterhalt allein bestreiten. Später kam die Erbschaft von Tante Luise dazu, das war natürlich der große Wurf gewesen. Da kannten Iris und sie sich aber schon. Almut hielt sich konsequent von ihrem Vater fern. Ab und zu traf sie sich mit ihrer Mutter in einem Café. Das durfte ihr Vater aber nicht wissen.

Die Situation mit Iris und ihrem Vater war anders gelagert, doch Almut hatte wenig Hoffnung, dass es gut laufen würde. Trotzdem war sie für den Besuch von Iris bei ihrem Vater. Er würde Klarheit bringen. Und darum ging es.

2. Kapitel

Herbert Gruber, seines Zeichens Hauptkommissar des Kommissariats für Gewaltdelikte der Polizeidirektion Marburg, saß am Lieblingsplatz im Wohnzimmer seiner Wohnung. Er hatte es sich in seinem alten Fernsehsessel bequem gemacht, schaute durch das Panoramafenster über seinen Garten auf die Lahn hinaus. Auf einem Beistelltisch stand ein Glas mit Rotwein, von dem sich Gruber nach Feierabend gern einen Schluck gönnte. Das diente ihm zur Entspannung nach seinen meist stressigen Arbeitstagen. Das half ihm tatsächlich am besten. Er hatte autogenes Training und progressive Muskelrelaxation durchgeführt. Der Grund des Versuchs, diverse Entspannungstechniken auszuprobieren, entsprang dem Hinweis seines Hausarztes, als der schlechte Leberwerte bei Gruber feststellte. Doch war er wieder zum Rotwein zurückgekehrt, da die Entspannungstechniken bei ihm nicht zur Beruhigung führten. Das war ihm wie Arbeit vorgekommen. Was den Rotwein betraf, hielt er sich an seine eigene Vorgabe, nur jeden zweiten Tag ein Glas zu trinken und am Wochenende abstinent zu leben. Dadurch hatten sich seine Werte tatsächlich verbessert.

Er trank einen Schluck Wein, griff dann zur Fernsehzeitung, um nach dem Programm zu schauen. Er sah abends gern fern. Diente auch der Entspannung. Am ehesten halfen da leichte Soaps. Er benötigte nichts Anspruchsvolles. Ansonsten las er gern historische Romane. Er konnte ganz darin versinken.

Bevor er sich in das Fernsehprogramm vertiefen konnte, läutete das Telefon. Er erhob sich aus dem Sessel, warf die Zeitung zurück auf den Beistelltisch und ging die drei Schritte zum Apparat, der neben dem Fernseher auf der Schrankwand stand.

»Ja, Gruber.«

»Hallo Papa, ich bin’s.« Die angenehme Altstimme seiner Tochter drang an sein Ohr.

»Das ist ja eine Überraschung. Mit dir hätte ich nicht gerechnet. Wir haben lange nicht mehr telefoniert.« Stimmte.

»Mit wem hättest du denn gerechnet?«

»Eigentlich hätte es nur einer der Kollegen sein können.«

»Du hast Freunde unter deinen Kollegen?« Iris Stimme klang erstaunt.

Welche Richtung nahm denn dieses Telefonat? Wollte seine Tochter ihn provozieren? Gruber wechselte den Telefonhörer zum anderen Ohr.

»Nein«, sagte er. »Wenn ein Kollege anruft, dann ist das dienstlich. Ich habe heute aber keinen Hintergrunddienst. Ich habe beim Läuten des Telefons nicht nachgedacht. Du weißt, dass ich keine Freunde habe.«

»Es hätte ja sein können, dass du dich geändert hast und geselliger geworden bist.«

»Ich komme mit mir allein zurecht.«

Iris hätte darauf eine passende Antwort gewusst, doch sie wollte nicht, dass das Gespräch so weiterging. Sie hatte es schlecht angefangen. Es war besser, direkt zu ihrem Anliegen zu kommen.

»Papa, hör zu. Ich habe ein paar Tage frei und würde dich gern besuchen. Wir haben ja nicht so viel voneinander. Das wäre mal eine gute Gelegenheit …«

»Kannst du denn so einfach freimachen? Habt ihr in eurer Praxis nichts zu tun?«

»Doch die Praxis läuft gut. Ich muss hier einfach mal raus. Wir haben seit Neustem eine Angestellte. Sie und Almut können meine Patienten übernehmen.«

Ja, Almut, die Lebensgefährtin von Iris. Erst als seine Tochter nach Wilhelmshaven gezogen war, um dort ihre Ausbildung zu machen, hatte sie ihm gesagt, dass sie lesbisch sei. Er hatte das nie vermutet. Seine Tochter hatte mit siebzehn einen Freund gehabt, doch war diese Beziehung relativ schnell in die Brüche gegangen. Warum, erfuhren seine Frau und er nie. Danach gab es keinen Freund mehr. Er nahm an, dass sich einfach nichts mehr ergeben hatte. Doch bereitete ihm die sexuelle Ausrichtung seiner Tochter keine Probleme. Wichtig für ihn war, dass sie jemanden gefunden hatte, den sie liebte und von dem sie geliebt wurde. Und mit dem oder der sie in einer Partnerschaft leben konnte.

Gruber zögerte. Besuch von seiner Tochter? Das war jetzt neu. Sie kam sonst nur zu Weihnachten. Sie telefonierten sonst ab und zu zusammen und das war’s. War zwar nicht so befriedigend, aber das war halt so. Ja, wenn Erika noch leben würde, dann wäre das anders. Dann hätten sie ihre Tochter schon längst besucht, besonders um ihre Partnerin kennenzulernen. Erika hatte sich um solche Dinge gekümmert. Hielt Familie und Freunde zusammen. Er verlor nach dem Tod seiner Frau alle Kontakte. Zu Freunden und Verwandten.

»Äh, es wäre schön, wenn wir uns sehen könnten. Doch ich habe momentan an einem schwierigen Fall zu arbeiten. Ich hätte nicht viel Zeit für dich …«

»Das weiß ich doch. Du hast immer an einem schwierigen Fall zu arbeiten. Das ist nichts Neues. Da habe ich mich schon drauf eingestellt. Ich kann dir, solange ich da bin, den Haushalt führen. Wenn du nach Hause kommst, ist das Essen fertig, die Wohnung sauber und die Wäsche gewaschen. Ist das denn nichts?« Iris hatte ihrer Stimme einen verlockenden Klang gegeben.

»Mir wird die Zeit nicht lang werden. Ich will auch Tante Christine besuchen. Günther hat mir vor einiger Zeit mal übers Handy mitgeteilt, wie es ihr geht. Sie verlässt das Haus nicht mehr. Sie könnte das zwar mit ihrem Rollator, aber sie will nicht. Du hast sie sicher nicht besuchen können?« Iris versuchte ihrer Stimme keinen anklagenden Ton zu geben.

»Ich habe keine Zeit, deine Tante Christine zu besuchen. Die Arbeit.«

»Ja, ist schon gut. Wie gesagt, ich schau dann mal nach ihr«.

Gruber dachte kurz nach. Er sollte sich nicht so sträuben. Wenn er so weitermachte, würde er noch zum Eigenbrötler, wenn er es nicht schon war. Es wäre mal schön, es wäre jemand da, wenn er von der Arbeit nach Hause käme. Kontakte hatte er wirklich nur an der Arbeit. Iris sollte ruhig kommen.

»Also gut«, sagte er. »Wenn es dir wirklich nichts ausmacht, die meiste Zeit zu Hause allein zu sein, dann komm. Ich freue mich.« Als er es sagte, wusste er, dass es die Wahrheit war.

Iris lachte froh. »Ich freu mich auch. Gut, ich komme dann am nächsten Sonntag. Ich teil dir noch mit, um welche Uhrzeit.«

»Bis dann.« Er legte auf.

Iris stellte das Telefon in die Basisstation. Sie ging in die Küche und setzte sich an den stabilen Eichenholztisch, den sie in einem Secondhandladen gekauft hatte. Aus der Porzellankanne, die auf einem Stövchen stand, schenkte sie sich einen Tee ein, nicht ohne vorher die Kluntjes in die Tasse getan zu haben. Dann gab sie die Milch dazu. Ihr gefiel dieses Ritual. Sie genoss den Tee in kleinen Schlucken.

Das hatte besser geklappt, als sie angenommen hatte. Sie hatte gedacht, ihr Vater würde sich widerspenstiger zeigen. Wer weiß, vielleicht hatte er mittlerweile das Bedürfnis nach mehr Nähe zu ihr. Für sie stand jedenfalls fest, dass sich das Verhältnis zu ihrem Vater ändern musste. Wenn der Kontakt sich weiterhin auf die seltenen Telefongespräche beschränkte, konnte man es gleich lassen.

Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sich ihr Vater immer mehr von Iris distanziert. Sie hatte es dann bei ihrem Vater nicht mehr ausgehalten. Deshalb die Flucht in die Ausbildung zur Physiotherapeutin nach Wilhelmshaven. Möglichst weit weg, dachte sie damals, und hatte es auch getan. Der Tod der Mutter war inzwischen sechs Jahre her. Sie war damals achtzehn Jahre alt und lebte bei ihren Eltern. Ihr Vater ließ sie mit der sterbenden Mutter allein. Er kam mit ihrem Siechtum nicht klar. Iris ebenfalls nicht, doch war sie nicht weggelaufen, wie ihr Vater es tat. Sie stellte sich der Situation. Ihr Vater stürzte sich in die Arbeit und war, wenn er zu Hause war, nur körperlich anwesend. Sie pflegte die Mutter, sprach, weinte und trauerte mit ihr. Ihr Vater überließ alles ihr. Selbst als die Mutter starb, kümmerte sich Iris um den Bestatter, um den Sarg und um den Gang auf die Ämter. Ihr Vater sagte zu allem ja und amen und ließ sie machen. Der Tod seiner Frau schien kein Thema für ihn zu sein. Er schwieg.

Iris musste wegziehen. Es ging nicht anders. Doch hatte das die Situation mit ihrem Vater zementiert. Das sollte nun anders werden.

Wenn sie recht überlegte, war ihr Vater schon immer weg gewesen. Er machte oft am Wochenende Dienst, wenn ein akuter Fall anstand. Es gab selten gemeinsame Unternehmungen. Iris konnte sich zwar an einige erinnern, wahrscheinlich weil sie so selten waren. Da waren ein paar Ausflüge an den nah gelegenen Edersee gewesen oder mal an die Mosel und an den Rhein. Aber trotzdem war ihr Vater nie so recht erreichbar gewesen. Ihre Mutter schien das akzeptiert zu haben. Aber wahrscheinlich nahm sie das so hin, wie Iris es auch hinnehmen musste. Trotz allem erinnerte sich Iris gern an die Ausflüge, war ihr Vater da deutlich entspannter als an normalen Tagen. Es lag wohl an seiner Arbeit. Von morgens bis abends mit Mord und Totschlag zu tun zu haben, war sicher nicht leicht zu ertragen. Sie hoffte, dass ihr Besuch bei ihm Besserung bringen würde. Wenn das nicht der Fall war, dann war es eben so, aber sie musste es wenigsten versuchen. Später würde sie sich sonst sicher Vorwürfe machen, dass sie nicht versucht hatte, die Situation zu ändern.

3. Kapitel

Gruber holte seine Tochter am Sonntagabend um zwanzig Uhr dreißig am Hauptbahnhof in Marburg ab. Als sie aus dem Zug stieg, schaute er sie erstaunt an. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie eine flotte Kurzhaarfrisur gehabt, die sie jugendlich sportlich wirken ließ. Ihre Haare waren nun deutlich länger, sie hatte sie zu einem Zopf gebunden. Dadurch lagen ihre Haare eng am Kopf an. Das gab ihr ein strenges Aussehen. Sie trug ein beigefarbenes T-Shirt, hellrote Jeans und weiße Turnschuhe. Das gab der Strenge eine milde Note. Gruber umarmte seine Tochter etwas linkisch, sie umarmte ihn fest. Gruber ergriff ihren fahrbaren Koffer und sie gingen zu seinem Wagen, den er vor dem Bahnhof geparkt hatte. Fünfzehn Minuten später waren sie in seiner Wohnung. Er zeigte ihr das Gästezimmer, das noch nie einen Gast beherbergt hatte. Gruber hatte die Eigentumswohnung erst lange nach dem Tod seiner Frau gekauft. Das vorher bewohnte gemeinsame Haus verkaufte er. Es war ihm schwergefallen dort auszuziehen.

Iris räumte in Ruhe ihre Sachen in die Schränke, dann zeigte ihr Vater ihr die Wohnung. »Die Wohnung ist wirklich schön«, sagte Iris nach der Besichtigung. Genau das Richtige für eine Person. Iris kannte die Wohnung noch nicht. Gruber besaß sie erst seit kurzer Zeit. »Und du kommst zurecht?«

»Ich muss ja. Zu Beginn ist es mir schwergefallen. Plötzlich so allein nach deinem Auszug. Mittlerweile habe ich mich an das Alleinsein gewöhnt. Doch nimmt die Arbeit einen großen Platz in meinem Leben ein, daher komme ich klar. Auch nach Feierabend geht mir noch viel im Kopf herum, was die anliegenden Kriminalfälle betrifft.«

Iris nickte. »Ich kann mir das vorstellen. Das war früher schon so.«

Gruber schwieg.

»Und du hast keinen Bekannten, mit dem du dich mal triffst, kein Hobby, das du betreibst?«

Gruber überlegte. »Freunde oder Bekannte habe ich nicht. Ich lese gern. Aber sag, soll das ein Verhör werden? Erzähl mal, wie es dir so geht.«