Verliebt in einen Lord - Regency Lovers 3 - Mary Spencer - E-Book
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Verliebt in einen Lord - Regency Lovers 3 E-Book

Mary Spencer

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Beschreibung

Große Gefühle trotzen allen Schicksalsstürmen: Der historische Romantik-Roman »Verliebt in einen Lord« von Mary Spencer jetzt als eBook bei dotbooks. England, 1818. Er hat sie belogen, er hat ihr gemeinsames Vermögen verspielt und sich dann aus dem Staub gemacht – aber trotzdem kann die schöne Diana Walker sich ihren Mann Lad, den Earl von Kerlain, einfach nicht aus dem Herzen reißen. Und nun scheint es plötzlich so, als würde er zu ihr zurückkehren wollen. Doch was hat Lad in den letzten drei Jahren getrieben? Woher stammt das Vermögen, das er inzwischen sein Eigen nennt … und vor allem: Kann Diana ihm wirklich jemals wieder vertrauen, auch wenn sich alles in ihr danach sehnt, wieder in seinen starken Armen zu liegen? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Regency-Roman »Verliebt in einen Lord« von Mary Spencer ist der dritte Teil der Regency-Lovers-Reihe, der auch unabhängig von den anderen gelesen werden kann. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 593

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Über dieses Buch:

England, 1818. Er hat sie belogen, er hat ihr gemeinsames Vermögen verspielt und sich dann aus dem Staub gemacht – aber trotzdem kann die schöne Diana Walker sich ihren Mann Lad, den Earl von Kerlain, einfach nicht aus dem Herzen reißen. Und nun scheint es plötzlich so, als würde er zu ihr zurückkehren wollen. Doch was hat Lad in den letzten drei Jahren getrieben? Woher stammt das Vermögen, das er inzwischen sein Eigen nennt … und vor allem: Kann Diana ihm wirklich jemals wieder vertrauen, auch wenn sich alles in ihr danach sehnt, wieder in seinen starken Armen zu liegen?

Über die Autorin:

Mary Spencer, auch bekannt unter dem Namen Susan Spencer Paul, wollte seit ihrer Schulzeit Schriftstellerin werden. Zehn Jahre später gelang ihr der Durchbruch mit ihrem ersten historischen Liebesroman. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren drei Töchtern in Los Angeles.

Von Mary Spencer erscheinen bei dotbooks auch:

»Verliebt in einen Viscount«

»Verliebt in einen Earl«

»In den Händen des Ritters«

***

eBook-Neuausgabe Juli 2021

Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals 2000 unter dem Originaltitel »Devil’s Wager« bei Dell Publishing, New York. Die deutsche Erstausgabe erschien 2000 unter dem Titel »Flammen der Sehnsucht« bei Lübbe.

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2000 by Mary Spencer Liming

Published by Arrangement with Mary Susan Liming

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2000 Bastei Lübbe AG, Köln

Copyright © der Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Mariabo 2015; AdobeStock/Anatoly und Periodimages

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-96655-626-2

***

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***

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Mary Spencer

Verliebt in einen Lord

Regency-Roman

Aus dem Amerikanischen von Britta Evert

dotbooks.

Prolog

England, Juni 1818

Wie leicht ein Traum zu einem Alptraum werden konnte, selbst ein Traum, der schon längst keinen Anspruch mehr auf Glück verhieß!

Diana.

Sie hörte, wie er ihren Namen sagte, und tadelte sich für ihre Dummheit. Seit drei Jahren war er fort, und noch immer verfolgte er sie. Aber sie hatte genug davon, sich zum Narren halten zu lassen, und sie hatte genug von ihm.

Schlief sie? Diana bewegte sich mühsam und fühlte dabei einen heftigen Schmerz in Schultern und Rücken. Anscheinend war sie im Sessel eingeschlafen, stellte sie schlaftrunken fest und stöhnte vor unterdrücktem Ärger leise auf. Sie war felsenfest entschlossen gewesen, wach zu bleiben, jeden kostbaren Augenblick ihrer letzten Nacht auf Kerlain bewußt auszukosten und den Sonnenaufgang zu erleben, der das Ende all dessen bedeutete, was sie gekannt und geliebt hatte, und das Ende ihrer Freiheit an sich.

»Diana.«

Diese Stimme, dieser Tonfall … Sie empfand vage Gereiztheit, daß er so zornig klang. Er hatte nicht das Recht, wegen irgend etwas zornig zu sein, nicht nach dem, was er getan hatte.

Mit großer Mühe öffnete sie die Augen und schaute blinzelnd in den dunklen Raum. Sie fühlte sich betäubt, erschöpft, so bleiern und müde, daß sie nicht in der Lage war, ihre Glieder zu bewegen. Ihre Lippen teilten sich, sie machte einen tiefen, beruhigenden Atemzug, stieß den Atem langsam aus und ließ ihre Lider wieder zufallen.

»Dornröschen, was?« Jetzt klang er belustigt. Sie hörte Schritte, die sich dem Sessel näherten, und versuchte krampfhaft, die Augen wieder aufzuschlagen. Kalte Fingerspitzen strichen leicht über ihre Wange. »Dann muß ich wohl dein Märchenprinz sein.« Seine Stimme kam näher, als würde er sich über sie beugen. »Soll ich dich mit einem Kuß wecken?« fragte er leise.

»Nein«, murmelte sie und wandte das Gesicht ab, um sich seiner Berührung zu entziehen. Es konnte nicht er sein. Nicht jetzt, nachdem es zu spät war. Drei lange Jahre hatte sie auf seine Rückkehr gehofft, darum gebetet. Stundenlang hatte sie auf ihn gewartet und nach ihm Ausschau gehalten. Tage. Monate. Aus dem höchsten Fenster von Kerlain hatte sie gestarrt, um ihn kommen zu sehen, und sich eingeredet, er müsse jeden Moment eintreffen, wenn sie nur weiter hinausschaute.

»Nein?« wiederholte er. Er klang immer noch belustigt.

Wieder stöhnte sie und hob eine taube, bleischwere Hand, um sich die Augen zu reiben. Indem sie erneut tief einatmete, verscheuchte sie gewaltsam den letzten Rest Schlaf und zwang sich, wach zu werden. Einen Moment schwiegen sie beide, während Diana ihre umherschweifenden Gedanken sammelte und ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnte. Sie träumte nicht. Sie hatte Lads Stimme gehört.

Das Zimmer war dunkel, aber nicht so dunkel, um nicht die hochgewachsene Gestalt zu erkennen, die neben ihr stand. Diana setzte sich auf und hob den Kopf, um im nächsten Moment zurückzuschrecken. Die Stimme hatte sie getäuscht und sie glauben gemacht, der Earl sei zurückgekommen, aber alles andere an dem Mann war ihr fremd. Seine Haltung, seine Kleidung – alles. Das war nicht Lad. Kannte sie den Mann überhaupt, fragte sie sich und versuchte, in der Dunkelheit seine Gesichtszüge auszumachen. Nein, stellte sie erschrocken fest. Er war ein Fremder.

»Wer sind Sie?« fragte sie mit unsicherer Stimme. Wieder hob sie ihre Hand, um sich das Haar aus dem Gesicht zu streichen. »Wie können Sie es wagen, mein Schlafzimmer zu betreten?«

»Ganz leicht«, erwiderte er ruhig. »Bleib, wo du bist.« Er trat von dem Sessel zurück.

Diana sprang auf, mittlerweile hellwach und aufs äußerste angespannt. Ein lauter Schrei, und von allen Seiten würden Dienstboten gelaufen kommen, aber ihr wäre es lieber gewesen, der Fremde würde gehen, ohne eine Szene zu provozieren, die jeden im Schloß aus dem Schlaf schrecken würde – vor allem in dieser Nacht. Sie schlang ihren Morgenmantel enger um sich und fragte: »Wie sind Sie ins Schloß gekommen?« Weder Swithin noch einer der Lakaien hätte einen Fremden zu dieser späten Stunde über die Schwelle gelassen. »Was wollen Sie hier?«

Er stand mit dem Rücken zu ihr und schlug an einer Zunderbüchse Feuer, um eine Kerze anzuzünden. Die Kerze flammte auf, und im Licht, das auf seine breiten Schultern und seinen gut geformten Kopf fiel, sah Diana Haare in der Farbe von Gold – ein Goldton, den sie nur ein einziges Mal in ihrem Leben gesehen hatte, an einem einzigen Menschen. Ihre Augen weiteten sich bei dem Anblick, und sie murmelte ungläubig: »Lad?«

Die Kerze in der Hand, drehte er sich zu ihr um.

»Weißt du jetzt, wer ich bin, Diana?«

Sie starrte ihn lange schweigend an und schüttelte dann langsam den Kopf.

»Nein«, wisperte sie.

Seine grünen Augen sahen sie ernst und prüfend an.

»Ich habe mich sehr verändert, seit wir uns zum letztenmal gesehen haben, Lady Kerlain«, sagte er. Sein Tonfall war kultiviert und geschliffen, ganz so, als wäre er in England geboren und aufgewachsen, nicht in Tennessee, »aber ich denke, das wird Ihnen willkommen sein. Ich habe den Namen und den Titel, den Sie mir so hartnäckig aufgedrängt haben, voll und ganz übernommen. Sie leugnen nicht zu wissen, wer ich bin?«

Sie hatte seinetwegen so viele Tränen vergossen, daß sie geglaubt hatte, es wären keine mehr übrig, aber das war ein Irrtum gewesen. Der Kummer, der in den vergangenen drei Jahren ihr ständiger Begleiter gewesen war, war nichts im Vergleich zu dem, den sie jetzt empfand. Tränen brannten unter ihren Lidern, und Diana machte nicht den Versuch, sie zurückzuhalten. Selbst seine Stimme hatte sich verändert. Diese Stimme, die früher einmal träge und weich wie warmer Honig gewesen war, klang nun so knapp, untadelig und kalt wie die eines jeden x-beliebigen englischen Aristokraten. Allein aus diesem Grund hätte sie weinen mögen, aber so viel mehr von ihm war verlorengegangen!

»Nein«, murmelte sie. »Ich weiß, wer du bist.«

Sie betrachtete ihn vom Scheitel seines makellos frisierten Kopfs über die gesamte Länge seiner modisch eleganten Kleidung bis zu den Spitzen seiner auf Hochglanz polierten hessischen Stulpenstiefel, die sogar im Kerzenlicht glänzten. Er war jeder Zoll ein Edelmann, in seiner Haltung, in seinen Manieren, in der leicht gelangweilten Miene auf seinem unendlich anziehenden Gesicht. Diana hatte in den Londoner Zeitungen viel über den Earl of Kerlain gelesen und wußte, daß er als einer der vollendetsten und am meisten bewunderten Gentlemen der Stadt galt. Die Frauen liefen ihm nach, die Männer versuchten, seine Art, sich zu kleiden, zu kopieren, und er war ein willkommener Gast auf den Bällen und Empfängen der guten Gesellschaft.

Er musterte sie ebenfalls, aus abschätzend zusammengekniffenen Augen.

»Sie sehen gut aus, Mylady. Meine Abwesenheit scheint offensichtlich ohne Bedeutung gewesen zu sein. Ich könnte mir vorstellen, daß dieser Umstand Viscount Carden zu verdanken ist.« Er warf einen anzüglichen Blick auf die gepackten Koffer, die neben der Tür standen. »Wie es scheint, warst du dir ganz sicher, daß ich nicht zurückkehren würde. Oder vielleicht konntest du es kaum noch erwarten, dich auf den Besitz deines Liebhabers zu flüchten. Aber nein«, verbesserte er sich, bevor sie etwas erwidern konnte, »das würde dir nicht ähnlich sehen, nicht wahr, Diana? Du würdest Kerlain nie aus freien Stücken verlassen, oder? Kerlain bedeutet dir alles, und kein Mann kann sich je daran messen. Nicht einmal dein lieber Viscount.«

»Kaum ein Wort«, sagte sie, während sie ihn immer noch fassungslos anstarrte. »Zwei, drei kurze Mitteilungen in drei Jahren, mehr nicht. Ich dachte, du hättest … du würdest nicht zurückkommen.«

»Wirklich?« fragte er. »Nun, es war tatsächlich nicht viel zu hören – von dir, so sehr ich auch darauf hoffte. Aber diese Angelegenheit ist zu kompliziert, um jetzt gleich geklärt zu werden. Ich habe die Bedingungen erfüllt, die du mir diktiert hast, Diana, um meine zahlreichen Sünden abzubüßen. Jetzt bin ich wieder da – um zu beanspruchen, was mir rechtmäßig zusteht.«

Er trat vor, schob eine makellos manikürte Hand in seine Jacke und zog ein gefaltetes Dokument hervor.

»Drei Jahre habe ich damit verbracht, das hier für dich aufzutreiben«, erklärte er und legte das Dokument auf einen Tisch. »Eine Gutschrift, ausgestellt auf Viscount Carden, teure Gemahlin, in der Höhe der Summe, die du genannt hast. Bis auf den letzten Farthing.«

Diana erinnerte sich an die Summe, die sie in jener Nacht des Zorns und der Qual vor drei Jahren genannt hatte. Es war eine unvorstellbare Menge Geld gewesen, mehr als ein Mann sich erträumen konnte, in seinem ganzen Leben zusammenzutragen, geschweige denn in drei Jahren. Sie hatte gewußt, daß es ihm nie gelingen würde, diese Forderung zu erfüllen, und doch hatte es keinen anderen Weg gegeben. Er war es gewesen, der ihrer beider Leben in einen Abgrund gestoßen hatte; sie hatte getan, was notwendig war, um sie dort wieder herauszuholen.

»Du hattest viele reiche Geliebte«, murmelte sie. Es überraschte sie selbst, die Worte von ihren Lippen kommen zu hören. Jetzt wußte er, daß sie ihn im Auge behalten hatte, daß sie die Londoner Zeitungen gelesen hatte, um festzustellen, wo er war, was er machte und mit wem er es machte. Der ach so beliebte Earl of Kerlain hatte in den letzten drei Jahren ein Leben des Müßiggangs und der Zerstreuung geführt, während seine Leute ums Überleben hatten kämpfen müssen. »So erfüllst du also die Forderungen, die an dich gestellt wurden? Das bringst du mir nach all deinen Sünden – eine Beleidigung?« Wut stieg in Diana auf und gab ihr Kraft. Drei Jahre lang hatte er gespielt und getändelt, während sie vor Sehnsucht nach ihm tausend Tode gestorben war.

»Ich bringe, was du von mir verlangt hast«, erwiderte er ruhig. »Drei Jahre meines Lebens habe ich dafür gegeben. Jetzt wirst du deinen Teil der Abmachung einhalten, Diana.«

»Meinen Teil …?« Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn richtig verstand. Er konnte doch nicht meinen … Nicht jetzt, da er gerade als völlig Fremder zurückgekehrt war.

Er nickte und griff mit einer Hand nach seinem Halstuch, um es zu lösen.

»Drei Jahre ohne Frau – das ist eine lange Zeit für einen Mann, und bei Gott, ich habe nicht die Absicht, noch eine einzige Nacht oder auch nur eine weitere Stunde auf meine Frau zu verzichten.«

Sie starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren.

»Ich werde heute nacht nicht das Bett mit dir teilen!« verkündete sie zornig. »Nicht nach all dem, was du getan hast … nach deiner Treulosigkeit!«

Er stieß ein bitteres, freudloses Lachen aus, während er seine Jacke von den Schultern streifte und achtlos beiseite warf.

»Meine Treulosigkeit oder das, was du dafür hältst, war mit Sicherheit bei weitem nicht so schlimm wie deine, Diana Kerlain. Ich wäre an deiner Stelle nicht allzu zart besaitet, was die Vergangenheit betrifft, denn ich kann dir versichern, daß ich keinen Gedanken an deine Liaison mit Viscount Carden verschwenden werde – die hiermit beendet ist.« Mit langsamen, entschlossenen Schritten näherte er sich Diana. Sie wich zurück. »Ich werde dafür sorgen, daß du keinen Grund mehr hast, dich wegen deiner Bedürfnisse an andere Männer zu wenden. Wegen keines deiner Bedürfnisse.«

Diana taumelte zurück. »Es gibt nichts, dessen ich mich schämen müßte, schon gar nichts mit Eoghan Patterson.«

»Es ist bedeutungslos, wie ich gerade sagte. Es ist alles Vergangenheit. Komm, Diana.« Er blieb stehen und streckte eine Hand nach ihr aus. »Ich will dich, so oder so, wie es mir rechtmäßig zusteht. Komm aus freiem Willen zu mir. Ich möchte dich nicht zwingen, mit mir zu schlafen.«

»Das kann ich mir denken«, erwiderte sie kühl. »Deine eigene Frau zu vergewaltigen, muß nach all deinen Abenteuern in London eine bemerkenswert langweilige Erfahrung sein. Es erstaunt mich, daß Sie überhaupt nach Kerlain zurückgekehrt sind, Mylord.«

»Ich bin der Earl of Kerlain«, entgegnete er nur. »Und dein Mann.«

Sie musterte ihn mit unverhohlener Verachtung. »Diese beiden Titel magst du für dich beanspruchen dürfen, aber Lad Walker bist du nicht mehr. Du bist in nichts mehr der Mann, der Kerlain vor drei Jahren verlassen hat.«

»Nein«, stimmte er ihr zu, die Hand noch immer nach ihr ausgestreckt. »Das bin ich nicht. Ich bin der Mann, den du aus mir machen wolltest. Der Earl of Kerlain.«

»Ein Fremder«, flüsterte sie. »Ich habe gebetet, daß Lad zu mir zurückkommen würde.«

»Er existiert nicht mehr, Diana.« Er trat einen Schritt näher. »Jetzt wirst du dich mit mir begnügen müssen. Komm.«

Sie schüttelte stumm den Kopf.

Er seufzte und ließ seine Hand sinken.

»Dann muß ich dich holen«, erklärte er und ließ seinen Worten die Tat folgen.

Kapitel 1

England, Oktober 1814

Der Wind in dieser endlosen Nacht war es, den sie für immer in Erinnerung behalten würde, dachte Diana, als sie erschöpft die lange Treppenflucht hinaufstieg. Der Wind, der wild und ungehindert durch jede Ritze des brüchigen Mauerwerks von Schloß Kerlain pfiff, das düstere, alte Gemäuer mit seinem Heulen und Tosen zum Leben erweckte und das Holz knarren ließ, das zu altersschwach war, um etwas anderes zu tun, als unter dem gewaltigen Ansturm der Naturgewalten zu erzittern und zu beben. Ja, an den Wind würde sie sich erinnern. Es war ein kalter Wind, bitterkalt, der eisig durch ihre dünnen Kleider fuhr, als sie den Treppenabsatz überquerte, und sich über ihre Bemühungen, ihren verschlissenen Schal enger um sich zu ziehen, lustig zu machen schien.

Sie war müde – Gott im Himmel, unendlich müde. Ihr Körper schmerzte vor Müdigkeit, und ihr war schwindlig vor Erschöpfung, aber sie wußte, daß sie sich keine Ruhe gönnen durfte. Nicht, bis der Earl seinen Weg ins nächste Leben angetreten hatte. Sie hatte ihm versprochen, bis zuletzt nicht von seiner Seite zu weichen, und sie würde Wort halten, wie lange er sich auch noch an sein irdisches Dasein klammern mochte. Sie wachte bei ihm seit gestern nachmittag, seit sich sein Zustand verschlechtert und der Arzt ihr mitgeteilt hatte, daß man nichts mehr für ihn tun könne, außer ihm das Sterben zu erleichtern, so gut es ging. Seit diesem Moment hatte sie kein Auge mehr zugetan, genauso wie die Dienerschaft und auch die Leute von Kerlain, die sich alle unten in der Großen Halle eingefunden hatten. Niemand von ihnen wollte, daß der letzte Earl of Kerlain von ihnen ging, während sie schliefen. Aber jetzt würde es nicht mehr lange dauern, bis Kerlain seines Herrn beraubt war, denn seine Kräfte ließen zusehends nach, und das Ende war nahe. Dann erst konnten sie schlafen, um einen neuen Tag zu erleben, der zum erstenmal seit Hunderten von Jahren keinen Erben für die Ländereien und den Titel des stolzen Besitztums Kerlain sehen würde.

Maudie erwartete sie mit einer flackernden Kerze in der Hand vor der Schlafzimmertür des Earl. Ihre Miene und ihr Gebaren verrieten, wie unruhig sie war.

»Er verlangt nach Ihnen, Miss. Es dauert nicht mehr lange, fürchte ich. Sir Anthony wartet schon auf Ihre Rückkehr. Ganz aufgeregt ist er, weil doch der Doktor so unruhig ist und nur noch sorgenvoll den Kopf schüttelt. Meine Gott, daß es nun schon so lange geht! Das kann auch einen gesunden Menschen um den Verstand bringen. Mir ist das richtig unheimlich. Sogar Swithin ist aufgewühlt, und Sie wissen ja, daß ihn kaum etwas auf Gottes Erdboden erschüttern kann.«

»Es tut mir leid, daß es so lange gedauert hat, Maudie«, sagte Diana beschwichtigend. »Lord Kerlains Siegel war nicht dort, wo er es vermutet hatte, und ich mußte im Schreibtisch danach suchen. Hat Stuart Kohlen nachgelegt?«

Maudie nickte. »Ja, Miss. Da drinnen ist es warm wie in Samhains Feuer, aber ihn schüttelt es trotzdem vor Kälte. Oh, Miss, was soll nur aus uns werden, wenn er nicht mehr ist? Was soll aus Kerlain werden?«

»Genug«, sagte Diana streng. »Du darfst mir jetzt nicht zusammenbrechen, Maudie. Ich brauche dich zu sehr.« Sie streckte eine Hand aus und drückte beruhigend den Arm der älteren Frau, wobei sie zu ihrer Bestürzung feststellte, wie dünn und knochig er sich anfühlte. Gott im Himmel, sie waren alle knapp vor dem Verhungern! Dieses Wissen, neben all dem, was sich in der letzten Zeit durch die plötzliche Erkrankung des Earls ergeben hatte, senkte sich wie eine schwere Last auf ihre Schultern. »Alles wird gut«, sagte sie so überzeugend, wie es ihr möglich war, »selbst wenn wir Kerlain verlassen müssen. Ich verspreche dir, ich finde einen Weg.«

»Kerlain verlassen!« rief Maudie und erzitterte unter Dianas Berührung. »Oh, Miss! Sagen Sie nicht so etwas! Es ist undenkbar. O nein, niemals! Der Herr stehe uns bei!«

Diana verstand, wie erschrocken die alte Dienerin sein mußte. Maudie war auf Kerlain geboren, wie viele Generationen ihrer Familie. Es war alles, was sie in den sechzig Jahren ihres Lebens kennengelernt hatte, und dasselbe galt für die meisten Menschen auf Kerlain. Diana war eine der wenigen, die nicht hier zur Welt gekommen war, aber da sie seit ihrer frühesten Kindheit auf Kerlain lebte, war es alles, woran sie sich erinnern konnte, alles, was für sie Liebe und ein Zuhause bedeutete.

»Komm jetzt.« Diana richtete sich auf und verdrängte ihre eigenen Ängste. »Wir müssen zu meinem Vormund, und wir dürfen ihn keine Tränen sehen lassen. Ich will ihn nicht in Unruhe versetzen. Wir müssen ihm sein Ende so leicht wie möglich machen. Das sind wir ihm schuldig.«

Maudie wischte sich die Augen mit ihrem Schürzenzipfel und nickte. Als sie sprach, klang ihre Stimme wie immer: streng und tadelnd. »Jawohl, das müssen wir. Es steht ihm zu, und so soll es sein. Sie brauchen keine Angst zu haben, daß die alte Maudie je etwas anderes als ihre Pflicht tut, Miss.«

Diana lächelte sie warm an. »Das hast du immer getan, Maudie. Ohne dich hätte ich diese Nacht nicht überstanden.«

Sir Anthony, ein Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft, der außerdem das Amt des Sheriffs von Herefordshire innehatte, erhob sich aus seinem bequemen Sessel vor dem Feuer, als sie das Zimmer betraten. Die Erleichterung stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er Diana sah, aber sie hatte jetzt keine Zeit, sich um ihn zu kümmern. Sie trat an das große Bett mit den schweren Vorhängen, auf dem George Charles Nathaniel Walker, der letzte Earl of Kerlain ruhte, das Gesicht weiß, die Atemzüge flach und mühsam. Seine Gestalt wirkte unter den Decken so schmächtig wie die eines Kindes, und er zitterte, als hätte die Kälte, die den Rest von Schloß Kerlain beherrschte, auch sein Schlafzimmer erreicht, obwohl es nicht so war, denn das Feuer hatte in der vergangenen Woche während seiner Krankheit unablässig gebrannt, und in dem Raum war es fast unangenehm warm.

Doktor Rushford, der neben dem Bett saß, blickte mit grimmiger Miene auf. Swithin, seit über fünfzig Jahren Kammerdiener des Earls, stand dem Doktor zur Seite und half ihm mit stoischer Ruhe, so gut er konnte. Sein Gesichtsausdruck war, wie er immer gewesen war, als wäre ihm jede Form von Gefühlsregung fremd. Aber die herbe Linie seines Munds verriet, welcher Aufruhr in seinem Inneren tobte. Diana schenkte ihm ein ermutigendes Lächeln, als sie näher an das Bett trat, bevor sie ihre Aufmerksamkeit voll und ganz ihrem Patenonkel widmete.

Die Lider des Earl hoben sich ein wenig, als sie sich zu ihm ans Bett setzte.

»Diana?« Seine Stimme war ein gepreßtes Flüstern, und seine dünne, abgezehrte Hand tastete nach ihr.

Sie legte ihre Finger beruhigend auf seine. »Ich bin hier, lieber Onkel«, sagte sie sanft.

»Hast du es gefunden?«

»Ja. Ich habe alles, was Sie wünschen.«

Er versteifte sich und ballte seine Hand unter der ihren einen Moment lang zur Faust, als er versuchte, die Worte über seine Lippen zu bringen, obwohl es ihn große Mühe kostete.

»Das Dokument?«

»Es ist hier in meiner Hand. Soll ich es Sir Anthony geben?«

»Nein, du … Öffne es.« Er schloß die Augen und machte einen langen, unsicheren Atemzug. »Lies es.«

Sie tat wie geheißen, indem sie erst das Papier, und die Tinte und die anderen Gegenstände beiseite legte, um die ihr Vormund gebeten hatte, bevor sie das dicke, wachsartige Papier auseinanderfaltete.

»Es ist eine« – sie sah den Earl ungläubig an – »Heiratsurkunde?«

»Was? Heirat?« Sir Anthony kam näher und spähte über Dianas Schulter. »Bei Gott! So ist es!«

»Mein Sohn Charles …«, sagte der Earl schwach. »Charles’ Heirat.«

Diana hatte den Beweis vor Augen, und sie hörte die Worte des Earl, aber der Schock war so groß, daß ihr schwindlig wurde. Sie schüttelte den Kopf und murmelte: »Aber Sir, Sie haben mir – allen – immer erzählt, daß er und diese Amerikanerin nicht wirklich verheiratet seien. Sie hat so viele Briefe geschrieben …«

»Gelogen«, gestand der Earl. »Ich habe gelogen. Konnte den Gedanken … nicht ertragen … Charles und diese … Frau. Gott verzeih mir.«

Unzählige Erinnerungen stürmten auf Diana ein. Erinnerungen an den Earl, wie er über Charles gewettert hatte, den Sohn, den er enterbt und der daraufhin England verlassen hatte, um nach Amerika zu gehen. Er hatte sich in Tennessee eine Frau genommen, Elena, aber der Earl hatte behauptet, die Heirat sei ungültig, und hatte es abgelehnt, die beiden Söhne, die der Verbindung entsprungen waren, als legitime Walkers zu akzeptieren. Elena hatte dem Earl zahllose Briefe geschrieben, mit der Bitte, ihre Kinder als seine Enkel anzuerkennen, aber er war unbeugsam geblieben. Diana war seine einzige Erbin, eine Tatsache, die er kurz nach ihrer Geburt notariell festgehalten hatte. Kerlain würde eines Tages ihr gehören, und der Titel würde über sie an ihren erstgeborenen Sohn übergehen. Das hatte ihr der Earl zumindest immer gesagt, und das hatte sie geglaubt. Durch das Dokument, das sie in Händen hielt, änderte sich alles.

»Die Söhne«, murmelte sie. »Charles’ Söhne … der ältere Sohn wird der Earl of Kerlain sein.«

»Der Earl«, wiederholte Maudie vom Fußende des Betts in ehrfürchtigem Flüsterton. »Gott stehe uns bei.«

»Sie hätten es uns früher sagen müssen«, wandte Diana ein. »Wenn Sie es nur getan hätten – ich hätte ihm schreiben können.«

Ein Zittern durchlief den Körper des Earl, und wieder tastete er nach ihrer Hand. »Schreib … jetzt«, bat er, während er kraftlos ihre Hand drückte. Seine Finger waren eiskalt, und Diana schlang ihre Hand um die seine. »Sir Anthony … Zeuge. Dafür sorgen, daß alles seine Richtigkeit hat.«

»Das werde ich, George«, versprach Sir Anthony. »Du hast mein Ehrenwort darauf.«

»Sibbley hat … meine Instruktionen. Kerlain wird … dir gehören, Diana. Wie ich es dir versprochen habe. Lad, mein Enkel … er bekommt den Titel. Er wird der Earl sein. Sag Farrell und Colvaney, sie müssen … ihn respektieren. Den Earl of Kerlain … respektieren.« Er rang nach Atem, als bekäme er keine Luft mehr.

»Ich sage es ihnen«, versprach Diana schnell und beugte sich vor, um beruhigend über seine eisige Stirn zu streichen. »Sie müssen sich keine Sorgen machen, lieber Onkel.«

Ein Augenblick verstrich, und sein Atem ging gleichmäßiger. Er öffnete die Augen.

»Der Brief, Diana. Ich diktiere dir, was du … schreiben sollst.«

»Du darfst dich nicht zu sehr anstrengen.«

»Ich übernehme das gern für dich, George«, bot Sir Anthony an. »Du hast jetzt nicht die Kraft dazu.«

Ein Aufflackern von altem Trotz glomm in den Augen des Earls. »Ich tue es. Nach all den … Jahren ist es das einzige, was ich für … meinen Enkel tun kann. Schreib jetzt, Diana.«

Sie entsprach gehorsam seiner Bitte und setzte sich an den Tisch am Bett, auf dem sich Tinte und Papier befanden. Der Earl schloß die Augen und fing an zu sprechen, langsam und stockend. Er machte nur dann eine Pause, wenn er Atem holen mußte, und ignorierte das leise Raunen der Überraschung, das seine Worte bei den Anwesenden hervorriefen. Diana, die von allen am meisten überrascht war, bemühte sich, das Gefühl von Empörung und Schock im Zaum zu halten, das sie beim Schreiben des Briefes erfüllte. Er hätte ihr schon viel früher sagen sollen, was er geplant hatte. Es ihr auf diese Art beizubringen, zu einem so späten und unglücklichen Zeitpunkt, war der grausamste Schlag überhaupt, den er ihr hatte versetzen können.

Sie faltete das Papier zusammen, als sie fertig war, und schrieb nach seinen Anweisungen die Adresse, bevor sie ein wenig Wachs schmolz und auf die Faltstelle tropfen ließ. Mit Doktor Rushfords Hilfe gelang es dem Earl of Kerlain, sich lange genug aufzusetzen, um sein Siegel in das noch heiße Wachs zu drücken.

»Ihr seid meine Zeugen«, erklärte er und stöhnte bei der Anstrengung, die es ihn kostete, den Siegelring auf das Papier zu drücken. »Es ist vollbracht.«

Danach sah es so aus, als würde er das Bewußtsein verlieren, und Diana ließ beinahe den Brief zu Boden fallen, so sehr beeilte sie sich, ihm zu Hilfe zu eilen. Aber er kam nach einem Moment zu sich und lächelte sie, auf seine Kissen gestützt, auf eine Art und Weise an, die sie noch nie an ihm erlebt hatte. Er sah froh aus, fast erleichtert über das, was sie geklärt hatten, und alles, was Diana an Zorn und Auflehnung empfunden hatte, löste sich in Nichts auf.

»Sie müssen jetzt ruhen, lieber Onkel«, murmelte sie und strich ihm die dünnen weißen Haarsträhnen aus seinem Gesicht.

»Bald«, sagte er. »Sei mir nicht böse, mein Kind. Ich konnte dich nicht in all dem Verfall hier allein lassen.«

»Ich bin nicht böse«, antwortete sie leise. »Ich passe auf, daß Kerlain nicht zu Schaden kommt.«

»Das weiß ich.« Sein Lächeln wurde müde. »Du hast es immer so geliebt. Versprich mir eins …«

»Was?«

»Halt dich von Carden fern.«

»Von Eoghan?« Sie war überrascht. Ihr Vormund schien für Viscount Carden immer viel übrig gehabt zu haben. Eine Zeitlang hatte der Earl sogar von einer Heirat zwischen Diana und dem Herrn von Lising Park gesprochen, damit die benachbarten Besitztümer zusammenfielen, aber sie hatte über diese Idee immer gelacht. Eoghan war zu einem gutaussehenden, charmanten Mann herangewachsen, aber sie würde in ihm nie etwas anderes sehen können als den gerissenen, ziemlich anstrengenden Jungen, der in ihrer Kindheit ihr engster – ihr einziger – Spielgefährte gewesen war. »Er ist nur ein Freund, das wissen Sie doch. Von ihm ist nichts zu befürchten. Schon gar nicht jetzt, da er schon seit vielen Monaten den Kontinent bereist.«

»Er wird zurückkommen, wenn ich nicht mehr bin«, erwiderte der Earl. »Er will dich. Und Kerlain. Er hat es mir gesagt … hat mir gedroht, bevor er England verließ. Hat geschworen, er würde dich kriegen.«

Die lange Krankheit hatte den Verstand ihres Vormunds angegriffen, dachte Diana. Es war nicht das erste Mal, daß er von Gefahren sprach, die nicht existierten.

»Sie müssen ihn mißverstanden haben, Onkel«, versicherte sie. »Eoghan hat früher gern mit mir geflirtet, mehr nicht. Und jeder Mann in der Grafschaft will Kerlain, einschließlich Sir Anthony.« Sie lächelte den Mann an. »Aber ich werde es nie einem anderen überlassen.«

»Versprich mir, dich von Carden … fernzuhalten«, bat er eindringlich, obwohl ihm das Sprechen wieder große Mühe bereitete. »Laß nicht zu, daß er Kerlain … bekommt. Oder dich.«

»Nie«, versprach sie, um seine Sorgen zu zerstreuen. »Ich schwöre feierlich, daß Eoghan Patterson weder mich noch Kerlain jemals besitzen wird. Ich werde es für Sie und den künftigen Earl erhalten.«

»Gutes Mädchen«, antwortete er mit einem Seufzer und schloß die Augen. »Du bist so ein gutes Mädchen, Diana! Du hast mir so viel Freude geschenkt. Ich danke Gott für … den Tag, der dich hergeführt hat … zu mir.«

Sie küßte zärtlich und liebevoll seine Wange. »Ruhen Sie sich aus«, meinte sie leise. »Alles wird gut.« Sanft strich sie über seine Stirn. »Und seien Sie ganz beruhigt.«

Eine Stunde später ging Diana die Treppe hinunter, gefolgt von Sir Anthony. Das Stimmengemurmel unten in der großen Halle verstummte, als sie sich der Menschenmenge näherte, die sich dort eingefunden hatte. Hundertvierundfünfzig Gesichter blickten zu ihr auf, müde, angstvoll, wartend. Weitere zweiundzwanzig – hauptsächlich Kleinkinder und Babys – schlummerten, eingehüllt in die Tücher ihrer Mütter, in der Nähe eines der vier verbliebenen offenen Kamine, die von dem Dutzend Feuerstellen in der Halle noch imstande waren, ein wenig Wärme in den gewaltigen Raum zu bringen.

Sie waren alle hier, jede der vierundzwanzig Familien, die die Einwohnerschaft von Kerlain ausmachten. Mehr als die Hälfte von ihnen waren Colvaneys, der Rest bis auf ein, zwei Familien Farrells. Die beiden Clans bewirtschafteten seit Generationen die Ländereien von Kerlain und pflegten von jeher ein Verhältnis freundschaftlicher Rivalität. Wenn jedoch Gefahr drohte oder Probleme auftraten, hielten sie, vereint in ihrer Liebe zu diesem Land und ihrem Herrn, mit einer Inbrunst zusammen, wie sie Diana in ähnlicher Form noch nicht erlebt hatte.

Zwei Männer standen den beiden Clans vor, und man nannte sie – so seltsam es Diana auch fand, denn sie waren Waliser, nicht Schotten – ›Der Farrell‹ und ›Der Colvaney‹. Als Diana jetzt das Ende der Treppe erreichte, traten die beiden Patriarchen aus der kleinen Schar vor und gingen auf sie zu.

»Er ist von uns gegangen«, erklärte sie unumwunden, in diesem Augenblick zu betäubt von Erschöpfung, um das Leid und die Trauer, die am nächsten Tag kommen würden, schon zu spüren.

In der Halle wurde gedämpftes Geraune laut, das an der hohen Decke widerhallte. Die Männer zogen ihre Hüte und senkten die Blicke; die Frauen fingen leise an zu weinen, und die Kinder, die noch wach waren, schmiegten sich eng an ihre Eltern, mit großen, ängstlichen Augen.

»Dann ist es also endgültig«, sagte Der Colvaney niedergeschlagen. »Das Ende von Kerlain. Er war der Beste von allen, auf mein Wort.«

»Er war ein großartiger Herr«, stimmte Der Farrell zu und nickte. »Wir werden ihn nie vergessen. Ist es nicht so, Farrells?«

Der Farrell-Clan murmelte in unterschiedlichen Tonlagen, aber fest: »Aye.«

»Dasselbe gilt für die Colvaneys«, erklärte Der Colvaney, worauf die Colvaneys noch vernehmbarer ihre Zustimmung äußerten.

Wenn Diana nicht so müde gewesen wäre, hätte sie lächeln müssen. Selbst in dieser traurigen Stunde ging der freundliche Wettstreit weiter.

Sie richtete den Blick auf die Menschen, die sich hier versammelt hatten, auf die Sorge und die Furcht, die auf ihren Gesichtern lagen. Sie hatten ihren Herrn, den Earl, geliebt, so streng er auch gewesen war, aber er war dahingegangen, und mit ihm ihre stolze Geschichte. Sie war zu Ende, ebenso wie alle ihre Hoffnungen für die Zukunft. Zumindest glaubten sie das.

»Er ist in Frieden gestorben?« fragte Der Colvaney.

»Ja«, antwortete sie. »Im Schlaf. Sehr friedlich. Aber mehr als das, er hat auch uns Frieden geschenkt. Es gibt einen neuen Earl of Kerlain.«

»Was?« murmelte Der Farrell, während Der Colvaney fragte: »Ein neuer Earl?« Alle anderen schnappten nach Luft und redeten laut durcheinander.

»Sie sagt die Wahrheit«, teilte Sir Anthony ihnen mit. »Das kann ich bezeugen. Lord Kerlain hat uns selbst davon in Kenntnis gesetzt, bevor er entschlief.«

»Es gibt einen Enkelsohn – einen legitimen Enkelsohn«, fügte sie rasch hinzu, denn sie alle hatten von Charles Walkers vermeintlicher Eheschließung in Amerika und den beiden Söhnen gehört, die aus dieser Ehe hervorgegangen waren – Bastarde, wie sie immer geglaubt hatten. »Anscheinend hat Lord Charles tatsächlich geheiratet. Ich habe eine Kopie der Heiratsurkunde, um es zu beweisen.« Sie hielt das Dokument hoch, damit alle es sehen konnten. »Der ältere Sohn ist jetzt der rechtmäßige Earl of Kerlain.«

»Aber er ist Amerikaner, Miss«, bemerkte Der Farrell schockiert. »So einen können wir nicht als Earl dulden. Mein Gott, wir führen Krieg gegen Amerika. Er ist unser Feind.«

»Ich weiß, aber er ist alles, was uns geblieben ist«, antwortete Diana. »Wir werden ihn akzeptieren, wie es der Earl gewünscht hat, oder wir verlieren Kerlain. Hier ist ein Brief an ihn. Ich soll ihn nach Amerika schicken, in die Wildnis, die sich Tennessee nennt.« Sie hielt den Brief hoch in die Luft, damit an ihren Worten kein Zweifel bestehen konnte. »Von meiner Hand geschrieben, aber vom Earl diktiert, Wort für Wort«, versicherte sie erneut. Ihre Stimme hob sich, als unwilliges Murren laut wurde. »Sir Anthony kann es bezeugen, genauso wie Doktor Rushford und Swithin. Und Maudie Farrell. Ihr werdet doch nicht eine von euch als Lügnerin bezeichnen, oder, Farrells?«

Die Farrells verstummten.

»Oder ihr etwa, Colvaneys?« wandte sie sich an den anderen Clan. »Maudie Farrells Wort hatte in Kerlain immer Gewicht. Wollt ihr sie vor ihrem eigenen Clan verunglimpfen?«

Der Colvaney schüttelte den Kopf. »Nein. Maudie Farrells Name steht bei den Colvaneys in hohem Ansehen, und so wird es immer sein.«

»Und genauso bei den Farrells«, fügte Der Farrell scharf hinzu, wobei er dem anderen einen erzürnten Blick zuwarf.

»Dann gibt es dazu nichts mehr zu sagen«, erklärte Diana, während die beiden versammelten Parteien anfingen, einander anzugiften. »Der Earl hätte sich dafür entscheiden können, Schweigen zu bewahren und uns unserem Schicksal zu überlassen, aber er hielt es für den besseren Weg, uns einen neuen Earl zu geben, noch dazu einen echten Walker.«

»Wie heißt er denn?« wollte Der Farrell wissen. »Dieses feine Herrchen.«

»P. Lad Walker.« Diana sprach den Namen mit einem gewissen Unbehagen aus. Es schien ein merkwürdiger Name für einen erwachsenen Mann zu sein, insbesondere für den neuen Earl of Kerlain.

»P. Lad Walker?« wiederholte Der Colvaney. »Was für ein Name ist das für einen Mann? P. Lad?« Leises Gelächter war zu hören und noch mehr Geraune. »Und wofür soll das ›P‹ stehen, Miss? Für Peter? Für Paul?« Er lachte laut. »Ein braver Jünger wird unser neuer kleiner Lord sein.«

Dianas Müdigkeit nahm ihr ihren üblichen Sinn für Humor, obwohl sie sich ein Lächeln abringen konnte. Sie schüttelte den Kopf.

»Nein«, antwortete sie, als das Gelächter abgeebbt war. »Sein Name ist Proof. Proof Lad Walker. Ich weiß nicht, warum er so heißt, und es ist auch egal. Er könnte welchen Namen auch immer tragen und wäre doch euer Herr. Wir müssen ihm mit dem größten Respekt begegnen, wenn er kommt. Es war einer der letzten Befehle, den der Earl mir gegeben hat, Dem Farrell und Dem Colvaney zu sagen, daß sie den Earl of Kerlain zu respektieren haben.«

»Und das werden wir auch«, gab Der Farrell empört zurück, »wenn er kommt. Aber das kann ich mir nicht vorstellen. Warum sollte ein Amerikaner an Kerlain interessiert sein? Es gibt keine Reichtümer, keinen Profit, der sich aus diesem kargen Boden schlagen läßt. Er wird nicht kommen.«

»Er wird«, versicherte Diana. »Er ist der Earl of Kerlain. Sein Platz ist hier. Er muß seine Bindung an die Vereinigten Staaten lösen und britischer Bürger werden, aber ich bin sicher, er wird es mit Freuden tun, um den Titel Kerlain tragen zu dürfen.«

»Nein, Der Farrell hat ganz recht«, sagte Der Colvaney. »Wir werden den Halunken nie zu Gesicht bekommen, es sei denn, er kommt, um das wenige zu nehmen, was uns noch geblieben ist.«

Die Menge in der Halle teilte diese Ansicht und machte ihrem Unmut über die Vorstellung Luft, einen Barbaren von Amerikaner als Herrn vorgesetzt zu bekommen.

Trotz der Erschöpfung stieg leise Wut in Diana hoch und ließ ihren Ton scharf werden. »Ich will so etwas nicht hören!« schrie sie über das Stimmengewirr hinweg und erregte damit die Aufmerksamkeit aller. »Nicht, nachdem mein Vormund seine Wünsche unmißverständlich klargemacht hat. Ihr werdet dem neuen Earl Respekt entgegenbringen oder Schande über den alten Earl bringen, noch bevor er zu Grabe getragen worden ist! Für ihn allein will ich die Worte hören. Jetzt.«

Der Farrell und Der Colvaney wechselten einen Blick; alle anderen verstummten. Diana gab keinen Zoll nach; sie war bereit, den Rest der Nacht zu warten, wenn es sein mußte, um den Wunsch ihres Vormunds durchzusetzen.

Der Colvaney sprach zuerst, auch wenn ihm die Worte nur widerwillig über die Lippen kamen. »Gott schütze P. Lad Walker, den Sechsten Earl von Kerlain.«

»Aye«, sagte Der Farrell.

Diana sah ihn scharf an. »Wie bitte?«

Der Farrell seufzte. »Gott schütze P. Lad Walker, den Sechsten Earl of Kerlain.« Dann wandte er sich zu seinen Leuten um und wiederholte die Worte so lange, bis auch sie einstimmten: »Gott schütze P. Lad Walker, den Sechsten Earl of Kerlain.«

Der Colvaney-Clan fiel ein, nur lauter, was die Farrells veranlaßte, es ihnen nicht nur gleichzutun, sondern sie zu übertrumpfen.

»Gott schütze P. Lad Walker, den Sechsten Earl of Kerlain!«

Die Worte erklangen lauter und lauter, bis die Halle davon dröhnte. Diana setzte sich auf die Stufen und schloß erleichtert die Augen.

Er würde kommen, ihr neuer Earl. P. Lad Walker, ein Amerikaner mit einem absolut albernen Namen. Er würde nach Kerlain kommen und es genauso lieben, wie sie es liebte, wie sie alle es liebten. Er würde alles in Ordnung bringen – ganz bestimmt, denn wenn er es nicht tat, waren sie und Kerlain rettungslos verloren.

Kapitel 2

Tennessee, Januar 1815

Er würde nicht gehen. Niemals. Nicht in einer Million Jahren. Nicht für alle Reichtümer dieser Welt. Absolut und ohne jeden Zweifel nein.

Der Sechste Earl of Kerlain. Pah!

Ihm wurde übel bei den Worten. Nach all den Jahren … Jetzt, da es zu spät war, war er plötzlich der Earl of Kerlain! Was für eine Ironie des Schicksals, daß es jetzt passierte, da die einzigen Menschen, denen etwas daran gelegen hätte, tot waren. Sein Vater, seine Mutter … selbst Joshua.

Lad selbst scherte sich einen Teufel darum. Weder um den Besitz noch um den Titel und schon gar nicht um den alten Mann, der sowohl Joshua als auch ihn zu Bastarden gestempelt hatte, indem er die Bitten seiner Mutter um die Anerkennung ihrer Kinder, die zu einer Aussöhnung mit ihren englischen Verwandten hätten führen können, ignorierte hatte. Sie hatte viel Familiensinn gehabt, und obwohl ihr Mann nie davon sprach, hatte sie gewußt, wie sehr er sich gewünscht hatte, zumindest teilweise die Verbindung wiederherzustellen, die seit seiner Jugend abgerissen war. Vor allem die zu seinem Vater, dem Earl of Kerlain. Er hatte kaum über den alten Earl gesprochen, aber Lad hatte die Sehnsucht in der Stimme seines Vaters gehört, wann immer er von Kerlain erzählt hatte. Und das war oft vorgekommen. Lad konnte sich nicht mehr erinnern, wie viele Male er in seiner Kindheit vor dem Einschlafen Gutenachtgeschichten über Kerlain gehört hatte. Damals hatte er gemeint, es müßte der schönste und zauberhafteste Ort auf Gottes Erdboden sein, denn so hatte sein Vater es klingen lassen. Wie drastisch sich dieses Bild im Lauf der Jahre doch verändert hatte, bis das Wort selbst – Kerlain – zum kräftigsten Schimpfwort in seinem Vokabular wurde. Es hatte seiner Familie nichts als Kummer und Leid gebracht. Und jetzt würde er lieber in einem Schweinestall hausen, solange er dort sein eigener Herr war, als dort drüben den Lord zu spielen.

Nicht, daß er je in diese Verlegenheit kommen würde. Fair Maiden war eines der prächtigsten Landgüter in Tennessee, und das von seinem Vater erbaute Herrenhaus stand zu Recht in dem Ruf, zu den schönsten im County zu zählen – im ganzen Land, um genau zu sein. Seine Mutter hatte Einladungen auf Fair Maiden zu den begehrtesten in Tennessee gemacht. Sie war ebenso für ihre glanzvollen Gesellschaften wie für ihre Schönheit berühmt gewesen, und selbst nach ihrem Tod war ein Hauch ihrer Anmut und Wärme geblieben. Lad konnte immer noch überall ihr Parfüm riechen, genauso wie er seinen Vater in seinem Studierzimmer sitzen sah, wenn er einen seiner geliebten Wälzer über Gartenbau las, oder Joshua, wie er nach einem arbeitsreichen Tag in einem der Obstgärten oder auf den Feldern draußen auf der langgestreckten Veranda mit den Dienstboten oder den Landarbeitern scherzte, die mit ihm zum Haus gekommen waren, um sich an den Speisen und Getränken zu erfrischen, die seine Mutter immer großzügig bereitgestellt hatte.

Die lange Veranda war der Treffpunkt für alle gewesen, die auf Fair Maiden arbeiteten, und Lad hatte es von jeher geliebt, an einem warmen Abend mit seiner Familie und seinen Freunden dort draußen zu sitzen. Aber jetzt nicht mehr. Es gab im Grunde kaum einen Ort auf Fair Maidens Grund und Boden, wo er den Schmerz und den Verlust, Gefühle, die ihn seit Monaten quälten, nicht empfand. In den Wochen, die auf den plötzlichen Tod seiner Mutter und seines Bruders gefolgt waren, nur wenige Monate nach dem gleichermaßen vorzeitigen Tod seines Vaters, hatte er eine tiefe Wahrheit entdeckt. Es war nicht das Haus selbst, das ein Heim zu einem schönen und anheimelnden Ort machte, es waren die Menschen, die dort lebten. Fair Maiden war der Ort, an dem er geboren und aufgewachsen war, wo er gehofft hatte, selbst mit Frau und Kindern zu leben und es an Generationen von Walkers weiterzugeben. Aber jetzt war es kein Heim mehr für ihn. Es war ein schönes leeres Gebäude, und die Erinnerungen, die ihn andernfalls mit Zufriedenheit erfüllt hätten, riefen jetzt nur Trauer in ihm hervor.

Er war allein, und Fair Maiden, das er so sehr geliebt hatte, war der einsamste Ort von allen.

Lad stand mit einem Seufzer auf und schob die Briefe beiseite, bevor er ruhelos an das Aussichtsfenster trat, von dem man auf die weite Rasenfläche sah, die das Herrenhaus von der eigentlichen Farm trennte. Es schneite noch immer, schon seit Tagen, wie es schien, und alles war in Weiß gehüllt. Wie sehr sich seine Mutter über diesen Anblick gefreut hätte, dachte Lad mit einem Lächeln, und wie sehr hätte sich sein Vater um seine kostbaren Ernten gesorgt – und das mit gutem Grund, denn Fair Maiden hatte den Ruf zu wahren, Hauptlieferant für Saatgut und Setzlinge zu sein, von einer Qualität, wie sie nirgendwo sonst in den Südstaaten zu finden war. Joshua wäre ungeachtet der Kälte im Freien gewesen, und Lad hätte ihn vermutlich begleitet. Sie hatten die Winternachmittage häufig damit verbracht, auf die Jagd zu gehen oder am Teich zu fischen oder die Gäste zu unterhalten, die ihre Mutter so oft über die Feiertage nach Fair Maiden eingeladen hatte, um mit ihnen Eislaufen oder Schlittenfahren zu gehen.

Seit seiner Heimkehr hatte er kaum noch Interesse daran, das Haus zu verlassen. Er hatte im Krieg genug von der Kälte bekommen, genug davon, in klirrend kalten Nächten auf hartem, gefrorenem Boden zu schlafen oder in der ebenso kalten Dämmerung des nächsten Tages Engländer aufzuspüren. An einem solchen Morgen war Joshua gestorben, in der Nähe von New Orleans. Lad hatte ihn in den Armen eines weinenden Kameraden gefunden, erst wenige Minuten tot, aber schon halb zu Eis erstarrt. Er konnte sich nicht vorstellen, daß er je vergessen würde, was für ein Gefühl es gewesen war, Joshuas leichten Körper in seine Arme zu nehmen und zum Lager zurückzutragen. Diese Kälte – o Gott. Er wachte nachts in Panik auf, weil er immer noch diese Kälte spürte und wieder Joshua und das Gesicht seiner Mutter vor sich sah, als er seinen Bruder nach Hause brachte.

»Gott.« Er fuhr sich mit einer Hand über die Augen und versuchte, die Erinnerungen zu verscheuchen.

»Das will ich nicht gehört haben, Lad Walker«, schalt eine Stimme hinter ihm. »Den Namen des Herrn unnütz im Munde führen? Ich werde dir das Fell versohlen, falls ich das tatsächlich gehört habe.«

Lad ließ mit einem Seufzer die Hand sinken und starrte wieder aus dem Fenster.

»Entschuldigung, Onkel Hadley. Ich wußte nicht, daß du da bist.«

»Darum geht es nicht«, knurrte Onkel Hadley. Das Geräusch eines Stocks auf dem Hartholzboden sagte Lad, daß sein Onkel in den Salon kam. »Du wirst den Namen des Herrn nicht unnütz im Munde führen, ob dich jemand hören kann oder nicht! Deine Mutter würde sich im Grab umdrehen. Komm, hilf mir, mich niederzusetzen, Neffe.«

Lad ging gehorsam zu seinem Onkel, um ihm in seinen Lieblingssessel vor dem Kamin zu helfen. Onkel Hadley brummelte ein wenig, als er sich niederließ, wobei er so klang wie der Bär von Mann, der er war, und auch so aussah. Dann stieß er einen tiefen Seufzer aus und sagte: »Und jetzt schenk mir ein Glas Whiskey ein, Junge. Den guten, wohlgemerkt.«

Onkel Hadley sprach von seinem eigenen Whiskey, den er jedes Jahr in Fair Maiden brannte. Lad goß ihm ein großes Glas ein und stellte es dicht neben seine Hand.

»Guter Junge«, meinte Onkel Hadley. Er hob das Glas und nahm genießerisch einen Schluck. »Ah! Etwas Besseres gibt es in ganz Tennessee nicht. Ted Harrowfield mag sich noch soviel Mühe geben, aber an diesen Whiskey kommt er nicht heran.« Er stellte das Glas wieder ab. »So. Setz dich, mein Junge, und erzähl mir von den Briefen, die du bekommen hast.«

»Ich wüßte nicht, warum«, entgegnete Lad, während er sich selbst ein Glas mit dem Erzeugnis seines Onkels einschenkte. »Du hast sie gelesen, noch bevor ich Gelegenheit hatte zu sehen, worum es geht.«

»Du warst nicht zu Hause, als sie ankamen, stimmt’s?« gab Onkel Hadley sichtlich verstimmt zurück. »Da lagen die armen Dinger nun und warteten darauf, nach ihrer langen Reise gelesen zu werden. Was ich wissen will, ist, was du zu tun gedenkst. Das kleine Mädchen in England ist schließlich durchaus gewillt, dich zu heiraten, und der alte Earl hat dich anerkannt, was nur recht und billig ist. Deine Mutter hätte sich vor Freude die Augen ausgeweint bei der Vorstellung, daß du nach all den Jahren in den Schoß der Familie aufgenommen wirst. Du erinnerst dich ja wohl noch, wie sehr ihr daran gelegen war, all das in Ordnung zu bringen.«

»Ja, ich erinnere mich sehr gut«, gab Lad kurz zurück und drehte sich wieder zum Fenster um. »Ein Jammer, daß sie die Kehrtwendung dieses alten Bastards nicht mehr miterlebt hat. Wenn er sie auch erst auf seinem Sterbebett gemacht hat. Was für eine ungeheure Ironie des Schicksals! All die Jahre kannte er die Wahrheit, gab aber erst nach, als es zu spät war. Nun, Kerlain wird zur Abwechslung einmal ohne Earl auskommen müssen. Und was Miß Diana Whitleby betrifft – welche Frau würde schon zustimmen, auf Wunsch ihres Vormunds einen Wildfremden zu heiraten?« Er warf einen gereizten Blick zu seinem Onkel hinüber. »Entweder ist sie häßlich oder unzurechnungsfähig.«

Onkel Hadley stieß mit seinem Stock auf den Fußboden. »Lad Walker!« donnerte er. »Zügle deine Zunge, wenn du über eine Dame sprichst! Egal, ob sie Engländerin, Amerikanerin oder sonst was ist. Andernfalls muß ich aufstehen und dir Manieren beibringen!« Der Stock wurde drohend durch die Luft geschwenkt. »Deine Mutter hat dich nicht zu einem gottverdammten Barbaren erzogen!«

»Ja, Sir«, erwiderte Lad mit steinerner Miene. Bevor er redete, hätte er daran denken sollen, wie hoch Frauen in Onkel Hadleys Gunst standen. Alle Frauen. Junge, alte, und mittelalte. Er hatte bis jetzt drei Ehefrauen überlebt, und falls Witwe Nehls seiner beharrlichen Werbung nachgab, würde er bald mit Nummer vier verheiratet sein.

»Außerdem hat Miss Whitleby dir einen sehr netten Brief geschrieben. Sehr schicklich noch dazu, wenn man bedenkt, wie ihr angesichts der Umstände zumute sein muß. Armes Ding. Ich bedaure sie von ganzem Herzen.«

Lad lag der Vorschlag auf der Zunge, wenn es so sei, solle sein Onkel doch selbst nach England reisen, um das Mädchen zu heiraten, aber er hielt sich klugerweise zurück. Statt dessen murmelte er: »Wahrscheinlich hast du recht. Aber so nett der Brief auch sein mag, sie kann nicht ernsthaft den Wunsch haben, einen Mann zu heiraten, den sie gar nicht kennt – noch dazu einen Amerikaner. Der Krieg ist erst seit wenigen Wochen beendet, und es wird lange dauern, bis ich die Engländer nicht mehr als Feinde betrachte. Ihr wird es nicht anders gehen, denke ich. Und allen anderen auf Kerlain ebenso.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, sie werden keinen Amerikaner zum Herrn haben wollen, Blutsbande hin oder her. Eher werden sie zur Begrüßung auf mich schießen, schätze ich, statt mich willkommen zu heißen. Ich würde weiß Gott dasselbe bei jedem Engländer machen, der es versucht, einen Fuß auf unser Land zu setzen. Ich würde sofort nach meiner Flinte greifen.«

»Nein, was für eine Schande, so etwas zu sagen!« ereiferte sich Onkel Hadley. »Und dabei war dein Vater durch und durch Engländer.«

»Er war Amerikaner«, gab Lad zurück. »Durch und durch Bürger von Tennessee, als wäre er hier geboren. Er gab jeden Anspruch an England auf, als er meine Mutter heiratete, und das weißt du.«

»Aber das änderte nichts an dem, was er war, Lad. Er war ein englischer Aristokrat bis zu dem Tag, an dem er starb, und er sehnte sich nach diesem Ort, den er so sehr geliebt hatte. Allein die Erinnerung schmerzte ihn, und ich habe nie etwas Traurigeres gesehen als deinen Vater, wenn er von seiner Heimat sprach.« Er seufzte laut, und Lad hörte, wie er wieder nach seinem Glas griff. Als es abgesetzt wurde, fuhr Onkel Hadley nachdenklich fort: »Hast du dir nie gewünscht, Kerlain zu sehen, Lad? So, wie er es beschrieben hat?« Seine Stimme wurde wehmütig. »Ich wollte es sehen, öfter, als ich mich erinnern kann, weil er es so faszinierend darstellte. Und es war das einzige, was mich an England je interessiert hat, wohlgemerkt.«

Lad gab keine Antwort, sondern nahm nur einen kräftigen Schluck Whiskey und sagte sich, daß für ihn dasselbe galt wie für seinen Onkel – er hatte davon geträumt, Kerlain zu sehen, so, wie sein Vater es geschildert hatte. Die grünen Felder, den schönen See, das alte Schloß,wo in ferner Vergangenheit Ritter heiße Kämpfe ausgefochten hatten. Er und Joshua hatten stundenlang über Kerlain reden können und darüber, eines Tages nach England zu reisen, um das Heim ihrer Vorfahren zu sehen, das ihr Vater in so lebendigen Farben geschildert hatte.

»Ich werde ihr schreiben – dem Mädchen, Diana Whitleby – und ihr mitteilen, daß ich nicht kommen kann, daß sie sich einen anderen als Earl suchen müssen. Dann kann sie heiraten, wen sie will, und die Menschen dort können einen echten Engländer zu ihrem Grundherrn wählen. Ich werde sie alle von dem Haken lassen, den mein lieber dahingegangener Großvater auf seinem Sterbebett ausgeworfen hat.«

»Oh, Lad«, meinte Onkel Hadley tief bekümmert. »Das führt doch zu nichts, Junge. Es gibt niemand anders, der den Titel übernehmen kann – das steht in dem Brief. Und die arme Miss Diana bleibt ganz allein mit der Last des Besitzes, ohne einen Mann, der ihr zur Seite steht. Und du – für dich ist es um nichts besser, hier auf Fair Maiden zu bleiben. Hier bist du allein mit deinem Kummer und deinen Erinnerungen. Das ist das Schlimmste von allem.«

Lad drehte sich zu seinem alten Onkel um. »Fair Maiden ist mein Zuhause«, entgegnete er langsam. »Und mein Erbe. Hier bin ich auf die Welt gekommen, und hier werde ich den Rest meines Lebens verbringen. Hier werden meine Kinder geboren werden und aufwachsen. Ich bin nicht bereit, all das für« – er suchte nach den richtigen Worten – »einen alten Traum aufzugeben, der längst tot und begraben ist.«

»Alt vielleicht«, gab sein Onkel zu, »aber tot und begraben ist er nicht ganz, oder? Du bist der Earl of Kerlain, mein Junge, wie es dein Vater hätte sein sollen. Und wenn er es gewesen wäre, wäre Kerlain der Ort, an dem du geboren, aufgewachsen – zum Earl erzogen worden wärst. Du weißt, was dein Vater dir sagen würde, wenn er noch am Leben wäre, nicht wahr? Und deine Mutter, und vermutlich auch Joshua. Und selbst wenn du nicht meiner Meinung bist, kannst du nicht bestreiten, daß sie nie gewollt hätten, daß du allein hier auf Fair Maiden bleibst, dich verkriechst …«

»Ich verkrieche mich nicht!«

»… und nie aus dem Haus gehst.«

»Es schneit! Nur ein Idiot würde bei diesem Wetter rausgehen!«

»Es liegt mir fern, dir Vorschriften zu machen«, versicherte Onkel Hadley und hob beschwichtigend die Hand. »Aber du solltest vielleicht daran denken, was deine Familie von dir erwartet hätte. Mehr sage ich nicht.«

Lad gab einen gereizten Laut von sich. »Na gut. Ein Punkt für dich.« Mehr als das, gestand er sich ein. Er wußte sehr gut, daß seine Mutter und mehr noch sein Vater auf die Reise nach England gedrängt hätten. Sein Vater hatte Kerlain nur verlassen, weil er verbannt und enterbt worden war; nichts anderes hätte ihn bewegen können, den Ort zu verlassen, den er so sehr liebte und der, wie er von der Wiege an gelernt hatte, eines Tages ihm gehören würde. »Aber ich kann Fair Maiden nicht einfach verlassen. Vater hat es aus dem Nichts aufgebaut, und es ist ebenso Teil von ihm, wie es Kerlain einmal war. Ich kann es nicht im Stich lassen.«

»Im Stich lassen?« Onkel Hadley zog seine dichten, buschigen Augenbrauen hoch. »Dein Cousin Archie führt die Farm, seit du in den Krieg gezogen bist, und tut es auch jetzt, ohne ein Wort deinerseits. Oder glaubst du etwa, wir könnten uns sonst noch über Wasser halten? Du tust ja nichts anderes, als Trübsal zu blasen.«

Lad machte ein finsteres Gesicht, aber er konnte nicht leugnen, daß sein Onkel recht hatte, auch wenn er es nicht hören wollte.

»Das wird sich mit der Zeit ändern«, murmelte er.

»Glaubst du?« fragte Onkel Hadley. »Das wage ich zu bezweifeln, doch das tut nichts zur Sache. Was ich denke, zählt letzten Endes nicht. Was du denkst, zählt, und vielleicht solltest du dir überlegen, nach England zu fahren und einen kleinen Blick zu riskieren.«

»Einen kleinen Blick riskieren?« wiederholte Lad ungläubig. »Onkel Hadley …«

»Nur für ein paar Monate«, fuhr der Onkel mit einer wegwerfenden Handbewegung fort. »Um die Trauer hier in Fair Maiden einmal hinter dir zu lassen und es mir und Archie zu überlassen, die Farm zu leiten. Du gehst nach Kerlain, schaust dir an, wie die Dinge stehen und was zu tun ist, und kommst einfach zurück, wenn es dir dort nicht zusagt. Fair Maiden läuft dir nicht weg, weißt du?«

»Onkel Hadley …«

»Denk einfach darüber nach, mehr nicht«, erwiderte sein Onkel schnell. »Du mußt es nicht hier und jetzt entscheiden. Komm, hilf mir aus dem Sessel, Neffe. Ich muß mich zum Dinner umziehen.«

Lad kam ihm zu Hilfe und beobachtete mit einer gewissen Erleichterung, wie sich sein alter Onkel aus dem Salon zurückzog. Onkel Hadley war vierundachtzig Jahre alt, aber sein Verstand war immer noch messerscharf. Trotzdem konnte er kaum glauben, daß sein Onkel tatsächlich von ihm erwartete, den weiten Weg nach England zu machen, um »einen kleinen Blick zu riskieren«. England war ihr Feind – oder war es zumindest bis vor kurzem gewesen. Nur ein Vollidiot würde sein Leben nach einem so bitter geführten Krieg in die Hände seines Feindes legen.

Mit einem Seufzer schenkte er sich noch einen Whiskey ein und setzte sich an den Schreibtisch, um erneut die Briefe zu betrachten. Der von seinem Großvater war steif und sachlich, vielleicht aufgrund der ungewöhnlichen Umstände, unter denen er geschrieben worden war, wie Lad gerechterweise zugeben mußte. Aber der Brief des Mädchens war eine ganz andere Sache. Er hob ihn auf und musterte ihn. Ihre Handschrift war zierlich und elegant, sehr weiblich und ganz anders als sein eigenes unleserliches Gekritzel.

Was für ein Mensch war sie, diese Diana Whitleby, daß sie so bereitwillig auf das Verlangen ihres Vormunds einging? Ihre Worte lieferten kaum einen Anhaltspunkt, obwohl sie wesentlich freundlicher und aufrichtiger wirkten als das, was der Earl geschrieben hatte.

Lieber Sir,

zu meinem großen Kummer muß ich Sie von dem Tod Ihres Großvaters, George Charles Nathaniel Walker, Fünfter Earl of Kerlain, in Kenntnis setzen. Lord Kerlain starb gestern, am zehnten Oktober. Sein Tod war friedlich und kam nicht unerwartet, da er bereits seit etlichen Tagen durch eine Krankheit ans Bett gefesselt war. Bitte übermitteln Sie Ihrer Familie mein tiefes Mitgefühl und das Beileid der Leute von Kerlain.

Diesem Brief liegt ein weiteres Schreiben bei, das mir von Ihrem Großvater wenige Stunden vor seinem Tod diktiert worden ist. Es betrifft Ihr Erbe, den Titel und die Ländereien von Kerlain, was Sie sicher mit einer gewissen Überraschung aufnehmen werden, sowie den Vorschlag zu einer Heirat …

Kapitel 3

England, Ende März 1815

Bisher, stellte Lad fest, als er vor dem Walborough Inn stand, waren die ersten Tage in England alles andere als vielversprechend gewesen. Er hatte unterschätzt, wie verhaßt die Amerikaner bei der Bevölkerung waren, und seit seiner Ankunft in Portsmouth vor einer Woche hatte man ihn offen beschimpft, angespuckt und Hunde auf ihn gehetzt. Ja, man hatte ihm sogar Essen, Trinken und Unterkunft verweigert, ihm bei mehr als einer Gelegenheit mit körperlicher Gewalt gedroht und im großen und ganzen mit demselben Enthusiasmus behandelt, mit dem man die Rückkehr der Pest begrüßen würde. Eben jetzt stand Lad im Schneegestöber und starrte auf seine lederne Reisetasche, die der Kutscher mit dem Ausruf »Fort mit Schaden« in die matschigste Pfütze vor dem Gasthof geworfen hatte.

Lad vermutete, daß er von Glück reden konnte, seinen Platz in der Kutsche behauptet zu haben, da sowohl der Kutscher als auch der Reitknecht und sämtliche männliche Fahrgäste die Neigung gezeigt hatten, ihn kurzerhand hinauszuwerfen. Wären nicht die weiblichen Fahrgäste gewesen – Gott segne ihre guten Herzen –, hätte er den Rest des Weges wohl oder übel zu Fuß zurücklegen müssen.

Mit einem Seufzer bückte er sich, um die Tasche aufzuheben und auszuschütteln, bevor er sie in den Gasthof trug. Der Kutscher und die Reisenden waren bereits hineingegangen, um eine Erfrischung zu nehmen, während die Pferde gewechselt wurden. Lad war der einzige, der nicht weiterfuhr, was ihn angesichts der Tatsache, wie klein und unbedeutend das Dorf Walborough war, nicht im geringsten überraschte. Wie es schien, lag Kerlain mitten im Nichts, ein Detail, das sein Vater bei seinen großartigen Geschichten zu erwähnen vergessen hatte.

Das Walborough Inn wirkte warm und einladend, aber als Lad auf die Eingangstür zuging, mußte er feststellen, daß diejenigen, die vor ihm eingetreten waren, ihre Geschichte bereits zum besten gegeben hatten. Ein großer, bulliger Mann mit einem unverhohlen feindseligen Ausdruck auf seinem bärtigen Gesicht stand in der Tür und versperrte Lad den Weg.

»Sie sind der Amerikaner?«