Verrufene Tiere - Stephan Wunsch - E-Book

Verrufene Tiere E-Book

Stephan Wunsch

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Beschreibung

Ob nun die Angst vor Schlangen, die Abscheu vor Geiern oder der Ekel vor Spinnen – das menschliche Verhältnis zu vielen Tieren ist von tiefer Ablehnung geprägt. Ihr Ursprung reicht bis in eine mythische Vorzeit, in der sich der Mensch nicht zuletzt durchs Erzählen und Fabulieren von der Tierwelt losgesagt zu haben glaubte. Stephan Wunsch porträtiert zehn dieser schlecht beleumundeten, ja verrufenen Tiere. Seine Streifzüge führen ihn in das verschattete Reich boshafter Naturkunde – und in die Abgründe der menschlichen Psyche. Denn ein Bestiarium der verrufenen Tiere, das ist ein Katalog unserer Ängste, ein Spiegel unserer Unzulänglichkeiten, eine Vermessung offener Wunden – kurzum: eine hintergründige und lustvolle Menschenkunde von aasigem Geier bis falscher Schlange, von hinterlistiger Hyäne bis vampirischer Fledermaus.

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Stephan Wunsch

Verrufene Tiere

EIN BESTIARIUM MENSCHLICHER ÄNGSTE

Mit Zeichnungen des Autors

NATURKUNDEN

NATURKUNDEN N° 97

herausgegeben von Judith Schalanskybei Matthes & Seitz Berlin

Inhalt

Was gehen uns Tiere an?

Haie

Spinnen

Schlangen

Hyänen

Quallen

Geier

Fledermäuse

Wespen

Kraken

Affen

Literatur

Was gehen uns Tiere an?

Da sind Felsen in der Welt, Flüsse und Meere, Sterne und Berge, Bäume und Winde. Sie alle füllen und formen die Welt, machen sie reich und interessant, gefährlich und schön. Aber vor allem und eigentlich ganz unerwartet sind da Tiere. Ja, man kann sich auch für besondere Pflanzen interessieren oder Kristalle oder Sternbilder. Doch wenn ein Tier aus den Kulissen tritt, merken wir auf.

Nie haben Menschen daran gezweifelt, dass Tiere sie etwas angehen. Immer war von Tieren gut erzählen, so dass man sich wundern durfte über das Schillern und Rauschen der Welt. Die Zuhörer haben gestaunt über riesige Tiere und kuriose, über sehr gefährliche und Tiere mit unerhörten Fähigkeiten. Und die Erzähler haben viel von Tieren gedichtet, haben übertrieben und erfunden und weitergesponnen, was sie schon selbst kaum geglaubt hatten. Manch wirkliches Tier war so fabelhaft, dass auch Fabeltiere für wirklich gelten konnten. Ob man alles für wahr gehalten hat? Und was ist Wahrheit? Schon in den alten Bestiarien und Sammlungen von Tiergeschichten schimmert eine vage Ungewissheit durch, eine wohltuende Grauzone zwischen dem Geraunten und dem Bezeugten und dem vielleicht allzu Abenteuerlichen. In der Ferne und in der Vergangenheit konnte viel Unerhörtes leben, denn dies waren Wirklichkeiten anderen Grades, an die das scharfe Maß der Verifizierung nicht anzulegen war. Und was man eh nicht überprüfen kann, das darf man ebenso gut glauben, wenn es einem wohltut.

Man hat auch nie daran gezweifelt, dass Tiere nicht nur einfach da sind, sondern auch etwas bedeuten. In ihnen wurden verwandelte Menschen erkannt oder Gottheiten oder Verstorbene. Zeichen Gottes, Agenten des Satans, lebende Embleme; dem Menschen als Vorbild, zur Warnung, ein Gleichnis. Der Übergang von Tier zu Mensch war fließend; konzeptionell wie im Körperlichen. Märchen und Sagen sind voller Geschichten von Tiergatten, Menschen in Tiergestalt oder adoptierten Tieren, die eines Tages zu Menschen werden. Manche Mythen erklären mit Tieren, warum es die Welt gibt. Kein Zweifel, dass Tiere für uns da waren, auf uns bezogen, und wir auch für sie. Sie waren da, uns zu verblüffen und zu erschrecken, uns zu warnen und zu verführen, waren uns zur Erbauung, Belehrung, Nahrung und Heilung in der Welt. Selbstverständlich war manches Tier böse und grausam, ein anderes edelmütig und kühn, andere hinterhältig und schlau, andere treu und dumm. Tiere wurden hässlich gefunden oder schön, plump oder elegant. Und man nannte sie nützlich oder schädlich, denn das waren sie auch, und Menschen spürten das umso mehr in einer Welt, in der ihnen wenig geschenkt wurde. Man konnte es sich nicht leisten, Tiere mit interesselosem Wohlgefallen zu betrachten. Tiere schadeten Menschen, wenn sie Krankheiten übertrugen, Ernten wegfraßen, Vorräte verdarben, Vieh rissen.

Legenden, Fabeln und alte Bestiarien haben nie gezögert, Tiere mit menschlichen Attributen zu beschreiben und sie an menschlichen Kategorien von Moral und Ästhetik zu messen. Natürlich ist uns heute klar, wie unangemessen das ist. Tiere, da sind wir uns nun sicher, können nicht boshaft sein. Auch nicht hässlich, missgünstig, plump. Sie handeln aus Instinkt, ihr Verhalten, ihre Erscheinung wurde von den Erfordernissen der Evolution geformt. Sie sind nicht frei. Sie sind Marionetten ihrer ererbten Verhaltensprogramme – so denken wir nun. Zoological Correctness verbietet wertende Urteile über Tiere. Auch Anthropomorphismen gelten als unzulässig: Wer tierisches Handeln und Empfinden zu nahe an das unsere rückt, macht sich der Übergriffigkeit verdächtig oder erscheint naiv. Die Austreibung des Narrativen aus der Tierreflexion aber bedeutet für unsere Begegnung mit der belebten Natur einen Verlust: an Sinnlichkeit, an Farbigkeit, an Sinnhaftigkeit; eine Entzauberung. Und sie beraubt uns zudem eines Spiegels: eines verschatteten und verzerrten, manchmal blindfleckigen und zuweilen hellsichtigen Spiegels, in den zu blicken Menschen nie unterlassen konnten. Wissenschaftliche Standards heutiger Naturkunde fordern Neutralität und professionellen Abstand zum Forschungsobjekt; ökologische Vernunft verlangt Gerechtigkeit gegen alle Organismen. Doch das vom Menschen erblickte, erzählte, besungene, das an die Höhlenwand gemalte, das gefürchtete und verehrte Tier ist ein klingender Echoraum menschlichen Seins, menschlicher Ängste und Aversionen, Irrtümer und Selbstbetrügereien. Comiczeichner, Puppenspieler und Fabeldichter wissen das. Jedes Tier, gerade das zwielichtige und undurchsichtige, ist eine Herausforderung an den menschlichen Verstand und an die menschliche Fantasie. Das mannigfaltige Reich der Tiere ist ein Welttheater der Natur. Ob es für uns inszeniert wurde, brauchen wir nicht zu fragen, solange wir uns als dankbare Zuschauer bezeigen. So werden wir weiter von Tieren munkeln und orakeln, über sie fabulieren und spekulieren. Wie auch nicht? Bleiben wir doch immer die gleichen Geschichtenhörer und Sinnsucher.

Wir bestaunen schöne Tiere und bewundern ihre Kraft und Eleganz. Das Spiel der Möwen mit dem Sturm erfüllt uns mit Fernweh, herumtollende Fuchswelpen rühren uns und der Zug der Kraniche bewegt unser Herz. Doch wenn einer anfängt und Geschichten erzählt, von welchen Tieren wollen wir hören? Von den Schafen oder vom Wolf? Von den dunklen Tieren wollen wir hören, von den nächtlichen, gefahrvollen, mysteriösen, umwitterten: den verrufenen Tieren. Und auch von Vampiren, Nachtmahren und Werwölfen, wo das Tierische mit dem Menschlichen verschwimmt. Denn unser Verstand, ach, er treibt als hilfloses Flößlein auf einem dunklen Gewässer ohne Grund. Wo wir beunruhigt sind, da müssen Geschichten her, das Dunkel mit Stimmen zu füllen. Immer sind wir Kinder, die nicht einschlafen können, bis die Dämonen Namen und Gestalt bekommen haben. Lieber fürchten wir uns vor Gespenstern in der Nacht als vor dem Abgrund in uns. Denn haben wir nicht allen Grund zur Angst? Wollust, Gewalt und das trostlose Sterbenmüssen raunen und tuscheln hinter unserem Rücken, während wir uns ans Steuerrad klammern. Was wir zusammenfabeln von gefährlichen und bösen, riesigen und geheimnisvollen Tieren in der Ferne, in der Tiefe, in der Finsternis, das sind Geschichten, die aus unseren Dämonen gemacht sind.

Dieses Buch stellt Tiere vor, aber mehr noch das, was sie in Menschen wachrufen. Ein Bestiarium der verrufenen Tiere, das ist ein Katalog unserer Nöte, ein Spiegel unserer Bosheiten, eine Litanei unserer Zweifel, eine Landkarte offener Wunden – eine Menschenkunde in zehn Kapiteln.

Haie

Happiness is a warm gun

When I hold you in my arms

And I feel my finger on your trigger

I know nobody can do me no harm

Because happiness is a warm gun.

Happiness is a warm gun

Yes it is.

– JOHN LENNON, Happiness is a warm Gun

Gott, was Haifisch gemacht hat,

muß sein ganz gottverdammter Heide.

– HERMAN MELVILLE, Moby Dick

Die tödlichen Begegnungen zwischen Mensch und Hai sind von erschreckender, ungeheurer, monströser Zahl. Plausible Schätzungen geben dem globalen Massaker die Dimension von hundert Millionen Opfern pro Jahr. Manche werden zerquetscht, erstickt, zerrissen; andere geschlachtet oder verstümmelt. Vielen werden die Gliedmaßen abgetrennt, gezielt sogar, denn Haifischflossen gelten vielerorts als Delikatesse. Finning heißt das Verfahren, gefangenen Haien an Bord bei lebendigem Leib die Flossen abzuschneiden und die hilflosen, blutenden Tiere wieder ins Meer zu werfen. Das Gesamtgewicht der alljährlich solcherart im Meer entsorgten, verstümmelten Haie wird auf zweihunderttausend Tonnen geschätzt. Haie atmen passiv, sie müssen schwimmen, damit durch das geöffnete Maul Wasser eintritt und die Kiemen mit Sauerstoff versorgt werden. Werden ihnen die Flossen amputiert, sind Haie bewegungsunfähig; sie können nicht mehr richtig atmen und müssen ersticken. Doch auch mit anderen Verfahren töten Menschen viele Haie: Wenn sie als Beifang in den Netzen verenden oder wenn sie als Sport oder aus Hass geangelt oder harpuniert werden.

Umgekehrt gibt es erstaunlich wenige menschliche Todesopfer, die aus der Begegnung mit einem Hai herrühren. Seit den Fünfzigerjahren werden solche Unglücke statistisch verzeichnet, und obwohl es seitdem viel mehr Menschen, viel mehr Badestrände und viel mehr Surfer und andere Wassersportler gibt, hat sich die Zahl wenig verändert. Noch seltener sind die Fälle, in denen ein Mensch wirklich aufgefressen wurde. Haie müssen etwas ins Maul nehmen, um es auf seine Tauglichkeit als Nahrung zu prüfen. Dieser Vorgang des Probierens kann zu schweren Verletzungen führen, und mehr Menschen sterben nach Haiattacken durch Verbluten, als dass sie buchstäblich zu Haifischfutter würden. Haie sind überdies konservativ in ihren Ernährungsvorlieben, und Menschen kamen bis vor Kurzem im Meer und damit auf ihrem Speiseplan nicht vor, jedenfalls wenn man in Zeitmaßstäben evolutionärer Prozesse denkt. Haie gibt es dagegen schon lange auf Erden. Bereits vor vierhundert Millionen Jahren lebten Haie; manche Forscher trauen ihnen sogar zu, schon das Ordovizium bevölkert zu haben, das vor über 440 Millionen Jahren endete. Haie sind Knorpelfische; ihr Skelett ist weniger hart und haltbar als das von Knochentieren. Daher sind gut erhaltene Hai-Fossilien dünn gesät; wenn sich in versteinertem Schlamm ein vollständiger Abdruck erhalten hatte, war das ein seltenes Glück für die Paläontologie. Vom vermutlich größten Raubfisch aller Zeiten, dem grässlichen Megalodon, der schätzungsweise vor einer bis fünfzehn Millionen Jahren lebte, sind im Wesentlichen nur Zähne erhalten. Sie ähneln denen des Weißen Hais sehr, sind allerdings um ein vielfaches größer. Dass Megalodone fünfzehn bis zwanzig Meter lang waren, ist also nichts als eine Hochrechnung aus Zahnfunden; früher ergötzte man sich an noch kühneren Schätzungen und sprach ihnen über dreißig Meter Länge zu. Auch wollte mancher festgehalten und unterstrichen wissen, dass ihr Aussterben nicht wirklich erwiesen sei. Vielleicht könnte es noch welche geben? Das Meer ist ja groß … In der Nachbildung eines Megalodonkiefers kann ein erwachsener Mensch aufrecht stehen; das Tier müsste vor dem Herunterschlucken nicht einmal kauen.

Der größte heute lebende Hai und Fisch überhaupt ist der Walhai mit bis zu achtzehn Metern, gefolgt vom wenig kleineren Riesenhai. Doch für Horrorfilme taugen beide nicht, denn sie ernähren sich, indem sie Plankton aus dem Wasser filtrieren. Auch der Riesenmaulhai ernährt sich auf diese Weise; bis 1976 war die Art unbekannt, obwohl die Tiere immerhin über fünf Meter groß werden. Sie scheinen weltweit verbreitet und zugleich recht selten zu sein, denn seit man von ihnen weiß, wurden sie nur wenige Dutzend Mal gesehen; noch seltener konnte man ein Exemplar näher untersuchen. Dass es offenbar noch große und zugleich seltene Tiere zu entdecken gibt, nährt die Hoffnung von Monsterjägern, dass noch manche spektakulären Tiere unserer harren. Es gibt auch Winzlinge unter den Haien: der Zylindrische und der Zwerg-Laternenhai erreichen kaum zwanzig Zentimeter Körperlänge. Darüber hinaus hat der Gott der Haie eine breite Formenvielfalt erdacht. Schon die Namen verraten, dass die Stierkopfhaie, Nasenhaie oder Sägehaie unsere Erwartungen an die charakteristische Hai-Gestalt nicht erfüllen. Ebenfalls zu den Haien zählen die eigentümlichen Wobbegongs oder Teppichhaie, flache Fische mit bizarren Fransen um das Maul, die in seichten Gewässern auf dem Meeresboden leben. An Rochen erinnert der Körperbau der Engelhaie. Erstaunlich ist der Lebenszyklus der Grönlandhaie. Die rätselhaften und seltenen Tiere scheinen das Nordmeer zu bevorzugen, aber man hat sie gelegentlich auch schon sonstwo in den Weltmeeren angetroffen. Sie sind bedächtige Jäger, man vermutet, dass sie schlafende Robben angreifen, weil sie nicht schnell genug sind, um wache zu erwischen. Langsam ist auch ihr Wachstum. Um die sieben Meter zu erreichen, zu denen sie fähig sind, brauchen sie daher eine lange Lebensspanne. Man hält sie für die mit Abstand langlebigsten Wirbeltiere und traut ihnen mehr als sagenhafte vierhundert Jahre zu. Demnach dürften heute Grönlandhaie leben, die in ihrer Kindheit Zeitgenossen Shakespeares waren. Weil man sie selten antrifft, sind sie kaum erforscht. Man weiß nicht, wieso sie so viel länger leben als vergleichbare Tiere, auch nicht, wieso sie erst mit hundertfünfzig Jahren geschlechtsreif werden. Es dürfte sich um die längste Pubertät des Tierreichs handeln. Ist sie einmal durchgestanden, hinterlässt sie offenbar sehr abgeklärte Tiere, die nicht zu Hektik und vorschneller Aufregung neigen.

Bis heute sind etwa fünfhundert Hai-Arten bekannt. Nur vier von ihnen haben nachweislich und zweifelsfrei jemals einen Menschen getötet; von weiteren zehn ist sicher, dass sie Menschen angegriffen haben. Der Bullenhai wird gewöhnlich weniger als drei Meter lang und gehört zu den Haien mit den meisten menschlichen Opfern. Er schwimmt in Flussmündungen hinein und fühlt sich auch in Süßwasser nicht unwohl. In manchen Strömen ist er weit ins Landesinnere und bis in Süßwasserseen vorgedrungen. Zu den gefährlichsten Haien zählt auch der Tigerhai, der seinen Namen dem Streifenmuster auf seiner Haut verdankt. Speziell in den Tropen werden ihm die meisten tödlichen Angriffe zugeschrieben. Auch der Weißspitzen-Hochseehai kann für Menschen gefährlich werden. Von Stränden hält er sich fern, doch wenn nach Schiffsunglücken oder Flugzeugabstürzen über dem Meer von Haiangriffen auf die Überlebenden berichtet wurde, handelte es sich häufig um diese Art. Wenn ein Mensch aber von Haien sprechen hört, denkt er doch meist an den Weißen Hai. Weißlich ist das graue Tier nur auf der Unterseite. Mit bis zu acht Metern Körperlänge ist er der größte aller Raubfische. Er sucht gern in strand- und küstennahen Gewässern nach Nahrung, wodurch er leichter in Kontakt mit Menschen kommt als Hochseehaie. Man macht ihn für die meisten der Haiangriffe verantwortlich; allerdings könnte er darin Opfer seiner Popularität sein. Man vermutet, dass mancher Angriff eines Bullenhais irrtümlich auf das Register des Weißen Hais gesetzt wird. Einige Haiattacken haben es zu großer Berühmtheit gebracht. So geschah es dem armen Brook Watson, dass er 1749 in Havanna ins Hafenbecken stürzte und dort von einem Hai angegriffen wurde, der dem jungen Mann einen Unterschenkel abriss. Dass er diese schlimme Verletzung überlebte, war ein großes Glück, von dem wir wohl nur deshalb wissen, weil Watson dereinst Bürgermeister von London werden sollte.

Als Seefahrergeschichten populär wurden, war der Hai selbstverständliches Ornament und Symboltier für die Gefährlichkeit des wilden Ozeans. In Jules Vernes literarischer Tiefseefahrt 20.000 Meilen unter dem Meer darf er nicht fehlen; es wird davon geraunt, was man nicht alles in seinem unersättlichen Schlund gefunden hätte: einen Büffelkopf, ein ganzes Kalb, einen Seemann mit Säbel und Uniform, und man höre: sogar ein Pferd samt Reiter. Auch Herman Melville beschwört Haie in Moby Dick als manische Fressgeister und verwendet den Topos des besinnungslosen Einander- und Sich-Selbst-Auffressens; der Hai wird zur Apotheose des wahllosen Verschlingens: »Gierig schnappte er nicht nur nach den heraushängenden Eingeweiden anderer Fische, sondern schnellte biegsam wie ein Bogen herum und verbiß sich in das eigene Gedärm. Wieder und wieder, so schien es, wurden sie vom selben Schlund verschlungen, um aus der klaffenden Wunde am anderen Ende abermals herauszutreten.« In Jack Londons Epos Der Seewolf tritt der hartherzige Kapitän Larsen in Konkurrenz zur Grausamkeit des Hais. Er lässt den unfähigen Koch Mugridge zur Bestrafung für sein schlechtes Essen an einem Tau durchs Wasser ziehen, bis man bemerkt, dass er von einem Hai verfolgt wird. Die Mannschaft beeilt sich, ihn wieder an Bord zu holen: »Doch ein Strom von Blut ergoß sich über die Planken. Der rechte Fuß fehlte, fast am Knöchel amputiert. Ich blickte Maud Brewster an. Sie war leichenblaß, ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Sie sah nicht Thomas Mugridge, sondern Wolf Larsen an. Und er bemerkte es, denn er sagte mit kurzem Lachen: ›Männerspiel, Miß Brewster. Wohl etwas rauher, als Sie es gewöhnt sein mögen, aber immerhin – Männerspiel. Der Hai war nicht mit in der Rechnung.‹« Der Hai war lediglich Erfüllungsgehilfe der sadistischen Bestrafung eines Menschen durch einen anderen – nein: eines Mannes durch einen anderen. Bei einem ›Männerspiel‹ kann schon mal ein Fuß verloren gehen. Hier hebt es an, das Lied von der See als Refugium toxischer Männlichkeit: Bruder Hai. Der weibliche Blick entsetzt sich nicht vor der grässlichen Wunde, sondern vor der grässlicheren Rohheit. Der verstümmelte, stark blutende Koch robbt sich, von Hass und Schmerz erfüllt, zu dem zynischen Kapitän und beißt ihn in bestialischer Wut ins Bein – ein hilfloser Versuch, es dem Hai gleichzutun; lächerlich geradezu, wie sich die Schwächlichkeit des menschlichen Gebisses neben dem des Hais ausnimmt. Jack Londons Pointe aber liegt im Vergleich der mörderischen Bestie Hai mit der Grausamkeit, zu der Menschen fähig sind – eine Konkurrenz, die der Hai regelmäßig verliert.

Die größte bekannte Haiattacke ereignete sich Ende Juli 1945, nachdem ein japanisches U-Boot das amerikanische Kriegsschiff USS Indianapolis versenkt hatte. Rund dreihundert Matrosen wurden durch die Explosion einer Munitionskammer gleich getötet, etwa achthundert trieben nach dem Untergang schiffbrüchig im Pazifik. Erst vier Tage später wurden sie zufällig entdeckt, dreihundertsechzehn von ihnen konnte man lebend bergen. Die anderen waren an Entkräftung, Dehydrierung oder Sonnenstich gestorben. Etliche aber waren von Haien angefallen, getötet und wohl auch gefressen worden. Es ist unmöglich zu sagen, wie viele Tote welcher Ursache anzulasten waren, doch die Überlebenden berichteten, dass sie ständig auf Haiangriffe gefasst sein mussten. Natürlich hätten viel mehr Menschen überleben können, wenn die Schiffbrüchigen früher entdeckt worden wären. Wieso hatte man sie vier Tage lang nicht gefunden? – Ganz einfach: Weil man sie nicht gesucht hatte. Und man hatte sie nicht gesucht, weil man sie nicht vermisst hatte. Kein Hafen hatte vergebens auf das Einlaufen der USS Indianapolis gewartet, weil sie in keinem Hafen angekündigt worden war. Als das Schiff von den japanischen Torpedos getroffen wurde, kehrte es nämlich gerade von einer äußerst geheimen Mission zurück. Es hatte die Hauptbauteile für eine besondere Bombe auf die Pazifikinsel Tinian gebracht, eine Bombe, die den harmlos-unheilvollen Namen Little Boy erhalten sollte. Sie detonierte über Hiroshima und tötete Hunderttausende, wenige Tage nachdem die letzten Überlebenden der Indianapolis aus der Philippinischen See gefischt und vor den Haien gerettet worden waren. Der schlimmste Angriff durch Haie und die schlimmste Waffe von Menschenhand waren nicht nur zufällig miteinander verstrickt. Auch hier obsiegte der Mensch in der Schadensbilanz etwa mit dem Faktor eintausend.

Wer nicht selbst zur See fuhr, als Fischer oder Matrose, oder in der fernen Südsee nach Schwämmen oder Muscheln tauchte, für den war der Hai lange Zeit eine ferne, abstrakte, exotische Gefahr; wie für Mitteleuropäer heute ein Eisbär vielleicht oder ein Tiger. Und für Seefahrer war ein Hai wohl nur ein Kuriosum unter einer ganzen Reihe von viel häufigeren, reelleren Bedrohungen, Strapazen und Entbehrungen, mit denen eine lange Seefahrt verbunden war. Stürme, Skorbut, verdorbenes Trinkwasser, Meuterei, die Härte des Regiments an Bord – über Bord zu gehen war schon schlimm genug, da war ein Hai nicht mehr als ein Schreckgespenst für Romanleser. Das sollte sich erst ändern, als sich weitere Menschen in Haigefilde begaben; arglose Landratten, die Erholung suchten. Eine Zeitenwende im Verhältnis zwischen Haien und Menschen brachten die ersten Juliwochen im Sommer 1916 an der amerikanischen Ostküste. Seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts hatte sich eine neue Form von Strandleben und Badebetrieb entwickelt. Zuvor war der Aufenthalt im Seebad eine Erholung für bessere Kreise, bei der unmittelbarer Kontakt mit Meerwasser nicht im Vordergrund stand. Doch nun, dank besserer Löhne für die Arbeiterschicht, fester Urlaubsansprüche, Eisenbahnverbindungen zur Küste und einiger anderer Faktoren, hatte sich eine frühe Form von Massentourismus herausgebildet und damit zugleich ein neuer Wirtschaftszweig für die Küstenorte. Das Baden im Meer wurde populär.

So kam es dazu, dass sich zwischen dem 1. und dem 12. Juli 1916 an den Stränden New Jerseys fünf Haiangriffe ereigneten, von denen vier tödlich endeten. Nie zuvor waren Badegäste am Strand von einem Hai angegriffen worden, schon gar nicht hier, wenige Dutzend Meilen südlich von New York City. Nach der ersten Attacke herrschten noch Verwirrung und Unklarheit, ob wirklich ein Hai Verursacher der tödlichen Verletzungen des jungen Mannes gewesen war und nicht doch eine Schildkröte oder ein Thunfisch. »Tod nach Fischattacke« titelte die New York Times, was ja zutreffend war, doch irgendwie blass blieb. Nach dem zweiten Angriff bestand jedoch kein Zweifel mehr. Als das Opfer, wieder ein junger Mann, an den belebten Strand gebracht wurde, fehlten ihm beide Beine und eine grässliche Wunde klaffte an der Hüfte. Es herrschte wildes Entsetzen, Badegäste wurden ohnmächtig. Jetzt lautete die Schlagzeile »Hai tötet Badenden am Strand von New Jersey«, und damit war die Welt eine andere. Panik brach aus, Urlauber brachen den Aufenthalt ab, der Umsatz brach ein. Die Zeitungen schrieben von nichts anderem mehr und suchten hektisch nach geeignetem Bildmaterial. Viele wussten damals gar nicht so recht, wie ein Hai eigentlich genau aussah. Man ergriff verzweifelte Gegenmaßnahmen: Boote patrouillierten, Netze wurden errichtet, man informierte und beschwichtigte. Sollte man das Baden verbieten, die Strände schließen? Welche Verantwortung für den Badebetrieb! Aber wenn es weitere Opfer geben sollte? Drei einbestellte Wissenschaftler des Naturhistorischen Museums erklärten im Einklang mit den Interessen der Tourismusindustrie, wie unwahrscheinlich ein weiteres Unglück sei. Vier Tage darauf griff ein Hai badende Kinder an, noch dazu in einer geschützten Flussmündung drei Meilen landeinwärts – wer hätte das erwarten können? Er packte einen zwölfjährigen Jungen und zog ihn unter Wasser. Verzweifelt suchten Helfer nach dem Kind. Als Stanley Fisher den verstümmelten Körper schließlich fand und bergen wollte, wurde wahrhaftig auch er von dem Hai angegriffen und schwer verletzt. Obwohl die anderen ihn aus dem Wasser ziehen konnten, starb er noch am Nachmittag. Es war wie in einem Horrorfilm … Es wurden Belohnungen für getötete Haie ausgesetzt, eine allgemeine Haijagd erhob sich. Einige Tage später erlegte man einen Weißen Hai, in dessen Magen menschliche Überreste gefunden wurden. Ob und welchen der Opfer sie zuzuordnen waren, darüber bestand keine Einigkeit. Auch beharrten einige Experten darauf, dass für den Angriff im Fluss eher ein Bullenhai infrage käme, weil diese Art nicht selten Flüsse heraufschwimmt. Ob für alle Angriffe dasselbe Tier verantwortlich wäre, war ebenfalls ungewiss. Weitere Haiangriffe sollte es in diesem Sommer aber nicht mehr geben. Auf jeden Fall war die siegesgewohnte westliche Zivilisation nun um einen Schrecken reicher. Zugleich wies der Hai mit spitzer Schnauze auf den Tourismus als Kulminationspunkt des Kapitalismus: Belohnung für Millionen Werktätige, zweiwöchige Einlösung aller Glücksversprechen eines Ausbeutungssystems und natürlich seinerseits milliardenschwerer Wirtschaftsfaktor – die Ausgebeuteten speisten ihr mühsam Erspartes mit Freuden wieder ins System ein. Ein einziger Hai konnte die Verletzlichkeit des amerikanischen Traums bloßlegen. Offenbar ließ sich einiges über die amerikanische Gesellschaft lernen, wenn man sie einem Hai-Angriff aussetzte. Eigentlich Stoff für einen Roman … – Zeitgleich mit dem Beginn der Reihe von fünf Hai-Angriffen hatte am 1. Juli 1916 im fernen Europa die Schlacht an der Somme begonnen. Allein die englischen Truppen verzeichneten schon für den ersten Tag den Verlust von zwanzigtausend Menschenleben. Die Schlacht sollte sich noch bis in den November ziehen.

Hai-Experten pflegen auf die Bilanzen menschlicher Todesopfer zu verweisen, um zu belegen, wie ungefährlich ihre Lieblingstiere eigentlich sind, und schimpfen sodann auf die von Medienberichten ausgelöste Hysterie. Um die 100 000 Menschen sterben jährlich an Schlangenbissen, 25 000 an Hundebissen; 1000 nach Krokodilangriffen und 2000 durch Bandwürmer. Mit runden zehn Todesopfern pro Jahr liegt der Hai weit hinten, etwa gleichauf mit dem Wolf und knapp vor dem Helmkasuar. Dennoch gehört der Hai zu den meistgefürchteten Tieren und gilt als einer der führenden Auslöser von Phobien. Aus Angst vor einem Haiangriff bringen selachophobische Menschen es nicht über sich, in einem Meer zu baden – tatsächlich kommen vor fast jeder Küste ab einer Wassertemperatur von 18° C Haie vor. Doch Haipanik kann schwer Betroffenen auch das Baden in Binnengewässern, Badeseen und sogar Hallenbädern unmöglich machen, was eindrucksvoll belegt, dass sachliche Aufklärung oft wenig bei der Bekämpfung von tiefsitzenden Ängsten hilft, ebenso wenig wie Statistiken über die reale Wahrscheinlichkeit eines Haiangriffs. Auch Verhaltensratschläge, man könne einen Hai möglicherweise in die Flucht schlagen, wenn man ihm fest gegen die Kiemen haut, dürfte bei von schwersten Ängsten Befallenen für wenig Erleichterung sorgen. Der Hinweis, dass in der Konfrontation mit einem Hai Angstsignale einen Angriff wahrscheinlicher machten und es daher ratsam sei, sich kurzerhand nicht zu ängstigen, zählt zu den besonders unproduktiven Ratschlägen.

Es stimmt ja: Hunderte Millionen von Menschen baden, tauchen, surfen alljährlich im Meer, und kein Dutzend wird vom Hai getötet. Ist das dann so wichtig? – Ja, denn manchmal macht es nicht die Zahl, sondern die schiere Möglichkeit. Da hat ein einziger Mensch mal den Mond betreten, während drei Milliarden zu Hause bleiben mussten, und doch war die Aufregung begründet, denn die Welt war dadurch eine andere geworden. Über die Zahl sollte man nicht feilschen. Besser wäre es einzusehen, dass Ängste im Gegensatz zu Befürchtungen nicht Ergebnisse einer Risikoabschätzung sind. Versuchen wir es mit der These, dass Angst vor Haien sehr wohl begründet ist, auch wenn das Ereignis eines wahrhaftigen Angriffs sehr, sehr unwahrscheinlich bleibt. Das unheimliche Geräusch bleibt unheimlich, auch wenn es uns nichts tut und uns eine plausible Erklärung angeboten wird: In dürren Blättern säuselt der Wind. Die Unheimlichkeit ist ein Phänomen eigenen Rechts und interessiert sich nicht für reale Gefahren. Das Unheimliche ist unheimlich, weil es eine Gewissheit, eine Behaglichkeit, ein Welt-Vertrauen in Frage stellt. Das ungeschützte Sonnenbad am Mittagsstrand ist gefährlich, aber kein bisschen unheimlich. Das Meer hingegen ist es schon, die Tiefe, das kalte, ins Dunkle ziehende Blau. Nein und nein: Der Mensch gehört nicht ins Meer. Kaum ein Primat, kein Gorilla, kein Schimpanse und Pavian käme auf die Idee, allein zum Spaß im offenen Meer schwimmen zu gehen. Fische, Krebse und Muscheln fangen kann man auch in Ufernähe im Knöcheltiefen. Doch als ausgesprochenes Landtier den Grund unter den Füßen aufgeben, ins Treiben geraten, sich Wellen und Strömung hingeben, solcherart die Kontrolle fahren lassen – zu tun, wogegen alle Instinkte sich empören: das konnte nur der Spezies einfallen, die gegen Ende das Bungee-Jumping erfand. Immerhin ist es ja so, dass das ruhige Meer dem Menschen nichts tut. Es interessiert sich nicht für den kleinen, nackten Fremdling, der da verloren auf seiner Oberfläche treibt und die zarte Haut seiner Unterseite der kalten Tiefe entgegenhält. Solange nicht Stürme und Wellen sein Schifflein verschlingen oder seine Häuser überschwemmen, hat der Mensch vom Meer nichts zu befürchten. Die existenzielle Beunruhigung bleibt symbolisch und daher tauglich für Nervenkitzel und schaudernden Genuss. Fische sehen uns kaum an und touchieren uns allenfalls beiläufig mit schlammigem Streif, was der Fisch mindestens ebenso wenig wünscht wie der samtig-feucht berührte Mensch. In Begegnungen mit dem Meer erfährt der Mensch vornehmlich das Unergründliche des eigenen Unbewussten. Trifft ein Mensch in Geschichten auf sprechende Fische, so artikulieren sie häufig verdrängte Sehnsüchte, Ängste und Wünsche; gerne auch sexueller Natur, wenn sie nicht gar selbst die Gestalt erotischer Wunschbilder annehmen, wenigstens in der oberen Körperhälfte. Das Meer berührt den Menschen, doch nur als Erinnerung an sich selbst; undeutlich, flüchtig, mehr geahndet als erkannt. Die Gefährlichkeit des Meeres für den Menschen liegt in ihm, in seinen Abgründen, die das Meer freizuspülen fähig ist. Ja, es vermag den Menschen zu ziehen, aber nur dorthin, wohin er heimlich zu sinken begehrt. Das Meer ist das Element des Sirenengesangs, in dem nur untergeht, wer es insgeheim ersehnt; ein weibliches Element, umfangend und feucht, und bedrohlich nicht auf die harte Art. – Doch auf einmal bricht das Schreckliche herein. Da teilt sich die Flut, und unter dem Menschlein, schutzlos, frei treibend, freiwillig entblößt, öffnen sich ungeheure Kiefer mit einem Heer nachrückender Zähne, von denen jeder einzelne ein sägezackiger Alptraum ist. Der Hai ist das Harte, Männliche, Konkrete. Das Eindeutige. Der reine Zahn, das brutalstmögliche Gebiss, übertrieben scheußlich wie für einen Splatterfilm kreiert. Die pure Faktizität ohne den geringsten Deutungsspielraum. Aller menschlichen Verfeinerung, Überhöhung, Sublimation des Körperlichen ein gleichgültiger Hohn. Die schiere Möglichkeit des Hais ist das Dementi aller Poesie; und nur ein Narr könnte davor nicht die allergrößte Angst haben.

»Die Kiefer schlossen sich um ihren Torso, zermalmten Knochen und Fleisch und Organe zu einem Brei. […] Unter der Oberfläche schüttelte der Fisch den Kopf hin und her, seine dreieckigen, gezackten Zähne sägten sich durch die wenigen Sehnen, die noch widerstanden. Der Leichnam fiel auseinander. Der Fisch schluckte, drehte sich dann, um weiterzufressen. Sein Hirn zeigte immer noch die Signale einer nahen Beute an. Das Wasser war mit Blut und Fleischfetzen durchsetzt, und der Fisch konnte Signal von Substanz nicht unterscheiden.« In Augenblicken wird aus einer Frau formlose Substanz, zermalmt von schieren Kiefern. Jaws, Kiefer, lautet auch der Originaltitel von Peter Benchleys Roman, der die Vorlage für den bis dahin erfolgreichsten Blockbuster gleichen Namens wurde, der in Deutschland unter dem Titel Der weiße Hai in die Kinos kam. Der Film von Steven Spielberg folgt inhaltlich weitgehend dem Roman, der wiederum weitgehend den Ereignissen von 1916 an der Küste von New Jersey folgt. Spielberg und Benchley hatten erkannt, wie entlarvend diese Haiangriffe waren, wie glatt und leicht die Flosse des Hais den dünnen Firnis der Zivilisation zum Zersplittern brachte.

Der Hai selbst war dabei gar nicht allzu interessant, sondern die Panik war es. Schnell wird klar, was mit der angeratenen Strandschließung auf dem Spiel steht, und in dem friedlichen Badeort Amity beginnt ein Ringen ums wirtschaftliche Überleben, das in der Konsequenz mörderisch wird. Der geschäftstüchtige Bürgermeister erweist sich in Gier und Skrupellosigkeit als dem Hai ebenbürtig. Der Reiz der ersten Hälfte des Films, während der man noch keinen Hai zu sehen bekommt, liegt in dem Porträt des Städtchens als amerikanischer Mikrokosmos, der durch die Signatur der Haiflosse zum Alptraum der Egoismen wird. Das Ende aber zeigt einen archaischen Kampf dreier Männer, die ein – recht kleines – Boot besteigen, um den Hai zu töten. Damit wendet sich das Thema des Films von der Gesellschaftskrise hin zur Krise maskuliner role models. Drei Männer, drei Angebote, doch keines will überzeugen. Der knorzige Hai-Jäger, ein alter Haudegen, ein John Wayne der Meere, der schon Hunderte Haie erlegt hat, überschätzt sich und seine Waffen. Zum Schluss wird er gefressen, und zwar so anschaulich und ausführlich gekaut und verschluckt wie kein anderes Hai-Opfer des Films. Vorher berichtet er in alkoholgetränkter Sentimentalität, was ihn zum erbitterten Gegner der Haie gemacht hat: Und siehe da, er war einer der Überlebenden des USS-Indianapolis-Unglücks, die sich vier Tage lang in offener See gegen Haie wehren mussten. So verbindet Spielberg zwei amerikanische Ur-Erfahrungen der eigenen Verwundbarkeit, die Haiangriffe nämlich mit dem Angriff auf Pearl Harbour. Der Weiße Hai ist ein Angriff auf die USA, auf ihre Souveränität und das Gefühl der Unverwundbarkeit, die zugleich Grundlage einer florierenden Wirtschaft ist. Kein Zufall, dass Benchley / Spielberg den fatalsten Haiangriff just am 4. Juli, dem amerikanischen Nationalfeiertag, geschehen lassen. Mit mehr Glück als Verstand überleben die beiden anderen Männer den Showdown: der blasse, wasserscheue und brillentragende Polizeichef Brody sowie der spleenige und idealistische, schmächtige Meeresbiologe Hooper, der ebenfalls kein Heldenformat vorweisen kann. (Im Buch wird auch der Meeresbiologe aufgefressen: allerdings hatte er dort auch zuvor eine Affäre mit der Ehefrau von Brody.) Die Verspeisung des anachronistischen Haudegens aber wird der ausführlichste Auftritt des Titelhelden, eines sieben Meter langen Plastikhais nämlich.

Robert A. Mattey, Experte für Spezialeffekte, hatte sich unter anderem durch die Konstruktion des Riesenkalmars für die Verfilmung von 20.000 Meilen unter dem Meer einen Namen gemacht als Steven Spielberg ihn engagierte, um einen enorm großen Weißen Hai zu bauen. Spielberg taufte das 250 000 $ teure Modell Bruce, weil es ihn stark an seinen Anwalt Bruce M. Ramer erinnerte. Nach etlichem Ärger, Pannen und missglückten Drehtagen soll er ihm dann noch den Beinamen Großer weißer Scheißhaufen verliehen haben. Bruce hatte sich nämlich bereits am ersten Drehtag als nicht seetauglich erwiesen und war schon beim Stapellauf umstandslos auf den Meeresgrund gesunken, von wo Taucher ihn bergen mussten. Von Produzent David Brown ist überliefert, dass das spontane Versinken des Plaste-Hauptdarstellers den größten Schreckensmoment des ohnehin aufreibenden Drehs darstellte, weil es vorübergehend die gesamte Produktion infrage stellte. Immer wieder versagte Bruce den Dienst und tat nicht, was im Drehbuch stand, sodass in etlichen Hai-Szenen des Films lediglich die geniale Musik von John Williams einen Hai suggerierte, der gar nicht zu sehen war. Sie brachte ihm den ersten Oscar für eine Originalkomposition ein.

Der Autor Peter Benchley hat später öffentlich bereut, mit seiner Buchvorlage für den Kinohit zum schlechten Image des Weißen Hais beigetragen zu haben. In seinen späteren Jahren engagierte er sich für den Schutz der Tiere und schrieb ein Buch, das der sachlichen Aufklärung dienen sollte. Er wurde zum überzeugten Meeresschützer. Einen Bruder im Geiste hatte er in Richard O’Barry, allerdings einen recht radikalen Bruder. Der militante Delfinschützer befreite in Guerilla-Manier zahlreiche Delfine, saß dafür einige Male im Gefängnis, wurde zu zigtausend Dollar Geldstrafen verurteilt und genießt lebenslanges Hausverbot bei der Internationalen Walfang-Konferenz. Auch er war einstmals an einem Kinoerfolg beteiligt gewesen, der ein großes Meerestier mit dreieckiger Rückenflosse zum Mittelpunkt machte: Flipper kam 1963 in die Kinos, hatte zwei Nachfolgefilme und war Ausgangspunkt für mehrere Fernsehserien, die wiederum Remakes erlebten. Flipper wurde ähnlich Image-prägend wie Der weiße Hai, doch mit genau umgekehrten Vorzeichen. Flipper war klug wie ein Mensch, doch er übertraf Homo sapiens sapiens an Edelmut bei Weitem. Die Welt – jedenfalls der Teil, der US-Fernsehserien empfangen konnte – warf sich mit hemmungsloser Liebe auf die Delfine, und das bekam ihnen mindestens genauso schlecht wie den Haien die medial übersteigerte Abneigung. Überall eröffneten Delfinarien und Delfinschauen, wo die Tiere unter miserablen Bedingungen gehalten und zu albernen Kunststückchen abgerichtet wurden, dahinsiechten, depressiv und krank wurden und starben. Für die Dreharbeiten zur ersten Serienstaffel von Flipper hatte O’Barry als zuständiger Dompteur mit fünf Delfinweibchen gearbeitet, jahrelang. Nach Abschluss des Drehs wurden die beiden überlebenden Tiere verkauft, und es sollte ihnen nicht gut ergehen. Suzy starb nach kurzer Zeit in einem italienischen Zirkus an Lungenentzündung, Cathy beging sogar Selbstmord – so jedenfalls nach der Darstellung von Richard O’Barry. Diese Ereignisse wurden sein Damaskus-Erlebnis. Fortan kämpfte er mit allen Mitteln für die Freiheit der Delfine. Sein aufrüttelnder Dokumentarfilm Die Bucht wurde 2009 mit dem Oscar prämiert.