Viele Küsse - Annabelle Benn - E-Book

Viele Küsse E-Book

Annabelle Benn

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Beschreibung

Lust auf ... Küssen? Träumen? Verlieben? Einfach glücklich sein? In diesem Sammelband finden Sie fünf entzückende Liebesgeschichten. Frauen Ende 30 finden, meist ohne sie zu suchen, die langersehnte Liebe des Lebens mit großherzigen, bodenständigen Männern. Begleiten Sie die Traumpaare zu weniger bekannten Traumorten Europas: Madrid, Budapest, Triest, Salzburg, Grado und viele mehr. Die einzelnen Titel sind: - Süße Küsse (Berchtesgadener Land) - Zarte Küsse (Grado) - Wilde Küsse (Triest) - Ferne Küsse (Madrid) - Sinnliche Küsse (Budapest)

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Fünf Liebesgeschichten an den schönsten Orten Europas:
***Süße Küsse***
Kapitel Eins
Kapitel Zwei
Kapitel Drei
Kapitel Vier
Kapitel Fünf
Kapitel Sechs
***Zarte Küsse***
Der grüne Delphin
Von der Milchstraße und Seesternen
Heißer als im Roman
Immer mit der Ruhe
Ein wahrer Gentleman schweigt und genießt
Seesternenküsse
Der (viel zu) kleine Wagen
*** Wilde Küsse ***
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Epilog: Zwei Wochen später
*** Ferne Küsse ***
Jahrestage
Der Geburtstag
Soll ich, soll ich nicht?
Trau dich!
Lass uns reden
Nur kurz ...
Die Welt steht Kopf
Erklärungen
Man lebt, wenn man das Leben Leben sein lässt
Ohne Gepäck
! Viva Espana!
Endlich!
Love me tender, love me sweet
*** sinnliche Küsse *** ein Gentleman in Budapest
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Epilog

 

Fünf Liebesgeschichten an den schönsten Orten Europas:

 

- Budapest

- Madrid

- Grado

- Triest

- Berchtesgadener Land

 

Copyright: Annabelle Benn 2018 – 2020

Jegliche Vervielfältigung, auch auszugsweise, bedarf der schriftlichen Genehmigung der Autorin.

Impressum: Annabelle Benn, R.O.M logicware, Pettenkoferstr. 16-18, 10247 Berlin [email protected]

Bildrechte über depositphoto.com

 

***Süße Küsse***

 

Eine wahrlich süße Geschichte über Baumärkte, Marmelade und Traummänner im malerischen Berchtesgadener Land.

 

 

Kapitel Eins

 

„So, bitteschön!“ Ella schaltete den Föhn aus und lächelte Lena im Spiegel an. „Na, wie gefällt es Ihnen?“

Langsam öffnete Lena die Augen. Über eine Stunde hatte sie fieberhaft in einem an und für sich langweiligen Roman gelesen, denn um nichts in der Welt wollte sie einen Blick von ihrer halb-fertigen neuen Haarpracht erhaschen. Sie wollte kein allmähliches Dämmern, sondern das volle Abrakadabra-Bumm-und-Peng-Erlebnis. Das „Das ist Ihre neue Frisur und hier geht‘s zu Ihrem neuen Leben. Bitteschön. Macht 99,90 €“-Ding.

Endlich war es so weit.

Scheu blinzelte sie und wagte kaum zu glauben, was sie sah.

„Bin das ich?“, wisperte sie mit trockenem Mund und berührte vorsichtig ihr Haar. Es war so unglaublich weich und glatt! Mit angehaltenem Atem strich sie über die gesamte Länge. Unfassbar! Wie Samt und Seide fühlte es sich an. Einfach traumhaft.

Sie bekam nicht mit, ob und wie Ella darauf reagierte, denn zu sehr war sie von der attraktiven Frau im Spiegel fasziniert. Oder zumindest von ihrem Haar, das wie süßer Nusslikör über ihre Schultern floss und das Licht reflektierte. Das war das Haar einer Diva, einer Prinzessin, aber doch nicht das der entlaufenen Braut eines Waldschrats. Folglich konnte es unmöglich ihres sein. Also: Wer war das?

„Bin das wirklich ich?“, stieß sie hervor und schüttelte den Kopf.

Die junge Friseurin lachte. „Also, wenn Sie mich fragen, ja!“ Bestens gelaunt zwinkerte sie ihr zu, machte dann ein paar Schritte um ihre Kundin herum und betrachtete stolz ihr Werk. „Wunderschön, nicht wahr? Was für eine Verwandlung!“

Lena konnte es nicht glauben. Ja, in der Tat! Was für eine Verwandlung!

Vor etwas mehr als zwei Stunden hatten ihre Haare zwar noch bis zu ihrer schlanken Taille gereicht. Aber gut ausgesehen hatte das nicht. Im Gegenteil. Seit Jahren hatte sie die Spitzen nicht nachgeschnitten, weder das Ach-so- natürliche-Aschblond aufgepeppt noch die vereinzelten weißen Haare überfärbt.

Natürlich! Absolut natürlich hatte er sie gewollt, hatte immer nur davon geredet, wie oberflächlich, verachtenswert und seelenlos all die Menschen seien, die Trends nachliefen und was auf Äußerlichkeiten gaben. Allein die inneren Werte seien es, die zählten. Für ihn. Aber nicht mehr für sie. Denn war das Äußere nicht ein Spiegel des Inneren?

 

Jetzt war die einst struppige Mähne um mindestens dreißig Zentimeter kürzer, dafür schwungvoll durchgestuft und die Nicht-Farbe war unter einem schimmernden Kastanienbraun verschwunden, das das Moosgrün ihrer Augen intensiv leuchten ließ.

„Neues Haar, neues Leben!“, bemerkte Ella lächelnd, nahm einen großen runden Spiegel und ging damit um Lena herum, damit sie sich auch von hinten betrachten konnte.

„Oh ja!“, seufzte diese und konnte sich an sich selbst nicht sattsehen. Eitelkeit war eine Sünde, eine ganz schlimme noch dazu, das wusste sie - aber – Fuck it! Fuck Egon und seine ganzen Sprüche! Oh, wie sehr sie diesen selbsternannten Heiligen verabscheute!

Liebe war keine Sünde, dachte sie trotzig, denn jetzt endlich begann sie, sich wieder selbst zu lieben!

„Die Farbe passt hervorragend zu Ihrem Teint und den Augen. Genau, wie wir es uns vorgestellt hatten, nicht wahr?“, fragte Ella und riss sie aus ihrem aufkeimenden Groll.

„Ja, das tut sie. Vielen herzlichen Dank für die großartige Beratung!“, lobte Lena über das gesamte Gesicht strahlend.

„Wenn Sie wollen, könnten Sie sich noch schminken lassen. An jedem ersten Samstag im Monat haben wir eine kostenlose Make-up Beratung und meine Kollegin Sara hat gerade nichts zu tun, nicht wahr, Sara?“, fragte sie an eine junge Frau mit wunderschönen blonden Haaren gewandt. Diese nickte freundlich und kam zu ihnen herüber.

Lächelnd besah sie sich Lenas neue Frisur. „Sie haben so große Augen. Die könnten Sie mit wenigen Strichen noch viel stärker zur Geltung bringen. Darf ich?“

„Ähm – wie spät ist es denn?“ Nervös hielt Lena nach einer Uhr Ausschau.

„Kurz vor zwölf.“

„Also, bis eins hätte ich schon Zeit, aber spätestens dann muss ich los“, überlegte sie laut, da ihr der dringend notwendige Besuch im Baumarkt einfiel. Allerdings hatte sie bereits Honig geleckt und wollte noch besser aussehen, als sie es mit der schicken Frisur allein schon tat. Wenn schon eitel, dann richtig, dachte sie und streckte Egon innerlich die Zunge heraus.

„Bis dahin sind wir längst fertig. Außer sie möchten noch eine Mani-Pedi. Aber selbst dann geht es sich noch aus, wenn es Ihnen nichts ausmacht, dass Emily“, Sara sie zeigte mit dem Kopf zu einer Brünetten, „und ich gleichzeitig arbeiten?“

„Mani-Pedi?“, fragte Lena, die einen Moment brauchte, um zu verstehen. „Ach so … und zu zweit?“

„Ja. Wir machen Ihnen einen Sonderpreis. Jetzt im August ist nicht viel los, wie Sie sehen.“

„Das liegt an der Hitze, nehme ich an ...“, wandte Lena ein.

„Auch, und an den Ferien. Bis dreizehn Uhr sind Sie fertig und megaschick für Ihr Date heute Abend.“

Lena riss die Augen auf. „Date? Ich hab doch kein Date!“

„Nein?“

„Nein!“

„Oh …“ Ratlos sahen Ella und Sara sich an.

„Also, dann – was nicht ist, kann ja noch werden! Warten Sie mal kurz!“, rief Ella und eilte davon. Sekunden später kam sie mit einem Flyer zurück. „Single Party im Alpenhain.“

Zweifelnd beäugte Lena das Stück Papier, drehte und wendete es und lachte glucksend auf. „Aha. Interessant. Gut. Danke. Ich überleg‘s mir mal.“

„Das ist der Hammer dort! Wir gehen auch ab und zu hin. Also ich ja nur als Begleitung“, haspelte Ella, drehte ihren Ehering am Finger und schielte zu Sara, die zustimmend nickte.

„Dort lernt man jede Menge Leute kennen. Kein derbes Anmachen. Hat echt Stil der Laden! Und die Musik geht voll ab.“

Eine richtige Disko? Oder hieß das nicht längst Club? Lena biss sich auf die Unterlippe und senkte den Kopf. Dafür war sie doch viel zu alt! Wann war sie eigentlich zuletzt in einer gewesen? Richtig – in ihrem vorigen Leben! Bevor … Vor Egon … Allein der Name! Wie konnte man sein Kind nur so nennen! Ego-Egon, dachte sie bitter und schüttelte sich erneut.

„Also, ja, gut. Warum eigentlich nicht!“ Lena nickte, denn die immer leicht unreine und gerötete Haut passte nicht mehr zu der Haarpracht. Sie folgte Sara, ließ sich in einen bequemen Stuhl sinken und stieß wenig später den nächsten entzückten Schrei aus. Die Frau, die ihr jetzt aus dem Spiegel entgegenblickte, hatte Pepp und Klasse. Vor allem aber wirkte sie natürlich schön. Bei dem Wortspiel grinste Lena verschmitzt. Ja, natürlich war sie schön, aber nicht ganz so natürlich wie Egon das wollte. Auch die Brauen waren gezupft und ließen ihr Gesicht so weicher erscheinen. Unglaublich, dachte sie bei sich, was so ein paar Handgriffe für einen Unterschied machen können.

„Da sehen Sie, was so ein bisschen getönte Tagescreme und ein bisschen Make-up ausmachen.“

Mit einem dicken Kloß im Hals nickte Lena. „Unglaublich.“

„Ja? Ich freue mich, dass es Ihnen gefällt!“

„Gefällt?“ Lena rang nach Atem. „Gefällt ist überhaupt kein Ausdruck! Das bin ja gar nicht mehr ich! Ich meine, so sah ich früher aus!“

Sie kniff die Augen zusammen und streckte den Kopf nach vorn. Die Frau im Spiegel kniff die Augen zusammen und streckte den Kopf nach vorn. Ja, doch, das war keine Täuschung: Das war sie.

„Dann sind Sie zufrieden?“, fragte Sara gerührt und legte ihr sacht die Hand auf die Schulter.

„Ja“, flüsterte Lena benommen und legte ihrerseits ihre kurz auf Saras, zog sie dann aber erschrocken weg.

Sara betrachtete sie eine Weile, dann winkte sie Emily zu sich und sagte: „Dann hübschen wir jetzt noch die Hände und Füße auf, okay?“

„Okay.“ Lena nickte freudig und spürte, dass sich eine längst vergessene Wärme in ihr ausbreitete. Es kribbelte überall in ihrem Körper und in ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Auf alle Fälle würde sie am Abend ins Alpenhain fahren und sich endlich mal wieder prächtig amüsieren. Sie würde auf einem Barhocker sitzen, einen Fruchtcocktail in der Hand, und vergnügt zusehen, wie die anderen sich amüsierten. Vielleicht würde sie sogar einen richtigen Cocktail trinken, einen mit Alkohol, und sich ein Taxi nachhause nehmen? Oder gar mit dem ein oder anderen Mann heiße Blicke tauschen … Warum nicht? Warum eigentlich nicht? Sie war frei und jung, zumindest aus der Perspektive eines Rentners betrachtet, der auf ihre 37 müde herunter lächeln konnte.

Aber – siedend heiß fiel es ihr ein: Sie hatte nichts zum Anziehen! Sie überschlug den Zeitplan, gab sich eine Stunde zum Shoppen, eine Stunde, die sie nicht hatte, wenn sie die Regale kaufen, aufbauen und meditieren… ach, Jahr und Tag hatte sie meditiert und was hatte es gebracht? Genau! Egon!

Also heute nicht meditieren. Morgen wieder. Oder übermorgen.

Völlig verwandelt verabschiedete sie sich mit einem üppigen Trinkgeld von den drei Verschönerungs-Feen. Am liebsten wäre sie ihnen spontan um den Hals gefallen, ließ es aber bleiben.

Mit diebischer Freude steckte sie die Tüte mit dem Make-up, das sie Sara abgekauft hatte, in ihre Tasche und zwang sich, nicht vor Lebensfreude durch die Fußgängerzone zu hüpfen.

Und jetzt neue Kleidung! Nun hüpfte sie doch, aber nur mit einem Bein und nur kurz. Verstohlen sah sie sich um, ob jemand ihre Albernheit bemerkt hätte. Hatte zum Glück niemand. Nur nicht trödeln! Denn wenn sie die Regale heute nicht besorgte, würde sie sie nie kaufen, dafür kannte sie sich zu gut. Und sie brauchte die Abstellflächen. Dringend. Also: Eine Stunde, ermahnte sie sich und stellte resolut den Handy-Wecker.

Zu ihrer großen Begeisterung hatte sie schon nach wenigen Minuten ihr persönliches Traum-Kleid gefunden. Es war weiß, mit grünen und goldenen Palmblättern bedruckt und wie für sie gemacht. Weich schmiegte es sich an ihren schlanken Körper, reichte bis knapp über die Knie und der Ausschnitt entblößte weder zu viel noch zu wenig. „Meins!“, verkündete sie strahlend und gluckste dabei vergnügt.

„Mit einem Push-up BH wäre es perfekt“, sinnierte die Verkäuferin und bevor Lena noch etwas antworten konnte, hob diese freundlich aber bestimmt die Hand.

Sie war eine hervorragende Verkäuferin, denn in der vorgesehenen Zeit hatte sie für Lena nicht nur noch zwei Tageskleider, sondern auch zwei Paar Schuhe (eins für jetzt, eins für den Abend), zwei Taschen (eine für jetzt, eine für den Abend) sowie den Push-up BH und ein schönes Dessous gefunden.

 

„Kann ich das Wickelkleid gleich anlassen?“, fragte sie.

„Natürlich. Die Schuhe auch?“

„Auf alle Fälle! Und hätten Sie bitte eine extra Tüte für die Sachen, in denen ich gekommen bin?“

„Ja, sicherlich.“ Die Verkäuferin grinste breit und nickte wissend.

Zum Glück spielte Geld keine Rolle, da Lena in der Zeit mit Egon keine Gelegenheit gehabt hatte, welches auszugeben, und aus einem unerfindlichen Grund selbstsüchtig, oder schlau genug gewesen war, nicht alles für wohltätige Zwecke zu spenden.

 

Mit ihren Einkäufen schlenderte sie durch die gut besuchte Bad Reichenhaller Fußgängerzone zum Parkplatz. Vorbei an Einheimischen und Sommergästen, die in Cafés saßen, lasen, sich unterhielten oder die Sicht auf die Alpen genossen, oder ihr bewundernd nachblickten.

Ihr!

Aber nicht trödeln!

Keine weiteren Shopping-Eskapaden, auch wenn sie sich nach der jahrelangen Abstinenz wie ein Drogen-High anfühlten.

Nein.

Das nächste Geld würde für Regale über den Ladentisch wandern. Regale für die Marmelade.

Marmelade, die es unmöglich machte, sich im Keller frei zu bewegen, weil sie überall auf dem Boden stand. Dem Kellerboden. Ein Ort, an den Marmelade definitiv nicht hingehörte. Marmelade gehörte, ordentlich nach Sorten sortiert, in Regale. Und solche musste sie dringend kaufen, denn Ordnung war das halbe Leben und auf dieser Seite lebte sie.

Am Tempolimit brauste siein den Baumarkt, wo sie die bescheuerten Regale für die mindestens genau so bescheuerten Gläser mit eingekochten Früchten endlich erstehen würde. Und wer war schuld an dem ganzen Stress? Egon natürlich! Weil man Essen, also auch Fallobst, nicht wegwarf und weil ihr mit jedem Topf Marmelade bewusster wurde, wie dumm sie gewesen war.

 

 

 

 

Kapitel Zwei

 

An ihrem Musikvorrat würde sie ebenfalls arbeiten müssen. Die semi-sakralen Klänge, mit denen sie sich Jahre lang den Verstand vernebelt hatte, gehörten in die Tonne. Und natürlich besaß sie weder einen I-pod, noch ein Smartphone, sondern nur ein lahmes Prepaid Handy, dessen Klingelton nicht mal als Musik, sondern als krächzendes Rattern bezeichnet werden musste. Aber immerhin! Besser als gar nichts. Sie lachte, zuerst bitter, dann belustigt und stellte den Motor ab. Sie hatte ihr Ziel nämlich erreicht:

Den Baumarkt. Was für ein Witz! Dafür hatte sie eine Kundenkarte – aber für das einzig vernünftige Bekleidungskaufhaus im Landkreis nicht!

„Mit Highheels in den Heimwerkermarkt“, dachte sie und kicherte. Dann fiel ihr ein, dass sie noch ein Paar Birkenstock im Kofferraum hatte. „Im Leben nicht! Ich bin doch nicht bescheuert und gehmit den Dingern noch mal unter die Leute. Oder überhaupt irgendwohin!“, empörte sie sich und zeigte sich selbst einen Vogel. In Wahrheit waren die neuen Schuhe gar keine Highheels. Der Absatz war zwar dünn, aber nur rund sechs Zentimeter hoch. Was immerhin sechs Zentimeter mehr waren als ihre üblichen Flachtreter. Somit befand sie sich in beinahe schwindelerregenden Höhen. Wild entschlossen, sich von derartigen Nebensächlichkeiten nicht in die Knie zwingen zu lassen, stieg sie aus, griff nach der neuen Tasche, öffnete den Kofferraum, nahm die ausgetreten Latschen und beförderte sie mit spitzen Fingern in den nächsten Abfalleimer. Leider würde sie den Rest ihres Kleiderschranks nicht auf die gleiche Weise entsorgen können. Aber war nicht sogar ein Altkleidercontainer zu stolz dafür?

Sie stöckelte zu den Einkaufswagen und nahm einen, auf die man zwar gut Platten und Regale stapeln konnte, die sich aber nur sehr schwer lenken ließen. Geistesgegenwärtig drehte sie sich um und zog das widerspenstige Ding hinter sich her. Dass man für Schönheit in der Tat leiden musste, wurde ihr auf den hohen Haken schmerzhaft bewusst. Barfuß oder mit flachen, robusten Schuhen hätte sie eine weitaus überzeugendere Figur gemacht, dessen war sie sich sicher. Aber das war nun egal. Die Latschen waren im Müll, und dort gehörten sie hin. Aus, bumm, basta.

Zu allem Überfluss musste man abbiegen, um zu den Regalen zu kommen. Ebenfalls noch sehr geistesgegenwärtig zog sie das Ungetüm in einem halben Bogen so nah wie möglich am Körper herum. Doch nun kam das lahme Ding in Fahrt! Mit vollem Schwung krachte es in einen Stapel Katzenstreu, der völlig deplatziert mitten im Weg stand. Wer tat den so was! Entsetzt ging sie in die Knie und stellte erleichtert fest, dass nichts fehlte.

„Brauchen Sie einen oder zwei Säcke davon?“, fragte da auch schon eine Männerstimme hinter ihr. Sie drehte sich um und starrte in ein völlig zerpierctes Gesicht, das sie frech angrinste.

„Eigentlich gar keinen. Aber das steht hier im Weg rum. Ich mein – wie soll ich denn da dran heil vorbeikommen!“

„Ach, Mylady, ich würde sagen: außen! Sie sind doch schlank“, feixte er zurück, streckte die Hand aus und fasste den Griff. Dabei zeigte er die pechschwarzen Tattoos auf seinen Armen, die ziemlich geil aussahen, wie Lena zu ihrer großen Überraschung plötzlich fand.

„Ha, das hat damit nichts zu tun. Die Dinger lassen sich nicht lenken!“, wies sie ihn freundlich auf die Fehlkonstruktion hin und zeigte auf den Wagen.

Er stieß ein belustigtes Schnauben aus und schenkte ihr einen Blick, als wolle er sagen: „Kleines Mäuschen, komm, lass dir helfen.“ Laut sagte er jedoch: „Ich weiß. Dazu braucht man einen Spezial-Führerschein. Fahrstunde gefällig?“

Geschlagen kicherte sie und zuckte die Schultern.

„Wo soll‘s denn hingehen?“ Jetzt erst fiel ihr auf, wie groß und muskulös er war.

„Zu den Regalen.“ Treuherzig blickte sie ihn an. Blaugrün waren seine Augen, und sie lächelten. Das gefiel ihr. Auch wenn der Kerl sonst gar nicht ihr Typ war. Oder nur noch nicht?

„Aha. Und zu welchen genau?“, fragte er leise nach, senkte den Kopf und ließ sie nicht aus den Augen.

„Zu Marme- zu Kellerregalen!“

„Zu den Marmeladenregalen? Na, dann kommen Sie mal mit.“

Lena tat, wie ihr geheißen und schüttelte innerlich den Kopf. Was wollte sie denn mit dem gepiercten Tattoo?

Verstohlen schielte sie zur Seite. Kurz blieb sie an gebräunter Haut und starken Männerarmen hängen, die aus einem weißen, hochgekrempeltem Hemd ragten. Reichte das neuerdings aus, um sie völlig aus der Fassung zu bringen? Nicht ganz, denn das war noch längst nicht alles von diesem Wunder an Mann. Feurig dunkle Augen, kantige Gesichtszüge und ein so intensiver Blick, dass es ihr abwechselnd heiß und kalt wurde. Als hätte sie sich verbrannt, zuckte sie zusammen und wandte sich hastig ab.

„Bitte schön, hier wären wir. Wie kann ich der Dame denn sonst noch helfen?“

„Mir?“, stammelte sie mit einem Mal nervös, denn der Fremde in dem weißen Hemd, dessen oberste Knöpfe zu allem Überfluss auch noch offenstanden, war ihnen gefolgt. Was dachte sich ein Mann eigentlich dabei, so auf die Straße zu gehen?

„Ja, wem denn sonst?“, fragte das Tattoo und grinste sie an. Neben dem anderen Mann, der Mitte vierzig sein durfte, wirkte er auf einen Schlag unattraktiv.

„Ähm, danke. Ich – schau mich erst mal um. Auch wenn man es mir nicht ansieht, aber ich weiß genau, was ich will.“

„Aha. Na, daran habe ich auch keinen Zweifel. Find ich gut, Frauen, die wissen, was sie wollen. Aber falls doch was ist, hilft Ihnen einer meiner Kollegen gern weiter. Ich hab nämlich eigentlich längst Feierabend.“

„Oh, sorry, ich wollte Sie nicht aufhalten. Danke für die Hilfe!“, stammelte sie.

Was tun?

Der Mann war so atemberaubend schön, so unsagbar männlich und so verstandabschaltend sexy, dass sie wie gelähmt war.

Ruhe bewahren, ermahnte sie sich und holte tief Luft Immer schön Ruhe bewahren. Das war eine alte Weisheit, die niemals die Gültigkeit verlor. Oder doch?

Vielleicht fand das pralle Leben aber jenseits der Ruhe statt, schoss es ihr durch den Kopf, während sie fieberhaft überlegte, wie sie sich verhalten sollte.

Was tun?

Sie hatte vor, so schnell und unauffällig zu ihm zu schauen, dass er es nicht bemerken konnte. Dabei hatte sie jedoch mit einem nicht gerechnet: Dass er schneller war als sie.

Ihre Blicke trafen sich. Einen Augenblick nur. Lang genug, dass sie wie elektrisiert zusammenzuckte.

Das konnte doch nicht sein! Der Mann war so atemberaubend schön und sah jemanden, irgend jemanden, so selbstsicher und verführerisch an, dass er unmöglich sie meinen konnte. Alles an ihm war schön, einfach alles. Auch, oder ganz besonders, sein symmetrisches Gesicht mit den breiten Wangenknochen– die Augen, die sie an einen starken Espresso erinnerten und erst diese vollen Lippen, die ...

Völlig neben sich schloss sie die Augen und brauchte einige Augenblicke, um sich zu sammeln. Stopp. Moment. Erde an Lena: Wo war sie? Weswegen war sie hier?

Ach ja, genau. Regale. Marmelade. Keller. Aufbauen. Heute noch.

Okay. Kein Problem. Im Handwerken war sie in der Zeit als Frau des Waldschrats gut geworden. Sie kannte sich also aus und wusste, was sie brauchte, und das waren standfeste Regale, keine wackeligen Plastikdinger wie die hier für 9,99 Euro.

Wenn nur der Mann endlich wegginge und folglich aufhören würde, sie so durcheinanderzubringen! Wie sollte sie sich da auf etwas so Weltliches wie Kellerregale konzentrieren? Aber dieser überirdische Adonis ging nicht weg. Sondern stand noch immer dort, wo er gestanden hatte, und sah sie noch immer an, das spürte sie, auch ohne sich umzudrehen. Es half alles nichts. Sie ging in die Hocke, beäugte, befühlte, watschelte ein paar Meter zu den nächsten Regalen, beugte und lehnte sich hierhin und dorthin, um Maße, Material und maximale Belastung zu vergleichen.

Die hier waren nicht nur günstig, sondern laut Beschreibung auch am stabilsten. Drei davon passten genau nebeneinander. Wunderbar, das war ja schneller gegangen, als gedacht!, freute sie sich und nahm das erste Paket so fest sie konnte, um es auf den leidigen Wagen zu ziehen. Fest zog sie an den Brettern. Doch nichts rührte sich. Sie waren schwer aufgrund der stabilen Seitenteile aus Eisen, die noch dazu scharfkantig waren. Als wäre das nicht genug, waren sie in eine rutschige Plastikfolie verpackt. So was Blödes! Sie zog erneut daran, bewegte das oberste Paket ein paar Zentimeter und wie sie sich so in den Boden stemmte und zog und zerrte, neigten sich ihre Absätze gefährlich weit zur Seite.

„Huch!“, entfuhr es ihr auch noch zu allem Überfluss.

Sein Blick brannte auf ihr. Angestrengt starrte sie auf die Bretter.

Aber was war das? Kam er etwa näher?

Oh. Mein. Gott.

„Darf ich Ihnen helfen?“, vernahm sie da eine tiefe, warme Stimme dicht neben sich. Sehr dicht neben sich. So dicht, dass sie nur zu dem Menschen gehören konnte, der eine pulsierende Hitze ausstrahlte und unwiderstehlich duftete. Nach einer Mischung aus einem leichten Sommerparfüm – Marke unbekannt - und ihm selbst – Marke: pure Männlichkeit, leider ebenfalls unbekannt.

Sie schluckte und suchte nach Worten. Dabei hätte ein einfaches Ja, oder ein Nicken gereicht.

„Es ist – also – wissen Sie ...“

Er schwieg ein oder zwei Atemzüge, als wolle er abwarten, ob sie noch etwas hinzufügen würde.

„Heißt das Ja?“, fragte er mit einem hörbaren Schmunzeln.

Sie nickte und krächzte endlich: „Ja.“

„Da bin ich aber froh“, meinte er noch immer grinsend und machte einen Schritt auf die Bretter, und damit auf sie, zu. Wie elektrisiert tat sie einen Satz zur Seite und kippte dabei endgültig um. Um das letzte bisschen Würde bemüht, versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen und tat, als sei nichts gewesen. Und er war Gentleman genug, um das Gleiche zu tun.

„Wie viele brauchen Sie denn?“, fragte er in sachlichem Ton.

„Drei“, rief sie erleichtert, weil sie über die Antwort nicht nachdenken musste.

„Na, da haben Sie ja einiges vor“, bemerkte er und hievte das erste Paket auf den Wagen, den Lena festhielt.

„Ich? Ach nein. Das hab ich gleich. Ich bin gut in so was, ehrlich“, versicherte sie tapfer.

Er legte das Paket ab, richtete sich auf und ließ seinen Blick von ihren lackierten Zehennägeln bis zu ihren gefärbten Haarspitzen wandern.

„Tatsächlich“, sagte er dann so langsam und mit einer so kehligen Stimme, dass ihr ganz anders wurde, nämlich so, als würde ihr Körper von einem Frühlingswind durchweht.

„Ja, wirklich!“, beteuerte sie und suchte reflexartig seinen Blick, um den Wahrheitsgehalt ihrer Worte zu unterstreichen. Das war ein Fehler, denn nun wurden ihre Knie so weich, dass sie erneut das Gleichgewicht verlor. Wäre es sehr dumm, und würde er sehr laut lachen, wenn sie die Schuhe ausziehen und ihm die gesamte Situation erklären würde? Frei nach dem Motto: „Ich bin quasi eine Außerirdische, die vor weniger als vier Stunden auf der Erde gelandet ist. Davor war ich Jahre lang mit einem Waldschrat zusammen, der mich zur Königin aller Waldschrätinnen gemacht hat. Nicht, dass Sie sich jetzt vor mir ekeln und mich für geisteskrank halten. Mir geht‘s gut, ging‘s nie besser! Wenn Sie mir nicht glauben: Meine alte Schale finden Sie im dritten Abfalleimer links in der Reichenhaller Fußgängerzone. Und das alles erzähle ich Ihnen nur, damit Sie verstehen, warum ich umgekippt bin und so unreif auf sie reagiere. Denn Waldschrat ist man nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Sie sind also gewissermaßen der erste Mann, denn ich sehe. Seit Jahren. Und Sie … Sie sind ein Mann … und was für einer,

dachte sie zum Glück nur, schluckte aber heftig, bevor sie ihren trockenen Mund öffnete und etwas nicht minder Albernes von sich gab. Nämlich: „Nur ziehe ich mir vorher natürlich etwas Anderes an.“

Da legte der Mann aller Männer den Kopf in den Nacken und trötete los. Doch auch er schien sich zu besinnen, denn er legte die Hand auf den Mund, wodurch er sein Grinsen jedoch nur halb verdeckte, senkte Kopf und Blick. Letzterer war wie Bitterschokolade: herb, und doch süß. Oder wie ein See an einem Juliabend. Geheimnisvoll, dunkel, aber einladend warm und gleichzeitig erfrischend. Sein Blick sog sie auf und ihr war, als könne sie beinahe schwerelos darin baden.

„Tatsächlich“, sagte er noch einmal und und grinste so breit, dass sie eine Reihe weißer Zähne sehen konnte.

„Tatsächlich, ja!“, bekräftige sie kurzatmig.

Atmen, tief durchatmen, und Om chanten, fiel ihr ein. So ein Schwachsinn! Auf keinen Fall würde sie egon-like Om summen und damit den schönsten Mann des letzten Jahrzehnts – ach was, ihres gesamten Lebens! - in die Flucht schlagen! War sie denn noch ganz bei Trost? Dann lieber einen auf dumm machen.

„Das würde ich aber gern sehen“, konterte er trocken und weil seine Stimme zum Satzende hin leiser wurde, ahnte sie, dass er das nicht hatte laut sagen wollen.

Allerdings ging es ihr ähnlich wie ihm, denn auch ihr vom Mund gelöster Verstand hauchte ein „Ach“, während sie ihn unvermindert begehrlich anstarrte.

Er drehte sich um, hievte im Handumdrehen die restlichen zwei Pakete auf den Wagen und würdigte sie dabei keines weiteren Blickes.

Völlig verdattert blieb Lena stehen. Was war in ihn gefahren? Er war wie ausgewechselt und kränkte sie beinahe mit seinem völlig aus dem Rhythmus geratenen, da viel zu schnell gesprochenem: „Nun gut. Ich sollte dann mal rasch meine Sachen besorgen. Der Laden schließt ja gleich.“ Mit einer Hand fuhr er sich dabei über den Mund und das markante Kinn, mit der anderen durch das volle schwarze Haar. Lenas Verstand tat, was sie nicht wollte, und malte sich aus, wie sich sein Haar zwischen ihren Fingern anfühlte, da glitt seine Hand in seinen Nacken.

Es gibt Momente, in denen man so stark an etwas denkt, dass einem ist, als würde man tatsächlich aus Zeit und aus Raum heraus- und in die vorgestellte Situation hineingerissen.

Dieser Moment war so einer.

Es war wie Feuer. Flüssiges Feuer, wie Lava, die durch ihre Blutbahnen strömte, als sie in dieser Parallel-Realität die Arme um einander schlangen, sich aneinander pressten und sich leidenschaftlich küssten.

Im nächsten Augenblick war der Moment schon wieder vorbei. Völlig orientierungslos fand sie sich noch immer zwischen Kellerregalen und Bohrmaschinen vor ihm stehen.

„Ähm. Ja“, stotterte sie, als gerade die Durchsage aus den Lautsprechern schallte, dass der Laden in zehn Minuten schließen würde. „Also, ja, dann herzlichen Dank“, brachte sie mühevoll hervor, ohne den Blick von ihm abzuwenden. Widerwillig begann sie, den Wagen zur Kasse zu schieben, was dazu führte, dass sie über die Bretter stolperte. Doch er war der perfekte Gentleman, der keine Miene verzog, sondern so tat, als sei nichts passiert.

„Ziehen ist leichter, empfahl er stattdessen mit einer so tiefen und irgendwie traurigen Stimme, dass sie einen weiteren Anlauf brauchte, um sich in Bewegung zu setzen.

„Ja, richtig. Danke“, murmelte sie und schaute endlich nach vorn auf den Boden.

„Dann auf Wiedersehen“, hörte sie ihn hinter sich. Langsam drehte sie sich noch einmal um, hob die Hand und ertrank beinahe erneut in dem Espressobraun seiner Augen.

„Auf Wiedersehen. Und schönes Wochenende“, antwortete sie, dann machte sie auf den hohen Absätzen kehrt und zog die Regale hinter sich her zur Kasse.

Geistesabwesend stellte Lena sich an und war so in ihre Tagträume von Vulkanmännern, Espresso-Augen und Lavablut vertieft, dass sie zunächst nicht auf das eigenartige und doch vertraute Gefühl reagierte. Das Gefühl, wenn jemand einen lange anschaut. Oder: wenn er sie lange anschaute. Wie ferngesteuert drehte sie den Kopf zur Seite. Er stand an der gegenüberliegenden Kasse ein wenig hinter ihr.

Sie lächelte. Er lächelte. Keiner sagte ein Wort.

Sie war dran, bezahlte und zog den Wagen zum Ausgang. Als sie sich dort ein letztes Mal umdrehte, war er gerade damit beschäftigt, all seine Sachen auf das Band zu legen. Er sah sie nicht.

Schade, dachte sie, hob enttäuscht die Schultern und eierte, den Wagen hinter sich herziehend, hinaus in den noch immer erschlagend heißen Nachmittag.

 

 

Kapitel Drei

 

Als sie ihren schicken schneeweißen Fiat 500 in der flirrenden Hitze auf dem Parkplatz erspähte, wurde ihr eins schlagartig bewusst: Die Regale passten da nicht rein.

War es wirklich wahr, was Ekel-Egon ihr immer eingebläut hatte? Nämlich, dass unter Make-up und Haarfarbe weder Platz für Hirn noch für Persönlichkeit war?

Tränen der Wut traten in ihre Augen. Und Tränen der Verzweiflung.

Was war nur los mit ihr? So etwas wäre ihr doch bis gestern unter keinen Umständen passiert! Und heute? Lag es an ihrer Verwandlung? An der Hitze? Oder an dem Fremden?

Hoffentlich sah der Fremde sie nicht. Hoffentlich musste er in eine andere Parkplatzspur. Hoffentlich …

Sie musste zurück! Der Baumarkt vermietete doch Lieferwagen! So einen konnte sie fahren, zumindest mit den ausgelatschten Birkenstock, die noch in dem Mülleimer hier sein mussten! Falls der Lieferwagen nicht frei sein sollte, würde sie die Regale bis Montag hinterlegen und dann abholen. Bestimmt war das möglich. Sie lief los, knickte um, streifte die Schuhe von den Füßen und raste barfuß zurück, den Blick so stur auf die Schiebetür gerichtet, dass sie nichts und niemanden um sich herum wahrnahm. Die Tür! Nein! Nicht! Nicht schließen! Doch schon senkte sich das Gitter.

„Moment! Stopp! Warten Sie, bitte!“, schrie sie so laut sie konnte, lief noch schneller und kam doch in dem Moment an, als das Gitter den Boden berührte. Drin war niemand mehr zu sehen. Anklopfen war unmöglich, denn die Glastür war zu weit vom Gitter weg.

Die Angestellten mussten doch noch da sein! Wo war der Personaleingang? Sie sprintete nach links, denn rechts waren andere Geschäfte. Zur linken aber erstreckte sich der Gartenpflanzenbereich, der viel größer war als vermutet, und als sie endlich auf der Rückseite ankam, war auch dort alles fürs Wochenende verriegelt und verrammelt. Wie erschlagen schleppte sie sich durch die drückend heiße Luft zum Auto zurück, die Sandalen an den Riemchen in der Hand baumelnd. Der Schweiß lief ihr nicht nur von der Stirn, sondern auch am Hals, zwischen den Brüsten und an den Beinen entlang. Beinahe hoffte sie, dass jemand die Regale einfach mitgenommen hätte, denn dann wäre sie das Problem los. Aber ja! Das war die Lösung! Sie könnte die Dinger einfach stehen lassen. Als Geschenk für die Allgemeinheit, sozusagen. Somit hätte sie ihre gute Tat pro Tag auch noch gleich erledigt! Eine teure zwar, aber umso besser!

Sie bog um die Ecke und kam zu dem großen Kundenparkplatz zurück, auf dem nur noch eine Handvoll Autos standen.

Sie hätte doch auf Egon hören und den gebrauchten roten Dacia Lodgy kaufen sollen statt dem Fiat, den ihr ihre Schwester „aufgeschwatzt“ hatte, weil sie ihn nicht mit nach Singapur nehmen konnte, wo sie und ihr Mann die nächsten fünf Jahre verbringen würden.

Verdammt!

Aber Egon durfte nicht Recht haben. Er durfte nicht.

„Fick dich, Waldschrat!“, zischte sie. Beinahe musste sie lachen, so gut tat es, ihre Wut offen zu zeigen.

Verdammt und verfickt, fluchte sie innerlich weiter und beschloss, die Regale tatsächlich einfach stehen zu lassen, denn so sehr sie auch überlegte, es gab niemanden, der sie ihr hätte heimfahren können. Die Einzigen, die ihr einfielen, hätten sie nicht erkannt. Und das war gut so, denn auch Lena wollte sie nicht nur nicht wiedererkennen, sondern überhaupt nie wiedersehen. Nie wieder. Das waren nämlich Egons Freunde. Leute, die so tickten wie er. Die Licht ein- und Dunkelheit ausatmeten.

Sie schüttelte sich.

Nein, da lebte sie lieber mit einem zugestellten Kellerboden, weil sie es niemals schaffen würde, Regale für die Marmeladenflut, an der sie die nächsten dreißig Jahre noch essen würde, aufzustellen. Ja, so wäre das. Sie würde davon essen, bis es ihr zu den Ohren herauskam.

Wollte sie das? Wozu sollte das gut sein? War es da nicht viel klüger, noch eine große gute Tat obendrauf zu setzen und alles Eingemachte ebenfalls zu verschenken? Und sich um weit wichtigere Dinge kümmern – wie zum Beispiel darum, wie sie den Unbekannten wiedertreffen könnte?

Das war die Lösung! Begeistert klatschte sie in die Hände und riss anschließend in einer triumphalen Geste die Arme hoch. Nur, um im nächsten Augenblick wie vom Donner gerührt zusammenzuzucken. Bestimmt war das eine Fatamorgana. Heiß genug dafür war es ja. Aber sprachen diese Dinger? Und saßen sie in der prallen Sonne auf einem Stapel Regale?

„Da sind sie ja wieder“, sagte genau dieser Mann mit seiner unverkennbar samtigen Stimme, die ihr trotz der zweiundvierzig Grad weitere, und zur großen Verwunderung, angenehme Hitzewellen über den Rücken jagten.

„Sie ja auch“, krächzte sie geistesgegenwärtig.

„Jemand musste ja auf die Regale aufpassen“, bemerkte er schmunzelnd und stand von eben diesen auf.

„Ach – ähm, die können Sie ...“ Ihre Verzweiflung wich auf einen Schlag. Das war die Lösung! Ihr Blick klärte sich, ihre Anspannung wich, breit grinste sie ihn an. „Können Sie die denn nicht gebrauchen?“ Freudestrahlend, als wäre das die Antwort auf die Millionenfrage, stützte sie eine Hand in die Hüfte und wartete darauf, dass er ihr jubelnd um den Hals fiele.

Stattdessen starrte er sie entgeistert an: „Was? Wie bitte?“

„Sie haben richtig gehört! Ich schenke sie Ihnen!“

„Aber was, wieso denn? Warum haben Sie sie denn gekauft?“

„Weil ich dachte, ich bräuchte sie. Aber jetzt ist mir klargeworden, dass ich sie nicht brauche.“

„Dass Sie sie gar nicht brauchen.“ Er bemühte sich sichtlich, ernst zu bleiben. „Und wie geht das?“

„Ja, wissen Sie, das geht ganz einfach“, erklärte sie übermütig. „Ich brauche sie nicht, weil ich die ganze Marmelade ja auch nicht brauche.“

„Wie bitte?“

„Ich verschenke die Gläser einfach. Wenn sie weg ist, muss ich sie auch nirgends mehr lagern. Ist doch ganz einfach!“ Sie machte eine kurze Pause und dann fiel ihr das Aller-allerbeste überhaupt ein. „Mögen Sie Marmelade? Erdbeer, Brombeer, Himbeer, Aprikose?“

„Wie bitte?“

„Ja? Ist das ein Ja?“

„Ähm – ja. Ich mag Marmelade sehr gern. Aber wieso?“

„Na, das hab ich doch schon erklärt!Weil ich keine Regale brauche, wenn ich keine Marmelade habe! Also, was ist? Nehmen Sie die Regale und die Marmelade?“

„Moment, bitte – ich verstehe noch immer nicht, wie ich dazu komme.“ Lena holte Luft, sagte aber nichts mehr. Stattdessen sahen sie sich einfach eine Weile stumm an.

Dann fügte er in die Stille hinein hinzu. „Und wie ich zu der Marmelade kommen würde.“

Heiß durchzuckte es Lena. Wie er … Sie räusperte sich.

„Tja, ähm. Schicken scheidet leider aus. Zerbrechlich, Sie verstehen schon.“ Sie hüstelte.

„Ja, das verstehe ich natürlich, und ich teile Ihre Einschätzung vollkommen. Schicken scheidet aus“, bekräftigte er in gespielt-gestelztem Ton, gab sich dabei aber vollkommen ernst.

„Ich könnte sie Ihnen auch bringen, wenn Sie mir sagen, wo Sie wohnen“, schlug sie vor und blickte ihn aus großen Augen treuherzig an.

„Ach, Sie liefern ins Ausland? Ich wohne nämlich bei Salzburg. Dazu müssten Sie eine Grenze überschreiten“, sagte er Augen zwinkernd.

Weder Tonfall noch Zwinkern verfehlten seine Wirkung. Lena geriet aus dem Konzept.

Erst im nächsten Leben würde sie schlagfertig eine passende Antwort finden.

„Vielleicht würde ich das sogar in Kauf nehmen“, stieg sie immerhin mit bis zu den Ohren pochendem Herzen auf den Flirt ein.

Überrascht neigte er den Kopf zur Seite. „Das ist aber sehr wagemutig von Ihnen.“

„Ja, nicht wahr?“, fragte sie leise, bekam kalte Füße und setzte blitzschnell ihren Bambi-Blick auf, sodass ihm das Lachen auskam.

„Es gäbe da noch eine Möglichkeit“, übernahm er.

„Und die wäre?“

„Ich hole die Marmelade bei Ihnen ab. Wenn das Ihr Auto ist“, er drehte sich zu dem Fiat mit dem örtlichen Kennzeichen LF, „dann wohnen Sie ja nicht allzu weit weg, oder?“

„Ähm, nein. Tu ich nicht.“

Ein unzähmbares Grinsen zuckte um seine Mund- und Augenwinkel.

„Ich könnte Ihnen aber genauso gut die Regale einfach liefern.“

Lena fiel nichts Besseres ein, als sich dumm zu stellen.

„Aber warum denn?“, fragte sie und mimte die Nichtswissende, da ihr Verstand vermutlich doch entweder unter der Farbe, der Hitze oder dem noch immer namenlosen-aber-immerhin-schon-ein-bisschen-weniger-Unbekannten litt.

„Ach, es ist nur so, dass meine Einkäufe da drin“ er zeigte auf einen X5 „ein wenig einsam sind.“

Lena spürte, dass ihr das Blut in den Kopf schoss und dass dieser glühte. Wie abgrundtief peinlich!

Er hatte sie von Anfang an durchschaut. Noch dazu waren die großen Tüten des Modekaufhauses von außen deutlich zu sehen.

„Ich ähm – es liegt nicht an den Einkäufen, sondern an den Maßen! Ich kaufe normal nie so viel ein! Nur heute, weil ich – einfach wirklich gar nichts mehr zum Anziehen hatte!“, rief sie verzweifelt um das letzte Bisschen von dem, was sie für ihre Ehre hielt, kämpfend.

Nun platzte das schallende Lachen endgültig aus ihm heraus. Er legte den Kopf in den Nacken und trötete über den inzwischen vollkommen leeren Parkplatz.

„Natürlich“, juchzte er dann und sah sie aus Augen, die Sternen und Funken sprühten, an.

„Das stimmt wirklich!“, begehrte sie vergeblich auf, denn sie erkannte, dass er ihr nicht glauben würde, selbst wenn sie ihm ihre gesamte Geschichte erzählte, doch das würde sie nicht.

„Schon gut“, gluckste er, legte die Hand auf ihren Hinterkopf und und zog sie tröstend und witzelnd zugleich an seine Brust.

Lena erstarrte. Die neckende und zugleich liebevolle Geste überraschte sie bis ins Mark.

Das Ganze war im Nu vorüber. Sie hatte seine warme, weiche Haut über den straffen Muskeln noch gar nicht richtig gespürt und seinen betörend männlichen Körpergeruch noch gar nicht tief genug eingeatmet, als er sie beinahe brüsk losließ und so tat, als sei nichts gewesen. Er straffte die Schultern und die Mundwinkel und fragte sachlich: „Also: Ich packe die Bretter ein?“

„Ja“, sagte Lena leise und senkte den Blick so weit, dass sie gerade noch sah, wie er den Karren packte, zu seinem BMW zog und einlud.

„Kann ich Ihnen folgen oder ist das ein Turbo Cinquecento?“, fragte er grinsend, schob das Ungetüm von Einkaufswagen zu den anderen und gab ihr den Euro Pfand. Beinahe hätte sie ihm angeboten, die Münze als Trinkgeld oder Dankeschön zu behalten, besann sich aber gerade noch rechtzeitig und ließ ihn in die Handtasche plumpsen.

„Äh, nein. Kein Turbo. Sie können mir gern folgen. Bitteschön.“

„Und falls ich Sie verliere, sehen Sie Ihre Regale nie wieder? Und ich Sie auch nicht?“

„Oh!“ Bei dem Gedanken, ihn nie wiederzusehen, schlug sie sich entsetzt die Hand vor den Mund.

„Wäre es sehr aufdringlich, Sie nach Ihrer Anschrift zu fragen, damit ich sie ins Navi eingeben kann?“, mimte er wieder Mr. Darcy und in seinen Augen tanzte der Schalk.

„Das Navi? Okay. Es wird den Ort schon finden“, murmelte sie mehr zu sich als zu ihm.

„So abgeschieden?“

„Ja“, stieß sie hervor. „Ja. Ich wohne in Moosen.“

„In Moosen?“

„Ja. Der Ort heißt so.“

„Ich weiß, ich kenne ihn.“

„Ach ja? Moosen?“

„Ach ja. Ich bin nämlich aus Surheim.“

„Aus – Aber S steht doch für Salzburg!“

Wieder lachte er laut los. „Ja. Da wohne ich jetzt. Zumindest so ungefähr. Aber aufgewachsen bin ich in Surheim. Also Moosen. Links oder rechts neben der Kirche?“ Hörte er denn nie auf, sich zu amüsieren?

„Rechts“, flüsterte sie plötzlich völlig mit den Nerven fertig, weil ihr bewusst wurde, dass dieser Mann, von dem sie nicht einmal zu träumen wagen würde, tatsächlich im Begriff stand, zu ihr nachhause zu kommen. Gewiss war alles nur ein schöner Traum.

 

 

Kapitel Vier

 

„Kommt er wirklich zu mir?“, fragte sie sich und schüttelte den Kopf. „Das ist doch total verrückt! So ein Mann wie er kann doch gar nicht mich meinen!“, zweifelte sie zunächst. Je länger sie allerdings über ihn nachdachte, desto mehr erkannte sie: Ja. Er meinte sie. Er sah sie. Sah sie als Frau, die Teil dieser Welt war. Freute sich, dass es sie und ihre Freude gab, wenn auch nur für einen Augenblick. Denn er lachte! Ihretwegen! Und nur, weil sie sich selbst wieder - und das im wahrsten Sinne des Wortes - sah, nicht nur wieder anschauen konnte, sondern sich tatsächlich sah. Weil sie sich selbst wieder als ein Teil der Gesellschaft wahrnahm und wieder eine Verbindung mit den Menschen zuließ, anstatt sich abzukapseln.

Ja, sie lebte neu auf.

Warum war es so wichtig, von anderen gesehen zu werden? Und sich selbst gern anzuschauen, anstatt sich vor sich selbst zu verstecken?

Weil man im Blick des anderen existiert und verschwindet, wenn einen niemand mehr wahrnimmt. Weil ein Blick Beziehung bedeutet und man an Einsamkeit zu Grunde gehen kann. Weil man nur in einer Beziehung, auch in der zu sich selbst, lieben kann, und weil Leben ohne Lieben bloßes Existieren und Überleben ist. Und weil man erst dann, wenn man von anderen geliebt wird und diese Liebe zulassen kann, zu einem erfüllten Menschen wird.

Doch soweit war sie noch nicht. Sie spürte, dass das noch Zeit brauchte, hatte jedoch keine, um darüber nachzudenken, denn in dem Moment kam sie bei sich daheim an. Direkt nach ihr hielt auch der große schwarze Wagen neben ihrem winzigen weißen. Leise lachte sie bei diesem Bild, das sie unweigerlich an ein Brautpaar erinnerte.

„Hallo, willkommen im Land der Marmelade. Haben Sie gut hergefunden?“, neckte sie ihn mit gespielter Förmlichkeit, um ihre Aufregung zu überspielen.

„Ja, einwandfrei. Die Fahrt war sehr angenehm, besten Dank der Nachfrage“, stieg er auf den Ton ein, wobei seine Augen schelmisch funkelten.

Sein Humor, seine warme Stimme und das Funkeln in seinen Augen verstärkten das Kribbeln in ihrer Magengrube und auf ihrer Haut.

„Wie heißen Sie denn eigentlich? Fremde haben hier nämlich leider keinen Zutritt.“ Kess stemmte sie den Arm an die Hauswand, um ihm den Weg zu versperren. Sie legte den Kopf in den Nacken, denn er stand ihr so nahe, dass sie ihm nur so in die Augen schauen konnte. Huch – war es im Schatten jetzt auch schon so heiß?

„Das weist Sie als ehrenwerte Frau aus.“ Er nickte todernst, nur seine Augenwinkel zuckten verräterisch. „Ich wollte Sie gerade das Gleiche fragen, denn ein echter Gentleman wie ich würde niemals das Haus einer fremden Dame betreten.“

„Ja, sind Sie ein Gentleman?“ Foppend hob er eine Augenbraue.

„Sind Sie eine echte Prinzessin?“, konterte er und wieder prusteten beide los.

„Also, ich heiße Lena“, beendete sie das Spiel und schlug einen normalen Ton an.

„Hallo Lena, freut mich. Ich bin Markus.“

„Mich auch.“

„Dann sind wir jetzt per Du?“

„Ja, klar!“ Beide lachten freudig und gaben sich die Hand. Eine angenehme Wärme breitete sich in ihr aus, als sie spürte, wie warm, weich und stark seine war.

„Schön!“, sagte sie nach Fassung bemüht und ließ ihre Hand in seiner liegen, um das herrliche Gefühl so lange wie möglich auszukosten.

„Freut mich ebenfalls, Lena.“

Als er ihren Namen laut aussprach, weiteten sich seine Augen kurz und er verstärkte den Druck ein wenig, dann ließ er sie los. „Gut. Dann wollen wir mal!“, beschloss er tatkräftig und wandte sich zur Haustür.

Mit zitternden Fingern fischte sie den Haustürschlüssel aus ihrer neuen und sehr übersichtlich befüllten Tasche.

„Wahnsinns Blick“, bemerkte er und zeigte mit dem Kinn zum Untersberg, der sich groß und breit am Horizont erhob.

„Ja, nicht wahr?“, fragte sie erleichtert darüber, ein neutrales Gesprächsthema gefunden zu haben. Das Haus lag mitten in einem großen Grundstück, auf dem neben den rauen Mengen an Erdbeerstauden auch sämtliche andere Beeren sowie Obst und Gemüse aller Art wuchsen. Jenseits der Zäune dehnten sich Getreidefelder aus, die auf der Südseite bis in die Alpen zu reichen schienen.

„Echt schön hast du‘s hier.“ Staunend sah er sich um und fügte nachforschend „so ganz allein?“ hinzu.

„Ja, so ganz allein ...“, frech grinste sie ihn an. „Und ich fürchte mich noch nicht einmal“.

„Nein?“ Er tat überrascht und riss die Augen auf, die warm und belustigt funkelten. „Na ja, aber du bist ja auch schon groß“, meinte er leise und betrachtete sie eine Weile schweigend. Täuschte sie sich, oder erkannte sie wirklich eine gewissen Erleichterung darüber, dass sie alleine hier wohnte? War das nicht selbstverständlich, wenn sie es zuließ, dass er mit ihr hierher kam? Sie wusste es nicht und drückte die Tür auf.

„Wow!“ Anerkennend pfiff er durch die Zähne. Von dem beinahe rechteckigen Eingang ging rechts die Küche ab, geradeaus gelangte man durch eine breite, und weit offenstehende Schiebetür, in das Wohnzimmer mit Panoramafenster, von dem aus man einen grandiosen Bergblick hatte.

„Ja, nicht? Ich bin auch total happy hier.“

Lena trat vor ihm ein, er folgte ihr. Seine Nähe prickelte auf ihrer Haut und in ihrem Magen.

„Unglaublich schön ...“, bekräftigte er, doch diesmal raunte er die Worte mehr, als dass er sie freudig ausrief und Lena fragte sich, ob er nur die Wohnung oder vielleicht auch sie persönlich meinte.

Ihr war, als würde sich die Welt um sie herum verlangsamen oder sich von ihr lösen. Jedenfalls verlor alles, was nicht Markus und nicht sie war, an Bedeutung, verblasste und verschwand aus ihrer Wahrnehmung.

Es gibt Menschen, die größer sind als andere, weil sie der Welt so viel mehr geben. Weil sie stärker leuchten und strahlen. Weil andere Menschen sich ihretwegen lebendig, begehrt oder sogar gemeint fühlen. Markus war so ein Mann, der zudem mehr Humor als manche Kampf-Komiker und eine überdimensional große Portion Schönheit und Sexappeal versprühte.

Lena schluckte und drehte den Kopf zur Schulter, um ihn anschauen zu können. Da sah sie, was er meinte: ihr gemeinsames Bild in dem zwei Meter hohen Wandspiegel.

Ein Zittern rannte durch sie. Erneut schluckte sie trocken.

Markus war beinahe einen Kopf größer als sie. Sein pechschwarzes Haar wirkte so weich und voll, dass sie am liebsten hinein gefasst und es zerwuschelt hätte. Oh, sie wollte so viel! Sie wollte in seinen Espresso-Augen ertrinken, und vor allem das weiße Hemd, das am Kragen offenstand und dessen Ärmel er hochgekrempelt hatte, genüsslich weiter aufknöpfen, bis es auseinanderfiel. Bis sie seine breite Brust und seinen straffen Bauch bewundern und berühren konnte. Ebenso wie den festen, knackigen Po, zu dem ihre Hände gleiten und in den sie sich vergraben würden ... Ganz ehrlich, schoss es ihr durch den Kopf: Es war eine Frechheit, wie der Kerl herumlief. Was dachten sich Männer wie er eigentlich dabei, so auf die Straße zu gehen?

Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. Zögernd lächelte sie.

„In dem Haus sind nicht nur die Lage und Einrichtung schön ...“, raunte er andächtig und ließ seinen Blick bewundernd von ihren Füßen aufwärts wandern.

Lena stockte der Atem. Ergriffen hauchte sie: „Sondern auch die Gäste.“

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, bevor er wieder ernst wurde und sie intensiv taxierte. Vor Anspannung unfähig sich zu bewegen, stand sie da und wartete, was er tun würde. Langsam machte er einen Schritt auf sie zu, legte eine Hand auf ihre Hüfte und flüsterte ihr ins Ohr: „Und erst die Bewohnerin.“ Gerade, als sie glaubte, dass sein gestöhntes Ausatmen in eine Berührung seiner Lippen münden würde, ließ er sie wieder los. Seine Fingerspitzen glitten verführerisch über sie, bis sie sich widerstrebend von ihr lösten.

Ein so starkes Verlangen nach mehr überflutete Lena, dass sie laut nach Luft rang. Ihr war, als wäre ihr Körper ein See, der von einem Sturm aufgepeitscht wurde. Nicht nur in der Magengegend, sondern auch in ihrem Unterleib zog und tobte es sehnsüchtig nach mehr, oder eher nach allem von diesem Mann.

Ein verheißungsvolles Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Eine Verheißung, die er rasch durchbrach.

„Geht‘s hier zur Marmelade?“, fragte er sachlich, was Lena ungemein irritierte. Hatte er sie nicht gerade mit Worten, Blicken und Gesten so gut wie ins Schlafzimmer geführt?

„Ja, richtig. Hier geht‘s in den Keller.“

„Ich hoffe, du traust mir!“, scherzte er schon wieder. Konnte er nicht ernst sein? Flachste er ständig, weil er aufgeregt war, oder weil er Distanz schaffen wollte? War ihm die Situation zu brenzlig geworden, weil zuhause Frau und Kinder warteten? Oder die Geliebte?

„Wovor sollte ich denn Angst haben?“, forderte sie ihn heraus, stützte eine Hand in die Hüfte – genau an die Stelle, wo er sie vorhin berührt hatte und wo sie seine Berührung noch immer spürte.

Kurz war nun er es, der nach Worten suchte. Langsam verengte er die Augen, neigte den Kopf etwas und fragte leise: „Hm, vielleicht sollte ich es ja sein, der sich fürchtet?“

„Das liegt durchaus im Bereich des Möglichen“, gab sie mit einem Zittern in der Stimme zurück, öffnete die Tür und ging voraus.

Bis zum unteren Treppenende ging er in normalem Tempo voran. Doch dann ließ sich das Ausmaß der Marmeladenschwemme bereits erahnen, denn schon auf den unteren Stufen standen die ersten Gläser.

Erschrocken holte er Luft. Die brauchte er auch, denn sobald sie am Fuß der Treppe angelangt waren und Lena Licht anknipste, dehnte sich das gesamte Marmeladenmeer vor ihnen aus.

Der ganze breite, fast rechteckige Flur, von dem aus man in die verschiedenen Kellerräume gelangte, war von Gläsern übersät. Nur durch einen schmalen Gang konnte man sich bewegen.

Markus sog weiter Luft ein und blies die Backen auf. „Ach. Du. Meine. Güte“, presste er dann hervor und ließ die Luft entweichen.

„Schlimmer als erwartet?“, fragte sie kleinlaut.

„Schlimmer nicht“, antwortete er schwach. „Nur eine andere Dimension.“

„Ah“, machte Lena und ließ kurz den Kopf hängen.

„Sag mal“, fragte er, als wieder Leben in ihn kehrte „Bist du sicher, dass das alles hier überhaupt noch ein Regal braucht?“

„Ja, wieso denn nicht?“

„Ich meine ja nur – Marmelade hält ja nicht unbegrenzt. Und …“ „Das weiß ich!“

„Ja, also …?“

„Wie, ja also?“ Verblüfft sahen die beiden sich an.

„Wie alt ist die denn?“, fragte er und ging in die Hocke, um sich wahllos ein Glas, das sie ordentlich beschriftet hatte, anzuschauen. Er hob es hoch und beäugte es intensiv. „Stachelbeer 2018“, las er laut, stellte es zurück, streckte sich und nahm ein anderes. „Erdbeer 2018.“

Lenas Herz klopfte bis zum Hals. Zum einen, weil er sie offensichtlich für übergeschnappt hielt, zum anderen, weil sich bei der Bewegung seine Muskeln verdammt sexy anspannten und weil sein Hemd aus der Hose gerutscht war, sodass sie seine goldbraune, und bestimmt himmlisch weiche, Haut sehen konnte.

Mit einer Stimme, die ihr fremd vorkam, sagte sie: „Das ist alles von heuer, falls du das meinst.“

„Das - alles?“ Er drehte sich um und starrte sie entgeistert an.

„Ja. Alles.“

„Aber wieso kommt die Marmelade dann in deinen Keller?“

„Na, weil ich sie von der Küche hierher getragen habe.“

„Du? Ich meine – hast du das alles – Alles? - selber gemacht? Du?“

„Ja.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und folgte seinem ungläubigen Blick, der die mindestens 200 Gläser zu verarbeiten suchte. „Ich. Warum denn nicht?“

„Na, weil eine Frau wie du doch nicht ...“ Er schüttelte den Kopf und kratzte sich im Nacken.

„Keine Marmelade einkocht?“

„So in etwa“, nuschelte er, ohne sie anzusehen. Dann richtete er sich wieder auf. „Das ist zu viel für mich. Viel zu viel. Ich dachte, wir reden von ein paar Gläsern, einem Bruchteil davon.“

Lena seufzte. Natürlich war es bei klarerem Verstand betrachtet albern gewesen, zu glauben, er würde alles mitnehmen und sie somit aller Marmeladen-Kellerregal-Sorgen entledigen. „Wenigstens ein paar?“

Er lachte trocken, ohne den Blick von den Einmachgläsern zu wenden. „Ja. Nein. Ich meine, gern, natürlich, wenn du mir etwas anbietest. Von jeder Sorte ein Glas?“

„Von jeder Sorte … Das bringt mich nicht weiter“, stöhnte sie.

„Nein. Das weiß ich. Aber sag mal, kannst du sie nicht verschenken oder verkaufen?“

„Ich hab doch schon so viel verschenkt! Als Dank für die Gläser, die mir alle Leute vor die Tür gestellt haben.“

Er suchte sichtbar nach Worten. „Tust du denn außer Einmachen auch noch etwas Anderes?“, fragte er dann.

„Ja. Schon. Aber nicht letzte Woche. Da … war alles anderes.“

„Sieht ganz so aus“, pflichtete er ihr bei, schlug sich mit den Handflächen auf die Oberschenkel und verkündete tatkräftig: „Gut. Also, Lena. Ich mache dir einen Vorschlag: Ich baue dir die Regale auf und nehme dafür gern ein paar Gläser mit, okay?“

„Die Regale auf?“

Er nickte nachdrücklich und duldete keinen Widerspruch.

„Ja. Jetzt gleich. Oder hast du was vor?“

„Ich? Nein. Gar nicht. Absolut nicht“, sprudelte es aus ihr heraus, denn wer würde auf eine Single-Party gehen, wenn Adonis persönlich bei ihr im Haus Regale aufbaute. „Und du?“

„Ich? Nein. Ich habe nichts vor“, versicherte er und klatschte sich in die Hände. „Also gut. Dann hole ich die Regale. Hast du Werkzeug?“

Sie ging voraus in den Werkzeugraum, und reichte ihm, was er brauchte. Innerlich blubberte sie vor Freude, da sie sein Erstaunen genau spürte. Ja, damit hatte er nicht gerechnet, dass sie sich mit derartigen Dingen auskannte. Gerade wollte sie erwähnen, dass sie die Regale im Nebenraum selbst aufgebaut hatte. Dann jedoch blieben ihr die Worte im Hals stecken, denn sein nackter Unterarm streifte ihren, als er ihr den Akkuschrauber abnahm. Lena war, als würde sie taumeln und als würden sich an dieser Stelle ihre Körper verbinden und ineinander verschmelzen. Kurz trafen sich ihre Blicke, tauchten in einander ein, ließen sich aber sofort wieder los. Zu heftig war das, was seine Gegenwart in ihr auslöste. Lena schwankte, so intensiv erlebte sie diesen Mann, der sich nun umdrehte und den Raum verließ, um die Regale zu holen. Lena wollte ihm helfen, doch er brauchte keine Hilfe, sondern trug alle Regale blitzschnell hinunter, riss die Verpackungsfolie herab und sortierte die Einzelteile für das erste Regal.

---ENDE DER LESEPROBE---