Viva la carpa! Als die Mafia den Aischgründer Spiegelkarpfen haben wollte - Werner Rosenzweig - E-Book

Viva la carpa! Als die Mafia den Aischgründer Spiegelkarpfen haben wollte E-Book

Werner Rosenzweig

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Beschreibung

Dass die Ermordung einer oberbayerischen Edel-Nutte im kleinsten Fünfsternehotel der Welt zu einem der komplexesten fränkischen Kriminalfälle auswachsen würde, hat sich keiner der Beteiligten vorher träumen lassen. Dass die Ndrangheta, die mächtige kalabrische Mafia, dabei eine maßgebliche Rolle spielt, sowieso nicht. Als der fränkische Karpfenzüchter Daniel Krumm aus Fetzelhofen droben auf dem Lauberberg, gleich neben der Antoniuskapelle, mit einem riesigen Loch im Kopf gefunden wird und Tina Richter, die Teichwirtin aus Gerhardshofen, nackt, tot und ertränkt über Fridolin, der steinernen Karpfenskulptur, hängt, gründet die Kripo Erlangen die SOKO »Suppenlöffel«. Trotzdem geschehen weitere tragische Morde und eine gewaltige Kokainschwemme überspült das liebliche Aischtal. Nachdem die ersten Aischgründer Spiegelkarpfen in einem Butterschmalz-Kokablätter-Sud brutzeln, wird es den beiden Röttenbacher Witwen, Kunni Holzmann und Retta Bauer, zu bunt. Sie sagen der organisierten Kriminalität den Kampf an.

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Werner Rosenzweig

VIVA LA CARPA!

Als die Mafia den Aischgründer Spiegelkarpfen haben wollte

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Handlung und Personen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen

wären rein zufällig und unbeabsichtigt.

Titelfotos: Werner Rosenzweig

(von links oben im Uhrzeigersinn)

1.     Antoniuskapelle auf dem Lauberberg

2.     Sterpersdorfer Mühle

3.     Blick auf Röttenbach

4.     Rathaus in Neustadt an der Aisch

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Lektorat: Barbara Lösel, www.wortvergnügen.de

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort I

Vorwort II

1

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Nachwort

An dieser Stelle noch ein paar Hinweise für die verehrte Leserschaft

Fußnote

VORWORT I

Die beiden Heldinnen unserer Geschichte sind Kunigunde Holzmann und Margarethe Bauer, zwei Witwen, welche die achtzig längst überschritten haben. Seit ihrer Kindheit leben sie in der beschaulichen mittelfränkischen Gemeinde Röttenbach, ein typisch fränkisches Dorf, etwa zwölf Kilometer nordwestlich der Universitätsstadt Erlangen. Röttenbach zählt knapp fünftausend Einwohner und ist geprägt von den vielen Weiherketten, welche sich hauptsächlich von Nord nach Süd durch die Ortschaft ziehen. Obwohl etwas abseits des Flüsschens Aisch gelegen, sagt man dennoch: Röttenbach liegt im Aischgrund. Der Aischgrund ist heute eines der größten zusammenhängenden Karpfenzuchtgebiete Mitteleuropas. Mehr als siebentausend Weiher wurden in den wasserstauenden Tonschichten der Region von Menschenhand angelegt. Ihre Geschichte geht teils bis in das frühe Mittelalter zurück. Nahezu zwölfhundert Teichwirte züchten hier den hochrückigen Aischgründer Spiegelkarpfen, das kulinarische Zugpferd der sanft hügeligen Landschaft, mit ihren Schlössern, Burgen und Kirchen, historischen Mühlen und liebevoll restaurierten Fachwerkhäusern.

In dieser wunderschönen Landschaft leben unsere beiden Witwen. In ihrem Heimatdorf sind sie als die Kunni und die Retta allseits bekannt. Ihre Ehemänner hat der Herrgott schon vor Jahren zu sich geholt. Auf dramatische Weise: Kunnis Ehemann stürzte bei der Ernte vom garteneigenen Kirschbaum und brach sich das Genick. »Ja verreck …«, waren seine letzten Worte, als er – seinen Eimer voller Kirschen fest in der Hand haltend – durch die Äste rauschte. »Was muss der alte Dackl auch noch auf den Bam naufkrabbln«, hatte Kunni damals gesagt, als ihr Schorsch am Küchenfenster vorbeiflog.

Auch die Retta war von einem ähnlichen Schicksalsschlag nicht verschont geblieben. Ihr Reser meinte, er müsse in seinem Alter noch unbedingt Brennholz aus dem Wald holen. Es war ein heißer, schwüler Sommertag und aus dem Westen kündigten sich bereits dunkle Gewitterwolken über den Baumwipfeln an, als er mit seinem Fendt-Traktor zwischen zwei Karpfenteichen heimwärts tuckerte, hinten dran ein vollbeladener Anhänger. Eine Bremse, einer dieser blutsaugenden Plagegeister umschwirrte damals Resers Gesicht. Verzweifelt und schimpfend schlug er nach dem Insekt und verlor dabei die Kontrolle über sein Gespann. Das machte sich selbstständig und steuerte auf den nächsten, abschüssig gelegenen Weiher zu. Der Reser hatte keine Chance mehr. Er flog in hohem Bogen in den Karpfenteich. Auch sein Fendt überschlug sich und begrub den Reser unter sich. »Je älter dass werdn, desto bleder werdns, die Mannsbilder«, meinte die Retta, als man ihr die traurige Botschaft überbrachte. »Warum is der alte Gaul ausgrechnet heit in den Wald naus gfoahrn? Hätt er mir lieber beim Staubsaugn gholfn.«

Seit diesen Ereignissen treffen und sehen sich die beiden Witwen fast täglich, teilen ihr gemeinsames Leid und genießen andererseits ihr Leben in ihrer fränkischen Heimatgemeinde. Sie sind mehr oder weniger auf sich allein gestellt. Während Rettas zwei erwachsene Töchter in den USA leben, ist Kunnis Ehe kinderlos geblieben. Nur Gerald Fuchs, Kunnis Neffe, lebt noch in Röttenbach. Er ist Kommissar der Mordkommission Erlangen. Persönlichen Kontakt haben die beiden selten, leben sie doch in einem ständigen, unausgesprochenen Wettbewerb, was das Aufklären von Verbrechen anbelangt. Denn gewisse Eigenarten haben sie schon, die beiden Witwen. Seit ein paar Jahren haben sie sich der Kriminalistik verschrieben und schon so manchen komplizierten Kriminalfall gelöst. Dem Erlanger Kommissar waren sie dabei meist eine Nasenlänge voraus.

VORWORT II

Dass unsere Geschichte nicht im schönen Franken beginnt, sondern in der steinigen Oberpfalz, hat dreierlei Gründe: Zum einen liegt das an der gebürtigen Bad Tölzerin Roserl Hinterwimmer, der oberbayerischen, rothaarigen Nutte, welche in der oberpfälzischen Metropole Amberg ihrem Gewerbe nachgeht – zum anderen an der Tatsache, dass das kleinste Fünf-Sterne-Hotel der Welt, das Eh’häusl, ebenfalls in der oberpfälzischen Stadt beheimatet ist, und drittens, dass über das Roserl – weit entfernt im italienischen Kalabrien – vor Monaten ihr Todesurteil gefällt wurde. Dennoch könnte sich der eine oder andere Leser berechtigterweise die Frage stellen: Was hat die Oberpfalz mit einem Frankenkrimi zu tun? Aber eins nach dem anderen.

Eh’häusl? Sie haben richtig gehört. Das Eh’häusl, ist das kleinste Fünf-Sterne-Hotel der Welt, ein einmaliges Kleinod – ohne Portier. Im Jahr 1728 soll es von einem Amberger Bürger erbaut worden sein. Damals durften Heiratswillige nur dann vor den städtischen Traualtar treten, wenn sie einen schuldenfreien Haus- und Grundstücksbesitz nachweisen konnten. Die Stadtväter wollten mit diesem Erlass erreichen, dass sich die Geburtenrate bei finanziell weniger gut bestellten Paaren in Grenzen hielt. Sie wollten dem Bettler- und Landstreichertum nicht auch noch Vorschub leisten. Na, jedenfalls kaufte seinerzeit der besagte Amberger Bürger, ein findiger Bräutigam, einen kleinen, brachliegenden Hofraum zwischen zwei eng beieinanderstehenden Häusern, ließ dazwischen eine Vorder- und Rückwand errichten und setzte dem Ganzen ein Dach oben drauf. Schon war ein kleines, schmales Haus entstanden. Nach den Flitterwochen verkaufte er sein Eigentum an ein anderes, heiratswilliges Paar, und so ging das viele Jahre weiter. Erst im Jahr 1976 kam die Stadt Amberg auf die Idee, das kleine Anwesen zu einem Spitzenhotel der Extraklasse auszubauen – ideal geeignet für genau zwei Personen – Romantik pur inklusive.

Fast dreihundert Jahre lang wurde im Eh’häusl nie jemand ermordet, bis zum 3. Juli 2015. Der Täter, ein gebürtiger Franke, auf dem besten Wege ein wichtiges Mitglied der ehrenwerten Gesellschaft, der Ndrangheta, zu werden, das Opfer eine Edel-Nutte, geboren in Bad Tölz, derzeit wohnhaft in Amberg. Bevor es nun gleich los geht, ist nur noch eine Frage zu klären: Wer oder was ist die Ndrangheta? Ndrangheta! Ein Wort aus dem Altgriechischen, jener Sprache des Dichters Homer, die in einem Dialekt Kalabriens auch heute noch weiterlebt. Andragathia, das heißt Mannhaftigkeit. Dem Ursprungsmythos nach sind in fernen Zeiten drei Ritter aus Katalonien gekommen, Osso, Mastrosso und Carcagnosso. Die drei Spanier kamen ins Land, um die Ehre ihrer Schwester zu retten und einen Mann zu töten. Für ihre Tat wurden sie auf die sizilianische Insel Favignana verbannt. Am Ende ihrer Haft verfassten sie den ersten Verhaltenskodex und das Gesetz der Omertà. Sie gründeten drei Geheimgesellschaften – Osso die Cosa Nostra auf Sizilien, Mastrosso die Ndrangheta in Kalabrien, Carcagnosso die Camorra in Neapel.

Heute ist die Ndrangheta die modernste und mächtigste Organisation im Kokaingeschäft, ein molekulares Netz, zusammengehalten durch strengste Regeln, überlieferte Traditionen und Blutsbeziehungen. Eine Struktur wie Granit, das Opus Dei der organisierten Kriminalität. Aus den Bergdörfern der ausgedörrten, felsigen Südspitze Italiens demonstriert sie ihre Macht bis nach Adelaide in Australien und nach Caracas, Venezuela. Mit ihren privilegierten Beziehungen zu den Drogenbaronen in Kolumbien hat sie die Kontrolle über den Kokainmarkt Europas übernommen. Doch ihre tentakelartige Struktur reicht auch bis in die letzten Winkel deutscher Provinz. Die Stadt Erfurt zum Beispiel, nicht zu groß, nicht zu klein, ist eine ihrer deutschen Hochburgen. Von hier aus unterhält die Ndrangheta Beziehungen nach Fulda, Weimar, Dresden und Leipzig, selbst bis ins Ruhrgebiet, verwaltet ihre Finanzen und investiert in Portugal, Spanien und Frankreich. Sie kooperiert mit gewaltbereiten Armeniern, die ihre Getränkeläden, Shisha-Bars und ein Netz von Autohäusern in ganz Thüringen aufgebaut haben. In der Nacht zum 15. August 2007 starben in der Mühlheimer Straße in Duisburg sechs Männer im Kugelhagel und Deutschland musste ein neues Wort lernen. Und es gibt eine Chance, dass sich dieses Wort genauso in unsere Alltagssprache einbürgern wird wie Caffè Latte, Gnocchi und Spaghetti vongole: Ndrangheta.

1

Der 3. Juli 2015 begann genauso heiß und drückend, wie es die Tage zuvor schon waren. Wieder kletterte die Quecksilbersäule im Lauf des Tages auf sechsunddreißig Grad im Schatten. Ganz Süddeutschland stöhnte unter der bleiernen Hitze. Auch die oberpfälzische Metropole Amberg blieb nicht davon verschont. Die Rasenflächen der öffentlichen Parkanlagen zeigten ein durchgängig vertrocknetes Hellbraun. Nur hie und da widerstand ein hartnäckiger Löwenzahn und schob seine gezackten grünen Blätter durch die verbrannte Erde. Träge schlichen die Menschen über die Kopfsteinpflaster in der Altstadt. Das Café Zentral, gleich neben dem historischen, gotischen Rathaus, hatte seine breite, schattenspendende Markise bis zum Anschlag ausgefahren. Darunter versteckten sich die Gäste vor den sengenden Strahlen der glühenden Sonne. Ein freies Plätzchen war nicht mehr zu finden. Die Besucher schlapperten ihre Eisbecher und Eiskaffees in einer affenartigen Geschwindigkeit in sich hinein, bevor sich die Vanille-, Schoko-, Erdbeer- und Mangoeiskugeln von selbst in eine breiige Flüssigkeit auflösen konnten. Nicht der kleinste Windhauch strich über den altehrwürdigen Platz. Die ganze Stadt litt unter der nachmittäglichen Hitze. Im Kurfürstenbad an der Vils plärrten und lärmten Schüler und Jugendliche und füllten die Badebecken. Selbst die Stockenten auf dem nahen Fluss hatten sich in den schattigen Uferbereich verzogen und warteten geduldig auf den Sonnenuntergang. Noch war es nicht so weit. Wer in der Stadt nichts zu besorgen hatte, und nicht im klimatisierten Büro seiner Arbeit nachging, hatte zu Hause Tür, Tor und Fenster verrammelt, um die kriechende Hitze auszusperren. Doch auf Dauer halfen auch diese Maßnahmen nichts. Das anhaltende Wüstenklima drang auch durch die dicksten Mauern und bestens isolierten Glasflächen.

Auch die Rosi, genauer gesagt die Roserl Hinterwimmer, gebürtige Bad Tölzerin, litt unter der Hitzewelle. In ihrem Arbeitszimmer unter dem Altbaudach in der Seminargasse schwitzte sie einsam vor sich hin. Das Geschäft ging äußerst schlecht in diesen Tagen. Es war quasi zum Erliegen gekommen. Kein Wunder, bei diesen Tagestemperaturen. Welcher Freier wollte bei dieser Affenhitze tagsüber schon bumsen? Selbst die taffen und immer geilen US-Boys vom nahe gelegenen Truppenübungsplatz Grafenwöhr blieben aus. Sie bevorzugten ihre Baracken und Zeltlager, und wer nicht gerade Dienst schob, döste träge vor sich hin. Das Roserl wusste nicht so recht, ob sie darüber froh sein oder sich ärgern sollte. Einerseits trauerte sie den entgangenen Einnahmen nach, andererseits, wenn sie sich vorstellte, wie bei dieser Hitze ein schwitzender, stinkender Freier sich unter oder über ihr abrackerte, nur um zu seinem Höhepunkt zu kommen … Ekelig. Na ja, das Leben hat immer zwei Seiten. Es sah nicht gut aus derzeit. Viel zu heiß. Lediglich einen einzigen Stammkunden konnte das Roserl in dieser Woche beglücken. Das war gestern Abend. Moritz mit dem kleinen Schniedel hatte sie mal wieder besucht. Moritz, mit dem leichten fränkischen Dialekt. »Ich täts gern ohne Gummi machen«, bildete er sich auch gestern wieder ein. Und das ohne Aufpreis. Na, den Zahn hatte sie ihm, wie immer, schnell gezogen. Fünfzig Euro zusätzlich hatte sie ihm für seine unrühmliche Vier-Minuten-Nummer abgenommen.

Vor einem Jahr war die Roserl von Wolfratshausen nach Amberg umgezogen. Seinerzeit hatte sie in der oberbayerischen Gemeinde ihr Gewerbe in der Berggasse betrieben.

Das Geschäft lief damals schon mau. Die erzkonservativen, tiefkatholischen Einheimischen rundherum gehörten nicht gerade zu ihren Kunden. Im Gegenteil, da gab es so einen schiachen Hirnbeißer in der Nachbarschaft, der aber auch alles, was in der Berggasse geschah, gleich ins Netz stellte. Er fotografierte heimlich die Freier, die zu ihr kamen, kommentierte die Dauer ihrer Aufenthalte bei ihr und erboste sich generell über das horizontale Gewerbe. Mobbing nennt man so etwas. Einem Ehepaar, sie Französin, er Deutsch-Spanier, erging es ähnlich. Nach langem Hin und Her mit den örtlichen Behörden und nach Befolgung vieler Auflagen, hatten sie endlich die Genehmigung erhalten, oben am Hang ein modernes Wohngebäude zu errichten. Ein wunderschönes, architektonisch gelungenes Haus, ein rechteckiger Glaskasten – mit Flachdach –, welches vom Baustil ebenso gut in die Gegend passte wie ein Vollrausch zu Papst Franziskus. Der schiache Hirnbeißer wusste auch darüber zu berichten und seinen Unmut kundzutun. Auch dass die Hannerl, die Lieblingskatze von dem Hirnthalers Loisl, schon wieder trächtig war, konnte der interessierte Besucher der Bergassen-Website nachlesen.

Als sich die Roserl einmal im Internet verirrte und las, dass Amberg als der Puffstandort Nummer eins in der ganzen Oberpfalz gilt, beschloss sie, sich räumlich zu verändern. So kam sie hierher und lebt seitdem in der Seminargasse zur Miete. Ihr geräumiges Arbeitszimmer mit den roten, schweren Vorhängen dient ihr als Arbeitsplatz, zum Wohnen, Schlafen und als Büro. Eine kleine Küche mit einem großen Kühlschrank, in dem exquisite Getränke gut gekühlt dahinschlummern, sowie ein geräumiges Bad mit Badewanne ergänzen ihr Etablissement.

Roserl Hinterwimmerl war bei dieser Hitze nur leicht bekleidet. Sie trug lediglich einen roten String-Tanga, der mit ihrer kaminroten Wuschelmähne gut harmonierte. Irgendwie sah sie aus wie der weibliche Pumuckl, mit schlanken, fast endlos langen Beinen, welche hinten in einen strammen Arsch übergingen. Das Holz vor der Hütte war auch nicht zu verachten (mindestens ein Ster auf jeder Seite), und dann waren da noch die frechen Sommersprossen rund um ihre Nase. Sie saß mit angezogenen Beinen auf ihrem Lotterbett, den Rücken an die Wand gelehnt. Ihre blasse Haut glänzte. Kleine Schweißbäche rannen ihr vom Halsansatz zwischen ihren schweren Brüsten hindurch und sammelten sich in ihrem Nabel, bevor sie sich von dort in die Winzigkeit ihres einzigen Kleidungsstückes verflüchtigten. Die Meisterin des horizontalen Gewerbes hielt ein beschriebenes Blatt Papier in der Hand, welches sie schon zum wiederholten Male las, aber daraus immer noch nicht ganz schlau wurde. Rolf? Wer verdammt ist oder war Rolf? Sie grübelte und durchwühlte in ihrem Langzeitgedächtnis eine Schublade nach der anderen. Zu Rolf fiel ihr dennoch nichts ein. Hätte der Depp ihr nicht ein paar zusätzliche Angaben machen können? Wieder nahm sie das Schreiben, das sie vor zwei Tagen lose in ihrem Briefkasten vorfand, zur Hand und begann zu lesen:

Hallo Roserl,

wie geht’s? Wir kennen uns. Ist schon einige Zeit her … damals in der Berggasse … in Wolfratshausen. Aber Du siehst, ich habe Dich nicht vergessen. Ganz im Gegenteil, ich muss immer noch an Dich denken. Eigentlich ständig. An Dich und an Deinen aufregenden Luxuskörper. Wie Du mich damals geritten hast. Sagenhaft. Durch puren Zufall habe ich Dich wiedergefunden. Im Internet. Da klicke ich auf www.roter-strapsamberg.com und wen sehe ich da? Roserl! Meine Roserl aus der Berggasse. Ich habe gedacht, mich laust der Affe. Wie Du mich auf dem Foto so anlachst, auf dem Foto mit dem knapp sitzenden BH … Du, ob Du es glaubst oder nicht … bei mir hat sich sofort etwas in der Hose geregt. Meine Anaconda. Erinnerst Du Dich an meine Anaconda?

An dieser Stelle hielt Roserl mit dem Lesen inne. Anaconda? Sagte ihr nichts. Sie erinnerte sich an einen Schwarzen aus der US-Armee. Der hatte vielleicht ein Ding. Schwarz wie eine Kreuzotter. Aber Anaconda? Außerdem hieß der Ami Bob, nicht Rolf. Die Prostituierte starrte an die Zimmerdecke und ließ gedanklich so manche außergewöhnliche Dinge, die sie bisher erlebt hatte, Revue passieren. Nein, eine Anaconda war nicht darunter. Aber sicher war sie sich immer noch nicht. Sie stand auf und holte ihre Aufzeichnungen aus der Kommode. Wozu führte sie denn ein Beurteilungssystem über alle ihre Freier? Amberg 2014 stand auf dem Kalender. Das muss so ziemlich vor einem Jahr gewesen sein. Sie blätterte auf Juli. Dann fand sie ihn. Am 12. Juli 2014. Bob aus Grafenwöhr. Ein Mordsdrum Instrument lautete ihr Eintrag. Ausdauernd und schwarz wie die Nacht finster. Sie hatte Bob eine Eins plus gegeben. Schade, dass sie ihre Aufzeichnungen aus Wolfrathshausen damals beim Umzug weggeworfen hatte. Dann setzte sie sich wieder auf ihr Bett und las weiter.

Es war so aufregend, als Du mich damals bestiegen hast und ich mich an deinen Arschbacken festgehalten habe. Die Roserl, ja die Roserl, mit der musst du es nochmals treiben, habe ich mir vorgenommen. Koste es, was es wolle. In einer ganz besonderen Atmosphäre, habe ich mir gedacht. Dann bin ich auf das Eh’häusl gestoßen. Kennst Du bestimmt. Ganz schön frequentiert und fast immer ausgebucht, dieses Kleinod. Der einzige Termin, den ich noch kurzfristig bekommen konnte, ist der 3. Juli, aber auch nur deswegen, weil ein Gast kurzfristig absagen musste. Ich hoffe, der 3. Juli passt auch bei Dir. Wirst nicht gerade verreist sein. Jedenfalls habe ich das Eh’häusl eine Nacht für uns beide gebucht. Auf Deinen Namen. Bezahlt ist auch schon. Ich habe das Geld einfach in einen Briefumschlag gesteckt und an die Hotelverwaltung geschickt. Um vier Uhr am Nachmittag kannst Du den Schlüssel abholen. Brauchst nur Rosi Hinterwimmer zu sagen. Ich komm später, so gegen zehn Uhr Abend. Geht bei mir leider nicht früher. Aber wir beiden Hübschen haben ja die ganze Nacht für uns … Musst wissen, bin gerade auf einer Geschäftsreise in Prag, und Amberg liegt ja quasi fast auf meinem Heimweg. Also, ich hoffe ganz einfach, das klappt bei Dir auch. Ich meine ein Tausender für Dich klingt doch überzeugend, nicht wahr? Irgendwie verlockend. Aber das ist mir meine Roserl wert, habe ich mir gesagt. Also, bis zum Freitag dann. Mach Dich hübsch für mich. Sexy und aufregend bist Du ja sowieso.

Kann es kaum mehr erwarten.

Rolf

PS: Besorg doch noch ein paar Flaschen Schampus. Die zahle ich natürlich extra! Zur Feier des Tages.

Ein Tausender, eine Anaconda und das Eh’häusl. Die drei wichtigsten Botschaften, welche in Roserls Hirn haften blieben wie ein Löffel Honig auf einem Butterbrot. Das Eh’Häusl. Da brauchte sie ja nur schräg über die Straße zu gehen. Keine zwanzig Meter. Sie war gespannt. Vieles hatte sie schon gehört von dem kleinen Hotel schräg vis-à-vis. Nur Gutes. Nicht ganz billig, aber dafür soll es auch einen entsprechenden Luxus bieten. Sie musste Rolf wirklich beeindruckt haben, damals in der Berggasse. Schade, dass sie sich nicht mehr an ihn erinnern konnte. Und an seine Anaconda. Roserl sah auf ihre Armbanduhr. Sie hatte noch etwas Zeit. Pünktlich zur Schlüsselübergabe würde sie über die Straße huschen und anschließend, so hatte sie sich vorgenommen, den Schampus besorgen, am besten gleich vorgekühlt. Ob drei große Flaschen reichen? Rolf? Anaconda? Ihr wollte dazu einfach nichts einfallen. Schade.

*

Pünktlich um sechzehn Uhr stand Roserl Hinterwimmer vor dem Hoteleingang und wollte gerade den Klingelknopf drücken, als sich die Tür wie von Geisterhand öffnete.

Eine freundliche Frau, Mitte vierzig, ordentlich – businessmäßig – gekleidet, lächelte ihr entgegen. »Frau Hinterwimmer? Frau Rosi Hinterwimmer?«, strahlte die Fremde sie an. Trotz der Hitze trug sie ein schickes, schwarzes Kostüm. Ihr blonder Pagenschnitt passte zu ihrem schmalen Gesicht mit den dunkelbraunen Augen. Schlanke Figur, Größe 36 vielleicht, aber Holz hatte sie nicht viel vor der Hütte.

»Ja, schon«, antwortete die Roserl.

»Bitteschön, treten Sie ein«, meinte die ordentlich Gekleidete. »Mein Name ist Gerta Brahms. Herzlich willkommen in unserem Eh’häusl.«

Rosi Hinterwimmer trat ein. Eine Symphonie in Licht und Farben erstrahlte im ganzen Haus und aus unsichtbaren Lautsprechern ertönte Verdis »La Traviata«. Eine Gästebegrüßung zum Träumen schön.

»Darf ich Ihnen unser Haus zeigen?«, flötete Gerta Brahms.

»Gerne.«

»Also hier befinden wir uns im Entree«, erklärte der blonde Pagenschnitt, drehte sich auf den Absätzen um die eigene Achse und breitete die Arme aus. »Eine Treppe tiefer finden Sie unseren Roten Salon. Dort bereiten wir für Sie und Ihren Mann unser exquisites Frühstück zu. Aber dazu später mehr. Ich schlage vor, wir gehen zuerst nach oben und ich zeige Ihnen unser Kaminzimmer, das Schlafzimmer, eine Etage höher das Badezimmer und unter dem Dach die Whirlpool-Etage. Sind Sie bereit?«

»Ja.« Roserl sah sich noch in dem schmalen Empfangsraum um, als Gerta Brahms schon die erste der sieben Stufen zum Kaminzimmer betrat. Links an der Wand, gleich hinter der Eingangstür, stand ein altertümlicher Sekretär. Die Klappe war herabgelassen. Sie hatte so gar keine Ahnung, welcher Epoche sie das Möbelstück zurechnen sollte. Barock? Rokoko? Sei’s drum. Der Stuhl links daneben in der Ecke, mit seiner dunkelrot-weißen Polsterung und den verschnörkelten Beinen, passte optisch jedenfalls hervorragend dazu. Auch der ovale Spiegel in seinem alten, rechteckigen Holzrahmen, über dem Sekretär. Und dann diese geschmackvollen Kleinigkeiten. Ein pausbäckiger Engel an der Wand, eine feine Holzarbeit, hielt eine Kerze in der Hand. In der Windung des weißen, edlen Holzgeländers, welches den Weg nach oben und unten wies, saß ein Engel. Aus Metall gegossen. Er hatte den Kopf geneigt und spielte auf einer Querflöte. Neben ihm, rechts des Treppenaufgangs, umschlangen sich Romeo und Julia – eine fast mannshohe Steinstatue – in einer innigen Umarmung und küssten sich.

»Dies ist unser Kaminzimmer«, hörte sie Gerta Brahms sechs Stufen voraus sagen. »Hier liegt auch unser Gästebuch auf, in welches sie sich gerne eintragen können.« Roserl erreichte die siebte Stufe und nahm die Eleganz und Schönheit des kleinen Raumes in sich auf. Wieder diese wunderschönen alten Sitzmöbel in dunkelrot-weiß gestreift. Ein Zweisitzer und ein passender Stuhl daneben. In der Mitte ein runder Glastisch mit geschwungenen Metallfüßen auf einem edlen Orientteppich. An der Stirnwand eine kleine, antike Kommode auf dünnen, schlanken Beinen und schräg darüber, in der Ecke der Wand, eine römische Freske in Rot, welche wahrscheinlich eine römische Göttin darstellte.

»Ich denke, die Funktionsweise des Kamins muss ich Ihnen bei diesen Temperaturen nicht erklären«, hörte Roserl ihre Führerin sagen. Ein Kaminsims mit Glasfront tat sich vor ihr auf. Dahinter künstliche Holzscheite. »In der kalten Jahreszeit kann der Kamin mit Gas betrieben werden«, erklärte Frau Brahms. »Und mit dieser Fernbedienung hier, können Sie vierunddreißig Fernsehsender empfangen«, fuhr sie fort. Schon stieg sie zur nächsten Etage empor, während die Roserl noch den schwarzen Flachbildschirm betrachtete, der in einem ausziehbaren und schwenkbaren Metallgestell steckte, welches an die Wand montiert war. »Dies ist unser Schlafzimmer«, trötete Frau Brahms von oben. Der kleine Raum im nächsten Geschoss wurde durch das breite Doppelbett dominiert. Rechts an der Wand hing ein mannshoher, rechteckiger Spiegel in einem dicken, goldenen Holzrahmen. Auf der schwarzen Überdecke, am Fuße des Bettes, lag eine langstielige, dunkelrote Rose. »Wir gehen nun zum Bad hoch.« Hinter einer dicken Glastür, gleich an der rechten Seite des Raumes, zog sich eine weiße Kommode von Wand zu Wand. Die dicke Holzplatte darauf war in einem dunklen Braun gehalten und obenauf saß ein weißes Porzellanwaschbecken mit einer schwenkbaren Armatur. Ein WC und eine Duschkabine füllten den restlichen Raum aus. Es ging weiter treppauf. »Das ist unsere letzte Etage, unsere Whirlpool-Etage«, erklärte Frau Brahms. »Wie Sie sehen, ist die Wanne zur Benutzung für zwei Personen gleichzeitig gedacht. Hier«, und dabei hantierte sie an verschiedenen Knöpfen und Tastaturen herum, »können Sie die Intensität der Düsen einstellen und hier die Farbspiele für das Wasser.« In einer Ecke des Raumes hing eine fast mannsgroße, weiße Steinfigur schräg über der Wanne – so, als wollte sie den Badenden bei ihren Wasser- und sonstigen Spielen zusehen. »Durch das Dachfenster können Sie in der Nacht den Sternenhimmel betrachten. Ja, Frau Hinterwimmer, das war’s. Haben Sie noch Fragen? Falls nicht, gehen wir doch in den Keller. Ich zeige Ihnen noch den Roten Salon, in dem wir Ihnen das Frühstück servieren. Wissen Sie schon, wann sie frühstücken möchten? Dazu muss ich vielleicht noch erklären: Circa eine Stunde, bevor Sie Ihr Frühstück zu sich nehmen wollen, schleiche ich mich ins Haus. Keine Sorge, ich verhalte mich ganz leise, wie ein Mäuschen. Ich werde Sie nicht stören, keinen Lärm machen. Also wie gesagt, eine Stunde vorher komme ich und bereite Ihnen und Ihrem Mann im Roten Salon ein ausgiebiges Frühstück zu. Wir müssen uns nur noch auf eine Uhrzeit einigen.«

Roserl Hinterwimmer war fasziniert. Sie musste an ihr eigenes Loch keine zwanzig Meter schräg gegenüber denken. Am liebsten wäre sie sofort dauerhaft hier eingezogen. Luxus pur. Mit Gerta Brahms vereinbarte sie neun Uhr dreißig als Frühstückstermin.

»Das passt«, meinte Frau Brahms. »Wissen Sie, es tut mir leid, das sagen zu müssen«, säuselte sie, »aber um elf Uhr müssten Sie das Hotel wieder frei machen. Die nächsten Gäste … Sie wissen schon … Ich bitte um Ihr Verständnis … Wir müssen ja auch noch sauber machen zwischendurch … Aber das weiß Ihr Mann bereits … Ach ja, Frau Hinterwimmer, sagen Sie doch Ihrem Mann noch einen lieben Gruß von mir, aber das nächste Mal sollte er doch etwas vorsichtiger sein und nicht so viel Geld einfach in einem Briefkuvert versenden. Trotzdem, Briefmarken verschickt er wunderschöne. Die Nürnberger Kaiserburg hat er als Motiv aufgeklebt, wie sie in der Abenddämmerung angestrahlt wird. Wunderschön. Ich habe mir die Marke gleich ausgeschnitten. Für meinen Sohn. Der sammelt nämlich Briefmarken.«

Der Nutte aus Wolfrathshausen kam erneut Rolf, ihr Gönner, in den Sinn, der sich offensichtlich als ihr Ehemann ausgegeben hatte. Sie ärgerte sich wieder einmal, dass sie sich so gar nicht an ihn erinnern konnte. Dieser Rolf mit seiner Anaconda hatte einigen Aufwand betrieben, um mit ihr eine Nacht in diesem romantischen Ambiente zu verbringen. Sie war gespannt wie ein Flitzebogen. Noch fünf Stunden, dann würde sie ihn wiedersehen. Vielleicht schlummerte er ja doch noch in einer Schublade ihres Gedächtnisses. Sie hatte die Schublade bloß noch nicht gefunden. Am meisten freute sie sich auf die tausend Euro. Nun hatte sie noch ausreichend Zeit, bis sie ihn begrüßen konnte. Zur Feier des Tages hatte sie Lust auf einen Eiskaffee im Café Zentral. Danach würde sie drei Flaschen gut gekühlten, edlen Schampus besorgen, später beim Italiener, gleich um die Ecke, noch eine Kleinigkeit zu sich nehmen und sich danach im Eh’häusl einquartieren, bis ihr Lover eintraf. Die Whirlpool-Anlage konnte sie ja schon mal vorher testen. Hoffentlich stellte sich die Anaconda nicht als Blindschleiche heraus.

2

Am Freitag, den 3. Juli 2015, zwanzig Minuten vor einundzwanzig Uhr, stieg im Fränkischen, circa einhundert Kilometer nordwestlich von Amberg, der Mörder von Roserl Hinterwimmer in seinen Audi A3 Quattro. Gerade hatte er sich von seiner Frau Francesca und den beiden Buben, Emanuele und Filippo, verabschiedet. Er hatte eine weite Reise vor sich. Knapp eintausendachthundert Kilometer lagen vor ihm. Seine Route sollte ihn über München, den Brenner, Verona, Florenz, vorbei an Rom und Neapel bis in die italienische Provinz Reggio Calabria führen, inklusive einer Übernachtung auf halber Strecke. Achtzehn Stunden Fahrtzeit hatte er dafür eingeplant, zuzüglich einer Stunde Aufenthalt im nahen Amberg. Dort sollte er auf die Schnelle, so quasi im Vorübergehen, eine ihm unbekannte, oberbayerische Nutte ins Jenseits befördern. Von diesem Zwischenstopp in der oberpfälzischen Metropole hatte Francesca keine Ahnung. Der geplante Mord fiel unter Geschäftliches. Sein Schwiegervater Calippo Antonelli hatte ihn um diese kleine Gefälligkeit gebeten und angedeutet, dass seiner Aufnahme in die Ehrenwerte Gesellschaft damit nichts mehr im Wege stünde.

Francesca und die beiden Söhne standen im Eingangsbereich des riesigen Anwesens und winkten zum Abschied, als der Audi vom Grundstück rollte. Rechter Hand hinter dem verwitterten Gittertor, erhob sich der Fachwerkbau der alten Mühle, welche im Jahr 1348 erstmals im Würzburger Urban, den alten Urkunden zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg, erwähnt wurde. Den Dreißigjährigen Krieg hatten die damaligen Gebäude des Anwesens sowie die Kirche im Dorf heil überstanden, während die Schweden den Rest des Ortes niederbrannten. Im Jahr 1722 wurde das Wohnhaus der Mühle als Stein-Fachwerkgebäude erneuert. Noch bis ins Jahr 1953 wurde hier Getreide gemahlen. Gegenüber dem Haupthaus steht der alte Schweinestall, der aus Buntsandstein errichtet wurde, und gleich im rechten Winkel dazu das alte Sägewerk mit seiner anmutigen Fachwerkstruktur. Schon vor einiger Zeit wurde darin weiterer Wohnraum geschaffen, welcher aber modernisiert werden musste. Das hatte noch Zeit. Wenn die Buben größer und selbstständiger werden, wollte das Ehepaar dies angehen, dann hätten die beiden Söhne ihren eigenen Wohnbereich, ihr eigenes Reich und Francesca und ihr Mann wären im Haupthaus völlig ungestört. Damit nicht genug. Weiter hinten auf dem Anwesen steht eine riesige Scheune, ebenfalls aus Sandstein erbaut. Knapp über eine Million Euro hatte der Mann an den Vorbesitzer für die Immobilie bezahlt. Ein Schnäppchen. Nochmals die gleiche Summe plante er für die vollständige Renovierung des Anwesens auszugeben. Dennoch … wie gesagt, ein echtes Schnäppchen. Das Mühlenrad, welches im Jahr 2013 durch das Jahrhunderthochwasser der Aisch zerstört wurde, wollte er noch dieses Jahr wiederherstellen lassen. Danach würde es an das Haupthaus und den Garten gehen, welcher vor lauter Unkraut nur so strotzte. Selbst der Maulwurf hatte angefangen erste Haufen aufzuschütten. Francesca, er und die Kinder hatten sich auf den ersten Blick in die alte Mühle verliebt, als sie diese zufälligerweise während einer Wanderung durch das Aischtal entdeckten. Vier Monate dauerte es, bis er den Vorbesitzer endlich weichgeklopft hatte und dieser bereit war, das ganze Anwesen zu verkaufen.

Nach ungefähr zwei Kilometern setzte der neue Mühlenbewohner den Blinker rechts und lenkte den Audi von der schmalen Straße auf die vorfahrtsberechtige B 470. Kaum zehn Minuten später erreichte er den zentralen Kreisverkehr in Höchstadt an der Aisch und warf einen Blick auf Fridolin, den größten Steinkarpfen der Welt, der dort, aus Muschelkalk gehauen, mitten auf dem Kreisel stand. Fast drei Meter lang, einen Meter und siebzig Zentimeter hoch und nahezu drei Tonnen schwer, blickte Fridolin stadteinwärts in Richtung der Aisch. Als der Audi die steinerne Skulptur halb umrundet und sich wieder in die B 470 eingeordnet hatte, gab der Fahrer Gas und beschleunigte den Wagen wieder. Seine Gedanken beschäftigten sich mit dem Auftragsmord, den er in Amberg erledigen sollte, bevor er sich auf seine eigentliche Reiseroute begab. Weder kannte er Roserl Hinterwimmer von einem früheren Treffen in Wolfrathshausen noch war er auf einer Geschäftsreise in Prag unterwegs, und Rolf hieß er schon gar nicht. Auch eine Anaconda nannte er nicht sein Eigen. Mühlenbesitzer war er auch nicht, denn die Immobilie war im Grundbuchamt bewusst auf den Namen von Francesca eingetragen. Francesca Antonelli, nun alleinige Eigentümerin des altertümlichen Anwesens und Tochter von Calippo Antonelli, einem mächtigen Boss der kalabrischen Mafiaorganisation Ndrangheta. Er war der Geldgeber für den Kauf der Immobilie.

Zu seinem ersten Zwischenstopp in Amberg rechnete der Auftragsmörder mit einer kurzen Fahrzeit von einer Stunde und zehn Minuten. Konservativ gerechnet. Die Autobahn nach Amberg war normalerweise nicht stark befahren. Im Handschuhfach lag seine halbautomatische Selbstladepistole Colt 1911 A1, Kaliber 45, nebst Schalldämpfer. Keine zehn Minuten später fuhr er auf die Autobahnauffahrt Höchstadt-Ost in Richtung Nürnberg. Als die Autobahn kurz vor der Anschlussstelle Tennenlohe von zwei in drei Spuren überging und sich die Lkws auf die rechte Spur verzogen, ging es deutlich schneller voran. Die Landschaft flog an ihm vorbei. Über der Fahrbahn flimmerte immer noch die Hitze des Tages. Er stellte die Klimaautomatik auf angenehme einundzwanzig Grad ein. Es dauerte nicht lange, bis er von der A3 auf die A6, die Europastraße 50, wechselte. Der Lkw-Verkehr löste sich immer mehr auf.

Bei Amberg-West verließ der Mörder die Autobahn, fuhr die Stadt über die Bundesstraße 299 an und wechselte dann auf die Nürnberger Straße. Er lag gut in der Zeit. Ein kurzer Fußweg in die Innenstadt lag noch vor ihm. Er hatte nicht die Absicht in der Altstadt zu parken, geschweige denn in der Nähe des Eh’Häusls. Am Anfang des Kaiser-Wilhelm-Rings bog er in die Kugelbühlstraße ab und begab sich auf Parkplatzsuche. In der Luitpoldstraße wurde er schließlich fündig. Er stellte den Motor ab und stieg aus. Obwohl die Sonne längst hinter dem westlichen Horizont verschwunden war, stand die heiße Luft noch immer in den Straßenzügen. Das Thermometer in seinem Wagen hatte immer noch dreißig Grad Außentemperatur angezeigt. Trotz der Hitze steckte er sich eine Marlboro zwischen die Lippen und machte sich auf seinen Weg in die Altstadt. Auf Höhe des Wingerheimer Tores überquerte er den Kaiser-Wilhelm-Ring. Er fühlte, wie ihm der Schweiß das Rückgrat hinablief. Sein dunkelblaues Adidas-T-Shirt zeigte auch auf der Vorderseite schon die ersten Schweißflecken. Sein Jackett, in welchem seine Pistole schlummerte, trug er über dem linken Unterarm. Er schmiss die Zigarettenkippe achtlos in einen Gully. Drüben auf der anderen Straßenseite, wählte er den Weg durch die Steinhofgasse und gelangte schließlich über den Rossmarkt zur Georgenstraße. Das Eh’häusl lag nun ganz in der Nähe. Der Mörder legte eine kurze Verschnaufpause ein. Wie gerne hätte er jetzt in einer Kneipe ein kühles Weizenbier genossen, aber das Risiko, dass sein Gesicht in irgendeinem oberpfälzischen Gehirn abgespeichert wurde, wollte er nicht eingehen. Er setzte seinen Gang fort und tauchte in die enge Viehmarktgasse ein. Kurz danach befand er sich bereits in der Seminargasse. Noch einhundert Meter.

*

Während ihr Mörder noch zu ihr unterwegs war, genoss Roserl das erste und letzte ausgiebige Whirlpool-Bad ihres Lebens. Dem gekühlten Schampus konnte sie nicht widerstehen. Zu verlockend kondensierte die Kälte auf der grünen Flasche, als sie den Champagner aus dem Kühlfach nahm. Sie ließ Wasser in die Whirlpool-Wanne, ließ es ordentlich sprudeln und schaltete die wechselnden Lichteffekte ein. Nachdem sie die Champagner-Flasche mit einem tiefen Plopp geöffnet, einen ordentlichen Zug aus der Pulle genommen und dann laut gerülpst hatte, stieg sie in das sprudelnde Wasser. Die Flasche mit dem edlen Getränk stellte sie griffbereit auf dem Fliesenfußboden vor der Wanne ab. Sie dachte über ihr bisheriges Leben nach. Prahlen konnte sie damit nicht: Eine äußerst dürftige und mäßige Abiturnote und ein völlig verkorkstes Italoromanistik-Soziologie-Studium war das einzig Wesentliche, was sie vorzeigen konnte. Vor Antritt des fünften Semesters meinte sie ein Jahr in Rom verbringen zu müssen. Eindrücke von Land und Leuten gewinnen, Sprache verbessern, so waren seinerzeit ihre Gedanken. Heute gestand sie sich ein, dass sie damals von der Uni einfach nur die Schnauze voll hatte. Sie musste einfach mal raus aus diesem Lehrsaalmief. Nicht sie gewann Eindrücke von Land und Leuten, sondern die jungen römischen Männer gewannen Eindrücke von ihr. Sie landete quasi mit jedem im Bett, den sie kennenlernte. Bis Luigi kam. Luigi Antonelli aus dem süditalienischen Dorf Platì, in der Stiefelspitze Italiens gelegen. Luigi schmiss mit Geld nur so um sich. Er las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Dafür schenkte sie ihm ihren jungen, aufregenden Körper. Vergessen waren Uni und Studium. Drei Wochen nach dem Kennenlernen zog sie in seine exklusive Junggesellenwohnung nahe der Spanischen Treppe ein. Fortan führte Roserl ein wildes Leben voller Partys, Sex und Drogen. Bald stand sie auf Koks und zog sich regelmäßig eine Linie in die Nase. Luigi schien direkt an der Quelle des Kokains zu sitzen. Woher das viele Geld kam, konnte sie sich nicht erklären, denn ihr Lover ging keiner geregelten Arbeit nach. Aber das interessierte sie auch nicht wirklich. Die Kohle war einfach da. Ihr Lebensgefährte bekam viel Besuch. Männlichen Besuch. Meist zwielichtige Gestalten. So sahen sie jedenfalls aus. Manchmal sah sie auch eine Schusswaffe in einer Art Körpergürtel unter einem Jackett stecken. Luigi beruhigte sie. »Alles Privatdetektive meiner Kanzlei«, erklärte er ihr, »kein Grund zur Sorge.« Sie lebte weiter sorglos in den Tag hinein, bis zu dem Tag, an dem sie Anna traf. Eine von Luigis Ex-Freundinnen.

»Hör zu, was ich dir sage, denn ich sage es nur ein einziges Mal«, warnte Anna sie. »Du lebst gefährlich. Luigi ist ein hohes Tier in der Mafia-Organisation der Ndrangheta. Er geht über Leichen. Wenn du ihm überdrüssig wirst, lässt er dich fallen wie eine heiße Kartoffel. Ich weiß, wovon ich rede. Ich hätte mein Verhältnis zu ihm fast mit dem Leben bezahlt. Hier, sieh her«, forderte sie Roserl auf, schob ihr T-Shirt über dem Hosengürtel hoch und ließ die Deutsche ihre grausam verstümmelte und vernarbte Bauchdecke sehen.

»Was ist das?«, zuckte Rosi angeekelt zurück.

»Ein Säureanschlag«, erhielt sie zur Antwort, »nur so zur Warnung. Ich kann froh sein, dass er mich nicht umgebracht hat.«

»Was hast du ihm angetan?«

»Ich? Nichts. Ich stand ihm lediglich im Wege. Für eine neue Beziehung. Eine Asiatin aus Hongkong hatte es ihm angetan. Nach sechs Monaten mit ihm zusammen sprach sie von Hochzeit. Zwei Monate später wurde sie von einem Lkw überfahren. Natürlich tot. Der Unfallfahrer wurde bis heute nicht gefunden. Ich kann dir nur raten, hau ab, solange noch Zeit dazu ist.«

Roserl glaubte ihr kein Wort. Aus Anna sprach der blanke Neid. Verletzte Gefühle. Dennoch, ein kleines Gefühl von Misstrauen war in ihrem Innersten gesät. Fortan betrachtete sie das Verhalten ihres Freundes mit einer gewissen Skepsis, ohne sich etwas anmerken zu lassen – wie sie glaubte. Als sich der Arm des Gesetzes nach Luigi ausstreckte, wäre es fast zu spät gewesen. Sie schaffte gerade noch rechtzeitig den Absprung. Dass sie sich bereit erklärte, mit der römischen Justiz zusammenzuarbeiten, rechnete sie ihrem Eigeninteresse zu, mit einem blauen Auge aus der ganzen Scheiße herauszukommen. Was Luigi alles auf dem Kerbholz hatte, nun darüber wusste sie nichts Genaues, aber einige von Luigis Besuchern erkannte sie wieder, als man ihr die Fahndungsfotos und Verbrecherkarteien vorlegte. Und dass Luigi über unerschöpfliche Kokainvorräte verfügte, wusste sie auch. Sie sang wie eine Amsel in der Abendsonne. Erst danach ließen die italienischen Behörden sie ziehen. Nach Bad Tölz wollte sie nicht zurück. So entschied sie sich für das nahe gelegene Wolfratshausen. Das kannte sie, lag ja nicht weit von ihrer Heimatstadt entfernt. Damals überlegte sie, wie es mit ihr weitergehen sollte. »Was beherrschst du am besten?«, fragte sie sich selbst. Sie überlegte intensiv und lauschte ihrer inneren Stimme. »Bumsen«, sagte ihr die Stimme. »Womit kannst du am schnellsten und leichtesten Geld verdienen?« Egal, welche Fragen sie sich stellte, die Antworten waren immer die gleichen: Bumsen. »Außerdem brauchst du genug Kohle, um dir Stoff zu besorgen«, verriet ihr ihre innere Logik.

So stieg sie in das horizontale Gewerbe ein. Von irgendetwas musste der Mensch ja schließlich leben. Auch wenn sie niemandem verriet, dass sie sich in die Stoiber-Stadt flüchtete und später in die Oberpfalz umzog, hatte sie der lange Arm der Behörden doch gleich wiedergefunden. Vor Tagen, als sie Rolfs Nachricht vorfand, lag eine weitere Nachricht in ihrem Briefkasten. Von der Staatsanwaltschaft in Rom. Darin wurde sie informiert, dass das aufwendige Ermittlungsverfahren gegen Luigi Antonelli nunmehr endgültig abgeschlossen sei und ihm ein langwieriger Gerichtsprozess bevorstünde. Sie, Roserl Hinterwimmer, habe damals eine mehrmonatige intime Beziehung zu dem Angeklagten unterhalten, habe Kokain von ihm bezogen und verkonsumiert und werde hiermit als eine wichtige Zeugin der Staatsanwaltschaft berufen. In dem Schreiben wurde sie aufgefordert, sich am 13. August dieses Jahres bei Oberstaatsanwalt Dr.Fernando Vincelli, Via de Campone 3, zu melden. Dieser Vorladung sei unbedingt Folge zu leisten, hieß es. Ansonsten … Es folgten Hinweise auf ein Sammelsurium von Paragrafen, welche Roserl nichts sagten. »So ein Scheiß«, entfuhr es ihr in dem blubbernden Schaumbad, als ihr der Brief der römischen Staatsanwaltschaft wieder durch den Kopf ging, »wie haben die mich bloß gefunden?«

Dass es neben Dr.Fernando Vincelli auch andere Leute gab, welche ebenfalls ein gewisses Interesse an ihrer Person haben könnten, nun auf diese Idee kam Roserl nicht, als der Champagner tief in ihrem Hals prickelte. Il Tedesco, der Deutsche, hatte schon vor Monaten den Auftrag erhalten Roserl ausfindig zu machen. Seitdem klebte er auf ihrer Spur und war ihr näher und näher gekommen. Aber wie gesagt, davon hatte Roserl keine Ahnung. Für sie war die Episode Rom gedanklich längst ad acta gelegt. Bis vor wenigen Tagen eben, als sie den Brief der römischen Justiz in ihrem Briefkasten vorfand. Auch Il Tedesco – alias Rolf – hatte sie gefunden und war auf dem Weg zu ihr. Die Ndrangheta hatte mit ihr noch eine offene Rechnung zu begleichen. Dass die Roserl bald gegen ihren früheren Liebhaber aussagen sollte, gefiel den Clans der Ehrenwerten Gesellschaft überhaupt nicht. Der Auftragskiller war bereits in der Stadt, das Leben von Rosi Hinterwimmer keinen Pfifferling mehr wert. Noch plantschte sie im sprudelnden Whirlpool, dachte an eintausend Euro und an eine Anaconda. Ihre Lebensuhr tickte nur noch eine halbe Stunde.

*

Mit großen Schritten brach die Nacht endgültig über Amberg herein und schlich sich in die historische Altstadt. Die Seminargasse war menschenleer. Die Hitze staute sich noch immer in der schmalen Straße. An Abkühlung war nicht zu denken. Der Mörder legte seinen mit einem Tempotaschentuch umwickelten Daumen auf den Klingelknopf des Eh’häusls. Drinnen ertönte ein helles Ding-Dong. Dann rührte sich etwas im Haus. »Ich komme«, hörte er eine weibliche Stimme rufen. Sekunden später öffnete sich die Tür.

»Hallo, ich bin der Rolf«, hörte er sich sagen.

»Komm rein, ich habe schon auf dich gewartet«, antwortete der attraktive, rothaarige Wuschelkopf, in ein transparentes schwarzes Nichts gekleidet. Deutlich stemmten sich zwei rosafarbene Brustwarzen gegen den leichten, durchsichtigen Stoff. »Wie geht es deiner Anaconda?«

»Die ist gerade aufgewacht und windet sich hin und her«, antwortete er, dann schloss sich hinter ihm die Tür.

Roserl musterte den Fremden mit Interesse. Was sie so sah, gefiel ihr. Sie schätzte den Mann mit dem markanten, kantigen Gesicht, den dunkelblauen Augen und dem weiblich geschwungenen Mund auf Mitte dreißig. Schlank, muskulös wirkend und geschätzte einen Meter fünfundachtzig groß. Sie konnte sich nicht an ihn erinnern und haderte erneut mit ihrem unvermögenden Langzeitgedächtnis. »Wie wär’s mit einem erfrischenden, prickelnden Entspannungsbad zur Begrüßung?«, gurrte sie. »Bei einem Gläschen Schampus? So weit mir bekannt ist, lieben Anacondas das Wasser.«

»Keine schlechte Idee«, lächelte Rolf sie offen an. Eine sympathische junge Frau. Gut aussehend, sexy und irgendwie hyperaktiv. Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen schienen ihr nicht zu fehlen und sexuelle Hemmungen hatte sie sowieso nicht.

»Ich gehe schon mal vor. Ganz oben unter dem Dach wartet unser Schaumbad. Ich habe das Wasser schon eingelassen. Zieh dich doch aus. Ich warte auf dich und deine Würgeschlange, dann können wir uns darüber unterhalten, was wir die nächsten Stunden so alles treiben«, kicherte Rosi und ließ dabei ihr transparentes Nichts von der Schulter gleiten. Mit dem nackten Po wackelnd stieg sie lasziv Stufe um Stufe empor und schnalzte dabei mit der Zunge. Keine Minute später drangen dumpf blubbernde Geräusche von oben in das Kaminzimmer herab.

Der Mörder ließ sich Zeit. Er stand vor dem künstlichen Kamin und sah sich um. Dann schraubte er den Schalldämpfer auf seine Colt 1911 A1 und vergewisserte sich, dass das Magazin auch geladen war. Er entsicherte die Pistole, zog den Schlitten zurück und ließ eine Patrone in die Patronenkammer gleiten. Auf der gläsernen Tischplatte vor dem Kamin bemerkte er feine Reste eines weißen Pulvers. »Sieh an, sieh an«, murmelte er. Dann zog er seine Schuhe aus und machte sich lautlos auf den Weg nach oben. Die Schusswaffe in der Rechten hielt er hinter seinem Rücken verborgen. Irgendwie tat ihm diese lebenslustige Nutte leid. Sympathisch attraktiv und zum Sterben viel zu jung. Schade um sie. Er hatte keine Ahnung, was sie verbrochen, was sie angestellt hatte, um sich den Zorn der Ndrangheta zuzuziehen. »Finde sie und töte sie«, hatte sein Schwiegervater vor ein paar Monaten zu ihm gesagt. Warum, weshalb? Keine Ahnung. Es interessierte ihn auch nicht. Wozu? Er hatte eine Aufgabe zu erledigen, seine ganz persönliche Prüfung. Mehr nicht.

»Oh, du bist ja noch gar nicht ausgezogen«, ermahnte ihn die nackte Rosi Hinterwimmer enttäuscht, welche in einem riesigen, blubbernden Schaumbad-Berg lag, der sich mal in rot, blau, grün, gelb und weitere Farben verwandelte. »Du musst dich nicht genieren. Komm rein, ich wasch dir den Rücken, und nicht nur den«, lockte sie. Dann sah sie dem Mann, der vor ihr stand, in die blauen Augen, welche sie mit Eiseskälte anstarrten. Er machte nicht die geringsten Anstalten, sich seiner Kleidung zu entledigen. Er starrte sie nur an. Plötzlich begann ihr Herz zu rasen. Ihr inneres Alarmsystem war in Aufruhr. Todesangst schnürte ihr mit einem Schlag die Kehle zu. Ihr Besucher hatte nicht das geringste Interesse, zu ihr in die Wanne zu steigen. »Was ist …? Du bist nicht Rolf … und wir haben uns vorher auch noch nie gesehen …! Was willst du?« Roserl starrte den Fremden mit weitaufgerissenen Augen an. Ihre Pupillen rasten panisch hin und her. Ihre Hände tauchten in einer hektischen Abwehrreaktion aus dem Schaumberg auf. Sie wollte sich aufsetzen. Zu spät. Blitzschnell hielt ihr der Mann den Lauf seiner Pistole an die rechte Schläfe. »Warum?«, flüsterte sie, dann ertönte ein dumpfes Plopp und Rosi Hinterwimmers Kopf wurde von einer unsichtbaren Macht zur Seite gerissen. Das abgefeuerte Geschoss fegte durch ihr Gehirn und schlug in die geflieste Wand. Auf Roserls linker Kopfhälfte klaffte ein blutiger Trichter, aus dem eine rosa-graue teigartige Masse aus Blut, Gehirnflüssigkeit, Knochensplittern, Milliarden von Nervenzellen, Hirnrinde und Rückenmark dem Weg des Geschosses gefolgt waren und nun von dem Fliesenspiegel klebrig und zäh fließend in das blubbernde Badewasser krochen. Roserls Körpersekrete verzauberten das aktuelle Gelb des Badewassers in ein schmieriges Rot. Eine Antwort auf ihre Frage bekam sie nicht mehr. Sie war sofort tot. Langsam, wie in Zeitlupe, rutschte ihr lebloser Körper in das immer noch unstet sprudelnde Wasser und versank darin. Ihr Mörder schaltete die Whirlpool-Anlage ab. Dort, wo Roserls Kopf in das Wasser eingetaucht war, schwammen nun Hunderte kleiner roter Schaumblasen und noch immer rannen von den Fliesen winzige Blutbäche in das nun ruhiger werdende Badewasser. Dem Mörder entfuhr ein leises Seufzen, dann begab er sich wieder nach unten in das Kaminzimmer.

*

Während ein eilends herbeigerufener Notarzt sich immer noch um Gerta Brahms kümmerte und auch ein Polizeipsychologe bereit stand, sich ihrer anzunehmen, beugte sich Valentin Rohrmoser, Kriminalhauptkommissar der Mordkommission Regensburg, über die nackte Leiche von Rosi Hinterwimmer. Die Spurensicherung der Kripo hatte das Badewasser abgelassen und ihre Arbeit im obersten Stockwerk des Eh’häusls abgeschlossen. Nun suchten sie auf den restlichen fünf Etagen nach verwertbaren Spuren. Der Rechtsmediziner Dr.Ignaz Bauerreiß stand neben dem Kommissar, dessen buschiger Schnauzer fast die Nase des Opfers berührte. Rohrmoser kniete vor der Badewanne und betrachtete die Leiche aus nächster Nähe. Sein Bauch hing über der viel zu engen Jeans und auch die Knöpfe seines weiß-blau karierten, kurzärmeligen Hemdes drohten demnächst die Fäden, die sie noch hielten, wegzusprengen. Die unbequeme Körperhaltung schien ihn anzustrengen. Über seiner Glatze zog sich ein dünner Schweißfilm. »Eindeutig ein aufgesetzter Kopfschuss«, kommentierte der Rechtsmediziner ungefragt. »Hier, sehen Sie die Schmauchspuren rund um die Einschusswunde? Immer noch gut zu erkennen, obwohl die Leiche im Wasser gelegen war.«

»Todeszeitpunkt?«, knurrte der Kommissar unter seinem Schnauzbart hervor.

»Ich schätze zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht«, antwortete Ignaz Bauerreiß. »Noch unverbindlich«, setzte er hinzu. »Genaueres kann ich Ihnen erst nach der Leichenschau sagen. Die Todesursache ist allerdings eindeutig: Der Schuss in die rechte Schläfenregion. Schusskanal, Knochenfragmente und das in der Wand steckende Projektil sprechen eine eindeutige Sprache. Glatter Durchschuss. Die Hirnverletzungen waren absolut tödlich. Die Hirnmassenverschiebung nach links hat zu einer Einklemmung am Hirnstamm geführt und somit zum Verlust lebensnotwendiger Funktionen. Aber wie gesagt, die Autopsie müssen Sie schon noch abwarten, bevor …«

»Hat scho oaner mit Frau Brahms sprechn könna?«, unterbrach ihn der Kommissar.

»Nur ganz kurz«. Franziska Schuler, Leiterin der SpuSi, kam die Treppe herauf. »Der Mann der Toten, ein Rolf Hinterwimmer, hätte vor drei Wochen telefonisch das Hotel gebucht, hat sie ausgesagt. Der Übernachtungspreis wurde der Hotelverwaltung per Brief zugestellt. Sehr ungewöhnlich. Ach ja, einen fränkischen Dialekt soll er gehabt haben, vermutet Frau Brahms. Ist sich aber nicht absolut sicher. Könnte auch schwäbisch gewesen sein, meint sie. Sie kennt sich da nicht so genau aus.«

»Sehr hilfreich. Sonst noch was?«

»Ja. Die Tote ist gar nicht verheiratet, sondern geht hier in der Seminargasse dem horizontalen Gewerbe nach. Außerdem scheint das Opfer Kokain konsumiert zu haben. Unten im ersten Stock, auf der Glasplatte des Tisches, haben wir Reste von Kokainhydrochlorid gefunden. In ihrer Handtasche befinden sich weitere Tütchen von dem Zeugs«, fuhr Franziska Schuler fort, »aber meine Leute sind mit ihren Untersuchungen noch nicht fertig. In der untersten Etage steht ein reichhaltiges Frühstücksarrangement. Kaffee, O-Saft, Brötchen, Wurst, Käse, gekochte Eier, Joghurt, Früchte und mehr. Alles unangetastet. Hier oben und im Kaminzimmer gibt es jede Menge Fingerabdrücke, aber nur von der Toten. Hinweise auf ihren Mörder haben wir bisher noch nicht, wenn wir davon ausgehen, dass ihr angeblicher Ehemann ein Freier und auch ihr Mörder ist. Wir sind aber noch nicht fertig. Vielleicht finden wir doch noch etwas, was auf den Täter hindeutet.«

»Sie werdn nix findn«, prophezeite der Hauptkommissar. »Hier woar ein Profi am Werk.«

»Kann ich jetzt die Leiche abtransportieren lassen?«, quengelte Doktor Bauerreiß, »ich habe noch jede Menge Arbeit vor mir, und außerdem muss ich mir von der Staatsanwaltschaft noch die Freigabe für die Leichenschau einholen.«

»Hauns scho ab«, merkte der Kripo-Beamte an, »und … Sie habens ja ghört … achtns auf den Kokainnachweis. Wer von Eahna kann mir mehr über die Identität des Opfers derzähln?«

»Am besten, Sie fragen Polizeimeister Franz Muckerer von der hiesigen Polizeiinspektion«, antwortete Frau Schuler. »Dem ist die Tote nicht unbekannt. Von ihm kommt auch der Hinweis, dass die Tote dem horizontalen Gewerbe nachgeht.«

»Nachging«, verbesserte Hauptkommissar Rohrmoser, »sie ging dem horizontalen Gewerbe nach. Etz is sie ja mausetot. Und wo find ich den Kollegen Muckerer?«

»Der steht vor der Haustür und wimmelt die Presse ab.«

»Warts ihr schon in der Wohnung des Opfers?«, wollte der Regensburger noch wissen.

»Witzbold!«, antwortete Franziska Schuler, »wir machen erst hier fertig, dann …«

»Scho guat. Sagts mir Bescheid, wenns ihr dort fertig seids.«