»Wir kriegen euch alle!« Braune Spur durchs Frankenland - Werner Rosenzweig - E-Book

»Wir kriegen euch alle!« Braune Spur durchs Frankenland E-Book

Werner Rosenzweig

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Beschreibung

Abgrundtiefer Fremdenhass zeichnet die neue Generation von Rechtsextremisten aus. Es sind nicht mehr die Glatzköpfe in ihren Springerstiefeln und Bomberjacken. Sie sehen aus wie du und ich. Skrupel kennen sie nicht. Hart und brutal schlagen sie zu und agieren präzise und tödlich, denn sie werden generalstabsmäßig geführt. Ausgerechnet im beschaulichen, mittelfränkischen Röttenbach lässt sich eine ihrer Terrorzellen nieder. Juden, Türken, Migranten und Asylanten zählen zu ihren potentiellen Opfern. Die blutige Attacke auf das Türkische Generalkonsulat in Nürnberg ist nur ihr erster Anschlag in der Region. Weitere folgen. Doch sie haben Größeres vor: Die Zerstörung des Islamischen Forums im oberbayerischen Penzberg ist eines ihrer erklärten Ziele. Während des traditionellen Freitaggebetes planen sie mit Panzerfäusten zuzuschlagen. Aber sie begehen einen schwerwiegenden Fehler. Sie lassen sich in ihrem Tun und Handeln auch von privaten Interessen leiten, ohne diese mit ihrer Führung abzustimmen. Kunigunde Holzmann und Margarethe Bauer, zwei ebenso bauernschlaue, wie kriminalistisch begabte Röttenbacher Witwen kommen ihnen auf die Schliche, während das BKA und der Verfassungsschutz obskuren Spuren nachjagen. Können die beiden Freundinnen größeres Unheil noch rechtzeitig verhindern?

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Werner Rosenzweig

»WIR KRIEGEN EUCH ALLE!«

Braune Spur durchs Frankenland

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Handlung und Personen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und unbeabsichtigt.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor, www.roetten-buch.de

Lektorat: Barbara Lösel, www.wortvergnügen.de

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

VORWORT

PROLOG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

EPILOG

VORWORT

Der Nahe Osten scheint dem Verfall nahe. Sunniten kämpfen gegen Schiiten. Die USA haben sich aus dem Irak zurückgezogen, ohne stabile Strukturen zu hinterlassen. Das so oft totgesagte Regierungssystem von Präsident Assad in Syrien ist immer noch an der Macht und kämpft an verschiedenen Fronten. Nahezu fünf Millionen Flüchtlinge haben beide Länder zwischenzeitlich verlassen. Die dschihadistisch-salafistische Terrororganisation Islamischer Staat, deren Machtbasis auf einer Gruppe ehemaliger irakischer Offiziere beruht, hat ein Kalifat ausgerufen und will zurück zu den Ursprüngen des Islam. Seinen Ursprung hat die Terrororganisation im irakischen Widerstand. Ihre Verbrechen sind brutal und menschenrechtsverachtend. Und da ist auch noch der türkische Ministerpräsident Erdogan in seinem 1000-Zimmer-Palast, der davon träumt, eines Tages die Muslime zu führen und ein großosmanisches Reich zu errichten. Natürlich steht ihm dabei der syrische Präsident im Weg, und auch dem Iran wird diese Idee nicht gerade gefallen. Gekämpft wird an allen Ecken und Enden. Leidtragende sind die Bevölkerungen der genannten Länder. Als wenn das nicht schon genug wäre, verübt auch die nigerianische Terrororganisation Boko Haram ständig Anschläge, und auch in Ägypten und Libyen ist das Fass aufgrund der unsicheren politischen Situationen ständig am Brodeln.

All diese Ereignisse lösten eine Flüchtlingswelle in einem nie dagewesenen Ausmaß aus. Die Neonazis in Deutschland sehen es mit Wohlwollen, wenn sich die Muslime in ihren eigenen Ländern zu Tausenden gegenseitig umbringen. Jetzt aber, wo immer mehr Flüchtlinge und Asylsuchende unter Einsatz ihres Lebens in gewagten Schiffstransporten über das Mittelmeer die italienische Insel Lampedusa ansteuern und so nach Europa und auch nach Deutschland drängen, vergeht ihnen das Lachen. Tausende, Hundertausende Flüchtlinge sind nach Europa unterwegs beziehungsweise warten noch immer auf ihre lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer. Tausende von ihnen bezahlten dieses Wagnis bereits mit ihrem Leben.

Die Asylaufnahmestellen in Deutschland sind auf diesen Ansturm nicht vorbereitet. Es herrscht das blanke Chaos. Die Flüchtlinge, welche entkräftet, aber lebend in Italien ankommen, will in Wirklichkeit keiner haben. Doch dies zuzugeben, ist politisch nicht opportun. Asyl erhalten normalerweise nur diejenigen, welche auch asylrelevante Gründe glaubhaft machen können. Viele hoffnungslose Menschen werden wieder in ihre Heimatländer abgeschoben, in denen auf viele von ihnen Repressalien, Inhaftierungen und ein ungewisses Schicksal warten. Diejenigen, die in Deutschland bleiben dürfen, haben kaum eine Chance in die Gesellschaft integriert zu werden. In den Orten und Städten ihres endgültigen Verbleibens werden sie selten willkommen geheißen. Sie sind und bleiben Fremde, Störenfriede und werden in vielen Fällen als Nutznießer des deutschen Sozialsystems kritisiert. Sie gehören nicht hierher. Oft schlägt ihnen Fremdenhass entgegen, und einige werden zu Zielobjekten der rechtsradikalen Szene.

»Wir sind keine Nazis«, meinen mehr als 15.000 Dresdner Bürger während der Demonstrationen von Pegida, den Patriotischen Europäern gegen die Islamisierung des Abendlandes, und: »Klar müssen wir Flüchtlingsheime bauen, aber doch nicht gerade hier. Gibt es überhaupt ein Sicherheitskonzept für diesen Plan? Werden jetzt unsere Kita- und Schulplätze knapp? Sind die Asylanten nicht kriminell, und Asylbetrüger? Wie gesagt, wir sind keine Nazis, wir äußern nur unsere berechtigten Bedenken.« Ängste kommen auf, Ängste werden geschürt, und die Pegida-Anhänger geraten in eine politische Schieflage, werden verbal attackiert und dämonisiert. Doch nicht wenige Deutsche, die nicht auf die Straße gehen, denken ähnlich wie sie. Birgt eine zunehmende Islamisierung tatsächlich Gefahren?

Die Rechtspopulisten haben da weniger Probleme ihre Meinung klar zu äußern, Islamfeindlickkeit ist sowieso eine ihrer Dogmen.

Die Neonazis hingegen haben in dieser Geschichte längst beschlossen, rechtzeitig zu handeln: »Taten statt Worte.« Eine Gruppe ehemaliger Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR sieht es als unerlässlich an, ganz Deutschland mit einem neuen Terrornetz zu überziehen und gegen den unerwünschten Ausländeransturm vorzugehen. Der Nationalsozialistische Untergrund hat es längst vorgemacht, wie man mit diesem Ausländergesindel umgeht. Beate Zschäpe, Mitglied des NSU, steht noch immer vor Gericht. Zehn Menschen haben Uwe Mundlos und Uwe Bönhardt, ihre beiden ehemaligen Lebensgenossen, getötet. Die Ermittlungsbehörden konnten die drei lange Zeit nicht unschädlich machen. Sie hatten in ihrer Ermittlungsarbeit versagt. Nie wieder darf sich so etwas wiederholen. Nie wieder, schworen sich die Bundesbehörden.

Doch das sehen die ehemaligen MfS-Mitarbeiter ganz anders. Sie haben ganz klare Vorstellungen: Kleine Terrorgruppen sollen es sein, unauffällig und schlagkräftig. Jeder Anschlag soll detailliert geplant und präzise ausgeführt werden. Viele tote Ausländer nehmen sie gerne in Kauf. Je mehr, desto besser. Ihre Attentate sollen schließlich aufschrecken, sollen die Flüchtlingsströme dazu veranlassen, gar nicht erst nach Deutschland zu kommen. Sie bereiten ihren Plan von langer Hand vor.

Als dann das europäische Parlament beschließt, dass auch Rumänen und Bulgaren ab Januar 2014 die Möglichkeit der freien Wohnsitzwahl in Westeuropa haben, wird es Zeit endlich zu handeln. Hunderttausende Arbeitslose – so die Befürchtungen mancher Politiker – werden sich voraussichtlich auf den Weg machen, in der Hoffnung in Westeuropa eine Arbeitsstelle zu finden. Sie werden Nutznießer der lokalen Sozialsysteme oder nehmen Einheimischen die Arbeitsplätze weg, so die Befürchtungen vieler. Vielleicht stimmt das in einigen Fällen. Vielleicht auch nicht. Bedenken gehen um, Bedenken werden geschürt. »Wer betrügt fliegt! Wir müssen rechtzeitig etwas gegen diese Schmarotzer unternehmen«, heißt die unausgesprochene Botschaft. »Am besten, wir lassen sie gar nicht erst rein, nach Deutschland. Wir brauchen sie nicht, das Lumpenpack, das faule. Haut ihnen doch gleich auf die Fresse!«

PROLOG

Trotz dunkler Vergangenheit war Thomas Keller nie auf dem Radarschirm des Verfassungsschutzes aufgetaucht – bis heute nicht. Eine der vielen desaströsen Peinlichkeiten in der Arbeit der staatlichen Ermittlungsorgane. Gut, er war auch immer äußerst vorsichtig gewesen, bei seinen Kontakten zu Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe. In der Öffentlichkeit ließ er sich nie mit ihnen sehen. Die wenigen persönlichen und kurzen Treffen mit den drei Rechtsextremisten fanden ausschließlich im Geheimen statt, immer draußen an einsamen Orten, Augenzeugen waren sowieso niemals dabei. Telefonieren kam auch nicht infrage. Seinerzeit war er einer der zahlreichen fanatischen Unterstützer des Nationalsozialistischen Untergrunds, des NSU. Die drei hätten ohne Unterstützung von außen, ohne die Geldspender, die Beschaffer von Ausweispapieren, die Vermittler von konspirativen Wohnungen und die Waffenlieferanten ihre Banküberfälle, Bombenanschläge und Morde niemals alleine ausführen können.

Zumindest finanziell leistete er in den Anfangsjahren seine bescheidenen Beiträge. Immer in bar. Beate Zschäpe wusste das, aber er hatte keine Sorgen, auch wenn sie gerade vor Gericht stand. Beate würde ihn nie verraten.

Bis zum Spätherbst 1989 war Thomas Keller ein führendes Mitglied des Ministeriums für Staatssicherheit, doch damals hieß er im wahren Leben noch Hans-Peter Wallner. Als in den großen Städten der damaligen DDR die Bürger auf die Straßen gingen und »Wir sind das Volk« riefen, um gegen das SED-Regime zu demonstrieren, als Ungarn seine Grenzen zum Westen öffnete, war für ihn das Ende seiner geliebten DDR absehbar, und er handelte ohne zu zögern. Der Zufall kam ihm dabei zu Hilfe: Was für ein Glück, dass er den wahren Thomas Keller, den SED-Regimekritiker und SPD-Anhänger aus Ostberlin, Anfang 1986 hinter Schloss und Riegel brachte. Er sah ihm äußerlich verdammt ähnlich – was sein persönliches Interesse an dem Häftling weckte: Er hatte das gleiche Alter – Geburtsjahrgang 1950 – war schlank, einen Meter achtundsiebzig groß, hatte ein ovales Gesicht, selbst seine Art, sich zu bewegen, war nahezu identisch. Die wirklichen Unterschiede waren nicht sonderlich gravierend: Auf der Nase hatte er, im Gegensatz zum richtigen Thomas Keller, einen kleinen Höcker, die Farbe seiner Augen war nicht braun, sondern blau-grau. Der andere war Brillenträger, hatte einen nach hinten gekämmten Kurzhaarschnitt, der an den Schläfen bereits graue Töne annahm. Immer wieder betrachtete Hans-Peter Wallner die Fotos von Thomas Keller und studierte die Vernehmungsprotokolle. Bald kannte er dessen Lebensgeschichte in-und auswendig: einziges Kind von Helga und Thorsten Keller. Die Eltern waren 1984 bei einem schweren Verkehrsunfall verstorben. Ein Wessi-Lkw drückte bei Schnee und Glatteis auf der Transitautobahn ihren Trabi gegen eine Autobahnbrücke. Kellers Onkel war 1950 in die USA ausgewandert und betrieb in Seattle einen gut florierenden Immobilienhandel. Das war’s. Ansonsten hatte Thomas Keller keine weiteren Verwandten. Niemand wartete auf ihn. Er war Single.

Der Verurteilte saß in Bautzen II, dem Stasi-Knast, in der Lessingstraße in der Ostvorstadt ein. Von 1945 bis 1949 diente Bautzen II – eine Zweigstelle von Bautzen I – der sowjetischen Militärverwaltung als Untersuchungsgefängnis. Im Jahr 1949 übernahm das Justizministerium der DDR die Strafanstalt, bis schließlich 1956 das Ministerium für Staatssicherheit die Kontrolle an sich riss. Auch in Bautzen II demonstrierten die Gefangenen in der Wendezeit gegen das politische System. Hans-Peter Wallner schmiedete schon seit Wochen an seinem Plan. Anfang November 1989 besuchte er Thomas Keller im Gefängnis und erklärte ihm, dass er freigelassen werden würde. Noch heute. Jetzt sofort. Er, Hans-Peter Wallner, habe Anweisungen erhalten, ihn in sein Häuschen nach Berlin-Köpenick zurückzubringen. Der Entlassungsvorgang dauerte eine knappe Stunde. Nachdem die vorbereiteten Entlassungspapiere geprüft, Thomas Kellers Hab und Gut, sein DDR-Ausweis, sein Berliner Hausschlüssel und die sonstigen Dokumente übergeben waren, öffneten sich für die beiden die Gefängnistore und der poltische Gefangene atmete, erstmals seit drei Jahren und zehn Monaten, wieder als freier Mann die Luft dieses kalten und nebeligen Tages. Hans-Peter Wallner öffnete die Beifahrertür seines Dienst-Trabis, wartete, bis der Ex-Gefangene Platz genommen hatte, klemmte sich hinter das Steuer des Wagens und ließ den Motor an. Der spotzte drei Mal, bis er ansprang und blauer Dunst aus dem Auspuff wirbelte. Dann entfernte sich der Kleinwagen mit dem hohen Singsang seines Zweitaktmotors vom Parkplatz vor dem Gefängnis. Danach wurde Hans-Peter Wallner, der sich um die zweifelhaften Erfolge des Ministeriums für Staatssicherheit verdient gemacht hatte, nie wieder gesehen. Er verschwand für immer und ewig von der Bildfläche. Eine Fahndung nach ihm wurde nicht eingeleitet. Die DDR befand sich in einem wirren Auflösungsprozess. Jeder war sich selbst der Nächste und musste sehen wo er blieb.

*

Kurz bevor Hans-Peter Wallner und Thomas Keller an diesem 3. November 1989 den Südosten Berlins erreichten, bog der MfS-Mann in ein Waldstück ein. »Muss mal pinkeln«, kommentierte er kurz und knapp. Nach wenigen Minuten stoppte er nahe einer dichten Fichtenschonung. Die beiden Männer stiegen aus und jeder suchte sich einen Baum, um sich zu erleichtern. Als sie ihr Geschäft verrichtet hatten und zum Fahrzeug zurückgingen, trat Hans-Peter Wallner dicht hinter den Freigelassenen. Seine Dienstpistole mit aufgesetztem Schalldämpfer hatte er längst entsichert. Eiskalt und ohne Kommentar schoss er Thomas Keller aus allernächster Nähe in den Hinterkopf. Das Gesicht des Opfers explodierte in einem Schwall aus Blut, Gehirnmasse und Knochensplitter, bevor der leblose Körper lautlos auf dem feuchten Waldboden aufschlug. Der Mann aus dem Ministerium für Staatssicherheit steckte seine Waffe zurück in den Schulterhalfter und sah sich um. Der dünne Pulverrauch verflüchtigte sich rasch. Kein Laut war zu hören. Nur der Wind zerrte an den Baumwipfeln der hohen Lärchen. Der Mörder bückte sich, packte die Leiche an den Füßen und schleifte sie in die nahe Fichtenschonung. Er sah die blutbesudelte Leiche mitleidlos an. Dann holte er einen Spaten aus dem Trabant und begann, in der Nähe eines riesigen Ameisenhaufens Erde auszuheben. Es dauerte drei Stunden, bis er eine genügend tiefe Grube ausgehoben und den Toten in einen schwarzen Plastiksack gezwängt hatte. Er schwitzte, obwohl der Wind nun eisig kühl durch die Waldwege fegte. Kalter Schweiß benetzte seine Stirn. Immer wieder unterbrach er seine Arbeit und lauschte in alle Richtungen. Nachdem er den Leichensack würdelos in das ausgehobene Loch gestoßen hatte, benötigte er zwei weitere Stunden, um das Grab wieder mit Erde zu füllen und notdürftig zu verdichten. Als er dann auch noch Moos und Heidelbeerkraut in die weiche Erde getreten hatte, stieß er mit dem Spaten in den aus Abermillionen Fichtennadeln bestehenden Ameisenhaufen. Die kleinen, roten Insekten – in ihrer Winterruhe gestört – gerieten in helle Aufregung und krabbelten den Spatenstiel entlang. Doch der Mörder gab keine Ruhe, bis er den gesamten Nadelhaufen auf das frische Grab seines Opfers geschaufelt hatte. Erst dann begann er, die winzigen, lästigen Tierchen von seiner Kleidung abzustreifen. Sie würden einige Zeit benötigen, um ihre zerstörte Ordnung wieder herzustellen. Ihre unterirdischen Gänge mussten sie sich neu graben. Wenn sie wollten. Es würde sich lohnen. Der Mörder hatte den schwarzen Plastiksack, in dem die Leiche von Thomas Keller ruhte, an mehreren Stellen mit seinem Taschenmesser aufgeschlitzt, bevor er die ausgehobene Erde wieder in das Loch zurückschaufelte. Der Tote wäre ein leckerer Schmaus für die winzigen, roten Krabbeltiere. Der MfS-Mann betrachtete sein Werk und war hoch zufrieden. Sein Hemd klebte kalt am Rücken und er fröstelte. Die Temperaturen waren weiterhin gefallen und die ersten filigranen Schneeflocken tänzelten aus einem mit Schneewolken verhangenen Himmel. Zeit, um endgültig zu verschwinden. Er sah ein letztes Mal hinein in die Waldschonung zu dem Fichtennadelhaufen, in dem die kleinen Insekten immer noch aufgeregt umherirrten. Dort lag nun Hans-Peter Wallner begraben, einer der brutalsten, aber auch loyalsten Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Thomas Keller, der Regime-Kritiker aus Berlin-Köpenick hatte überlebt. Der Mörder fühlte sich wie neugeboren, wie ein junger Schmetterling, dessen hässliche Larve, vergraben in einem schwarzen Plastiksack, dahin modern würde. Jetzt musste er sich nur noch schnellstens und unauffällig seines Wagens entledigen. Berlin hatte viele Kanäle und Gewässer.

1

Thomas Keller alias Hans-Peter Wallner hatte es nicht eilig. Er konnte sein neues Leben mit Bedacht planen. In der Ruhe liegt die Kraft. Sein bisheriger Arbeitgeber, das Ministerium für Staatssicherheit, befand sich in einer heillosen Auflösungsphase. Keller saß in seinem neuen Haus in Berlin-Köpenick, ließ die Vergangenheit vor seinem geistigen Auge Revue passieren und betrachtete die weitere politische Entwicklung entspannt von außen. Er dachte an seine Kindheit, an seine Oma Anna, die immer für ihn da war, immer ein Ohr für ihn hatte, wenn er Probleme wälzte, die ihn immer tröstete, und meist einen Ausweg wusste. Oma Anna war es, die ihm so oft spannende Geschichten erzählte, damals aus der Zeit, als sie noch jung und hübsch war. Sie erzählte ihm von dem Herrn Hitler, dem großen deutschen Führer, der Deutschland nach den Wirren und der Schande des Ersten Weltkrieges wieder zu einer großen, aufstrebenden Nation formte. Er war es, der den Deutschen wieder Arbeit gab, der die ersten Autobahnen bauen ließ. »Deutschland gehört den Deutschen, und nicht den Ausländern«. Wie recht er hatte. Oma Anna erzählte ihm, wie sie während der Bombennächte in den Luftschutzbunkern in Dresden saß, als die Engländer und die feigen Amerikaner ihre wunderschöne Heimatstadt mit einem wahren Bombenteppich belegten. Die Amerikaner, die konnte er sowieso noch nie leiden. Warum hatten die sich überhaupt in den Krieg gegen Deutschland eingemischt? Alle gegen einen. Schon damals spielten sie Weltpolizist, genau wie heute. Oma Anna erzählte ihm von den ruhmreichen Schlachten der deutschen Landser, wie sie Frankreich überrannten, wie tapfer Rommel sich in Nordafrika schlug und wie die deutschen U-Boote die feindlichen Geleitzüge im Atlantik aufspürten und vernichteten. Seine Oma konnte wirklich spannend erzählen, auch von Johann, ihrem Ehemann, der gegen Ende des Zweiten Weltkriegs am Bahnhof von Bologna von einem Tieffliegerangriff der Amerikaner überrascht wurde und im Feld blieb. Sein Opa, den er nie kennengelernt hatte. Er hasste die Amerikaner umso mehr dafür. Die USA waren für ihn der westliche Teufel schlechthin, genauso wie ihr Ableger, diese BRD. Als am 13. August 1961 in Berlin die Mauer errichtet wurde, war er elf Jahre alt. Endlich wusste sich die Deutsche Demokratische Republik vor der Infiltration des Westens zu schützen. In der Schule las er die Werke von Marx und Lenin. Besonders Karl Marx hatte es ihm angetan. Wie hatte er in Die Deutsche Ideologie geschrieben? »Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein«, und »Die herrschenden Gedanken sind immer die Gedanken der Herrschenden«. Er hatte sich fest vorgenommen, eines Tages auch zu den Herrschenden zu gehören, zur Elite. Mit zwanzig Jahren meldete er sich freiwillig zum Dienst der Deutschen Grenzpolizei, welche damals dem Ministerium für Staatssicherheit unterstellt war. Er war ein guter Polizist. Unter seiner Leitung stellten sie in Thüringen drei Gruppen von Republikflüchtigen. Einen von ihnen, der nicht stehen blieb, sich den klaren Befehlen widersetzte und glaubte, den Grenzzaun noch überwinden zu können, stoppte er durch einen gezielten Schuss in den Rücken. Er wurde belobigt. Selbst schuld. Der Republikflüchtling könnte heute noch leben, wenn er auf die Aufforderungen zum Stehenbleiben gehört hätte. Hans-Peter Wallner wurde für seine Aufmerksamkeit und die hervorragenden Dienste im Interesse der DDR ausgezeichnet und in das Ministerium für Staatssicherheit berufen. Zu seinen neuen Aufgaben gehörte nun, an der Zersetzung von politisch Oppositionellen und Regimekritikern mitzuwirken, um politische Straftaten zu unterbinden. Er war auf dem richtigen Weg. Er genoss die neue Macht, die er über andere hatte. In dieser Zeit vertiefte er den Hass gegen die Feinde der DDR.

Nun hatten die westdeutschen Kapitalisten doch noch gesiegt. Am 17. November 1989 wurde das Ministerium für Staatssicherheit in »Amt für Nationale Sicherheit« umbenannt. Kurz darauf, am 4. Dezember, besetzten politisch Verblendete die Bezirksstelle Erfurt, und dann, am 15. Januar 1990, die Zentrale in Berlin. Sie hielten Bürgerwachen und gründeten Bürgerkomitees. Die Wende war nicht mehr aufzuhalten, Hans-Peter Wallner hatte gerade noch rechtzeitig die Kurve gekriegt.

*

Erst im Frühjahr 1991 tauchte der neue Thomas Keller bei der Meldebehörde Köpenick auf und legte seine Papiere vor: Pass der DDR und Geburtsurkunde. Er berichtete von seiner Verhaftung, seiner Gefängniszeit in Bautzen II, seinen dauerhaft gesundheitlichen Leiden, welche er sich in dieser Zeit zuzog und von den unmenschlichen Bedingungen im Allgemeinen. Der zuständige Beamte war von seinen Erzählungen gebannt und erschüttert zugleich. Dass sein Gegenüber mit dem graumelierten Kurzhaarschnitt braune Kontaktlinsen, trug fiel ihm gar nicht auf. Dass er vor wenigen Wochen eine leichte Nasenkorrektur hatte vornehmen lassen, konnte er sowieso nicht ahnen. Er stellte einen vorläufigen Reisepass der Bundesrepublik Deutschland aus und versprach dem Mann, dass das endgültige Dokument in etwa zwei Wochen abgeholt werden könne. Der neue Thomas Keller bedankte sich für die professionelle und unbürokratische Bearbeitung seiner Angelegenheiten. Drei Monate später bot ihm – aufgrund seiner Bewerbungsunterlagen – ein großer deutscher Elektrokonzern in Berlin, in der Elsenstraße, einen Job an. In dem Haus in Berlin-Köpenick, welches er widerrechtlich übernommen hatte, hatte er den dokumentierten, beruflichen Werdegang seines Opfers gefunden, welches nun unter einem riesigen Ameisenhaufens verscharrt für ewig ruhte. Die lückenlosen Nachweise, wie Schul- und Uniabschlüsse, Geburtsurkunde und Familienstammbuch wuschen seine Vergangenheit um eine weitere Stufe rein. Seine Gesinnung hatte sich indessen nicht geändert: Er mochte das System des konsumorientierten Westens nicht und glorifizierte in seinen Gedanken immer noch die alten DDR-Zeiten. Er hegte einen manischen Hass gegen all die in den Osten Deutschlands drängenden Ausländer, welche gegen eine lausige Bezahlung den Einheimischen die raren Arbeitsplätze wegschnappten oder dem deutschen Staat faul auf der Tasche lagen. Da standen sie im Görlitzer Park, einzeln oder in kleinen Gruppen, die arbeitsscheuen Türken und Neger, und dealten mit Rauschgift. Deutschland brauchte sie nicht, diese Drecksschweine. Am meisten hasste er Türken, Bosnier und Schwarzafrikaner. Die gehörten weg, raus aus Deutschland. Am besten ganz weg. Sie schadeten seiner Heimat, in der er groß geworden war. Er war schon immer ein Anhänger der Politik von ganz früher, als Deutschland auf dem Weg war, eine der ganz großen Nationen dieser Welt zu werden. Oma Anna hatte ihm ja alles erzählt. Seinerzeit waren es die Juden, die Deutschland wirtschaftlich bedrohten. Das sollte man doch heute auch noch wissen? Dann, in den 60er Jahren, holte sich die BRD unverständlicherweise die vielen Türken ins Land, welche heute in der zweiten und dritten Generation immer noch hier waren. Damals war ihm das egal. Er verstand es nur nicht. Wozu? Sie lassen sich nicht integrieren, leben immer noch sippenhaft unter ihresgleichen und kennen ihre sozialen Rechte besser als jeder deutsche Arbeiter. Auch die aktuellen Berichterstattungen in den Medien kotzten ihn an. Da kamen sie, die Bimbos aus Libyen, Syrien, Tunesien, Ghana und sonstigen Ländern, in abgetakelten Booten übers Mittelmeer, setzten ihr Leben aufs Spiel und meinten, in Westeuropa fänden sie das Schlaraffenland. Sollen sie doch bleiben, wo sie herkamen, diese Kameltreiber. Wie die schon aussehen. Zum Fürchten. Was wollen die eigentlich hier? Leben in Saus und Braus! Schade, dass bei der Überfahrt nicht mehr von ihnen draufgehen. Schade, dass viele von ihnen Lampedusa immer noch erreichen. Zu viele. Und diese inkompetenten EU-Politiker im europäischen Parlament, diese hirnverbrannten, überbezahlten Politikheinis, was geben die von sich? Deutschland sei ein prädestiniertes Einwanderungsland! Bockmist! Bullshit! Die haben doch keine Ahnung. Außer blödsinnige Richtlinien zu erlassen, haben die eh nichts im Hirn. Die regeln selbst die Ausnahmen von den Ausnahmen. Es wurde Zeit endlich zu Handeln. Taten statt Worte. Genau wie Hitler sagte.

Thomas Keller suchte Kontakte zu seinesgleichen – die genau dachten wie er. Es gab da Gott sei Dank noch ein paar wenige Aufrichtige, welche ebenfalls zeitweise abgetaucht waren und die Welt mit den gleichen Augen sahen wie er. Auch ihnen tat es innerlich weh, zusehen zu müssen, wie ihre politische Weltanschauung immer mehr in die Bedeutungslosigkeit abglitt. Dass diese unfähigen West-Politiker im Dezember 1991 das Stasi-Unterlagen-Gesetz in Kraft gesetzt und die Öffnung der Akten ihres ehemaligen Staatssicherheitsdienstes erlaubt hatten, war ihnen schon gegen den Strich gegangen. Mussten sie sich vielleicht eines Tages auch noch wegen ihrer vaterlandstreuen Arbeit rechtfertigen? Sie beschlossen, endlich aktiv zu werden. Gemeinsam kamen sie überein, dem Asylgebaren dieses verhassten kapitalistischen Systems nicht mehr länger untätig zuzusehen. Sie wollten ihre alte Weltordnung wiederherstellen, ohne schmarotzende Ausländer. Deutschland brauchte wieder eine strenge Hand, wie sie bis Mitte der vierziger Jahre gelebt wurde. Wenn es nicht anders ging, dann eben mit Gewalt. So gründeten sie, nachdem der NSU aufgeflogen war, im Juni 2012 die Nationale Extreme Leipzig, die NEL. Die Satzung kannten nur die zwölf Gründungsmitglieder. Äußerste Vorsicht war angesagt, das war ihnen klar. Gerade jetzt, nachdem die heroischen Taten des NSU immer mehr in die politischen Diskussionen gerieten und der Prozess um Beate Zschäpe unverständlich hohe Wellen schlug. Sie nahmen sich vor, nur im Geheimen zu operieren. Nur im Stillen, ohne aufzufallen. Keine Kontakte zu anderen rechtsextremen Organisationen. Abstand zur NPD. Keine Öffentlichkeitsarbeit. Eigentlich gab es die NEL gar nicht, und doch gelobten sie sich, dass jeder von ihnen eine neue Terror-Zelle ins Leben rufen und führen würde. Unabhängig voneinander wollten sie operieren. Besser die Mitglieder der Zellen kannten sich untereinander gar nicht. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß! Für ihr Vorhaben brauchten die Zwölf Geld und die richtigen Leute. Keine schwarz gekleideten Glatzköpfe mit Springerstiefeln und Bomberjacke, denen man den Neonazi schon auf hundert Metern ansah. Sie suchten normal aussehende junge Menschen, ohne negativen Leumund, aber den richtigen, ideologischen Einstellungen, politisch interessiert, aber inaktiv, skrupellos und gewaltbereit. Zwei, maximal drei Leute je Zelle waren okay.

Die Zwölf fuhren in Dreiergruppen in den Westen, nach Niedersachsen, Hessen, ins Rheinland und nach Bayern, überfielen in kurzen Abständen Einrichtungen mit hohen Tageseinnahmen, wie Tankstellen, McDonalds-Restaurants und Supermärkte, und verschwanden wieder. Die Polizeibehörden waren ratlos. Nach vier Wochen intensiver Überfälle hörte der Spuk so schnell auf, wie er begonnen hatte. Dort, wo die vier Gruppen bei ihren Taten gefilmt wurden, sah man Männer mit breiten Strohhüten auf ihren Häuptern. Von den Krempen der Kopfbedeckungen hingen Imker-Netze, welche jeglichen Blick auf die Gesichter der Täter unmöglich machten. Die bundesweit agierende »SOKO Honigtopf« sprach von lange vorbereiteten, generalstabsmäßig ausgeführten Überfällen. Trotz intensiver Bemühungen gab es keinerlei Hinweise auf die Täter. Besonders irritierend war die Tatsache, dass die Überfälle nahezu zeitgleich in vier verschiedenen Bundesländern abliefen.

Thomas Keller und seine Genossen standen kurz vor ihrem Ziel. Sie hatten genügend Anfangskapital. Nun hieß es, die richtigen Zellenmitglieder anzuheuern: Sympathisch mussten sie aussehen, vertrauenswürdig und unauffällig. Sie durften noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten sein. Ausländer sollten ihnen verhasst sein. Besonnenheit, Mut und Entscheidungsstärke waren weitere Eigenschaften, die sie besitzen sollten, gepaart mit Skrupellosigkeit und Gewaltbereitschaft. Der Plan der zwölf Gründungsmitglieder der NEL war simpel: Schnell zuschlagen, einen hohen Personen- und Sachschaden hinterlassen und unerkannt verschwinden, ohne Spuren zu hinterlassen. Die zwölf planten einen Teppich der Gewalt über in Deutschland lebende Ausländer auszurollen. Ein Meer aus Angst und Schrecken wollten sie verbreiten, um den Migranten, Asylanten und der ganzen Türkenbande das Leben in Deutschland grundlegend zu vermiesen. Jeder Asylbewerber sollte sich drei Mal überlegen, ob er nach Deutschland kommen wollte. Das Ausländerpack, welches bereits in Deutschland lebte, sollte sich nicht lange überlegen müssen, das Land wieder zu verlassen. Dieses Ziel zu erreichen, schnell zu erreichen, ging nur mit extremer Gewaltanwendung. Nur das verstanden diese Bimbos – eine klare Sprache.

Ihren zentralen Treffpunkt mieteten die Gründungsmitglieder der NEL in Leipzig an, mitten im Zentrum, wo es vor Touristen nur so wimmelt. Thomas Keller hatte die Idee. »Das Barfußgässchen ist die Fressmeile Leipzigs«, argumentierte er. »Nahezu ganzjährig halten sich Touristen in den engen Gassen und auf dem Platz vor dem Alten Rathaus auf. Da fallen wir in dem Gewimmel gar nicht auf, wenn wir unsere vierwöchigen Treffen abhalten.« Gesagt, getan. Dort, wo ein alter, dunkler und schäbiger Treppenaufgang zum Central Kabarett hochführt, mietete Thomas Keller im vierten Stockwerk eine Dreizimmerwohnung mit Küche, Bad und einem großen Wohnzimmer. Sogar einen offenen Kamin hatte die Wohnung. Von hier aus, so hatten sie sich vorgenommen, wollten sie Deutschland wieder lebenswerter machen, frei von diesem Ausländerpack, das so nützlich war wie ein Kropf am Hals. Sie hatten sich fest vorgenommen, die Arbeit der NSU erfolgreich fortzusetzen. Nein, nicht nur erfolgreich – erfolgreicher. Bald würde es viele tote Ausländer in Deutschland geben. Skrupel ließen sie nicht gelten. Sie sahen ihr zukünftiges Handeln als eine Berufung an – eine Berufung Deutschland zu retten, bevor es endgültig zu spät war. Wie hatte auch der NSU gesagt? »Taten statt Worte« – nur dieses Mal besser organisiert und geplant. Nichts sollte dem Zufall überlassen bleiben. Niemand in Deutschland sollte mit der Abkürzung NEL je konfrontiert werden. Es gab sie, und es gab sie nicht. Nur zwölf Menschen konnten mit dieser Abkürzung etwas anfangen.

2

Der 25. August 2013, ein Sonntag, war ein Scheißtag – zumindest wettermäßig. Seit den frühen Morgenstunden zogen tiefhängende Regenwolken von Westen her auf die kleine mittelfränkische Gemeinde Röttenbach zu. Es sah nicht so aus, als hätten die wärmenden Strahlen der Augustsonne an diesem Tag auch nur die geringste Chance, die dichte Wolkendecke zu durchdringen. Als der Himmel einmal kurz heller wurde – oder war das nur pure Einbildung? – machte innerhalb von Minuten eine neue, dunkle Wolkenfront alle Hoffnungen wieder zunichte. Seit zwei Stunden fielen feine, aber dichte Regentropfen, wie an einer dünnen Schnur gezogen, ununterbrochen auf das Dorf.

Mitten auf dem Parkplatz vor dem Röttenbacher Rathaus stand einsam und verlassen ein moderner Reisebus. Der Motor war abgeschaltet, die Eingangstüren geöffnet. Hinter den beschlagenen Scheiben sah man von außen ab und an rege, aber undeutliche Bewegungen. Die riesige Asphaltfläche um den Bus glänzte feucht, und in den Unebenheiten der Teerdecke hatten sich unzählige Pfützen gebildet. Zwei schirmbewehrte Gestalten humpelten gestikulierend auf den Reisebus zu. »Wer hätt etz denkt, dass es heut, am fümfazwanzigstn August, so schüttn tät? Vor aner Wochn wars nu heiß, und ich hab gschwitzt wie eine Sau.« Kunigunde Holzmann schimpfte wie ein Rohrspatz und machte ihrem Ärger lautstark Luft.

»Des kannst halt vorher a net wissen, wie des Wetter wird«, konstatierte ihre Freundin Margarethe Bauer. »Kumm, schick mer uns, ich glaab, wir sind eh die Letztn. Die wartn alle scho auf uns.«

»Des is mir doch scheißegal. Sollns doch ohne uns abfahrn. Hab sowieso kann Bock mehr auf des bleede Mjusical«, brummte Kunigunde Holzmann vor sich hin.

»Na ihr zwaa, ihr seid doch immer die Letztn!«, ertönte eine Stimme aus dem Innern des Busses.

»Sei bloß ruhig«, belferte die Kunni zurück, »sonst steig ich gar net erst ei. Dann könnt ihr alla fahrn. Retta, alte Zuchtl, etz schau halt scho, dassd endlich nei kummst, in den Scheißbus. Ich werd doch da außen nass wie ein Pudl.«

Die Röttenbacher Senioren hatten wirklich verdammtes Pech. Ihr lange geplanter Kulturausflug fiel regelrecht ins Wasser. Um halb zwei starteten sie, knapp fünfzig an der Zahl, vor dem Rathaus in Röttenbach.

Fünfundvierzig Minuten später hatte der Reisebus auf dem Frankenschnellweg Bamberg längst hinter sich gelassen, und der Schnürlregen fiel immer noch auf die in feinem Dunst liegende Landschaft.

»Ich mein, hier regnets nu mehr als bei uns daham”, stellte Kunigunde Holzmann fest und sah ihre Freundin nicht gerade freudig erregt an. »Wo fahrn wir eigentlich hin?«

»Na, zur Waldbühne Heldritt, in die Näh von Coburg«, antwortete Retta Bauer unfreundlich. Auch ihr schlug das schlechte Wetter ordentlich aufs Gemüt.

»Werd scho su a Kaff sei«, mutmaßte die Kunni. »Heldtritt? Habbi noch nie ghört.«

Kunigunde Holzmann und Margarethe Bauer kennen sich seit dem Sandkastenalter. Ihre Ehemänner hatte der Herrgott schon vor Jahren zu sich geholt. Im August 2012 feierten sie gemeinsam in der Gaststätte Fuchs ihre achtzigsten Geburtstage, und im Dorf, aus dem sie nie herausgekommen waren, kennt man sie schlichthin als Kunni und Retta. Gesundheitlich sind die beiden noch gut drauf, wenn auch Kunni bei einem Kampfgewicht um die fünfundachtzig Kilogramm Schwierigkeiten beim Laufen hat und immer öfter auf ihren Rollator angewiesen ist. Retta ist das Gegenteil. Rank und schlank, mit der Figur einer Jugendlichen, läuft sie wie ein Porsche frisch aus der Fabrik. Nur ihre Gelenke und die Gicht machen ihr ab und an zu schaffen. Ihre Haushalte führen die zwei noch selbst. Kochen und Essen sind eine ihrer Leidenschaften. Während Kunni allein lebt, hat Retta das Obergeschoss ihres Häuschens an einen zugezogenen Rentner aus dem Sauerland vermietet. Der fühlt sich seit Jahren in Mittelfranken recht wohl, was auch an seiner Vermieterin liegt. Seit Jahren versucht Dirk Loos, zwischenzeitlich auch schon fünfundsiebzig, an seine heimliche Herzensdame heranzukommen. Bisher nur mit mäßigem Erfolg. Neben der guten fränkischen Küche haben Kunni und Retta ein zweites Hobby, dem sie leidenschaftlich nachgehen: die Kriminalistik. Sie haben schon des Öfteren komplizierte Kriminalfälle gelöst und dabei die zuständigen ermittelnden Beamten der Kripo Erlangen verdammt schlecht aussehen lassen. Das Ganze birgt insofern noch eine zusätzliche Brisanz in sich, als Kunnis Neffe, Gerald Fuchs, der verantwortliche Kommissar der Mordkommission in Erlangen ist. Die Vorbilder der beiden Damen sind die Münchner Tatort-Kommissare Leitmayr und Batic, deren Sendungen sie niemals verpassen, wobei die Kunni mehr von Leitmayr hält als von Batic. Ihre Freundin ist da gegenteiliger Meinung, und manches Mal geraten die beiden darüber auch in Streit, was aber ihrer langjährigen Freundschaft keinen Abbruch tut. Dass Kunnis einziger lebender Verwandter, Gerald Fuchs, ebenfalls in Röttenbach wohnt, hat mit ihren kriminalistischen Erfolgen nichts zu tun. Im Gegenteil, sie war ihm bisher in ihren Ermittlungen sowieso immer um Nasenlängen voraus.

Den Ausflug im Rahmen des heutigen Operettenabends, in die Nähe von Coburg, hatten sie schon vor Wochen geplant. Schade, dass das Wetter heute nicht so mitspielte, wie sie sich das erhofft hatten. Draußen, in der wolkenverhangenen Landschaft zog rechterhand der Staffelberg vorbei. Auch die Türme der Wallfahrtskirche Vierzehnheiligen lagen wenige Minuten später in einem dichten, dunstigen Regenschleier, und die mächtigen Scheibenwischer des Reisebusses ächzten in ihren Scharnieren, darum bemüht, dem Fahrer ein einigermaßen klares Sichtfeld zu verschaffen. Auf den regennassen Seitenfenstern des Busses zogen sich lange Regenschlieren von rechts oben nach links unten hin und verwischten die Sicht auf das auf der linken Seite auf einem Hang stehende Kloster Banz sowie auf die umliegende hügelige Landschaft.

»Wie heißt das Stück nochmal, das wo wir uns heut bei dem Sauwetter anschaun wolln?« Kunni Holzmann warf einen konzentrierten Blick auf das winzige Zifferblatt ihrer Armbanduhr und kramte aus ihrer Handtasche den Wochenendteil der Nordbayerischen Nachrichten und einen Kugelschreiber hervor.

»Also Kunni, was ist denn heut mit dir los? Hast auch scho Alzheimer? Weißt denn du das nimmer? Heut ist doch unser Operettenausflug! Kiss mi Käit von Kol Border steht aufm Programm …«

Weiter kam Margarethe Bauer in ihren Ausführungen nicht. Der Organisator des Seniorenausfluges meldete sich über den Bordlautsprecher und kündigte eine Durchsage an: »Also alle mal herhörn«, begann er, »leider spielt ja heut das Wetter nicht so mit, wie wir uns das alle vorgstellt ham. Aber es könnt ja auch noch schlimmer kommen. Nehmen wirs, wie es ist, und malen wir den Teufl nicht an die Wand. In Coburg könnts ein wenig schöner sein, hat der Wetterbericht gsagt. Also, ich heiß euch alle nochmals recht herzlich willkommen, auf unserm Operettenausflug zur Waldbühne nach Heldritt. Wer letztes Jahr schon dabei war, weiß ja schon, wies da zugeht. Für die, die heut das erste Mal dabei sind, möcht ich ein paar Erklärungen abgeben. Also, keine Sorgn, die Waldbühne ist überdacht. Wir werdn also nicht nass. Die Sitzplätze sind in einen roten und in einen blauen Bereich unterteilt. Ich werd nachher die Eintrittskartn verteilen, schaut also auf eure Kartn, in welchem Bereich ihr hockt. Da steht das drauf. Es gibt nämlich für jeden Bereich einen eigenen Eingang. Wir ham heuer recht gute Plätz gekriegt und sitzn ziemlich weit vorn. Das Areal der Waldbühne ist bewirtschaftet. Das heißt, wir kriegn auch was zu essen und zu trinken, bevor das Stück angeht.« Eine Hand ging hoch.

»Ja, Schorsch, hast eine Frach?«

»Was ist denn das, ein Areal? Mit die ausländischn Ausdrück kenn ich mich nicht so gut aus.« Ein belustigtes Glucksen ging durch den Bus. Nahezu alle Augenpaare richteten sich auf Georg Nützel, der die Frage gestellt hatte.

»Frach nur, Schorsch, frach nur, wenn dir was nicht klar is. Ein Areal ist nichts anderes als eine Fläche. Die Grundstücksfläche halt, auf der die Waldbühne und die zugehörigen Wirtschaftsgebäude stehen.«

»Das ist gut, dass es eine Wirtschaft auch gibt”, kommentierte Georg Nützel, »dann verdurstn wir wenigstens net. Hoffentlich gibts auch ein gscheits fränkisches Bier und nicht so ein Gesöff wie das Krombacher.«

»Oder so eine bayerische Brüh«, ergänzte der Brunners Schorsch, der es sich mit seiner Frau Betti eine Sitzreihe hinter Georg Nützel bequem gemacht hatte. »Gell Betti?« Betti nickte heftigst mit dem Kopf und machte ein angewidertes Gesicht.

»Damit wir uns auch ausgiebig laben können«, fuhr der Vortragende fort, »kommen wir auch rechtzeitig in Heldritt an. Ich schätz so um fünf. Ach so, das hab ich ja noch gar nicht gsagt: Die Vorstellung fängt um sechs Uhr an. Leider können wir nicht bis direkt zu der Waldbühne fahrn. Wir müssn die letzten dreihundert Meter laufen. Wer schlecht zu Fuß ist, der sagt mir das bitte rechtzeitig, es gibt nämlich auch motorisierte Transportmöglichkeiten bis zur Waldbühne. Wenn ich das vorher weiß, wer von euch nicht gescheit laufn kann, wär das gut, weil dann könnt ich den Transport noch organisiern. Also, meldet euch bitte. Natürlich fahrn wir jetzt nicht gleich nach Heldritt, weil das ja viel zu früh wär. Wir steuern jetzt zuerst Coburg an. Eigentlich ham wir uns bei der Planung von dem Ausflug dacht, dass wir da in Coburg einen gemütlichen Spaziergang hättn machen und uns die Stadt hättn anschaun können. Aber bei dem Scheißwetter … Na ja, gehen wir halt ins Café. Wichtig ist, dass wir um dreiviertel fünf widder von Coburg abfahrn. Ein Stückerla müssen wir jetzt schon noch fahrn, dann haben wir unser erstes Ziel erreicht. Noch was: Wenn die Vorstellung aus ist, kann sich jeder ausreichend Zeit lassn. Keiner braucht zum Bus hetzn. Wir nehmen alle wieder mit. Um halb elf, denk ich, solltn wir dann wieder in Röttenbach ankommen. Ich wünsch euch, trotz des schlechten Wetters, einen schönen Tag und eine gute Unterhaltung. Wenn jemand noch Fragen hat, ich geh gleich rum und teil die Eintrittskartn aus.«

»Hast alles verstandn?«, wollte Margarethe Bauer von ihrer Freundin wissen.

»Schon, aber worums in dem Stück Kiss mi Käit geht, hat er net erklärt.«

»Herrgott«, erzürnte sich die Retta, »dann les halt das Programm, das da in der Rücksitzlehne steckt, da stehts doch drin.«

»Woher soll ich wissen, dass da das Programm drinsteckt? Hat doch keiner was gsagt. Außerdem hab ich meine Brilln net dabei«, merkte die Kunni sauer an.

»Kiss me Kate – amüsant und reichlich turbulent«, las Margarethe Bauer laut vor.

»Na, des kann was wern. Da hat doch der Schäigsbier auch seine Händ mit drin. Den mag ich sowieso net. Des wird schon ein rechtes Gschmarri wern. Wär ich bloß daham bliebn. Aber na, ich Bledl lass mich von der Bauers Retta, die von nix a Ahnung hat, überreden mitzufahrn, bei so einem Scheißwetter, ich Dolln.«

Sie erhielt keine Antwort, Margarethe Bauer stierte beleidigt durch das regennasse Fenster in den wolkenverhangenen Himmel hinaus. Mit der Innenfläche ihrer rechten Hand wischte sie ärgerlich über die beschlagene Fensterscheibe. Auf der rechten Seite tauchte in weiter Ferne erstmals die mächtige Veste Coburg auf, welche hoch oben auf einem Hügel trutzig über die Stadt wacht. Den Aufstieg zur Burg, auf den sie sich so gefreut hatte, konnte sie vergessen. Der Regen fiel nach wie vor dünn, aber beständig. Von wegen, in Coburg könnte es etwas schöner sein. Ein Scheißtag, und Kunni gab ihr auch noch die Schuld dafür. Wie ungerecht. In Coburg würde sie sich erst mal ein Kännchen Kaffee und ein großes Stück Zwetschgenkuchen genehmigen, oder vielleicht doch gleich einen Schoppen Frankenwein? Das konnte heute ja noch heiter werden, ständig mit ihrer nörgelnden Freundin im Schlepptau. Verstohlen warf sie einen kurzen Seitenblick auf die Nörglerin.

Die starrte verbissen auf das Kreuzworträtsel in den Nordbayerischen Nachrichten und kaute auf ihrem Kugelschreiber herum. »Erfinder der Taschenuhr«, grantelte sie vor sich hin. »Mit sieben Buchstaben. Der erste is a H.«

»Also Kunni, etz schäm dich fei. Dass du als waschechte Fränkin des net wasst! Heinlin. Peter Heinlin. A Nembercher hat die Taschenuhr erfunden.« Retta Bauer erntete nur einen missmutigen Kommentar.

»Des wär mir scho nu selber eigfalln. Außerdem habbi dich gor net gfracht.« Es dauerte drei Minuten, bis Kunigunde Holzmann die nächste Beleidigung ausstieß: »Alte Dolln. Du mit deim Peter Heinlin! Wenn des stimma tät, dann tät der schmackhafte Speisefisch Karpfln heißen!«

»Wer is eine alte Dolln?«, gab Retta Bauer schlagfertig zurück, »Du mit deim Spatzenhirn kennst auch bloß den Karpfen. Schon mal was von einer Scholle gehört?«

»Scholle?«, geiferte Kunni zurück. »Schmackhafter Speisefisch heißts da. A Scholle, die schmeckt doch net!« Obwohl wenig überzeugt, trug Kunni den Namen des bekannten Meeresfisches in ihr Kreuzworträtsel ein, doch der nicht ausgesprochene Burgfrieden zwischen den beiden Witwen dauerte nicht länger als zwei weitere Minuten.

»Scholle! Heinlin!«, geiferte Kunni noch lauter als zuvor. »Dann müsst die mittelfränkische Regierungsstadt Aisbach haßn, und der Rettich auf bayerisch wär net Radi, sondern Oadi. Du mit deim Heinlin und deiner Scholle! Mei ganzes Kreuzworträtsel hast mer versaut! Nix stimmt mehr!«

»Peter Henlein!« Betti Brunner in der Sitzreihe gegenüber rief den beiden Witwen den Namen zu. »Der hat die Taschenuhr erfunden.«

»Siehgstes«, rief die Kunni aus, nachdem sie nochmals einen Blick auf ihr Kreuzworträtsel geworfen hatte, »hätt mei Karpfen doch gstimmt! Wer is etz die alte Dolln?«

Zehn Minuten später parkte der Fahrer den Bus auf dem Busparkplatz Am Anger, gleich gegenüber vom Rosengarten. Achtundvierzig Röttenbacher Senioren wälzten sich unwillig aus dem Fahrzeug, spannten erneut missmutig ihre Regenschirme auf, zogen die Reißverschlüsse ihrer Jacken und Anoraks hoch und starrten voller Verzweiflung in die dunklen Wolken. Nicht ein Sonnenstrahl ließ sich blicken. Dann machten sie sich seufzend durch die Ketschengasse auf den Weg in Richtung Innenstadt. Bald hatten sich die achtundvierzig in kleinere Grüppchen aufgelöst. Kunni Holzmann und Retta Bauer hatten Georg Nützel, seine Frau Maria sowie Daggi Weber und die nach Röttenbach zugezogene Bremerin Cordula Siefenbrink im Gefolge. Zusammen brachten sie es auf durchschnittlich stolze fünfundsiebzig Lebensjahre. Es dauerte, bis sie auf dem nahezu menschenleeren Marktplatz standen, dessen Pflaster trostlos nass glänzte. Erneut starrten sie hoffnungslos in den grauen Himmel. »Und nun?«, wollte die Bremerin Cordula Siefenbrink wissen.

»Und nun, und nun?«, äffte sie Kunigunde Holzmann nach. »Ihr Preußn seit auch meistens recht hilflos, wenns a wenig kritisch wird, gell? Etz suchn wir uns ein Café, wo wir ein Stück Tortn oder einen Obstkuchn kriegen, oder hat jemand von euch noch Lust durch den Regen zu dabbn? Also, ich net!«

»Zum Stadtcafé ist es nicht weit«, merkte Daggi Weber an, welche sich in Coburg etwas auskannte.

»Etz trifft mich doch gleich der Schlag!« Georg Nützel war es, den natürlich nicht der Schlag traf, sondern der angestrengt zum historischen Coburger Rathaus hinüberstarrte. »Dees is doch die junge Türkin, die in Röttenbach in der Amselstraß wohnt? Wie heißts jetzt widder?«

»Akgül Özkan oder so ähnlich«, antwortete seine Frau Maria, »und der junge Bursch ist der Walter Fuchs, der Fuchsn Gerda ihr Bu, aus der Waldstraß.

»Ich hab gmant, dem sei Freundin ist die junge Kunstmann aus der Erlanger Straß?«, steuerte Margarethe Bauer neugierig ihren Kommentar bei.

»Eben, deswegn glotz ich ja so bleed«, versuchte Georg Nützel zu erklären, »bevor mich doch noch der Schlag trifft.«

»Schau dir bloß die türkische Schnalln an«, wusste Daggi Weber zu berichten, »wie die sich an den Walter dranhängt! Das wenn die Doris Kunstmann wissen tät …!«

»Das wenn der Vadder von der Türkin wissen tät!«, dachte Kunigunde Holzmann laut nach. »Schaut nur hin, wie die mitnander rumknutschn!«

»Schee«, gab die Retta zurück. »Ach, ist des scho lang her.”

»Bei dir scho, du alte Zuchtl”, merkte die Kunni giftig an, »schau halt amol in Spiegel nei. Nix wie Faltn. Tiefer als der Nembercher Burggraben. Heinlin, Scholle«, stänkerte sie immer noch herum und würdigte ihre Freundin keines Blickes mehr.

3

Nicht nur den Röttenbacher Senioren versaute der Regen an diesem 25. August 2013 die Stimmung. Auch der Röttenbacher Neubürger Bernd Auerbach, seine Freundin Anna Wollschläger und ihre Umzugshelfer waren nicht gerade in bester Stimmung. Während die Röttenbacher Senioren mit aufgespannten Regenschirmen missmutig durch den Coburger Regen stapften, war der Umzug von Hoyerswerda, im Landkreis Bautzen, nach Röttenbach noch voll im Gang. Gleich hinter der Brauerei Sauer war ein zweistöckiges Wohnhaus frei geworden. Der Eigentümer war vor drei Wochen mit seiner thailändischen Freundin in ihre Heimat ausgewandert und hatte dem fränkischen Dorf den Rücken gekehrt. Das Anwesen selbst war vormals ein Bauernhof gewesen, hatte einen großen, gepflasterten Hof und eine große Scheune, welche quer zum Wohnhaus stand.

Bernd Auerbach trieb seine Freunde und Bekannten, die ihm beim Umzug halfen, zur Eile an. Er war schon sehr gespannt, wie sich er und seine Freundin hier im tiefsten Mittelfranken einleben würden. Andererseits, schlimmer als in seiner Heimatstadt konnte es auch nicht werden.

»Do gennsde bleede wärn«, kommentierte einer der sächsischen Umzugshelfer. Seine Füße steckten in hohen, schwarzen Springerstiefeln, und von seinem glatt rasierten Schädel rannen ihm kleine Rinnsale in den dunklen Hemdkragen. Bernd Auerbach war stinksauer als er in seinem Neonazi-Outfit hier in Röttenbach ankam. »Das nächste Mal ziehst du dir zumindest normale Kleidung an«, herrschte er ihn an. »Da machdor eiorn Dregg alleene«, erhielt er zur Antwort. Die Möbel des Schlafzimmers lagen noch in Einzelteile zerlegt auf der Ladefläche des MAN-Kastenwagens, und Anna Wollschläger war seit Stunden in der Küche damit beschäftigt, Gläser, Geschirr und Besteck zu spülen, um die neue Bleibe möglichst schnell wohngerecht einzurichten. Überall standen noch Kartons mit Klamotten herum, und die Lampen waren auch noch nicht montiert. Der Glatzkopf stand im Hof, drehte Däumchen und rauchte eine Zigarette. »Moch die Gusch zu un glodds nedd su bleede«, fuhr er einen seiner Kollegen an, der gerade dabei war, ein Nachtkästchen ins Haus zu tragen. »Scheiß Räschn«, fluchte er vor sich hin.

Bernd Auerbach hatte sich das Angebot von Thomas Keller nicht lange überlegen müssen. Er wollte schon lange raus aus der Plattenbausiedlung in der Dr. Wilhelm-Külz-Straße, Ecke Südstraße, ein sechsstöckiges Monster in Großblockbauweise. Eine gigantische Häuserreihe, hässlich wie die Nacht finster. Hoyerswerda war auch nicht mehr das, was es einmal war. Die Bevölkerung war stark geschrumpft. Hohe Arbeitslosigkeit kam hinzu. Vorbei die alten Zeiten, als in den fünfziger Jahren das Braunkohleveredelungswerk Gaskombinat Schwarze Pumpe gebaut wurde. Da war er zwar noch nicht geboren, aber sein Vater schwärmte immer noch von damals. An die Wende konnte er sich deshalb noch erinnern – da war er gerade sieben Jahre alt –, weil er miterleben musste, wie sein Vater seinen Arbeitsplatz verlor. Ein Türke, der aus der Oberpfalz nach Sachsen kam, bekam den Job – zu einem viel niedrigeren Stundenlohn. Heute fragte er sich des Öfteren, ob es schon in den Anfängen der DDR Leute gab, die ähnlich dachten wie er heute, die von Anbeginn gegen das politische System der SED eingestellt und eher dem Nationalsozialismus zugeneigt waren. Er konnte das damals, in den Zeiten der Wende, nicht selbst beurteilen, er war ja noch ein Kind, aber er konnte sich gut daran erinnern, dass er auf dem Friedhof Grabsteine gesehen hatte, die mit Hakenkreuzen beschmiert waren. Seine Eltern unterhielten sich unter vorgehaltener Hand auch manchmal über diese Dinge. Er erinnerte sich, wie sein Vater einmal sagte: »Wir haben eine Legitimationskrise in der DDR, die sich wirtschaftlich, sozial und politisch kontinuierlich vertieft. Sie treibt immer mehr Bürger in die Opposition. Manche träumen schon wieder von einem neuen Kaiserreich.« Er verstand nicht, was sein Vater damit sagen wollte, aber er erahnte, dass es nichts Gutes war. Dann kam diese politische Veränderung, welche die Erwachsenen als »Wende« bezeichneten. Von Erich Honecker hörte man plötzlich gar nichts mehr. Man sah nur noch diesen dicken Helmut Kohl im Fernsehen. Der wurde doch noch vor einem Jahr als Klassenfeind bezeichnet? Jedenfalls kamen nach dieser sogenannten Wende unheimlich viele neue Menschen in die ehemalige DDR, die plötzlich auch, wie der Klassenfeind, Bundesrepublik Deutschland hieß. Er verstand das damals alles noch nicht so richtig. Überall wurde plötzlich in neue Straßen und neue Gebäude investiert. Selbst die alten Straßenbahnen gab es nach einigen Jahren nicht mehr, in jeder Stadt fuhren bald nagelneue auf den Schienen herum. Gehörten die auch zu den blühenden Landschaften, die dieser dicke Helmut Kohl versprochen hatte? Wo kam denn plötzlich das viele Geld her? Aber es war nicht alles gut, was da plötzlich auf die Menschen in seiner Heimat zukam. Das sagten auch seine Eltern. Ein regelrechter Ansturm von Ausländern kam aus dem Westen, auch Schwarze, die in den Straßen und in den Parks herumlungerten. Es wurden im Laufe der Jahre immer mehr. Rauschgift machte die Runde. Sein bester Freund, Dieter Faustka, setzte sich den goldenen Schuss. Dieter wollte noch nicht sterben. Er war erst siebzehn Jahre alt und drogensüchtig. Der Reinheitsgrad des Stoffs war unerwartet hoch. Er war mit dabei, als Dieter starb, als er in Atemdepressionen verbunden mit einem Atemstillstand verfiel. Sein Herz blieb stehen. Das Heroin finanzierte Dieter durch Kleindiebstähle. Er hatte selten Geld. Sein Vater war Alkoholiker und arbeitslos. Seine Mutter verkaufte ihren ausgemergelten Körper an jeden, der dafür bezahlte, auch an Ausländer, wie die schwarzen Rauschgiftdealer, die ihren Sohn umgebracht hatten. Es war ihr einerlei. Ein Esser weniger. Dieter war schon seit vielen Jahren tot.

Seit diesem Erlebnis konnte er Türken und Neger nicht mehr leiden. Begeistert las er ein paar Monate vor der Wende in der Tageszeitung seiner Stadt vom Negerklatschen. Jugendliche Glatzköpfe hatten auf dem Rummelplatz einen Afrikaner verprügelt, der blutüberströmt in das Krankenhaus eingeliefert wurde. Dabei konnte sich Bernd Auerbach noch vage daran erinnern, dass es so etwas vor langer Zeit schon einmal gegeben hatte. Es musste im Jahr 1987 gewesen sein, wenn er sich recht an die Erzählungen seiner Eltern erinnerte. Damals veranstaltete eine Westberliner Punkband ein Konzert in der Berliner Zionskirche. Dreißig Skinheads stürmten das Konzert, riefen »Sieg Heil« und verprügelten auf dem Kirchenvorplatz Besucher der Veranstaltung. Er mochte diese Glatzköpfe zwar nicht, aber wo sie recht hatten, hatten sie recht.

Bernd Auerbach erlebte den Umbruch der ehemaligen DDR hautnah. Er sah das gigantische Investitionsvolumen, welches von Westen nach Osten strömte. Er erinnerte sich an die »blühenden Landschaften«, die Helmut Kohl vorausgesagt hatte. Er sah aber auch die Abwanderer, die in den Westen der Republik strömten und verlassene und marode Dörfer hinterließen. Kein Wunder, im Westen zahlten Arbeitgeber höhere Löhne. Er machte sich Sorgen über die hohe Arbeitslosigkeit in der ehemaligen DDR und über die Verwahrlosung der ländlichen Regionen. Bernd Auerbach sah die vielen arbeitslosen Jugendlichen, die in den Städten lustlos herumlungerten, sich zusammenrotteten, bar jeder Hoffnung auf eine erstrebenswerte Zukunft. Er konnte für sich noch von glücklichen Umständen sprechen. Über Beziehungen fand er einen Ausbildungs- und Arbeitsplatz. Die Stadtverwaltung Hoyerswerda bot ihm eine Ausbildung zum Verwaltungskaufmann an. Glücklich willigte er ein und landete im Ausländeramt. Fortan beschäftigte er sich nur noch mit den Bestimmungen des Ausländergesetzes, mit Visaangelegenheiten, Aufenthaltsberechtigungen und arbeitslosen Ausländern. Bald hasste er seinen Job. Er hasste den Mief und die Enge seines Büros. Zu viert saßen sie an einem Vierer-Schreibtisch-Block, eingepfercht auf weniger als fünfundzwanzig Quadratmetern und eingeengt von grauen, tristen Büromöbeln, die voll waren mit genauso uninteressanten farbigen Ordnern. Der kackbraune Fußboden glotzte ihn jeden Arbeitstag an, und die dreckigen Fenster gaben von seinem abgewetzten Bürostuhl aus einen faden Blick auf einen langweiligen Innenhof frei, der mit Müllcontainern vollgestellt war. Das Porträt der Bundeskanzlerin an der Wand kotzte ihn auch schon lange an. Genauso wie seine drei Kollegen, die mit ihm im Büro saßen. Er wusste genau, dass sein Büroleiter Siegbert Sauer, dieses faule Stück, mit seiner Frau in Scheidung lebte und seine Geliebte im Einwohneramt, nur ein Stockwerk über ihnen, bumste. So ein Schwein. Drei kleine Kinder hatte das Schwein zu Hause. Melissa Gumbert auf dem Bürostuhl rechts neben ihm, diese aufgetakelte Fregatte mit dem grellroten Karpfenmund und den lila geschminkten Glubschaugen, war eine Lesbierin. Bruno Seitz, den Lehrling mit seinem pickeligen Gesicht, hatte er schon häufiger beobachtet, wie er heimlich ins Pornokino schlich. Alle beherrschten das politische Taktieren bis zur Perfektion, wenn mal der Obermotz aus der vierten Etage ins Büro kam, um sich nach seinen Mitarbeitern umzusehen. Dann sprühten sie vor Belanglosigkeiten und Speichelleckerei und glaubten, auf ihrem Karrierehighway wieder ein gutes Stück vorangekommen zu sein. Bernd Auerbach hatte für sich sehr schnell erkannt, dass er diese Gesellschaft auf Dauer nicht überleben würde. Lustlos und voller Langeweile erfüllte er seinen Job nach Vorschrift. Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag – jeden Tag der gleiche Scheiß. Fast jeden Tag hatte er mit Flüchtlingen zu tun, wenn sie vor ihm saßen, mit ihren iPhones spielten,die Marlboro-Schachtel auf den Tisch legten, das Dupont-Feuerzeug daneben und nach finanzieller Unterstützung fragten. Oh ja, die Richtlinien legte er sehr erzkonservativ aus, wenn sie kamen, seine Lieblinge, die Schwarzafrikaner aus Ghana, die politisch verfolgten Tschetschenen und die Türken aus dem tiefsten Anatolien, ihre Anträge auf Unterhaltsvorschuss, auf Kindergeld und Hartz IV in den Händen. Die meisten kannten sich gut aus, welche Rechte ihnen das deutsche Sozialrecht bot. Wie viele Kinder die alle hatten und dafür Kindergeld kassieren wollten! Selbst für die Kinder zuhause in der Türkei, deren Existenz eh niemand überprüfen konnte. Müllmann? Nein, so eine Arbeit wäre nicht angemessen. Zu schmutzig. »Wissen Sie, ich habe zudem eine Müllallergie«. »Nein, ich suche keinen Arbeitsplatz, ich möchte nur Hartz IV beantragen«. Bernd Auerbach empfand seine Arbeit im Laufe der wenigen Jahre als immer schwachsinniger. Da verdiente er selbst eintausendfünfhundert Euro brutto im Monat und musste sich mit den überzogenen Forderungen dieses faulen Ausländerpacks auseinandersetzen, denen das deutsche System die Euros vorne und hinten nur so reinstopfte. Tag für Tag verwunderte ihn die Arroganz und das Wissen der Ausländer, womit sie glaubten, ihre Rechte einfordern zu können. Aber nicht mit ihm. Er machte ihnen das Leben schwer, wo und wie er auch immer konnte. Als ihn Thomas Keller das erste Mal kontaktierte, wusste er, dass sich sein Leben grundsätzlich ändern würde. Er hasste sie alle, diese ausländischen Betrüger und Schmarotzer.

Ein halbes Jahr vor seinem Umzug nach Röttenbach hatte er selbst so einem Nigger ordentlich die Fresse poliert. Schade, dass der Schwarze nicht abgekratzt war, sondern sich wieder erholte. Na ja, richtig gehen kann er auch heute noch nicht. Er humpelt immer noch auf Krücken herum. Es war ein spontanes Wutgefühl, das über Bernd Auerbach kam, damals vor fünfeinhalb Monaten, als ihm der Bimbo aus Ghana nachts um zwei Uhr gut gelaunt und ein Liedchen auf den Lippen entgegenkam. Er hätte ihn dabei nicht ansehen sollen, der Schwarze. Aber als Bernd in der Dunkelheit diese weißen Augäpfel und dieses Affengesicht sah, konnte er nicht mehr an sich halten. Er musste an seinen toten Freund Dieter denken. Es war einfach über ihn gekommen. Dieses Gefühl. Diese unbändige Wut. Ohne jegliche Vorwarnung stürzte er sich auf den Afrikaner und schmetterte ihm mit seinen Hammerfäusten zwei wohl platzierte Kinnhaken ins Gesicht. Von der Wucht der beiden Boxhiebe überrascht geriet der Ausländer ins Straucheln. Bernd Auerbach nutzte die Gunst der Situation und zog seinem Gegner die Beine weg. Der schlug mit seinem schwarzen Schädel hart auf der Bordsteinkante auf und stöhnte vor Schmerz. Sofort war der junge Einheimische über ihm und versetzte ihm mit seinen schweren Schuhen zwei Fußtritte gegen die rechte Schläfe und mitten ins Gesicht. Die wulstige Unterlippe des am Boden Liegenden platzte auf. Blut floss auf den Gehsteig. Dann, nach zwei weiteren Fußtritten gegen den Kopf und gegen die Rippen, verlor der Afrikaner das Bewusstsein. Bernd Auerbach hatte noch nicht genug. Aus dem Innern seiner Jacke zog er eine Stahlrute hervor und schlug damit wie wild auf die Beine seines Opfers ein. Dann trat er erneut mit seinen Schuhen zu. Er hörte das Brechen des rechten Oberschenkelknochens. Hätte die kühle Nacht nicht nahende Schritte an die Ohren des Schlägers getragen, wäre es um den Afrikaner wohl geschehen gewesen. Schnell trat er den Schwarzen ein letztes Mal in die Weichteile, bevor er eiligst in der Dunkelheit verschwand.

»Hallo, was ist mit Ihnen los? Können Sie mich hören? Brauchen Sie Hilfe?« Die Fragen kamen vom Ort des Überfalls. Dann gellten laute Hilferufe durch die Nacht.

Der Täter konnte nie ermittelt werden, und Bernd Auerbach, der kräftige junge Mann, der normalerweise immer innere Ruhe ausströmte und für seine Mitmenschen Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft in einer Person verbildlichte, hatte Blut geleckt. Niemand vermutete, dass sich hinter diesem attraktiven jungen Mann mit den strahlend blauen Augen und dem wie mit dem Lineal korrekt gezogenen Seitenscheitel ein Mensch mit so hohem Gewaltpotenzial versteckte. Bald würde er nun die Türken und Bimbos in Mittelfranken aufmischen. Diese Nichtsnutze. Er freute sich auf seine neue Aufgabe. Die Franken würden ihm insgeheim dankbar sein. Davon war er fest überzeugt.

Um zehn Uhr vormittags, am 2. September, trat Bernd Auerbach in das Bürgerbüro des Röttenbacher Rathauses ein. Vierzig Minuten später verließ er es wieder und hielt seine Gemeinde-Anmeldung und seinen Gewerbeschein in den Händen. »Beratertätigkeit« stand in dem Feld Beruf. Er würde oft unterwegs sein, um mit Thomas Keller »Beratergespräche« zu führen. Er machte sich auf den Weg zur örtlichen Sparkasse. Schließlich brauchte ein Beratungsunternehmen auch ein Geschäftskonto, auf welches seine Kunden die Gelder für seine Dienstleistungen überweisen konnten. Morgen würde er sich noch einen Laptop, einen Geschäftsstempel und Visitenkarten für seine Firma Auerbach-Asylberatung besorgen. Ach ja, zum Finanzamt Erlangen musste er auch, um eine Umsatzsteuer-Identifikationsnummer zu beantragen. Seine Finanzplanung für die nächsten drei Geschäftsjahre hatte er peinlichst genau vorbereitet. Alles musste seine Ordnung haben. Nur nicht negativ auffallen. Nur nicht gegen gültige Gesetze verstoßen, zumindest nicht nach außen hin. Immer schön den Schein wahren. Die Gespräche, die er bisher mit Thomas Keller geführt hatte, waren für ihn wie ein »Aha-Effekt«. Sie erweiterten seinen intellektuellen Horizont. Noch nie hatte er die Dinge so klar gesehen. Thomas Keller war ein kluger Kopf, reich an Erfahrung. Auch die Geschichte bestätigte, dass Veränderungen nur von wenigen, klugen Köpfen ausgingen. Er wollte ein Teil dieser Veränderungen werden, koste es, was es wolle.

4

Drei Wochen vergingen, und wieder einmal war es Zeit für die Röttenbacher Kirchweih. Die Kirchweihburschen trafen sich schon seit zwei Wochen regelmäßig beim Sauers-Wirt, um das lokale Großereignis vorzubereiten und dem Kirchweihablauf ein festes Programm zu verpassen. Auch Norbert Amon war, wie auch im letzten Jahr, wieder dabei.

»Wo ist denn der Walter?«, wollte der Müllers Luggi von ihm wissen, »kommt der nicht mehr? Ihr zwei seid doch die besten Freunde?«

»Keine Ahnung«, entgegnete der Gefragte lustlos, »hab ihn schon länger nicht mehr gesehn. Seit der mit der Türkin zamm ist, interessiert der sich nicht mehr für mich.« Norbert Amon antwortete oberflächlich und emotionslos, aber innerlich hatte ihn die Frage sehr aufgewühlt. Er war stinksauer auf seinen Freund Walter Fuchs. Walter war mit dieser geilen Türkin eine Beziehung eingegangen, ohne seiner bisherigen Freundin etwas davon zu sagen. Er hatte sie einfach links liegengelassen. Kein feiner Zug. Auch Akgüls bisheriger Freund, dieser Türke mit der Riesengurke im Gesicht, einer Nase die ihresgleichen suchte, wusste offensichtlich von nichts. Aber am meisten ärgerte er sich, dass Walter auch für ihn keine Zeit mehr hatte. Er rief nicht mal mehr an. Norbert Amon konnte nicht mehr an sich halten vor Wut, wenn er darüber nachdachte. Vor zwei Tagen griff er zum Erlanger Telefonbuch und suchte nach der Telefonnummer von Yilmaz Müselüm.

»Mit was für einer Türkin?”, wollte der Faulhammers Jupp wissen, der gerade seinen Bierkrug leerte und rülpsend auf den Tisch stellte. »Herbert, bring mir noch eins!«

»Herbert, bring uns noch fünf!«, schrie der Holzmanns Hanni, ein weiterer Kirchweihbursche, dem Wirt hinterher.

»Na, mit der Akgül aus der Amselstraß«, antwortete Norbert Amon widerstrebend, »und etz lass mir meine Ruh mit der Gschicht. Ich will nix mehr davon hörn!«

»Aber die hat doch einen türkischen Freund, den Müselüm«, wunderte sich Josef Faulhammer.

»Gehabt«, stellte Norbert Amon richtig. »Gehabt!«

»Oh weh«, äußerte sich der Holzmanns Hanni, »das gibt Ärger! Wenn der das erfährt …«

»Wenn er es nicht schon weiß, wenn er es nicht schon weiß”, orakelte Norbert Amon und stierte weiterhin finster vor sich hin.

»Wer?« Günther Siebenschläger war immer etwas schwer von Begriff.

»Na der Türke, der Müselüm.«

»Hast du es ihm wohl schon erzählt?«, mutmaßte der Faulhammers Jupp.

»Könnt schon sein«, brummte Norbert zurück.

»Dann gibts Mord und Totschlag!«

»Soll nicht meine Sorge sein und etz endgültig Schluss mit dem Thema.«

»Wenn das auffliegt, gibts noch einen viel größeren Ärger«, mischte sich nun auch der Wirt in die Unterhaltung ein, welcher der Diskussion der Kirchweihburschen zugehört hatte.

»Warum?«, kam es mehrstimmig zurück.

»Denkt doch mal nach«, forderte der Sauers-Wirt die Meute auf.

»Auweierla, die Doris!«, fiel es dem Jupp ein.

»Genau, die Doris!«, bestätigte der Wirt, und knallte fünf Steinkrüge, bis zum Rand mit seinem dunklen, süffigen Kellerbier gefüllt, auf die dicke, hölzerne Tischplatte. »Hoffentlich weiß die das noch nicht!«

»Aber die zwei sollen doch beim Betzn-Raustanzen mit dabei sein?« Günther Siebenschläger runzelte die Stirn, und blickte fragend in die Runde.

»Günther, bist bleed? Da wird doch nix mehr draus«, klärte ihn Jupp Faulhammer auf.

»Aber dann merkt die Doris das doch?«, ließ Günther Siebenschläger nicht locker.

»Hast du das auch schon geschnallt?«

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