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Ein Tatsachenroman über die "grünen Teufel" des Zweiten Weltkriegs: So wurde die Elite-Truppe der deutschen Fallschirmjäger unter Fritz Karsten genannt, der fast alle seine Männer während der vier Einsätze verlor, darunter auch seinen Bruder Hans. Bei ihrer Landung auf Kreta am 20. Mai 1941 starben zwei Drittel der Kompanie. Ähnlich hohe Todeszahlen sind für die weiteren Einsätze in Russland, Monte Cassino und Brest verzeichnet. Zurück bleibt ein Bild von der schrecklichen Sinnlosigkeit des Krieges.-
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Seitenzahl: 382
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Will Berthold
nach Tatsachen
Saga
Vom Himmel zur Hölle – TatsachenromanCoverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1957, 2020 Will Berthold und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726444728
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
Und dann gab’s Schnaps. Drei Flaschen pro Gruppe. Die Fallschirmjäger standen, saßen und lagen einzeln oder in Gruppen auf dem verstaubten E-Hafen. Im ersten Schatten des Abends sahen ihre dreimotorigen Flugzeuge aus wie Schwärme dunkler Aasgeier, die mit gebreiteten Schwingen auf ihren Opfern hocken.
Die Männer feixten, um die Angst aus ihren Gesichtern zu verbannen. Sie waren jung und hatten sich freiwillig zum verlorenen Haufen des Luftkriegs gemeldet. Mut war keine Mangelware bei ihnen, Mut war ihr Schicksal ... denn im ersten Dämmern des neuen Tags sollten sie zum kühnsten Handstreich des Zweiten Weltkriegs starten.
Mit der Schnapsausgabe erließ der Spieß ein Trinkverbot. Keiner nahm es ernst, am wenigsten der Spieß selbst. Wenn dicke Luft ist, gehört der Schnaps zur Verpflegung, dachte der Obergefreite Schöller befriedigt. Aber wozu warten? Wozu den alkoholischen Mut erst in Feldflaschen abzapfen? Seit wann müssen Fallschirmjäger sich im Gefecht Schneid antrinken? Seit wann stinkt der Tod nach Fusel? Morgen ist morgen und heute ist heute, sinnierte Schöller weiter, während er das scharfe Zeug aus seinem Kochgeschirr schlürfte.
Die dritte Kompanie des zweiten Fallschirmjägerbataillons stand in Linie zu drei Gliedern, mäßig ausgerichtet, als sie von Oberleutnant Fritz Karsten den Einsatzbefehl vernahm. Seither war es vorbei mit dem blödsinnigen Herumliegen auf dem durchglühten, staubbedeckten Feldflughafen bei Athen. Vorbei mit dem öden Zelt- und Barackenlager, in dessen Mitte ein einziger verdorrter Strauch stand. Vorbei mit dem verdammten tintigen Rotwein, in dem sich Panetzky die Füße zu waschen pflegte. Vorbei mit den paar schäbigen Erlebnissen, für die eine Vorstadtkneipe von Athen mit zehn malerisch drapierten Mädchen herhalten mußte ...
»Wir werden uns Kreta unter den Nagel reißen«, rief Oberleutnant Karsten mit heller Stimme. »Viel mehr weiß ich auch nicht.« Sein roter Schal flatterte in der ersten Abendbrise. Es flatterten die gleichfarbenen Schals seiner Kompanieangehörigen. Dieser Modeartikel war streng verboten. Aber Fallschirmjäger pfiffen auf Verbote.
»Wir werden morgen früh auf Kreta abgesetzt. Wir springen in ein Zeltlager der Tommies bei Malemes. Herrschaften, sorgt dafür, daß ihr ausgeschlafen seid! Gleich hineinschießen, während der Feind noch pennt. Daneben ist der Flugplatz. Wenn wir ihn bis Mittag nicht haben, sind wir im Eimer.«
Der Oberleutnant, der sich bei Eben-Emael das EK II verdient hatte, in Norwegen dabeigewesen war und sich beim Handstreich auf Korinth das EK I und zwei Steckschüsse geholt hatte, lockerte seine Haltung. Er lächelte kalt.
»Der General ist der Meinung, daß nur wir es schaffen können.« Die Kompanie brüllte Zustimmung. Sie standen nebeneinander, hundertfünfzig braungebrannte, sehnige Burschen, von denen die wenigsten wußten, wo Kreta überhaupt liegt. Ob es eine Stadt ist oder eine Insel oder ein Land.
Wir sind die Glückskinder des Krieges, dachten sie. Seit fast zwei Jahren schon. Der verlorene Haufen, der von Sieg zu Sieg zieht, dem der Krieg Länder vor die Füße, Orden an die Brust, Mädchen an den Hals wirft.
Sie standen nebeneinander auf Tuchfühlung: der zu groß geratene Obergefreite Schöller, der kleine Panetzky mit der spitzen Nase und der Nickelbrille. Weiß der Teufel, wie er mit seiner Kurzsichtigkeit durch die Eignungsprüfung kam. Schmidt, Schmidtchen genannt, der alle Spinde mit Aktfotos verziert, der Abiturient Stahl, den sie Professor nennen, und der blasse, hünenhafte Gefreite Paschen, auf dessen Uniformbluse das Band zum EK II leuchtet wie ein blutiger Schnitt.
Sie alle übersetzten die Worte ihres Kompaniechefs in ihre Welt: noch größere Siege, besseren Wein, andere Mädchen. Sie wußten noch nicht, daß aus den vermeintlichen Glückskindern des Kriegs Vorzugsschüler des Todes werden sollten. Morgen, am 20. Mai 1941, wird auf Kreta die erste Lektion der neuen Schule beginnen ...
»Noch eine Frage?«
»Ja.« Fahnenjunkerunteroffizier Hans Karsten, der Bruder des Kompaniechefs, trat einen halben Schritt vor.
»Wo können wir die Geländekarten fassen?«
»Nirgends«, antwortete der Oberleutnant. »Ich hab’ nicht einmal einen ›Baedeker‹.«
Er lachte selbst über seinen Witz, der ernst gemeint war.
»Haben wir Jagdschutz?« fragte Schöller.
»Nein«, erwiderte der Kompaniechef. »Das heißt, versprochen ist er ... Wir werden Kreta ganz tief über dem Meer anfliegen ... das ist auch ein Jagdschutz.«
»Wie lange dauert der Flug?« meldete sich Schöller noch einmal.
»Wenn alles klappt: zwei Stunden ... Herrschaften, ich brauch‘ euch wohl nicht zu sagen, daß heute keiner mehr den E-Hafen verläßt.«
Karsten drehte sich zum Spieß um. »Lassen Sie wegtreten!«
»Achtung!« brüllte der Hauptfeldwebel.
Staub wirbelte auf, als sie die Hacken zusammenschlugen. Dieser trockene, glühende Staub sollte für die jungen Soldaten ein weit schlimmerer, gefährlicherer Feind werden als die waffenstarrenden Tommies, von denen sie schon seit drei Tagen auf Kreta erwartet werden.
Der Handstreich war verraten worden!
Der Verrat aber ist der Zuhälter des Heldentods.
Im rötlichen Glanz der sinkenden Abendsonne lief die dritte Kompanie auseinander, zu den Flugzeugen zurück, an denen das Bodenpersonal hantierte. Behälter mit Waffen, Munition und Proviant wurden angeschleppt.
Die Fallschirmjäger sahen gleichgültig zu. Es war nicht mehr ganz so heiß. Aber die Uniform scheuerte auf ihren schweißnassen Körpern. Man hatte versäumt, ihnen leichte Tropensachen zu verpassen. So werden sie morgen mit derselben Ausrüstung über Kreta abspringen wie ein gutes Jahr zuvor über Narvik. Erst Tage später lernen sie beim Feind Khakiuniformen kennen. Sie werden sie den Tommies ausziehen ... dann laufen die deutschen Eroberer in leichten englischen und die geschlagenen Briten in schweren deutschen Uniformen umher.
Panetzky und Schöller latschten zum Zelt zurück. Sie hieben die Kochgeschirre mit dem Schnaps auf den Tisch aus Kistenbrettern. Es stank nach Waffenöl und imprägniertem Stoff. Schmidtchen war damit beschäftigt, einen Streifen zusammengesteckter Aktfotos mit großer Sorgfalt von der Zeltwand abzumontieren.
»Willst du die mitnehmen?« fragte Panetzky.
Schmidtchen sah nicht einmal auf.
»Worauf du dich verlassen kannst, Kumpel«, sagte er, »an der ersten Palme, die ich morgen auf Kreta sehe, hänge ich sie wieder auf.«
Die anderen lachten. Schmidtchen war in Ordnung, der beste Jäger der Gruppe, und er besaß am längsten das EK I. Seine einzige Schwäche war seine Nuditätensammlung.
Wolfgang Stahl, der Professor, kniete am Boden und werkelte an seinem Fallschirm herum. Panetzky sah es und lachte schallend.
»Was machst du denn da?« fragte er.
Der Professor lief rot an und schluckte leise:
»Och ... ich überprüfe noch mal«, antwortete er.
Er war noch nicht lange Soldat und schon gar nicht lange Fallschirmjäger. Sein erster Einsatz morgen. Und ausgerechnet Kreta!
»Der Herr Professor haben Schiß, was?« fragte Panetzky mit tückischer Sanftheit.
Der Jäger Stahl suchte die Gesichter der andern. Sie waren alle mit sich beschäftigt, Schöller mit dem Schnaps, Schmidtchen mit den Fotos, Mommer mit seiner Sprungkombination, dem »Knochensack«. Nur Paschen, der Erbhofbauer aus Mecklenburg mit den Spatenhänden, fummelte ebenfalls an seinem Fallschirm herum. Aber ihn ließ Panetzky wohlweislich in Ruhe.
»Sag doch, Professor, daß du Bauchweh hast«, stichelte Panetzky weiter.
Paschen erhob sich jetzt ganz langsam, richtete sich zu seiner imponierenden Länge auf. In seinem rötlichen, struppigen Haar spiegelte sich der Schein des Hindenburglichts, das auf dem Tisch flackerte. Langsam ließ er seine Flossen pendeln.
»Halt’s Maul!« sagte er gedehnt, »bevor es zu spät ist! Was mich betrifft, ich habe Schiß. Ich habe jedesmal Schiß, daß dieses Scheißding von Fallschirm nicht aufgeht. Und deshalb schau’ ich ihn mir noch einmal an, bevor ich springe ... So, jetzt Klappe zu oder raus!«
Panetzky wandte sich nach dieser unmißverständlichen Drohung ab. Von jetzt an konnte der »Professor« sich ungeniert weiter mit seinem Schirm beschäftigen.
Sie richteten den Brotbeutel, die Pistole, die Magazine, den Spaten zu einem säuberlichen Haufen zusammen. Dann ließen sie sich mit Schnaps vollaufen. Erst als sie damit fertig waren, setzten sie die Unterhaltung fort.
»Wie wär’s mit einem kleinen Ausflug in unsere Stammbeize?« fragte Schöller.
»Mensch, bist du verrückt! Alarmzustand!« erwiderte Panetzky.
»Scheiß auf die Ausgangssperre«, fuhr Schöller fort. »Ich werde pico bello ausgeh’n. Hast du vielleicht Lust, die ganze Nacht bei den Flugzeugen herumzulungern?«
Panetzky zögerte.
»Mensch, denk doch: Die zehn Weiber haben wir heut’ alleine. Mensch! Zehn Weiber!«
Der schmächtige Panetzky fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Er dachte erschauernd an die kolossale Mazedonierin, die soviel größer und dicker war als er.
»Los, ab!« sagte er heiser.
Schöller ließ sich Zeit.
»Hat noch jemand Lust?« fragte er.
»Der Professor vielleicht«, spottete Panetzky, »dem graut’s doch vor nichts.«
Schöller lächelte mit schmalen Lippen. Seine verkniffenen Augen hafteten an dem ausdruckslosen, unbeteiligten Gesicht Paschens. »Na, was ist, Professor?« fragte er.
Stahl wurde nicht rot, sondern blaß. In seiner natürlichen Zurückhaltung hatte er oft genug erkennen lassen, wie wenig ihm Ausflüge dieser Art boten. Viel zu oft. Aber jetzt war es etwas anderes. Jetzt stand die Geschichte mit dem Fallschirm dahinter.
»Gut«, antwortete er, »ich gehe mit.«
»Donnerwetter«, entfuhr es Schöller. »Na, schön«, setzte er hinzu. Er lächelte Paschen triumphierend an. Dann griff er nach dem einzigen noch mit Schnaps gefüllten Kochgeschirrdeckel.
»Laß das stehn!« fuhr ihn Paschen an. »Der Schnaps gehört Karsten.«
Schöller blieb eine Sekunde unschlüssig, als ob er überlegte, ob er Paschen den vollen Deckel ins Gesicht schütten sollte, Dann grinste er breit. Er hatte eine Idee.
»Schön«, erwiderte er, »dann bringen wir ihm das Zeug.« »Vergeßt ja nicht, euch abzumelden«, schrie Mommer lachend hinter ihnen her.
Hans Karsten war heute Unteroffizier vom Dienst. Er rieb sich die rotentzündeten Augen, als Schöller eintrat. In der Nacht zuvor hatte er Wache. Und jetzt leistete er Strafdienst ... auf Befehl des eigenen Bruders.
»Da«, begann Schöller, »dein Schnaps.«
Karsten lächelte verlegen.
»Ich kann doch jetzt nicht trinken.«
»Von mir aus«, knurrte Schöller. Dann lief er gemächlich mit Panetzky und Stahl über das Flugfeld.
»Ein komischer Kauz, der Karsten«, maulte er gutmütig, »Trinkt nicht. Raucht nicht. Kriegt sicher nasse Pfoten, wenn er ein Mädchen anfassen soll ... aus dem wird höchstens noch ein Offizier.«
Fünf Minuten später hatten sich die drei Fallschirmjäger aus dem E-Hafen hinausgeschmuggelt. Auf so etwas verstanden sie sich.
Sie hatten schön ganz andere Hindernisse genommen als einen schläfrigen Posten.
Der Flugplatz kommt nicht zur Ruhe. Tankwagen rollen über die Startbahn, Kommandos schwirren durcheinander. Irgendwo plärrt laut ein Kofferradio.
Zu dieser Stunde sitzen Oberleutnant Fritz Karsten und Leutnant Petri vor ihrem Zelt. Mechanisch sehen die beiden Offiziere immer wieder auf ihre Armbanduhren. Sie haben ihre Befehle gegeben, die Anordnungen überwacht. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Ihre Einheit besteht aus Elite-Soldaten. Bald werden sie im Halbkreis um die Maschinen stehen, ihre heiseren Stimmen werden über den Platz hallen: »Rot scheint die Sonne/fertiggemacht!/Wer weiß, ob sie morgen/uns auch noch lacht.« Wann immer die Fallschirmjäger während des Zweiten Weltkrieges ihre verwegenen Angriffe aus der Luft starten, versammeln sie sich im Morgengrauen zu dieser gespenstischen Szene.
»Na, denn prost!« sagt Oberleutnant Karsten. »Eine schöne Geburtstagsfeier hast du dir ausgesucht.«
»Ja«, entgegnet Petri. Er ist groß, schlank, und die Sommersprossen haben Platznot in seinem Gesicht. Und genau zu der Stunde, da sich im Morgengrauen die JUs vom sandigen Boden heben werden, wird er zweiundzwanzig Jahre alt.
»Dann wär’s wieder einmal soweit.« Karsten greift nach dem lauwarmen Sekt, den der Bataillonskommandeur zur Feier des Tags gestiftet hat. Er setzt ab, schüttelt sich und trinkt weiter.
»Weißt du, Fritz«, beginnt Petri, »es ist ja lächerlich. Man sollte gar nicht darüber reden ... aber diesmal ist’s mir mulmig. Verstehst du? ... Ich habe das Gefühl, daß ich mir morgen abend die Kartoffeln von unten anschau’, so sie auf Kreta wachsen.«
»Quatsch!« unterbricht ihn Karsten. »Natürlich hat man eine Flaute im Magen ... ich auch. Aber dann schau’ ich mir die anderen an, dann ist alles vorbei. Morgen um diese Zeit haben wir Kreta in der Tasche ... Prost!«
Ein untersetzter, vielleicht neunzehn Jahre alter Gefreiter tritt an die Offiziere heran, baut sich auf und grüßt.
»Bitte Herrn Oberleutnant stören zu dürfen«, sagt er.
»Was gibt’s denn, Männler?«
»Ich bin morgen nicht zum Einsatz mit eingeteilt. Ich soll Zurückbleiben und mit dem Bodenpersonal nachkommen«, stößt er heftig hervor. »Ich kann das nicht auf mir sitzen lassen, Herr Oberleutnant. Ich will mit.«
Karsten zuckt die Schultern.
»Tut mir leid«, erwidert er, »ich kann Ihnen nicht helfen. Wir haben nur Platz für die Mindeststärke. Es müssen von jeder Kompanie dreißig Mann zurückbleiben.«
»Aber ich will mit, Herr Oberleutnant.«
»Mensch, seien Sie doch froh!« Der blonde Offizier, in dessen Gesicht ein Querschläger ein paar Schmisse graviert hat, lächelt. »Sie würden sich ja doch bloß den Fuß verstauchen.« Er schiebt dem Gefreiten sein Glas zu. »Hier, trinken Sie mal!«
Aber Männler dreht sich einfach um. Tränen laufen ihm über das Gesicht. Er will sie verbergen, aber da wird es noch schlimmer. Er weint. Er weint, weil er nicht am Himmelfahrtskommando teilnehmen darf. Er ist nicht der einzige. Sechs oder sieben Jäger haben sich bei Oberleutnant Karsten gemeldet und sich ganz und gar unmilitärisch benommen.
Verrückte? Blutjunge Burschen, die Helden spielen wollen? Nein, Ahnungslose.
»Scheußlich ist das«, bemerkt Karsten zu Leutnant Petri. »Ich habe einfach dreißig Leute bestimmt. Kann ja schließlich nicht selbst zu Hause bleiben, damit noch einer von ihnen mitkommt.« Doch Petri ist zerstreut. Er sitzt auf einem Feldhocker und hat die Beine übereinandergeschlagen.
»Da ist noch eine Sache«, sagt er zu Karsten. »Hör zu, Fritz, wenn mir morgen was zustößt ... eine Adresse ... ein Mädchen. Du mußt es mir versprechen. Du mußt zu ihr hingehen. Du mußt ihr nur einen Satz sagen ...«
»Du hast wohl heute deinen melancholischen Tag?«
»Nein! Du mußt ihr nur ausrichten, daß ich sie heiraten wollte.« Karsten will lächeln. Aber die Grimasse gefriert auf seinem Gesicht.
»Wir sind wieder in derselben Maschine«, sagt Karsten wie zu sich selbst. »Ich springe als erster ... Hör zu: Tu mir auch einen Gefallen. Du stehst neben mir. Gib mir einen Stoß, daß ich hinausfalle ... Ich hab’ gar keine Angst. Die Engländer machen wir zur Sau. Keine Frage. Aber immer in dieser Sekunde, da ... da stehe ich ... da stier’ ich durch das Loch ... und denke, es geht nicht mehr weiter.« Der Oberleutnant schiebt sein Glas auf die Seite, steht auf, lächelt ein klein wenig müde. »Nicht weitersagen, bitte.« Er zündet sich eine Zigarette an und setzt hinzu: »Zum Helden gehört mitunter ein Arschtritt ... Und jetzt vertroll’ ich mich.«
Leutnant Petri bleibt zurück. Er kennt die Sache mit Karsten. Viele Fallschirmspringer haben einen Tick und brauchen plötzlich einen Nebenmann. Vielleicht sind es nur die Nerven. Petri, zum Beispiel, hat Angst vor der Landung, nicht vorm Sprung. Der Bataillonskommandeur träumt nachts von Bauchschüssen. Leutnant Siebert muß während des Flugs immer austreten. Einige halten es vor Durst nicht mehr aus, andere übergeben sich. Ein Gefreiter aus Petris Zug bildet sich kurz vor dem Sprung jeweils ein, daß seine Beine gelähmt seien. Ein anderer springt nur ab, wenn man ihm eine brennende Zigarette zwischen die Lippen schiebt. Und ein Unteroffizier küßt immer ein Madonnenamulett, bevor er den Schnapphaken seines Fallschirms einhängt.
Und ich denke an das Sterben, überlegt Leutnant Petri. Ist bloß diese Geschichte aus dem letzten Urlaub dran schuld! Das Mädchen. Karin ...
Sie war jung und blond, und ihre Haare lagen an den schmalen Schläfen wie eine goldene Kappe. Es war Herbst. Er ging mit ihr über eine Wiese. Es roch nach Heu, und die Luft flimmerte. Karin hatte eine Blüte zwischen den Zähnen. Ihre Lippen waren feucht und halb geöffnet. Ihre Zähne standen ein klein wenig auseinander, und das machte Karin so reizvoll, wenn sie lachte. Ihre Augenwimpern schlug sie immer halb nieder, wenn sie sprach, als habe sie Angst, sich selbst zu verraten. Ihr Kopf reichte Leutnant Petri nur bis zur Schulter, und er vergißt nie, wie dieser Kopf sich zum erstenmal an seine Schulter lehnte.
Er erzählte ihr vom Krieg. Sie lächelte und hörte weg. Sie dachte an etwas anderes. Die Zeit war knapp bemessen. Sie verbrachten die Tage nebeneinander, als ob sie keine Sorgen hätten, als ob es keinen Krieg gäbe. Sie spielten Tennis, tanzten miteinander, küßten sich. Sie waren glücklich und traurig, großzügig und eifersüchtig, und das alles grundlos.
Sie waren ineinander verliebt.
Und dann kam die Nacht vor dem Abschied. Es kam über sie wie ein Traum, wie ein Taumel, und sie erlebten ihn gleichzeitig beglückt und beängstigt. Als Petri erwachte, streifte ihn ihr Atem. Er spürte ihre weichen Arme. Sie lächelte mit geschlossenen Augen. Sie sah glücklich aus.
Er mußte zum Zug. Es war schon höchste Zeit. Und da, in dieser Minute eines überstürzten Abschieds, geschah es. Sie zupfte an seiner Uniformjacke. Ihr Gesicht war gerötet.
»In deinem nächsten Urlaub heiraten wir«, sagte sie schlicht. Ihre Augen glänzten.
»Heiraten?« erwiderte Petri. Er lachte dumm und verlegen.
Für dieses Lachen möchte er sich jetzt noch ohrfeigen, zumal er Karin eigentlich doch heiraten wollte. Er war nur vor dem Wort, nicht vor der Konsequenz zurückgeschreckt.
»Na hör mal, Karin«, setzte er hinzu. »Wir beide sind doch wohl noch zu jung dafür ... Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.«
»So.« Sie wurde blaß, ließ seine Uniformjacke los, drehte sich um, sah zum Fenster hinaus. Sie wandte nicht einmal mehr den Kopf, als er ging ...
Damals hatte Leutnant Petri keine Zeit, seine alberne Bemerkung wiedergutzumachen. Und später, als ihm so viel Zeit blieb, daß er damit nichts mehr anzufangen wußte, genierte er sich. Er schwieg. Er schrieb Karin nicht einmal.
Er dachte nur ständig an sie.
Leutnant Petri steht auf, schlüpft aus seinen Schnürstiefeln und haut sich auf das Feldbett. Idiot, sagt er zu sich selbst ... wenn ich morgen um diese Zeit noch lebe, werde ich Karin schreiben.
Ganz bestimmt.
Erst weit nach Mitternacht flaut die Geschäftigkeit auf dem E-Hafen vorübergehend ab. Der UvD, Hans Karsten, kann sich für einen Moment ablösen lassen, um sein Sprunggepäck zu richten. Endlich schweigt das Feldtelefon für ein paar Minuten, gibt der Spieß keine Befehle mehr, ist die kalte Stimme des Kompaniechefs verstummt.
Sooft der Fahnenjunkerunteroffizier an seinen Bruder denkt, der ihm den heutigen Extradienst aufbrummte, werden seine Lippen schmal und seine Augen starr vor Zorn, Scham und Enttäuschung. Die Uniform hat den Fritz verrückt gemacht, denkt er verbittert. Früher, ja, da war er ein netter Kerl, aber jetzt ist er eine Barras-Maschine, drahtig, von selbstgegebenen Befehlen bewegt.
Jeden Tag gab es Zusammenstöße. Am Anfang lachte die Kompanie noch darüber. Aber das hatte ihr der Oberleutnant schnell abgewöhnt. Die Kontroverse der Gebrüder Karsten stand ständig im Mittelpunkt der Einheit. Es gab zwei Parteien: Die eine Hälfte der jungen Fallschirmjäger bemitleidete den Fahnenjunkerunteroffizier, der einen ganzen Kopf größer war als sein Bruder, und die andere bewunderte den strengen und gerechten Chef.
»Fertig macht er ihn«, sagte die erste Partei.
»Nichts gegen den Chef«, meinte die zweite, »bevorzugt nicht einmal seinen eigenen Bruder.«
Hans Karsten hörte diese Diskussionen nie, aber er spürte sie in seinem Rücken. Er wünschte sich, in eine andere Einheit versetzt zu werden. Aber er müßte den Kompaniechef darum bitten, seinen eigenen Bruder, und das bringt er nicht fertig. Dazu ist er zu stolz. Und da sind noch die Briefe der Mutter, die ihm beinahe täglich schreibt, wie froh sie ist, daß Hans in der Obhut ihres anderen Sohnes sei.
Der langaufgeschossene Fahnenjunkerunteroffizier hat seiner eigenen Gruppe gegenüber ein schlechtes Gefühl. Seinetwegen müssen die anderen dauernd Extradienst schieben. Und das alles bewirkt Fritz, denkt er. Und deshalb freut er sich fast auf den grauenden Tag, ist froh, daß der verdammte Garnisondienst ein Ende hat und daß von jetzt an der Krieg, nicht mehr der Bruder der Chef sein wird.
Müde schlürft der UvD zu seinem Zelt, das fünfzig Meter neben der JU 52, aus der er mit seiner Gruppe in wenigen Stunden abspringen wird, aufgeschlagen ist. Die Bordbeleuchtung der Maschine wurde eingeschaltet, damit die Männer nicht im Dunkeln ihre Vorbereitungen treffen müssen.
Mommer schnarcht, daß die Zeltwände flattern, Paschen wälzt sich schlaflos hin und her. Als Karsten eintritt, schließt er die Augen. Der Unteroffizier soll nicht sehen, daß er noch wach ist. Hastig kramt der UvD seine Klamotten zusammen. Erst beim Verlassen des Zeltes merkt er, daß ein paar Leute fehlen. Er weiß genau, daß Paschen nicht schläft.
Er stößt ihn leicht mit dem Fuß an.
»Wo ist Panetzky?« fragt er, »und wo Schöller?« Er knipst seine Taschenlampe an und läßt sie schnell kreisen. »Und Stahl fehlt auch!«
»Die sind pinkeln«, erwidert Paschen.
»Alle drei gleichzeitig?«
Paschen wälzt sich mißmutig herum. »Verdammt, laß mich endlich schlafen«, knurrt er den Gruppenführer an, »wer weiß, wann wir wieder dazu kommen.«
Der UvD hat sofort begriffen, daß die drei Leute abgehauen sind. Daß Stahl dabei ist, wundert ihn. Der Professor ist ihm der liebste der Gruppe, vielleicht, weil er so jung und so hilflos und dabei doch so tapfer ist. Panetzky und Schöller ... er weiß genau, wo sie sind.
Er müßte jetzt Meldung machen, eine Streife losschicken. Tatbericht. Kriegsgericht. Alles ganz klar. Im ersten Impuls würde er es brennend gern tun ... sollen sie sich davontrollen, wann sie wollen, auch vor dem Einsatz – aber nicht, wenn der eigene Gruppenführer Unteroffizier vom Dienst ist.
Aber bevor er in seiner Baracke wieder seinen Posten einnimmt, weiß Hans Karsten, daß er nichts unternehmen wird. Unter Fallschirmjägern trägt man so etwas ganz anders aus. Der verwegene Haufen hat seine eigene Moral, seine eigene Disziplin. Ramcke, der sich vom Zwölfender bis zum Divisionskommandeur auswuchs, schärfte seinen Leuten ein:
»Ihr dürft alles ... ihr dürft euch nur nicht erwischen lassen!«
So wurde das verbotswidrige rote Halstuch zur Fahne, auf die die »grünen Teufel« eingeschworen waren. Es ging nicht so sehr um Hitler ... es ging um das rote Halstuch.
Hans Karsten zweifelte keine Sekunde, daß seine drei Leute rechtzeitig zurückkommen werden. Vielleicht betrunken. Vielleicht zum Umfallen müde. Aber sie werden da sein. Auch das gehört zum Ehrenkodex eines Fallschirmjägers.
Er setzt sich verdrossen auf seinen Stuhl und döst vor sich hin. Er fährt hoch, als ein Offizier eintritt. Der Kompaniechef. Hans Karsten bleibt in aufreizend lässiger Haltung stehen, als er seine Meldung macht.
»Stehen Sie nicht da wie ein verbogenes Fragezeichen!« fährt ihn der Bruder an.
»Gut, daß wir einmal allein sind«, versetzt der Unteroffizier kalt. »Ich will dir was sagen: Ich hab’ dich satt. Ich hab’ dich satt bis zum Hals heraus. Ich kann dich nicht mehr sehen ... Du hast mich angefordert in deine Kompanie, um mich zu schikanieren. Nur deswegen. Um den tollen Offizier rauszuhängen, den Scharfmacher, der seine verfluchten Kommißregeln am eigenen Bruder ausprobiert.«
»Halten Sie den Mund!« schreit der Oberleutnant. »Nehmen Sie Haltung an!«
Mechanisch strafft sich der Oberkörper des UvD, fahren die Hände an die Hosennaht. Nur der haßvolle Blick und die nach oben gezogenen Mundwinkel bleiben. Der Gesichtsausdruck läßt sich nicht befehlen. Auch Oberleutnant Karsten ist da machtlos. Der Kompaniechef tritt ans Fenster. Am Horizont zeigt sich das erste fahle Licht. Er sieht auf die Armbanduhr. Den Unteroffizier vergißt er ... so wie er längst vergaß, daß es sein Bruder ist. Langsam dreht er sich um. Die Narbe in seinem Gesicht leuchtet rot.
»Alles in Ordnung?« fragt er leichthin.
Jawohl, Herr Oberleutnant, müßte Hans Karsten jetzt sagen. Aber der Teufel reitet ihn. Er setzt sich auf den Stuhl, zündet sich eine Zigarette an.
»Ein Dreck ist in Ordnung«, beginnt er im Plauderton. »Drei Mann fehlen. Drei. Mann aus meiner Gruppe ... aus deiner Kompanie.«
»Und warum melden Sie das nicht? Stehen Sie auf! Wer fehlt?«
»Schöller, Panetzky und Stahl.«
»Puff, was?«
Der Unteroffizier strahlt vor Genugtuung.
Wieder schaut der Oberleutnant auf die Uhr
»Eine Stunde noch«, sagt er. »Mensch, wenn die nicht rechtzeitig zurückkommen, dann sind wir geplatzt.«
»Dann fallen Herr Oberleutnant mit seiner Musterkompanie auf«, äfft Hans Karsten den Tonfall seines Bruders nach.
Die beiden Brüder starren sich verbissen an.
»Wecken Sie drei von den Leuten, die nicht zum Einsatz eingeteilt sind! Sorgen Sie dafür, daß der Gefreite Männler dabei ist! Schreiben Sie die Meldung an das Bataillon! Geben Sie sie erst ab ... wenn unsere Kompanie in die Maschinen verladen wird und die drei nicht zurück sind.«
»Jawohl, Herr Oberleutnant«, erwidert Karsten.
Irgendwo ist er doch ein feiner Kerl, denkt er. Aber nur zu den anderen. Immer nur zu den anderen.
Der Oberleutnant geht mit großen Schritten im Barackenzimmer auf und ab. Plötzlich dreht er sich herum.
»Hör zu, Hans«, sagt er leise. »Lassen wir den Quatsch. Ich muß dich besonders hart anfassen. Du wirst selbst mal Offizier, und dann verstehst du mich vielleicht ... Hier ist ein Brief von zu Hause. Ich habe vergessen, ihn dir heute nachmittag zu geben.« Er legt ihn auf den Tisch des UvD.
»Bitte Herrn Oberleutnant, danken zu dürfen«, erwidert der Fahnenjunker gehässig.
»Morgen ist dein erster Einsatz ... das wird nicht schön. Ist bestimmt kein Vergnügen.« Verlegen betrachtet der Oberleutnant einen Augenblick seine Stiefelspitzen. »Ich wünsch’ dir alles Gute.« Seine Stimme ist rostig. »Hals- und Beinbruch!«
»Jawohl, Herr Oberleutnant«, brüllt der Unteroffizier und schlägt die Hacken zusammen.
Der Kompaniechef klopft seinem Bruder mit der Hand auf die Schulter, lächelt an ihm vorbei.
»Kindskopf«, sagt er. Dann verläßt er mit schnellen Schritten den Raum.
Plötzlich ist Hans Karsten nicht mehr müde. Ich bin ein Hanswurst, denkt er. Wenn Fritz schon einmal menschlich ist, dann muß ich ekelhaft sein.
Kurz vor zwei Uhr früh erinnerte sich der Obergefreite Schöller an Kreta. Er schob das Mädchen auf die Seite, kippte die halbvolle Flasche Schnaps unter den Tisch, stand auf und suchte die änderen. Der Professor wartete schon auf ihn. Panetzky schäkerte mit der kolossalen Mazedonierin. Schöller zerrte ihn aus dem Haus.
»Und jetzt?« fragte der Professor.
»Du Anfänger«, erwiderte Schöller. »Meinst du, wir gehn zu Fuß? Wir klauen uns ein Auto. Und dann hat sich’s.«
Sie hatten Glück, als sie die holprige Straße entlangtrotteten. Pinien hoben sich dunkel gegen den sternenbesäten Horizont ab. Irgendwo schrie ein Esel. In diesem Augenblick sahen sie die abgeblendeten Lichter eines Wagens wie Greisenfinger über die Straße zittern. Schöller sprang auf den Fahrdamm und winkte. Der Wagen hielt. So kamen die drei zum Flugplatz zurück.
Schöller und Panetzky schlichen sich unbemerkt in das Zelt. Stahl lief dem UvD in die Arme.
»Schade«, sagte Hans Karsten zu ihm, »schade. Von Ihnen hätte ich nicht erwartet, daß Sie so unkameradschaftlich sind und mich hängenlassen.«
Stahl hatte das Gefühl, daß sich ein Stein in seine Magengrube senkte. Er wollte etwas sagen, erklären. Aber der Unteroffizier ließ ihn stehen und wandte sich von ihm ab.
In diesem Augenblick gellte der Alarmpfiff über das Feld. Am 20. Mai 1941, früh um halb vier Uhr.
Die unerträgliche Spannung löst sich in allgemeinem Durcheinander auf. »An die Maschinen!« brüllt eine kalte, anonyme Stimme.
Im Osten glimmt ein schmaler rötlicher Streifen auf. Gegen diesen Lichtstreifen heben sich die Kolonnen der durcheinanderquirlenden Jäger gespenstisch ab.
Sie alle überragt ein aufrechter Schatten in einem offenen Kübelwagen: der Bataillonskommandeur. Als die Gruppen vor den Einsteigluken der JUs halten, glaubt er, noch etwas sagen zu müssen. Da dröhnen die ersten Motoren auf. Die Worte werden ihm in Fetzen vom Mund gerissen.
»Deutschland sieht mit Stolz auf euch!« heißt ein Satz.
Nur die Nächststehenden verstehen ihn. Und das macht nichts. Denn der Satz ist eine Lüge. Aber das wissen weder die Fallschirmjäger noch ihr Kommandeur.
Von ihrem jetzt beginnenden Unternehmen wird ganz Deutschland fast fünf Tage lang nichts erfahren. So lange wird der Bericht des Oberkommandos der Wehrmacht das große Sterben auf Kreta verschweigen. So lange werden Hitler, der den Einsatzbefehl gab, und Göring die Fallschirmjäger abschreiben. Sie schicken sie in die Hölle. Aber der größte Feldherr aller Zeiten möchte damit nichts zu tun haben, wenn sie die Hölle nicht erobern sollten. Wenn Kreta nicht fällt, hat das Unternehmen einfach nicht stattgefunden, auch wenn ein paar tausend Menschen dabei verheizt wurden.
Mit Klimmzügen ziehen sich die Fallschirmjäger an den Griffen in die Maschinen. Schwer bepackt, dicht hintereinander passieren sie die Hühnerleiter des Schicksals. Der Professor fühlt das Gewicht des Fallschirmsacks im Rücken. Es ist, als ob der Schirm ihn jetzt schön mit aller Macht wieder auf die Erde zöge. Der Obergefreite Schöller schlägt ihm mit der Faust ins Kreuz. »Nu los! Mach schön!«
Stahl gibt sich einen Ruck, dann steht er im dunklen Leib der ausgeräumten JU. Er atmet schwer. Die ganze Gruppe quillt nach, als letzter Unteroffizier Karsten.
Im ersten Augenblick stehen alle in der Maschine herum wie bestellt und nicht abgeholt. Sie wagen sich nicht zu bewegen. Alles ist auf einmal bleischwer, die Ausrüstung, die einschnürenden Gurte. Daß es der Einsatz selbst ist, der Druck des Bevorstehenden, der sie plötzlich lähmt, das gestehen sich die verwegenen Burschen nicht ein.
Über das Flugfeld braust ein einziger Ton. Wie in der Kirche, wie wenn dem Organisten die tiefste Taste seiner Orgel steckenblieb. Maschine auf Maschine springt an, speit Kaskaden schwarzer Qualmwolken über das Feld, dann kreisen die Propeller.
Zwischen den Flugzeugen jonglieren motorisierte Feldküchen. Es gibt Kaffee mit Schnaps. Die Jäger drängen sich in die offenen Türen, strecken ihre Kochgeschirre heraus. Ihre ausgestreckten Arme sehen aus, als griffen sie das letztemal zurück nach einem sicheren Halt.
Der Spieß reißt Witze, sprudelt Banalitäten aus.
»Macht’s gut!« schreit er. Längst hat er selbst den Knochensack angelegt. Die Männer seiner Kompanie feixen mit eingerosteten Gesichtern.
»Warum springt unser Schlitten nicht an? Verdammt noch mal!« brüllt Schöller plötzlich.
Die Besatzung der Dreimotorigen murkst fluchend in der Kanzel herum.
Der Professor fühlt, daß sein Herz noch stärker schlägt. Er faßt eine unsinnige Hoffnung. Er, der sich genau wie die anderen auf den Einsatz freute, hofft plötzlich: Vielleicht ... vielleicht ... bleiben wir hier ... vielleicht fliegen wir nicht nach Kreta ... vielleicht fällt der Einsatz für uns aus.
Aber Paschen begreift als erster, was los ist. Er steht vierschrötig und breit in der Kanzeltür.
»Die ganze Nacht über hat die Bordbeleuchtung gebrannt«, sagt er mit seiner tiefen Stimme.
Der Pilot versteht sofort. Natürlich, die Batterien sind leer! Er schnappt sich den nächsten Wagen, rast zurück zu den Hangars, bringt neue Akkus, brüllt das Bodenpersonal an, das den Einbau zu langsam vornimmt. Mit einer Viertelstunde Verspätung ist die Gruppe Karsten startbereit.
»Na also«, sagt Schöller.
»Glückliche Reise«, lallt Panetzky.
Unteroffizier Karsten erwidert nichts. Der Professor neben ihm auch nicht. Jeder hat seine eigenen Gedanken, und die Gedanken sind nicht ganz so mutig wie die Zungen. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Kein billiges Aussteigen, weil der Strom fahrlässig verbraucht wurde ...
Und jetzt passiert die erste Panne.
Der Massenstart platzt!
Die Rechnung der Luftwaffe wurde ohne den Sand gemacht. Keiner hat an den Staub gedacht, der nach dem Start der Flugzeuge auf den versandeten Rollbahnen minutenlang in der Luft hängt.
Schon nach dem Abflug der ersten drei Maschinen steigt eine riesige Dreckwolke auf, die jeden anderen Start für lange Minuten stoppt. Über dem E-Hafen herrscht die Finsternis eines Sandsturms. Auf den anderen Einsatzhäfen rings um Athen das gleiche Bild. Überall Sand, überall Abwarten, bis er sich gelegt hat. Verspätung auf Verspätung.
Die Vernunft bläst zum Rückzug – aber der Befehl lautet anders.
Der Sand war nicht der einzige Faktor, den man beim Unternehmen Kreta vergessen hatte. Dutzende von Pannen sind mit barem Blut zu bezahlen. Dabei aber kann der Einsatz nur klappen, wenn die Präzision der Stoppuhr nicht versagt. Auf Sekunden kommt es. bei einem massierten Fallschirmjägereinsatz an. Nicht auf Minuten oder gar Stunden. Denn das Tageslicht wird immer stärker. Die Soldaten der Luft haben im Morgengrauen, im Dämmerlicht vom Himmel zu fallen, die Waffe in der Hand, den Finger am Abzug, den Blick am Boden, die Füße leicht angezogen, den Rücken gekrümmt, das Herz abgeschaltet, die Gedanken auch. Ihr Körper ist Ziel, Ziel für den Feind, ein Sack, der unter einer Wolke weißer Seide in der Luft baumelt ... falls sich der Fallschirm geöffnet hat.
Und so heulen die Motoren. Und so ziehen die Maschinen im Tiefflug über das Meer. Richtung Kreta. Hunderte von Maschinen, mit Tausenden von Menschen an Bord, die zu einem der verwegensten Abenteuer des Zweiten Weltkriegs starten.
Schwerfällig hebt sich die JU 52 der Gruppe Karsten – die zuletzt startende Maschine der Kompanie Karsten – vom Boden, löst sich aus der aufgewirbelten Sandwolke und geht auf Kurs Kreta. Gleißend und strahlend bricht plötzlich die aufgehende Sonne durch die ausgehängte Tür in den Rumpf der Dreimotorigen. Eng nebeneinander sitzen die Männer am Boden. Unter ihnen liegt die Küste Griechenlands. Dann öffnet sich das goldübergossene Mittelmeer. Die blutjungen Fallschirmjäger sind überwältigt von dem Blick, der sich ihnen bietet.
Ist das schön, denkt Unteroffizier Hans Karsten. Paschens Lippen bewegen sich lautlos. Niemand kann verstehen, was er sagt. Er flucht, weil er auf einmal weich wird, weil er plötzlich mit diesem Scheißkrieg nichts mehr zu tun haben will ... wenigstens nicht an diesem Morgen.
Dann kurven die anderen Maschinen ein, sammeln sich in vorher bestimmten Lufträumen, sammeln sich verspätet. Ganze Geschwader von JUs tauchen am Himmel auf, formieren sich wie ein Schwarm langsamer Störche.
An den offenen Türen stehen die Fallschirmjäger, winken sich zu, lachen wie die Kinder. Bisher haben sie noch nie von Flugzeug zu Flugzeug ihre Faxen gemacht. Aber bei diesem blauen Himmel, bei diesem strahlenden Wetter, bei dieser herrlichen Sicht, die für sie tödlich sein kann, tödlich sein muß, fühlen sie sich in dieser Minute noch wie bei einer Sonntagspartie im offenen Auto.
Oberleutnant Karsten starrt auf einen Zettel mit einer Skizze. Hier wird seine Kompanie abspringen. In eineinhalb Stunden. Mit Hilfe der trockenen Kartenzeichen versucht der junge, in Dutzenden von Einsätzen bewährte Offizier, sich das Gelände vorzustellen. Er steckt den Zettel wieder weg und stiert eine Weile vor sich hin.
Dann geht er vorsichtig in der leicht schwankenden Maschine auf Leutnant Petri zu.
»Du weißt Bescheid«, sagt er.
Der Zugführer nickt.
»Mach’s nicht zu sanft ... Du darfst mir schon einen ordentlichen Stoß geben. Aber es braucht’s keiner zu sehen.«
»Ist schon gut«, erwidert Petri. Er ist blaß. Noch deutlicher sieht man dadurch die dunklen Sommersprossen in seinem Gesicht. »Hast du Karins Adresse noch?« fragt er den Kompaniechef.
»Heute abend gebe ich sie dir zurück«, entgegnet Fritz Karsten lachend. Er dreht sich zu seinen Leuten um. »Na, Kinder, ist das ein Wetter, was? Wenn Engel reisen, lacht der Himmel!«
»Jawohl, Herr Oberleutnant«, brüllen sie im Chor.
Woher haben sie diese Kaltblütigkeit? Diese Nerven? Diesen barbarischen Mut? Viele sind miteinander befreundet. Alle aber sind sie Kameraden im besten Sinn dieses mißbrauchten Wortes. Der Krieg wird ihnen noch Gelegenheit geben, ihren Mut zu beweisen. Er wird sie zerfetzen, vernichten. Sie werden im heißen Staub verbluten oder in Schneewüsten erfrieren. Sie werden an den Bäumen hängen mit Bauchschüssen, bis sie verdorren, bis ihre jungen Gesichter zu großen schwarzen Fladen auflaufen.
Auf einmal neigt sich die JU auf die Seite. Sie zieht einen weiten Bogen. Der Kurs wird geändert. Der Oberleutnant wirft einen Blick durch die offene Türe. Der ganze Verband schwenkt mit. Die Tür zur Kanzel wird aufgestoßen. Der Pilot winkt den Oberleutnant mit einer Kopfbewegung zu sich. Karsten betritt die Kanzel. Sie vibriert.
»Wir müssen anders anfliegen!« schreit der Pilot.
»Warum?« fragt der Oberleutnant zurück.
»Die Tommies haben an der Nordküste ihre ganze Marine zusammengezogen ... Wir kommen nicht durch im Direktflug ... Gibt zu viel Flakzauber.«
Der Funker reicht dem Offizier die Meldung, die eben von der Bodenstation in Griechenland durchgegeben wurde.
»Scheiße«, sagt der Oberleutnant. »Es ist immer faul, wenn der ursprüngliche Plan in letzter Minute geändert werden muß.«
Der Pilot lacht bloß.
»Können sich drauf verlassen, Herr Oberleutnant«, schreit er, »wir kommen trotzdem an der richtigen Stelle raus. Und früh genug ...«
Aber das stimmt nicht! Die verlorene Zeit ist nicht mehr einzuholen. Es sind zwei Stunden ... 120 Minuten, die das Morgengrauen in hellen Tag verwandelten ... 7200 Sekunden, die den Unterschied zwischen Leben und Sterben bedeuten können und für viele bedeuten werden.
Die Maschinen verlieren Höhe. So jäh, daß die Fallschirmjäger nach den Griffen langen. Bis auf fünfzig Meter gehen sie runter.
Schöner Mist, denkt Oberleutnant Karsten. Kein Jagdschutz, und sicher haben die Flugzeugführer gerade eine Warnung vor den »Spitfires« erhalten.
Es geht ganz schnell. Plötzlich trägt das Meer Schaumkronen. Brandung. – Im nächsten Moment sehen die Männer Land unter sich – scheinbar aus Senf, so gelb ist es. Gelb und verbrannt, sandig und verdorrt.
»Kreta«, ruft Karsten. Er schreit es noch einmal in die Maschine hinein.
Die Männer rappeln sich hoch, starren hinunter – auf das Land, das sich in wenigen Minuten in ein Schlachtfeld verwandeln wird. Sand, nichts als Sand, Steine und wieder Steine, Hügelwellen rauf, Hügelwellen runter. Das Transportgeschwader macht Sätze, Sprünge ... dann ein dürrer, magerer Olivenhain ... danach das Gemäuer eines halbverfallenen Brunnens.
»Gut für die Kakteenzucht«, sagt Leutnant Petri.
Plötzlich knallt es an allen Ecken und Enden. Die Männer werfen sich auf den Flugzeugboden. Es klatscht kurz und trocken. Es surrt. Glas klirrt. Man hört es deutlich trotz des Motorenlärms. Die JU neigt sich über die Tragfläche. Leuchtspurmunition. Es knattert wie blödsinnig. Es hört sich an, als ob dumme Jungen Kieselsteine gegen die Metallwand werfen würden.
Und ganz plötzlich ist es vorbei. Die JU richtet sich wieder auf, kommt aus dem Feuerzauber heraus.
»Das hält unser Schlitten aus bis ans Ende der Welt«, brüllt Karsten, als hätte er die JU 52 erfunden.
Dann geht’s wieder los. Je weiter sich die Welle der dröhnenden Transportmaschinen über die Insel dahinwälzt, desto wütender wird die Flakabwehr. Die Tommies schießen mit allem, sogar mit MGs und Karabinern.
»Die sind schon längst aufgewacht«, sagt einer der Männer mit verkrampftem Lächeln.
Verrat, denkt der Kompaniechef. Verrat wie immer ...
Die JU am linken Flügel trudelt mit brennenden Motoren in die Tiefe. Der Druck im Inneren der abstürzenden Maschine ist so stark, daß es den Fallschirmjägern nicht mehr gelingt, auszusteigen. Nur ein dunkler Punkt löst sich: Einer kommt heraus. Aber sein Schirm geht nicht auf. Der dunkle Punkt klatscht in den gelben Sand, bleibt breit und schwarz liegen wie vom unsichtbaren Daumen des Schicksals festgedrückt.
»Fertigmachen!« brüllt eine Stimme.
Kompaniechef Fritz Karsten steht in der Türe. Dicht hinter ihm die anderen, nach denen er sich noch einmal umdreht. Er nickt. Ein Stoß, vier, fünf Sekunden ... da öffnet sich der Fallschirm. Die andern folgen ohne Zögern, Klinger, Geibel, Stoß, Renner. Sie alle springen aus hundert Meter Höhe ab. Alle, bis auf einen, auf Leutnant Petri.
Er wird den Boden Kretas nie betreten.
Mit der letzten Maschine, 300 Meter hinter dem Gros, erreicht die Gruppe Karsten die Absprungstelle. Der Beobachter winkt.
»Es ist soweit«, sagt Unteroffizier Karsten.
Das Achtungsignal ist gegeben. Stahl, der Professor, starrt auf den Boden. Er hat einen Bleiklumpen im Magen. Der Klumpen zieht und zieht, bis seine Knie zittern. Der Gefreite steht auf und macht den Schnapphaken fest. Zweimal greift er daneben. Schöller sieht es und nimmt ihm das Ding aus der Hand. Zwei Minuten vielleicht noch, denkt Stahl verbissen. Die Gedanken wirbeln in seinem Kopf durcheinander. Er fühlt sich in ein Geschehen verwickelt, mit dem er nichts zu tun hat. In das er verstrickt ist, ohne daran etwas ändern zu können. Hätte ich mich nie freiwillig gemeldet, denkt er ... jetzt ist die Hinrichtung. Er sieht, wie sich Paschen an der Türe postiert. Der bullige Mecklenburger ist der Absetzer der Gruppe. Er springt als letzter, weil er dafür zu sorgen hat, daß die anderen vor ihm schnell und reibungslos die Maschine verlassen.
Hinrichtung also ... und Paschen ist der Henker. Durch seine Hände muß man hindurch. Ob man will oder nicht. Im Notfall macht er’s auch mit Gewalt. Und in dieser Sekunde haßt Stahl den Absetzer Paschen, den er sonst so gern mag.
Da ist die Sirene. Sie heult nicht. Sie pfeift nicht. Sie knarrt. Es ist ein häßliches, quäkendes, verzerrtes Geräusch. Es ist die Tüte eines Harlekins, der die Maskierten beim Karneval erschrecken will.
Das Tempo, in dem sich jetzt alles überschlägt, erspart dem kleinen Stahl das bewußte Begreifen. Die Gruppe steht in einer Reihe, dicht aneinandergedrängt, Mann hinter Mann. Zwischen den roten Kreisen vor seinen Augen bemerkt der Professor plötzlich, wie der Unteroffizier Karsten die Hände weit voraus ins Leere streckt. Dann ist Karsten fort ... und die nächsten Hände ... die nächsten Hände ... die nächsten Hände ...
Jetzt steht der Professor in der Tür. Der Fahrtwind verschlägt ihm den Atem. Ein Olivenhain rast unter ihm weg ... Ein Feld, wie ein Spargelacker zu Hause in der Mark Brandenburg ... und dann Zelte, viele olivgrüne Zelte ...
Stahl greift ins Leere. Springt aus eigenem Entschluß. Paschen schreit ihm etwas nach. Die Stimme dröhnt ihm noch in den Ohren. Er gleitet nach unten.
Der Olivenhain, das Feld, die Zelte taumeln übereinander, ineinander, übereinander, ineinander.
In weiten Schwingungen pendelt der Fallschirm des Kompaniechefs aus. Fritz Karsten ist den ungeheuren Druck los, der sich jedesmal beim Absprung auf ihn legt. Er hat es hinter sich. Der gute, brave Petri hat ihm rechtzeitig den Tritt gegeben, wie immer bisher, wenn der innere »Schweinehund« in ihm rumorte. Fritz Karsten ist frei. Innerlich frei. Jetzt ist er wieder der normale, überlegene Oberleutnant, der die Angst nicht kennt, den Kampf nicht scheut, das Sterben nicht furchtet.
Er beobachtet den Absprung seiner Leute. Großartige Burschen, schießt es ihm durch den Kopf. Die scheckigen Tupfen der Fallschirme blühen nebeneinander auf wie die Blumen eines enggebundenen Sommerstraußes.
Er sieht nach unten. Die Zelte!
Soldaten rennen durcheinander. Gestalten in Khakihemden. Noch sechzig Meter bis zur Erde!
Da knallt es dünn und meckernd von unten herauf.
»Schweinebande!« brüllt Karsten. Sein Gesicht ist verzerrt, als ob er lachen würde. Er bringt die Maschinenpistole, die er eng an den Körper geklemmt hielt, in Anschlag. Das macht ihm keiner nach. Er pfeift auf die Landung. Er knallt den ersten Feuerstoß in die Tiefe. Mitten hinein in die olivgrüne Leinwand, um die khakifarbene Gestalten tanzen.
Einer der Khakimänner winkt nach oben.
»Warte«, schreit Karsten, »ich bin gleich da.«
Er drückt die MP an sich, stößt mit den Beinen auf den Boden, kommt auf, kommt blendend auf. Abrollen, aufstehen, die Gurte vom Schirm reißen. Eine einzige Bewegung. Schwein gehabt!
Karsten preßt sich auf den Sandboden in der Mitte eines freien Platzes, umgeben von Zelten.
Es geht blitzschnell. Die Burschen laufen auf ihn zu. Zwei ... drei ... vier ... fünf ... acht.
Der Oberleutnant sieht keine Waffen. Die wollen mich mit der Hand greifen, die Affen, denkt der Kompaniechef. Ich werd’s euch versalzen!
Er steht auf, breitbeinig, die Maschinenpistole an der Hüfte.
Die Tommies schreien wie verrückt. Er versteht sie nicht. Sein Zeigefinger hat sich durchgekrümmt, scheppernd rasselt der Feuerstoß aus dem Magazin. Karsten bedient die Maschinenpistole, als sei er mit ihr aufgewachsen. Körpermitte zielen! Denn der Lauf flattert nach oben. Und dann eisern das Magazin festhalten, nach unten drücken ... das gibt die saubersten Kopfschüsse.
Keine Kunst. Der erste Tommy ist noch zehn Meter von ihm entfernt. Der ganze Feuerstoß platzt ihm ins Gesicht. Nicht ein Schuß geht daneben ...
Der Mann stürzt zu Boden mit einem über und über roten Kopf, als ob er sich zu Tode schämte.
Nächster Feuerstoß. Der Lauf schwingt wie eine Sense. Zehn Sekunden hat der Kompaniechef Luft.
Eierhandgranaten. Abziehen. Werfen.
Neue Tommies quellen aus den Zelten. Karsten zählt mechanisch. Es sind schon mehr als zwanzig.
Er wirft wieder eine Eierhandgranate. Das gefährliche Ding mit dem Würfelmuster detoniert mit einem höllischen Knall direkt vor dem Zelt. Der Oberleutnant wirft sich hin. Der helle Blitz blendet seine Augen. Im Fallen hat er schon die Öse des nächsten Eies zwischen Daumen und Mittelfinger. Das Zelt bläht sich auf, als ob es an einer Regatta teilnehmen wollte. Die Soldaten, die herausdrängen, schlichten sich gleich von selbst auf zu Verwundeten, Sterbenden, Toten.
Der Oberleutnant ist nicht mehr allein. Seine Leute sind aufgekommen. Vier, fünf, acht. Die Zelte stürzen zusammen. Über dem Lager steht eine dichte Wolke aus Qualm, Staub und Dreck. Da kommt ein Mann mit einem weißen Tuch auf den Kompaniechef zu. Er schwenkt es wie irrsinnig mit beiden Händen. Sie scheinen flehend gefaltet.
Um so besser, denkt Karsten. Sollen sie sich ergeben, die Tommies. Sparen wir Munition.
Der Uniformierte taumelt die letzten Meter Karsten entgegen. Und dann versteht der Kompaniechef entsetzt, was er nicht fassen, was er nicht glauben kann.
»Wirrr«, keucht der Mann, »wirrrr ... wirrr ... alle Italiani ... Italiani ... Siami tutti ltaliani.«
Karsten schluckt trocken. Dann brüllt er los:
»Feuer einstellen! Feuer einstellen! Abbrechen!« Sein Befehl gellt über den Platz.
Der Oberleutnant hetzt davon, erwischt den Obergefreiten Paschen, der gerade eine Eierhandgranate werfen will.
Zu spät, sie ist schon abgezogen. Paschen zuckt nur die Schultern. Dann haut er das Ding wahllos in die Gegend. Genau neben vier flüchtende Italiener.
Noch immer können die Fallschirmjäger nicht begreifen, wie es zu dieser Panne gekommen ist. Wieder einmal hat die deutsche Abwehr versagt, hat nicht gemeldet, daß die Engländer zufällig vor ein paar Tagen den Zeltplatz räumten und hier italienische Kriegsgefangene einquartierten. In letzter Sekunde wurde diese Umstellung bekannt, zu spät für die Kompanie Karsten, früh genug für die anderen Einheiten, die wie Heuschrecken vom Himmel fallen. Gerade als sie abgesetzt werden sollten, erreichte sie die Funkmeldung.
»Ihr Scheißkerle!« brüllt Karsten den Italiener an. »Könnt ihr nicht früher eure weißen Rotzfahnen zeigen? Ihr seid selbst schuld ...«
»Villen Dank, villen Dank, Kamerad«, stottert der italienische Soldat immer wieder.
Jetzt prasseln bloß noch die Flammen des brennenden Lagers. Dann aber geht’s los. Es knallt und blitzt von allen Seiten. Das ist echter Gefechtslärm, kein versehentlicher Verbündetenmord.
»Los, ab!« schreit Karsten. »Jetzt fängt der Zauber an! Ihr drei geht hier in das Loch, die andern rechts. Munition sparen! Nur gezielt schießen!«
Zwanzig Meter vor dem Kompaniechef krepiert eine Granate. Die Splitter surren über ihn hinweg. Schöne Bescherung, überlegt er ... unser Generalstab und die Italiener, die werden noch zusammen den Krieg gewinnen.
Leutnant Petri hatte durch das Flakfeuer hindurchgesehen, ohne es zu bemerken. Er dachte an Karin. Er hatte nicht eine Spur von Angst, trotz der fürchterlichen Ahnung, die ihn nicht losließ. Als ihm Karsten zugenickt hatte, stand er auf, achtete darauf, daß die Jäger ihre Schnapphaken ordentlich bedienten. Bei der Ausbildung kam es mitunter vor, daß einer vergaß, die Leine in der Maschine zu befestigen.