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Tirol, 1943–1945: dramatische Jahre in der Abgeschiedenheit eines Alpentals Ein Deserteurslager in einem engen, schwer zugänglichen Seitental in Tirol in den letzten zwei Jahren des Zweiten Weltkrieges: Im sogenannten "Vomperloch" harrt eine Gruppe geflohener Wehrmachtssoldaten unter harschen Bedingungen und geplagt von der steten Angst vor dem Entdecktwerden bis zum Kriegsende aus. Um das Schicksal jener Menschen sichtbar zu machen, lässt Mitterer in der Abgeschiedenheit dieser kargen Landschaft Menschen mit großen Gegensätzen aufeinandertreffen: der SS-Mann, der Landarbeiter, der Priester, der Kommunist, der polnische Zwangsarbeiter und die Jungbäuerin, die mit dem Polen eine Liebschaft hat. Erst gefeierte "Partisanen", dann geächtete "Deserteure" Im Widerstandsnarrativ waren Deserteure mitunter noch als Partisanen im Kampf gegen das Hitler-Regime gefeiert worden. Im Laufe der Zeit überwog jedoch wieder das Stigma der Desertion. Das Stück gibt all jenen eine Stimme, die bis heute – meist vergeblich – auf ihre Rehabilitierung warten. Felix Mitterer widmet sich den Außenseitern und Einzelgängern Mitterers Blick gilt wie so oft den Außenseitern, den sozial Randständigen und jenen, die den Mut aufbringen, gegen den Strom zu schwimmen. Wer, wenn nicht er, kann die Geschichte der Deserteure vom Vomperloch - und damit aller damaligen, heutigen und zukünftigen "Fahnenflüchtigen" - erzählen.
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Seitenzahl: 89
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Felix Mitterer
Vomperloch
Ein Deserteursstück
Vor zwei Jahren fragte mich Thomas Krauß, Schauspieldirektor des Tiroler Landestheaters Innsbruck, ob ich nicht für die Eröffnung der neuen Kammerspiele eine Uraufführung schreiben wolle.
Freilich, gern, wäre mir eine Ehre und Freude. Müsse aber noch über ein Thema nachdenken. Das hatte mir allerdings der Schauspieldirektor schon abgenommen und präsentierte zwei Vorschläge.
Zum einen den Wipptaler Kleinbauern Max Bair, der 1938 seine drei Kühe verkaufte und auf Seiten der Internationalen Brigaden am Spanischen Bürgerkrieg teilnahm. Der „rasende“ Reporter Egon Erwin Kisch schrieb eine Erzählung über ihn, sonst wüssten wir gar nichts mehr über Max Bair und seinen ungewöhnlichen Lebensweg.
Zum anderen die Deserteure im „Vomperloch“, einem entlegenen Hochtal im Karwendelgebirge, wo sich Bauernburschen versteckten, die nicht oder nicht mehr am Morden des Zweiten Weltkrieges teilnehmen wollten.
Getreu dem utopischen 68er-Motto: „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“, war ich natürlich sofort für das Deserteursthema. Denn leider gingen immer fast alle hin, nicht aus Begeisterung, sondern „weil man eben musste“. Ein paar wenige – wie der oberösterreichische Bauer Franz Jägerstätter – verweigerten den Kriegsdienst und wurden hingerichtet. Die Masse lief mit, wie immer, wer kann es ihr verdenken? (Hätte ich anders gehandelt?)
Ich begann zu recherchieren. Und kam schließlich zur Ansicht, alle Arten von Deserteuren zeigen zu müssen, nicht nur Bauernsöhne. Meine Aufgabe war es, die verschiedensten Menschentypen zusammenzuführen, mit ganz unterschiedlichen Hintergründen und Motiven sowie persönlichen und politischen Ausrichtungen. So gibt es in meinem Stück einen Ex-Nazi (Bauernsohn), einen Kommunisten (Eisenbahner), einen „Selbstverstümmler“ (Landarbeiter), einen Priester sowie eine Jungbäuerin, deren Liebesbeziehung zu einem polnischen Zwangsarbeiter entdeckt wird, weshalb die beiden ebenfalls in das Versteck flüchten.
Abgesehen davon, dass ich natürlich mir bekannt gewordene Erlebnisse der Deserteure im Karwendel in das Stück einbaute, ist das „Vomperloch“ nun eigentlich ein Synonym geworden für alle Verstecke, in die sich Deserteure im gesamten „Reichsgebiet“ geflüchtet hatten.
Dass 73 Jahre nach Kriegsende in den Dörfern immer noch Zwiespalt, Misstrauen und Abneigung herrschen zwischen den Nachkommen der bis zum Ende kämpfenden Soldaten und denen der Deserteure, ist eine deprimierende Angelegenheit.
Dass in Österreich erst 2009 die – längst verstorbenen – Deserteure vom Parlament rehabilitiert wurden, erscheint mir ebenso deprimierend.
Für mich ist jeder Deserteur, der nicht den Feind erschießen geht, ein Held. Und ist dennoch verachtet seit der Antike bis ans Ende der Menschheit.
Deshalb musste ich dieses Stück schreiben.
Felix Mitterer
Franz, Bauernsohn (SS-Mann)
Erich, Landarbeiter (Selbstverstümmler)
David, Priester
Hans, Eisenbahner (Kommunist)
Martha, Jungbäuerin
Jan, polnischer Zwangsarbeiter
Bühne:
Felsen und Bäume. Notdürftig ausgebaute Höhle in Felsen. Tarnnetz und Gebüsch davor. Man sieht die Höhle nie wirklich.
Oder: Getarnte Hütte aus Lattenwerk zwischen den Bäumen. Auch hier spielt die Handlung davor im Freien.
Erich kommt eilig mit Hut und in schäbiger Kleidung von unten, gefüllter Rucksack am Rücken, die rechte Hand mit einem schmutzigen und blutigen Verband verbunden, Daumen und kleiner Finger schauen heraus. Erich vergewissert sich immer wieder, ob ihn nicht jemand verfolgt. Er bleibt stehen, sieht die Höhle nicht, dreht sich wieder talwärts um. Plötzlich tritt aus einem Versteck Franz hervor. Er trägt schwarze SS-Uniform samt Mütze mit Totenkopf, aber eine normale dunkle Hose und Bergschuhe. Um den Hals an einem Band das Eiserne Kreuz 1. Klasse. Außerdem hat er ein Fernglas umhängen. Er legt seine Pistole auf Erich an. Dieser fühlt etwas, erschrickt sehr.
Franz: Hände hoch und langsam umdrehen.
Erich dreht sich langsam um, sieht entsetzt den SS-Mann.
Franz: Meldung! Wird’s bald?!
Erich:(nimmt Haltung an, legt die linke Hand an die Hosennaht, salutiert mit der verbundenen Hand) Schütze Leimgruber Erich, auf Heimaturlaub.
Franz: Hände hoch, hab ich gsagt!
Erich tut wie befohlen.
Franz: Was is mit deiner Hand?
Erich: Unfall!
Franz: Was für ein Unfall?
Erich: Kreissäg. Drei Finger weg.
Franz: Der Zeigefinger auch weg?
Erich: Jawoll, Herr Scharführer!
Franz: Is aber blöd, oder? (Macht mit dem linken Zeigefinger das Zeichen des Abdrückens.)
Erich: Jawoll, Herr Scharführer!
Franz: Hältst du mich für einen Idioten?
Erich:(will die Hände wieder an die Hosennaht legen, besinnt sich, nimmt sie hoch) Nein, Herr Scharführer!
Franz: Doch, du hältst mich für einen Idioten.
Erich: Nein, Herr Scharführer! Würde ich mir nie erlauben!
Franz: Du weißt doch, wie man des nennt, Schütze Leimgruber.
Erich: Ich versteh Sie nicht, Herr Scharführer. Verzeihung!
Franz: Selbstverstümmelung!
Erich: Es war aber ein Unfall, Herr Scharführer! Ich hab unten für mein Bauern an der Säg –
Franz: Selbstverstümmelung nennt man des! Oder?
Erich schweigt verzweifelt.
Franz: Oder?
Erich antwortet nicht.
Franz:(reckt die Pistole vor) Du sagst mir jetzt die Wahrheit oder ich knall dich ab.
Erich ist verzweifelt, antwortet nicht.
Franz tritt näher, setzt ihm die Pistole an die Stirn.
Franz: Ich zähl bis drei. Eins, zwei –
Erich: Ja! Selbstverstümmelung! (Verzweifelt:) Ich mag nimmer!
Franz schaut ihn lange an, nimmt dann plötzlich die Pistole weg, geht zur Höhle, hängt Mütze auf, zieht den SS-Rock aus und hängt ihn auf, steckt die Pistole hinter den Gürtel, schiebt das Gebüsch und das Tarnnetz zurück, verschwindet. Erich schaut ihm nach, schaut sich gehetzt um, läuft talwärts davon. Franz kommt wieder aus der Höhle, die Pistole nach wie vor hinter den Gürtel gesteckt. Er hält eine Schnapsflasche und zwei Blechhäferl in der Hand.
Franz: He!
Erich bleibt sofort stehen, nimmt die Hände hoch.
Franz:(Befehlston) Herkommen!
Erich dreht sich um, schaut erstaunt, weil Franz seine Uniform nicht mehr trägt und seine Pistole nicht mehr auf ihn anlegt.
Franz:(schenkt Schnaps in die Häferl ein) Jetzt komm schon!
Erich kommt langsam her, immer noch die Hände erhoben, Franz reicht ihm ein Häferl hin, Erich nimmt es zögernd und erstaunt. Franz stößt mit ihm an, hebt sein Häferl, trinkt es aus. Erich trinkt es nun auch aus.
Franz: Willkommen im Vomperloch, Schütze Leimgruber Erich. Ich bin der Franz.
Er reicht Erich die rechte Hand hin, Erich nimmt sie mit der linken.
Franz: Hab ich dir an Schreck eingjagt, was?
Erich kann es immer noch nicht fassen.
Franz: Tut mir leid, aber du könntest ja auch a Spitzel sein, oder?
Erich: Ich bin doch kein Spitzel!
Franz:(schaut nach unten) Is dir eh keiner nachgangen?
Erich: Bestimmt nit. Was glaubst, wie oft ich mich umdreht hab? Und immer wieder hinter an Baum, und a Weile gwartet. Ich kenn mich aus; war oft genug wildern. Ich bin so scheu wie a Rehbock.
Franz: A Rehbock schneidet sich nit freiwillig an Lauf ab. Trottel.
Erich: Aber der Fuchs beißt sich a Pfoten ab, wenn er aus der Fallen nimmer aussakommt.
Franz schenkt ihm und sich nach. Sie trinken.
Erich: Ma, bin ich froh! Ich hab glaubt, du bist echt und knallst mich ab!
Franz: Ich bin echt.
Erich: (deutet auf das Eiserne Kreuz) Des EK Eins auch?
Franz: Ja, was glaubst? Beim Geschirrwaschen hab ich das nit kriegt. – Hast a Zigaretten?
Erich holt Zigaretten hervor, beide nehmen sich eine, Franz nimmt Erich die ganze Packung weg, steckt sie ein, Erich holt Zünder hervor, zündet beiden die Zigarette an, sie rauchen. Franz nimmt ihm die Zünder weg.
Franz: (schüttelt die Schachtel) Sind mir ausgangen. Hab ich nix mehr kochen können.
Erich: Is des nit gfährlich? Wegen dem Rauch, mein ich. Wo Rauch is, is a Feuer.
Franz: Ich nehm nur Birkenholz, des raucht am wenigsten. Aber ich mach eh nur in der Nacht Feuer, im Steinofen. Oder bei Nebel. Und wenn’s stürmt und schneit, kommt da sowieso keiner herauf.
Er setzt sich, Erich nimmt den Rucksack ab, setzt sich ebenfalls, nimmt Feldflasche vom Rucksack, trinkt durstig Wasser daraus.
Franz: Hast was zum Essen mit?
Erich: (deutet auf den Rucksack) Ja, freilich. Von dein Vater. Speck, Käs und Brot. Würscht.
Franz: (misstrauisch) Du hast mein Vater troffen? Wo denn?
Erich: Bei dem Marterl. Im Wald, obern Hof. Er hat mir den Weg beschrieben, da herauf.
Franz öffnet den Rucksack, schaut hinein.
Franz: Is er schon wieder frei?
Erich: Wieso frei?
Franz: Sie haben ihm a ganzes Jahr geben. Wegen Schwarzschlachtung. Und 50 Kilo Butter soll er nit abgliefert haben. Noch einmal drei Monat.
Erich: Ich hab ihn bei dem Marterl troffen! Wie’s mir der Förster angschafft hat.
Franz: Ausgang wird er haben. Des ham s’ ihm ’s letzte Mal auch schon genehmigt. Is ja kein Mann mehr am Hof.
Erich: Ich hab aber einen gsehn. Der hat gmäht, um fünfe in der Früh.
Franz: Des is der Pollack. Fremdarbeiter. Der richtet ja nix aus. – Hat der Vater was von mein Bruder erzählt, vom Toni?
Erich: Der is auf Kreta, soll ich dir sagen. Er hat gschrieben. Es geht ihm gut soweit.
Franz: Alles besser wie die Ostfront. Zwei von meine Brüder sind dort schon gfallen, weißt. – Die Mutter hat ja recht ghabt. Nit einrücken! Gehts alle in die Berg! Aber wer will schon a Feigling sein? A Kameradenschwein? – Sag, wo bist’n du her, ich kenn dich nit.
Erich: (deutet) Von da drüben, von der andern Seiten. Weerberg. Knecht war ich. Bei die Bauern im Mittelgebirge. Bis nach Rinn hinauf.
Franz: Wem ghörst’n? Wer dein Vater is, will ich wissen.
Erich: Den kenn ich nit. Ich bin a ledigs Kind. Die Mutter a Stalldirn.
Franz: (verächtlich) Keine Stalldirn ohne ledigen Gschrappen. Was?
Erich: Meistens eh vom Bauern. Oder?
Franz: Sei nit frech.
Franz holt sich geräucherte Wurst aus dem Rucksack, zieht sein Stichmesser, schneidet sich Stücke ab, isst, aber kaut nur auf einer Seite, weil er auf der anderen Seite einen entzündeten Zahn hat.
Franz: Ich darf mich eigentlich nit erheben über dich. Ich muss genauso als Knecht gehen, wenn der Krieg aus is. Mein Vater hat dem Toni den Hof übergeben, er is der Zweitälteste. Weil ich bin schon Ende 34 abghaut nach Bayern, zur Österreichischen Legion. Ich war a begeisterter Nazi, weißt. Und mein Vater bei der Vaterländischen Front, der schwarze Kerzlschlucker. Hat er mir den Hof weggnommen. Aber wenn der Toni auch fällt, dann krieg ich den Hof wieder.