Wagner oder die Entzauberten - Emil Ludwig - E-Book

Wagner oder die Entzauberten E-Book

Emil Ludwig

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Beschreibung

Ein Bildnis des damals neunundsechzigjährigen Richard Wagner empfängt den Leser in Emil Ludwigs Biographie "Wagner oder die Entzauberten." Der Verfasser schildert in diesem Buch ,,gegen Wagner" den grossen Musikdramatiker als einen hauptsächlich von erotischen Leidenschaften hin und her geworfenen, vor allem auf unausgesetzte ,,Wirkung" bedachten Theatraliker und Komödianten , dem die Harmonie der grossen Künstler gefehlt und nur einmal flüchtig (in der Liebe zu Math. Wesendonk) sich offenbart habe.

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Seitenzahl: 260

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Wagner

 

Oder die Entzauberten

 

EMIL LUDWIG

 

 

 

 

 

 

 

Wagner, E. Ludwig

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN: 9783849680631

 

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

 

 

INHALT:

VORREDE.. 1

ERSTES KAPITEL. DER MANN UND DIE WELT.. 3

ZWEITES KAPITEL. DER KÜNSTLER.. 49

DRITTES KAPITEL. DIE LEHRE.. 78

VIERTES KAPITEL. DAS WERK.. 96

FÜNFTES KAPITEL. DIE WIRKUNG... 134

VORREDE

Die Götter frühster Jugend abzuschwören, ist schmerzhaft. Lange Jahre nach solcher Erschütterung vermag der Geist, mit Kälte das zu begründen, was das Gefühl grundlos ergriffen oder abgetan.

Wagner lehrte: "Der Verstand kann nichts anderes wissen, als die Rechtfertigung des Gefühls."

In dieser Schrift sucht der Verstand das Gefühl zu rechtfertigen, das einen leidenschaftlichen Wagnerianer, von den Knabenjahren an in Bayreuther Tradition erzogen, eines Tages sehr plötzlich ergriffen und der ganzen Wagner-Welt entführt hat.

Langsam löste sich aus solcher Verwirrung die Erkenntnis, dass es kein rein ästhetisches Bedenken, dass es mehr: dass es die Heraufkunft einer klareren Welt, die Dämmerung hellerer Horizonte war, die den in Suggestion Befangenen mit einem Male geweckt.

Aber erst die Erkenntnis, einer von Tausenden zu sein, die eine ähnliche Entwicklung durch Wagner hindurchgeführt, gab den Anlass, alle Gedanken über dieses Problem zu sammeln: nicht um irgendwen zu überzeugen,––  lediglich, um jenen Tausenden die Stichworte zu reichen.

Dass diese Blätter grade jetzt erscheinen, geschieht, um jene Schar von Entzauberten sichtbar abzusondern von der Jahrhundertfeier, die sich vorbereitet und in der Aufstellung der Wagnerbüste neben Bismarcks in der deutschen Walhalla gipfeln wird. Gegen solche Vergötterung, nicht zur Verneinung seines Genius ist dieses Buch geschrieben. Ist, solche Stichworte zu sprechen, der Autor legitimiert? Denn loben darf auch der Unberufenste, der Gegner wird um seine Kompetenz befragt. Alle Wagner-Biographen waren Nichtmusiker, und Wagner behauptet sogar von Beethoven, in dem "vielleicht einzig wichtigen Sinne" sei er bisher nur von Nichtmusikern verstanden worden.

Umso mehr darf der musikalische Laie, zumal als Dramatiker und Psychologe über einen Künstler sprechen, dessen Wirken, Lehre und Werke auf alle Gebiete der Kultur mit bewusstem Stolze übergreifen. Das Wagner-Problem ein musikalisches nennen, heißt dies Genie auf ein Viertteil reduzieren. Die Wagnerianer, dem Meister folgend, betonen: nur wer ihn als Menschen begreift, könne den Künstler, nur wer den Künstler, könne das Werk begreifen. Darum ist die erste Hälfte dieser Schrift zur Analyse des Mannes und Künstlers verwendet.

Auch die glaubwürdigsten Quellen sind ausgeschieden, die nicht die Wagner-Biographen selbst legitimieren. Alle Zitate und Nachrichten ohne Ausnahme stammen aus Wagners Schriften und Briefen oder aus den bekannten Biographien und Sammlungen von Chamberlain, Glasenapp, Wolzogen usw. Nur zwei Zitate stehen in Briefen von Wagner und Frau Wagner, die unveröffentlicht in meinem Besitze sind.

E. L.

ERSTES KAPITEL. DER MANN UND DIE WELT

VORSPIEL AUF DEM THEATER

Der Einfluss der Umgebung, in der Held und Künstler heranwachsen, wird in unseren Tagen überschätzt.

Mit Mitteilungen aus Wagners Jugend kann man einen ganzen Band füllen, man hat es getan. Hier werden im gesamten Verlaufe nur solche Äußerungen seines Lebens aufgezeichnet, die zu Rückschlüssen auf die Genesis seiner Werke auffordern, bis in die Spezialia seiner Musik hinein. Mit solcher Absicht kann man nur zweierlei betonen, was aus dem Vorspiel seiner Jugend fortgewirkt.

Das erste ist der Mangel jeder Erziehung. Vor der Abwehr eines Vaters, der an meiner Wiege starb, sicher, schlüpfte vielleicht die oft verjagte Norn an meine Wiege und verlieh mir die Gabe des nie zufriedenen Geistes, die mich Zuchtlosen nie verließ, und, in völliger Anarchie, das Leben, die Kunst und mich selbst zu meinen einzigen Erziehern machte." Siebzig Jahre lang hat der Bekenner dieser Worte, in einem Leben ohne Maxime, zuchtlos Jeden verbraucht, der ihm entgegenkam. Nicht das Leben, die Kunst und er selbst, sondern er ganz allein war es, der sich erzog, und Kunst und Leben solange bog, in so viele Formeln theoretisch bannte, bis er in ihrem Brennpunkt saß. Dies ist das erste Zeichen für jenes Egozentrische, das einen Grundzug seines Wesens bildet. Und hier vielleicht, in dieser Anarchie liegt schon die Quelle für seine Verachtung aller Traditionen, –– deren Bedeutung erst dem Greis aufzugehen schien, der alle überlieferten Formen zertrümmert wähnte.

Das andere ist die theatralische Umgebung. Vom ersten bis zum sechsunddreißigsten Lebensjahre war er fast ausschließlich in Theaterluft gehüllt. Am Theater wirkte sein zweiter Vater, wirkten seine Schwestern, sein Bruder, deren Freunde und selbst die befreundeten Juristen und Ärzte waren irgendwie Schauspieler und Regisseure. Das Merkwürdigste unter diesen Vorbildern ist der Stiefvater Geyer. Sein Gedächtnis hat Wagner ein Leben lang hochgehalten, dagegen des Vaters nie erwähnt, von dem die Mutter doch erzählt haben möchte. (Man vergleiche Wagners und Geyers Porträts bei Glasenapp oder in Eisenach.) Dieser Geyer, zugleich Dramatiker, Sänger, Schauspieler und Maler, gab en miniature wirklich ein Muster für Wagners Ideal vom "allgemeinen Kunstwerk der Zukunft" ab.

In diesem Divertissement des Theaters wuchs er auf, zwischen einem Stück Musik, einem Stück Malerei, einem Stück Dichtung, einem Stück Gelehrsamkeit. Er bekannte schon damals eine "Leidenschaft für Hochspannungen der Nerven" und lebte in Extremen "zwischen Wildheit und Schlaffheit".

Solche Kinderstube und solche Anlagen gaben ihm, bei völlig mangelnder Erziehung von vornherein die Haltung des Schauspielers. Er hat sie nie verloren. Wie das Gedankliche bei ihm schauspielerisch wirkt, wie er in fremde Gedankengänge sich hineinzufinden und die heterogensten Anschauungen zu verschmelzen weiß und liebt, darüber später. Wie sind zunächst seine Allüren?

Hier ist seine Art, sich auszudrücken: "Ich litt wirklich, tief, –– oft in heißen Tränen mir entströmendem Jammer, als ich unausweichlich die tragische Notwendigkeit der Trennung (Elsas von Lohengrin)... empfand". Dies steht nicht etwa in einem leidenschaftlichen Briefe, (denn jene höchst theatersichere Handlung war mit Kühle klug konstruiert) sondern in einer späteren Schrift. (Balzac weinte um seinen sterbenden Helden, aber er ließ es nicht drucken, sondern tat es ahnungslos ergriffen, vor einem Freunde, der es dann überliefert.)

Oder: Wagner gibt seine früheren Opern an die Theater: Ausdruck: "Ich verfluche, ich verstoße sie!" Noch immer nicht begnadigt, geht er im Jahre 59 wieder nach Paris, um Tannhäuser aufzuführen. Ausdruck: "So will mich denn Deutschland mit Gewalt dem Feinde zuschanzen!" Und er werde nicht zurückkehren, wenn man ihn nicht "im Triumph von dort einhole". (Er kam dann, sehr urgerufen.)

Ein tiefster Zug an Wagner ist der Wille zur Wirkung. Er reicht bis in die Fingerspitzen seiner Musik. Als typischer Schauspieler braucht er stets Zuschauer, um zu wirken. Bei jedem Anlass rezitiert er seine Dichtungen. Als er die erste öffentliche Rede hält (bei Webers Bestattung), berichtet er genau, wie jeder ihn anders gelobt, und druckt diese Äußerungen, fünfundzwanzig Jahre später, als Sechziger noch in seinen Gesammelten Werken ab. In einer öffentlichen Schrift über seine Aufführung der Neunten Sinfonie, verzeichnet er genau, wer ihm gratuliert. Oder er will, von Zürich aus, wissen "ob E. D. meine Schriften liest und welchen Eindruck sie auf ihn machen? . An ihn schreiben kann ich nicht, aber ich würde es gern sehen... wenn er mir schriebe. Wie könntest du nun einmal zu ihm kommen?"

In solchem Wunsch nach Zuschauern kann keine Naivität gedeihen. Man muss den Brief lesen, den er einem achtjährigen Mädchen (Mathildes Tochter) schreibt, sichtlich bemüht, kindlich und dem Kinde verständlich zu sein. Es ist ihm unmöglich.

Selbst aus seinen tiefsten Gefühlen, dem echtesten Ausdruck seines Wesens blinzelt der Schauspieler. Wie stellt sich Wagner seinen Tod vor? "Wenn ich mich sonst immer an dieser Stelle (im Asyl bei Wesendonks) zum Schlafe gebracht durch die Vorstellung, ebenda würde ich einst sterben, so würde ich liegen, wenn du zum letzten Male zu mir trätest, wenn du offen vor allen mein Haupt in deine Arme schlössest . . .

Dieser Tod hatte sich ganz an der Lokalität meines Schlafzimmers ausgebildet: die Türe nach der Treppe zu war geschlossen, du tratest durch die Gardine des Arbeitszimmers; so schlossest du deine Arme um mich: so auf dich blickend starb ich." (So starb ein Regisseur.)

Oder er schließt seinen Bericht über den weltabgewandten, seelenkranken Zustand aus Venedig mit diesen Worten: "Beim Abschied hat er (Ritter) mich sehr gerührt . . . Der Wunderbare konnte sich nur schwer trennen. Ich glaube wohl, wer mich in diesen letzten Monaten umgeben durfte, muss einen schönen Eindruck gewonnen haben."

Dies ist das Vorspiel: es sind nur die Allüren.

DER DREIFACHE KRAMPF

1. Gehemmte Sinnlichkeit

Das Persönlichste, was Wagners Musik und Dichtung ausspricht, was seine Werke am tiefsten eingesogen, von den Feen bis zum Parsifal: das Geschlechtliche ist in ihm selbst aufs genaueste vorgebildet: so in den Formen seiner Phantasie, wie in den Erlebnissen seiner Erfahrung. Die Kenntnis dieser speziellsten, höchst sonderbaren Art seiner Sinnlichkeit führt vorwärts und rückwärts zur Erkenntnis seines gesamten Wesens und seiner gesamten Musik.

In jenem "Krampf", von dem er oft gesprochen, liegt die Verwirrung, Überspannung und Unterbrechung seiner Lebenskräfte begründet. Wie Vitalität und Weltflucht zischend aufeinander sprühen; wie der Wille zur Wirkung schmilzt vor der Ohnmacht, eine Welt in geradem Kampfe zu besiegen; wie seine originalste Musik die Exaltationen bis hinauf zum "Erlösungswillen" illustriert: dies alles findet seinen Mittelpunkt eben in jenem Krampfe, von dem der Sechsundvierzigjährige sagte: "Ich kann Wohlgefühl in keiner Form mehr empfinden, als wenn ich mich auf höchste Höhe geschwungen habe." Als Greis, ein Jahr vor dem Tode, hielt er bei der Hochzeit seiner Tochter "eine der ergreifendsten Ansprachen, indem er seine innersten Empfindungen zu Worte kommen ließ." Er ging davon aus, dass er sein ganzes vorausgegangenes Leben mit einem Krampfe verglich. Erst in seiner zweiten Ehe habe dieser Krampf "Erlösung" gefunden, und zwar sei diese Erlösung für ihn durch einen inneren Seelenkrampf" eingetreten.

Wagner hat in seinen Werken die Geschichte seiner Sinnlichkeit geschrieben, man braucht sie nicht nachzuerzählen. Auf eine Formel gebracht: ein unsäglich wildes Begehren gärt in ihm auf –– aber er "erlebt" nichts. Von frühester Jugend wird sein ganzes Wesen davon bestimmt, selbst die Memoiren erzählen von Pikanterien des unbewussten Kindes und von Ausschweifungen des Jünglings. Die "Hochzeit", die erste Oper des Neunzehnjährigen, schildert schon einen wütend glühenden Mann, der nachts der Braut seines Freundes ins Fenster steigt und ihr Gewalt antun will. Wagners Schwester bat ihn, das allzu sinnliche Sujet aufzugeben.

In der Musik der Feen finden sich Stellen, die das nämliche andeuten. Im "Liebesverbot" des Dreiundzwangzigjährigen steigert sich "die freudige Erregtheit im Karnevalsliede bis zur Gluthitze", und hört man ihn dann von den "herausfordernden Eingangstrillern von Triangeln, Kastagnetten und Tambourins" schwärmen, so ist man schon beim Tannhäuser, der bekennt: "Denn unversiegbar ist der Bronnen, wie mein Verlangen nie erlischt!"

Hier findet sich die einzige Stelle, hier im Venusberg, wo Wagners glühendes Begehren frei und ohne Verdeutelung, prachtvoll wie bei Rubens dahinströmt. Denn hier kommt der Krampf erst später, wenn der Berg versunken ist, in dem Erlösungsverlangen. "Es war eine verzehrend üppige Erregtheit, die mir Blut und Nerven in fiebernder Wallung erhielt, als ich die Musik des Tannhäuser entwarf und ausführte ... Wie und wo ich nur meinen Stoff anrührte, erbebte ich in Wärme und Glut." Allerdings: "Mein Drang ging (aus der frivolen Sinnlichkeit) nach dem Unbekannten, Reinen, Keuschen, Jungfräulichen." Aber die Musik der Elisabeth wurde langweilig, die Zerknirschung trivial, die Tugend Wolframs oder Walters kalt, und jeder nimmt Partei für den Frevel, die Sünde, Venus.

Unmittelbar auf den Tannhäuser folgt die große Zäsur. Jenseits steht Lohengrin. Nichts ist so bedeutungsvoll für die Entwicklung von Wagners Werk, auch nicht die Wandlung seiner ästhetischen Urteile als eben diese Zäsur. Vor ihr hatte er zum ersten und letzten Male die Wildheit seiner Sinne frei strömen lassen. Nach ihr beginnt die Schwüle.

Wagners Sinnlichkeit war immer Wollust, niemals Leidenschaft. Er kannte weder die spezifisch männliche, noch die spezifisch künstlerische Liebe: weder das Stahlblau blitzende Verlangen zu erobern noch das zwecklos schöne Gaukelspiel der Dichter. Dass er den Urtrieb nicht ehrlich sich gestand, vielmehr verschleierte, "vertiefte", tat seiner Musik den größten Abbruch.

Wagner hat, dreiundzwanzigjährig, eine schöne Schauspielerin geheiratet und mehr als fünfundzwanzig Jahre dauernd mit ihr gelebt. Sie war nicht seine Gefährtin, aber wenn die Seinen über dieses "Schicksal" klagen, übersehen sie dessen Symbole.

Das ist nicht ein Mädchen, dem er die Ehe versprochen, oder eine reiche Frau, die er aus Not geheiratet. Sondern: "Ich war verliebt und heiratete in heftigem Eigensinn." Es erübrigt sich, die Unerquicklichkeit der peinlichen Details zu wiederholen, die Wagner darüber veröffentlicht. Später kam es zu mancher Krisis, aber noch nach fünfzehn Jahren schreibt er, sie habe "die Feuerprobe bestanden". Ja selbst nach den schrecklichen Tagen in Villa Wesendonk, als er entschlossen war, sich endlich von ihr zu trennen, lässt er sie schon nach Jahresfrist zu sich nach Paris nachkommen. Zwei Jahre darauf: neue Trennung, neue Auflösung des Hausstandes. Ein Jahr darauf: erneutes Zusammensein in Bieberich. Drei Jahre später war sie tot.

Er brauchte sie, auch diese. War es wirklich nur die "weibliche Hand", die er für seine Ordnung nicht entbehren konnte? Das Schicksal dieser Frau ist viel beklagens- und bewundernswerter als das seine.

Während dieser Ehe tönen nun die dreißigjährigen Klagen, nicht nur öffentlich, auch brieflich an die Freunde. "Ich gebe alle meine Kunst für ein rückhaltlos liebendes Weib hin." Oder: "Namentlich sind aber durch das ewige Phantasieleben ohne alle genügende Realität meine Gehirnnerven so stark angegriffen, dass ich nur noch in großen Absätzen und mit langen Unterbrechungen arbeiten darf." Oder: er müsse sich, vierzigjährig, "immer aufrichtiger zugestehen, da ich es erst jetzt, seit wenigen Jahren, –– zu spät! — gewahr werden musste, , wie ich eigentlich noch gar nicht gelebt habe!"

Dies alles ist eindeutig erotisch zu verstehen. Denn zur selben Zeit schreibt er: "Ich lebe ein unbeschreiblich nichtswürdiges Leben, vom wirklichen Genuss des Lebens kenne ich nichts: für mich ist Genuss des Lebens, der Liebe nur ein Gegenstand der Einbildungskraft, nicht der Erfahrung. So musste mir das Herz in das Hirn treten und mein Leben nur noch ein künstliches werden."

Was tut Wagner in diesem realen, ihn persönlich treffenden Unbefriedigtsein? Erformt seinen subjektiven Mangel zu einer metaphysischen Notwendigkeit um. Dieses Verfahren –– Wagners Pro domo-Motiv –– findet sich überall; am deutlichsten in seinen den Grenzen seiner Gaben angepassten Theorien. Es hat seinen Grund in dieser unbesiegbaren Vitalität, in dem grenzenlosen Optimismus dieses Mannes, in der Unendlichkeit seines Glaubens an sich selbst. Ich will nicht der Besiegte des Lebens sein, sagt sich Wagner, der nicht als Sieger geboren war. Also, da die Welt mir weder Liebe noch Macht gibt, da meine Fähigkeiten bestimmt umgrenzt sind, bilde ich die weiten Kunstgesetze so lange um, bis sie auf mich passen. Endlich steht er im Brennpunkt der Welt (Brennpunktmotiv), und macht es wie Hegel, der, als man den achten Planeten entgegen seinen Theorien fand, trumpfte: "Umso schlimmer für die Natur!"

Aus Mangel an Liebe formt dieser sinnlichste Mensch eine "höhere" Liebe. Weil seine Sinnlichkeit nirgends gestillt wird, lehrt er eine "Erlösung", der sein natürlichstes Leben und seine beste Musik widersprechen.

Wie dieser Kopf von sinnlichen Dingen schwankte, deutet sein Werk. Aber auch in den Prosaschriften, zehn Bände, fast ausschließlich Essays, spielt das Gewimmel sexueller Gleichnisse, die mit der Platonik des Gegenstandes kontrastieren. Aber: er meint nicht etwa "jene frivole, unzüchtige Liebe, in welcher der Mann nur sich durch den Genuss befriedigen will, sondern die tiefe Sehnsucht in der mitempfundenen Wonne des liebenden Weibes, sich aus seinem Egoismus erlöst zu wissen".

Erlösung. Es ist schwer über dies eine Hauptmotiv seines Lebensringes klar zu werden, weil seine Deutung dauernd schwankt. Man muss es aus Wagners glühendem Optimismus verstehen, wenn er diesen Egoismus, von dem wir in gedachter Weise "erlöst" werden sollen, wiederum aufs höchste pflegen und beglücken will. Denn "höchste Befriedigung" des Egoismus finden wir nach Wagner nur in vollstem Aufgeben desselben, und dieses findet der Mensch nur durch die Liebe: allein der wirkliche Mensch ist Mann und Weib, und nur durch die Vereinigung von Mann und Weib existiert erst der wirkliche Mensch. Erst durch die Liebe daher wird der Mann wie das Weib –– Mensch!"

Zweites Hauptmotiv: "Vertiefung", durch die sich Wagner zu orientieren sucht. Diese Gewohnheit, deren schreckliche Folgen sich unten in der Erörterung des Mythos zeigen werden (vgl. IV. Kapitel) wird ihm zur zweiten Waffe gegen die Deutlichkeit seiner Natur, die er dauernd zu veredeln" sucht. "Die Mittlerin zwischen Kraft und Freiheit ist die Liebe, jedoch nicht die so geoffenbarte, von vornherein uns verkündete . . wie die christliche, sondern die Liebe, die aus der Kraft der unentstellten wirklichen menschlichen Natur hervorgeht die sich in reiner Freude am sinnlichen Dasein ausspricht, und von der Geschlechtsliebe ausgehend . bis zur allgemeinen Menschenliebe fortschreitet." Gibt es in Wagners Werk zu diesem Ziele auch nur einen Weg? (Kurwenal und Hans Sachs sind vielleicht Stationen am Beginn dieses Weges.)

Dieses Hauptmotiv: aus der Verwirrung über den Zwiespalt seiner Sinnlichkeit und den Mangel an würdiger Befriedigung wendet sich Wagner gegen sein Jahrhundert. (Jahrhundertmotiv, kehrt in der Lehre vom geschichtlichen Menschen wieder). "Die Sehnsucht, die mich auf jene Höhe getrieben, war eine künstlerische, sinnlich menschliche gewesen: nicht der Wärme des Lebens wollte ich entfliehen, sondern der morastigen brodelnden Schwüle der trivialen Sinnlichkeit ... des Lebens der modernen Gegenwart ... Sinnlichkeit und Lebensgenuss stellten sich somit meinem Gefühl nur in der Gestalt dessen dar, was unsere moderne Welt als Sinnlichkeit und Lebensgenuss bietet ... Im Punkte der wirklichen Liebe beobachtete ich zu gleicher Zeit an einer von mir bewunderten Frau die Erscheinung, dass ein dem meinigen gleiches Verlangen sich nur an den trivialsten Begegnungen befriedigen durfte.

Nun sucht er Befriedigung "in einem höheren, edleren Element, das in seinem Gegensatz zu der eigentlich unmittelbar verkennbaren Genusssinnlichkeit, der mich weithin umgebenden modernen Gegenwart in Leben und Kunst mir als ein reines, keusches, jungfräuliches unnennbar und ungreifbar lebendig erscheinen musste".

Bei Darstellung der gedachten Zäsur erklärt er: im Tannhäuser habe er sich "auf die ersehnte Höhe des Reinen, Keuschen durch die Kraft des Verlangens geschwungen". Nun fühlte er sich "außerhalb der modernen Welt in einem klaren, herrlichen Ätherelement, das mich in der Verzückung meines Einsamkeitsgefühls mit den wollüstigen Schauern erfüllte, die wir auf der Spitze der hohen Alpen empfinden . . . Solche Spitzen erklimmt der Denker, um auf dieser Höhe sich ... als höchste Summe der menschlichen Potenz zu wähnen: er vermag hier endlich sich selbst zu genießen".

Wir vergessen, dass diese Darstellung, wie alle Äußerungen seines gesamten Lebens, ad hoc gearbeitet ist, um "das Bild abzurunden". Wir fassen Geduld und folgen mit Ernst. Er hat sich also als Tannhäuser von der Sinnlichkeit erlöst und befindet sich jetzt auf einsamem Alpengipfel. Was tut er dort? "Gerade diese selige Einsamkeit erweckte mir, da sie kaum mich umfing, eine neue, unsäglich überwältigende Sehnsucht, aus der Höhe in die Tiefe, aus dem sonnigsten Glanze der keuschesten Ahnung nach den trauten Schatten der menschlichsten Liebesumarmung. Von dieser Höhe gewahrte mein verlangender Blick –– das Weib, das nun aus sonniger Höhe Lohengrin hinab an die wärmende Brust der Erde zog."

Mit jenen Worten hat man zugleich Lohengrin und Wagner. Wer etwa zweifelte, dass Wagner selbst die beiden Helden als Selbstporträts auffasst, lese den Zusatz: Lohengrin sollte nichts anderes werden und sein, als "Mensch, nicht Gott, d. h. absoluter Künstler". Die Identität liegt am Tage, und wir bemerken mit Schrecken, dass in dieser Redaktion auch Wahrheit enthalten ist!

Denn wirklich trat, von dem Bombast der späteren Deutungen befreit, Wagner damals in die Stimmung der "Vertiefung", der "Erlösung" ein, die ihn seither kaum verlassen und ihn aus der strahlenden Kraft des Venusberges, aus der Wonne eingestandener Lust in die Schwüle seiner späteren Sinnlichkeiten führte. Diese Schwüle begann bei Lohengrin, der aus blauer Freiheit unter gedeckten Himmel führte. In den ausgespannten Brünsten seiner erlösenden Heldinnen klingt sie dann wieder, im Krampf der Kundry klingt sie aus.

2. Gehemmte Vitalität

"Wagner ist gewiß ein geistreicher Mensch, aber er redet in einem fort. Man kann doch nicht immer reden!"

Schumann

"Ich bin sechsunddreißig Jahre alt geworden, ehe ich erriet, was eigentlich der Inhalt meines Kunstdranges sei: so lange galt mir die Kunst als der Zweck, und das Leben als das Mittel. Nun war die Entdeckung allerdings zu spät, und nur tragische Erfahrungen konnten meinem neuen Lebenstriebe antworten."

Was dieses Bekenntnis — eines von vielen –– für Wagner als Künstler zu bedeuten hat, wird später erörtert. Zunächst, er sehnt sich nach dem Leben. Dies Leben, seine Macht, die Vielfalt seines Genusses bot ihm so wenig Genüge, wie die Frauen Und so entsteht der nämliche Krampf.

Der Vierzigjährige: "Wenn die Leute doch wüssten, dass ich nur einmal ganz glücklich sein möchte, und dann gar nicht existieren wollte!" Oder, im selben Jahr: "Ruhe ist mein Tod. Wenn ich sie oft so sehr suche, die andere Ruhe, die schöne, wonnevolle, so fühle ich, dass das eigentlich doch wohl auch nur der Tod sein kann, aber der wirkliche, noble, vollständige Tod —, nicht dieser Tod im Leben, den ich jetzt täglich sterbe!" Liszt soll ihm schleunigst die Rückkehr nach Deutschland auswirken. "Wenn es nicht geht, so beginne ich ein anderes Leben. Dann stelle ich auf Geld aus, wie und wo ich nur kann. Ich borge und stehle, wenn's drauf ankommt, um reisen zu können. . . So gehe ich nach Spanien, nach Andalusien, suche Gefährten und versuche noch einmal zu leben, so gut es gehen kann. Ich hätte Lust um die Welt zu fahren!"

Während der größten Schaffensruhe, in völlig gesicherter Lage, unternimmt er immerfort "Exkursionen oder Ausflüge" von Zürich nach Italien, nach der Südschweiz; will nach Deutschland, nach Paris. "Ich kann nur in Extremen leben, –– größte Elastizität und vollkommenste Ruhe".

Achtunddreißigjährig: "Wunsch: ein kleines Häuschen, mit Wiese und Gärtchen! Arbeiten mit Lust und Freude, aber nicht fortgesetzt. Wenn alle deutschen Theater zusammenbrechen, schlage ich ein neues am Rhein auf, rufe zusammen und führe das Ganze (den geplanten Ring) im Laufe einer Woche auf. –– Ruhe! Ruhe! Ruhe! –– Land! Land! Eine Kuh, eine Ziege usw. Dann –– Gesundheit — Heiterkeit –– Hoffnung! Sonst alles verloren! Ich mag nicht mehr!" Ergreifende Zeilen: nur muss man nicht wissen, was dieser selbe Brief, der sie enthält, vorher behandelte: die Erbschaft eines Gönners, der ihm eine Rente gibt; Geschäftliches über jemand, der den Tannhäuser in zweiter Auflage herausbringen will; Zusendung einer Korrektur an Liszt; Bericht über verschiedene Geldsendungen; Mahnung wegen einer anderen Korrektur usw.

Der Lebenskrampf, wie er ihn selbst genannt, zwang Wagner, sich immer mit Maßlosigkeit ins Leben zu werfen, –– und immer schnappt seine Vorstellung von Glanz, Macht, Genuss ins Wahnsinnige über. Hat er aber die Macht, so ist er ihr nicht gewachsen. Während er halb München –– nicht nur das künstlerische ––als Freund des Königs besitzt, ist seine Sehnsucht "nach der letzten Ruhe unsäglich. Mein Herz kann diesen Schwindel nicht mehr ertragen." Vorher, im schwärmerischen Beginne dieser zuckenden Freundschaft, als er mit dem König am Starnberger See lebt, in einer Villa für sich, verwöhnt: "Meine Einsamkeit ist furchtbar, –– nur wie auf höchster Bergesspitze kann ich mit diesem jungen König mich erhalten. . . Noch fehlt mir etwas Hausumgang, vielleicht bekomme ich Cornelius her". Außerdem fehlt ihm "eine weibliche Hand. Die Nötigung, mit Dingen, für die ich wahrhaft nicht gemacht, mich immer noch selbst zu befassen, lähmt meine Lebensgeister. Ich leugne nicht, dass mir diese vollständige Einsamkeit jetzt sehr verderblich wird: glauben Sie mir, es ist ein Elend, an dem ich verbluten werde". (Der Ekstatiker; der Unanmutige; der Schauspieler, welcher Zuschauer braucht.)

Den Krampf der Seele hätte Wagner durch Humor paralysieren, hier hätte er den Ausgang aus den barocken Klüften finden können. Aber er besaß nur Ironie. Sein Humor war ein Nachtalben-Lachen.

Sehr kennzeichnend, wie er zuerst mit einem heiteren Stoff zusammenstieß. Zwischen Tannhäuser und Lohengrin entwarf er die Meistersinger "als Satyrspiel nach dem Sängerkrieg", verwarf sie aber wieder, weil er, so sagt er, zunächst nur ganz formale Ironie, nicht Heiterkeit hier darstellen konnte. Statt zu lachen oder zu lächeln, fühlte er sich "gegen unsere unnatürliche Allgemeinheit und Öffentlichkeit", zu einem Widerstande gedrängt, "der sich endlich nur als Empörung, somit in tragischen Zügen kundgeben kann". Als er zwanzig Jahre später den Plan dennoch wieder aufnahm, hatte sich nichts geändert als seine Ehrlichkeit gegen sich selbst.

Zuweilen zeigt er eine gewisse Selbstironie, die sich in Knittelversen an Freunde und Bekannte äußert. Oder er macht seine berühmten Späße. Liszt konnte freilich nicht den Witz verstehen, der darin liegen sollte, dass etwa Wagner, nachdem Liszt gespielt, auf allen Vieren zu ihm herankroch, um seine Bewunderung zu erweisen. Gelegentlich stellte er sich, mehr als fünfzigjährig, vor vielen befreundeten Musikern aus Vergnügen auf den Kopf (Glasenapp). Wollte er eine Stimmung abspannen, die er selbst erzeugt, so rief er oft: "Und jetzt kein ernstes Wort mehr!" Oder er äußert, während er die oder jene Handreichung tut, in komischer Selbstbiographik: "So war Wagner!"

Gerade diese Züge, die man als Zeichen eines kräftigen, gesunden Humors dargestellt, zeigen, neben der schauspielerischen Allüre aufs Neue den Krampf. Man fühlt, wie unharmonisch in ihm die Grenzen zusammen klirren. Er wusste es selbst: "Das war meine Rettung, dass mir die Fähigkeit gegeben war, aus dem Ernstesten heraus augenblicklich in den befreiendsten Unsinn umzuschlagen. So konnte ich mich von je an den Abgründen halten." Typisches Barock der Seele, völliger Mangel an Heiterkeit und Anmut.

Die Harmonie, die allen Äußerungen dieses genialischen Menschen fehlte, seinem gesamten Leben und seiner gesamten Kunst (versteht sich, nicht im technisch musikalischen Sinn), der Krampf, in dem er diese Harmonie gesucht, drückt sich auch in seiner Körperlichkeit aus. Ein kleiner Mann, der lauter Riesen; ein leidenschaftlicher Feind der Tierjagd, der lauter Jäger schildert; ein Dithyrambiker, der keinen Wein trinkt; ein Schöpfer des "Urmenschen", der sehr viel Seide, Samt und Kissen braucht: dies alles korrespondiert mit jenen psychischen Dissonanzen. Dieser Vitalist war immer magen-, immer nervenleidend: wochenlang braucht er Wasserkuren, immer wiederholt. Im Jahre 49 nennt er sich gemütskrank und "eine zwangvolle Affektion meines Gemütes hat (die Krankheit) zu so bedrohlicher Höhe gesteigert, als sie sich jetzt mir kundgibt".

Wegen Schlaflosigkeit, kranker Gehirnnerven verstummen seine Klagen nicht. Im Jahre 54 erklärt er seine Nerven für ruiniert. Wunderbarerweise täten sie ihm aber "wenn es gilt", die größten Dienste. "Soll ich nun sagen, meine Nerven sind ruiniert? Ich kann's nicht. Ich sehe nur, dass der meiner Natur .. normale Zustand die Exaltation ist, während die gemeine Ruhe ihr anormaler Zustand ist... Wenn Goethe anders war, so beneide ich ihn drum nicht!"

Seine physischen Leiden brachten Wagner auf die Frage der Ernährung, die zudem damals sensationell war. (Moleschott, Liebig, Buckle, Feuerbach.) Nach dem Prinzip, von sich aus die Welt zu erobern, bis er in ihrer Mitte steht, wünscht er, da er kein Fleisch verträgt, ernsthaft, die "edleren Rassen" des Nordens sollten, da man hier Fleisch braucht, eine "vernunftgemäß eingeleitete Völkerwanderung" in andere Weltteile ausführen."

Mit einem Lebensdrang voll so vieler Vorhalte und Verschiebungen korrespondiert schließlich ein Todesgedanke, den Wagner stets von sich weg und seinen Helden zuschiebt. Merkwürdig, wie dieser Mann, dessen drittes Wort "Erlösung von der Lebenstragik" und dessen Helden stets des tragischen Bewusstseins voll sein sollen, dem Todesgedanken ausweicht. In den zahllosen Dokumenten seines Lebens, Schriften, Briefen, Gesprächen findet man ihn –– zweimal. Das eine Mal, als er den Tod als Regisseur erlebt, wie oben angedeutet. Das andere Mal, kurz darauf, will er vom Geländer seines schönen Palazzo sich in den großen Kanal von Venedig stürzen, aus Liebeswahn, aus Sehnsucht. Auch hier wird er sogleich zum Schauspieler: "In dieser Nacht", schreibt er Mathilde, "da ich die Hand vom Geländer des Balkons zurückzog, war es nicht meine Kunst, die mich hielt, in diesen furchtbaren Augenblicken das warst du! Wie ein Lächeln überflog's mich: wär es nicht wonniger in ihrem Arme zu sterben? Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder. Allerseelentag! Auferstehungstag!" (Zitat und Morgenröte.) Sogar die Natur kann dieser Vitalist nicht anders als im Sichtbaren belebt verstehen. Wagner war bekanntlich ein großer Freund der Tiere. Das ist gewiss der schönste Zug dieses Charakters.

Trotzdem haftet auch ihm etwas Erzwungenes, Übertriebenes an: man denke an die gewisse Breite und Lautheit, mit der er gegen die Vivisektion auftritt. Rührend schildert er dem Freunde, wie sein Hund gestorben. "Unaufhörlich musste ich weinen, und habe um den lieben, dreizehnjährigen Freund, der stets mit mir arbeitete und spazieren ging, eine Trauer und einen Schmerz empfunden." In seinen Memoiren, zehn Jahre später, wirft er sich vollends ins Zeug: im Augenblick, als der Hund umsank, hätte er an der Uhr die Todesstunde auf Ein Uhr zehn Minuten festgestellt. "Den nächsten Tag widmeten wir unter den bittersten Tränen seiner Bestattung."

Hier beginnt Wagners Verhältnis zur Natur und hört sogleich wieder auf. Was sich nicht selbst bewegen kann, scheint diesen beweglichen Musiker nicht zu fesseln. Er geht spazieren, aber erklärtermaßen aus Hygiene. Währenddem disputiert er gern und viel mit den Freunden. Dieser Nervöse, abhängig von hundert kleinen Dingen, Farben, Teppichen, Decken, Schlafröcken, –– vor der Natur ist er völlig sicher. Sie kommt in seinen Briefen nicht vor, oder nur so: "Die Natur liegt mir nicht so fern, als du glaubst, durch den Freund erfahre ich gar schöne, wichtige Dinge von der Natur und sie bestimmt mich zu Vielem und Großem (vgl. II. Kapitel, "Mechanik"). Nur wenn sie mir das eigentliche Leben, die Liebe ersetzen soll, so lasse ich sie links". Oder aber, dreiunddreißigjährig, an die Mutter: "Wenn ich mich der Natur oft weinend und mit bitteren Klagen in die Arme warf, so hat sie mich immer getröstet und erhoben."

Dies also ist die intellektuelle und die repräsentative Seite. Wo fände sich eine tiefere Beziehung? Warum spricht dieser Wortreiche, Mitteilungsüberreiche nirgends in Hunderten von Dokumenten vom Eindruck eines Waldes, eines Sees, oder wie eine Wolke kam oder das Meer? Oder dass ihm ein Strom, ein Stern die Melodie gegeben? Wie? Ist er nicht ein Künstler?

3. Gehemmter Wirkungsdrang

Künstler sollten, ferne der Welt, schweigen und schaffen –– oder: der Welt gewachsen sein. Wagner hat stets die Welt gesucht, er war ihr nie gewachsen. Einen Weg von Konzession zu Konzession ist er als Künstler gegangen, wir folgen ihm später. Auch in seinen Privata drückt sich dies aus. Ein Verbannter von Ort zu Ort: weil er der Welt sich aufdrängt. "Ich müsste mich eigentlich schämen, auf diese Weise mich dem Dasein immer noch aufzudrängen, da mich die Welt, genau genommen eigentlich, nicht will." Man könnte auch formulieren: ein Schauspielerschicksal; immer wandernd.

Wagner war niemals ruhmsüchtig, ehrgeizig oder gar geldgierig; wie unpsychologische Pamphletisten meinen. Ruhm und auch Geld verstand er an sich zu bringen. Der aber kennt ihn nicht, der hier das Ziel seiner Wünsche sucht. Denn Wagner hatte nur einen allumfassenden Wunsch: Wirkung.

Wirkung war für ihn beinahe Wollust, und das ist bei diesem Manne maximal.Hätte er plötzlich, wie durch ein Wunder, sein künstlerisches Vermögen verloren, sofort hätte er etwas anderes ergriffen, um damit zu wirken. Man muss ihn in seinen Pariser Novellen verfolgen: wie erlebt die Schilderung der Antichambres klingen, in denen die hoffenden Künstler warten, Musiker, die in Paris "gemacht" werden wollen. Oder man muss hören, wie er, zwanzig Jahre später auf's Neue den ersehnten Pariser Erfolg umkreisend, sich auf drei Jahre ein Häuschen mietet, mit dem ausgesprochenen ausschließlichen Zwecke, Annahme und Ausführung des Tannhäuser zu betreiben. Er pflegte zu betonen, er brauchte den Erfolg, um zu leben. Aber er hatte damals dauernde Renten und gestand an anderer Stelle selbst, dass er gut von ihnen leben könnte. Er brauchte einzig: Wirkung.

 Da Wagner nicht nur kein "absoluter" Musiker war, wie er selbst mit Stolz betont, sondern auch kein absoluter Künstler, wie er selbst mit Unruhe erkennt, musste er rasch vorgehen: er hätte sterben müssen, hätte man ihn auf eine einsame Insel verbannt. Und nun verbannte man ihn aus Deutschland, ließ ihn elf Jahre lang im Auslande "schmachten", raubte ihm das eigentliche Feld seiner Wirkung. Was er damit gewonnen, ist deutlich: Reizung des Widerstandes in einem typisch reformatorischen Temperament.

Dennoch lebte er in Zürich gelegentlich "einzig nur noch durch die Post". Mit der leidenschaftlichsten Ungeduld muss ich jeden Vormittag gegen elf Uhr den Briefträger erwarten. Bringt er nun nichts –– oder bringt er Ungenügendes —, so ist mein ganzer Tag eine Entsagung-Einöde. Das ist mein Leben! Darum lebe ich! (Zwischen Dichtung und Komposition des Ringes!)

Währenddessen werden seine vier Opern in ganz Deutschland gegeben, drei von ihnen hat er selbst dort aufgeführt. Was macht ihn so wild? Dass er seine Wirkung nicht sieht, nicht genießt. Wagner will nicht wirken, wie einer, dem an der Wirkung liegt; sondern um sich zu genießen. Alle Fäden laufen in das Ego-Centrum zusammen.

Nur eine einzige Verbannung hieß mit Namen Verbannung. Doch überall, wohin er kam, war er zuerst entzückt, –– um später den Ort in Wut zu verlassen: Dresden, Paris, Zürich, Wien, München. Grund: Wagner überspannt jedes Verhältnis. (Vergleiche seine Musik.) Er verachtet die Welt und ist entschlossen, sie zu seiner Lust zu missbrauchen. Das merkt aber die Welt und lässt sich dies auf die Dauer höchstens von einem Geist der Anmut bieten, von grazilen Fingern, von Unwiderstehlichen, von Überrednern. Das gerade war's, was Wagner fehlte, Anmut, Reiz, das Liebenswerte.

Aus Dresden wäre er geflohen, auch ohne durch Teilnahme an der Revolution seine vom König bezahlte Stellung zu zerstören. Schon zwei Jahre vorher verwickelte er sich in glänzender Lage, Autor dreier hier mit größtem Erfolg gespielter Opern) in Gegnerschaft mit seinem Generaldirektor, es gab Beleidigungen, Verbitterungen und im Verfolg die Ablehnung des Lohengrin. Als schließlich die Mai-Revolution kam, mit der Aussicht auf das Zuchthaus, floh er bei Nacht und Nebel.

Zürich. Als er zu Wesendonks zieht: "Ich weiß nun, wo ich hin gehöre und kann getrost allen Wechselfällen meiner künstlerischen Laufbahn, allen Mühen und Anstrengungen entgegensehen." Seine Lage war ideal. Nach einem Jahr: ein Krach, alles ist aus; Flucht bei Morgengrauen. Wer nur die sachlichen Gründe klug erforscht, hat darum doch an den Symbolen vorbeigesehen. Wagner: "So kalt wie ich einst Dresden verließ, könnte ich mich jetzt auch von Zürich wenden, wo ich kein hingebendes Opfer gescheut habe (er meint die Konzertaufführung seiner Werke), um endlich zu erkennen, dass, wie einst dort, alle meine Aufopferung fruchtlos blieb."

Paris. Vom Kaiser persönlich geschützt und tatsächlich Herr der Großen Oper, –– kennt er genau die Schliche der Kritik und der Gesellschaft. Warum, fragt man sich schließlich, ist dieser Dichter, dieser Komponist durch zwanzig Jahre mit solchem Lärm als Demagoge, Reformer, Agitator, Propagandist, Theatraliker, Theatermann, Polemiker herumgezogen, dass dann jedes Mitglied des Jockey-Clubs ihn anfassen kann, wie einen Journalisten? Es ist unrichtig, dass diese Herren den Tannhäuser ausgepfiffen haben, nur weil sie ihr Ballett im zweiten Akt nicht bekamen. Vor der Geschichte haben sie sich blamiert, aber ihre Haltung an diesem Tage hat Wagners großer Trommelschlag drei Jahre lang in Paris mit beeinflusst.)